Annette Kolb - Armin Strohmeyr - E-Book

Annette Kolb E-Book

Armin Strohmeyr

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Beschreibung

»D'Leut ärgern« wählte sich Annette Kolb (1870‒1967) schon als junges Mädchen zum Motto, doch nicht aus Bosheit, sondern weil sie ihre Meinung offen vertreten wollte. Sie war scharfsinnig und naiv, sie war Pazifistin und ging keiner Fehde aus dem Weg, sie trug als Deutsch-Französin zwei Vaterländer in ihrem Herzen und hatte Europa im Kopf. Ihre Bücher vermitteln eine große Leichtigkeit, dabei fiel ihr das Schreiben zeitlebens schwer. Diese Biografie erzählt die aufregende Geschichte ihres Lebens, die exemplarisch ist für ein von Anerkennung und Verfolgung gleichermaßen bestimmtes Schriftstellerdasein im 20. Jahrhundert.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

für Wolfgang (†) und Marianne Gesemann

ISBN 978-3-492-97795-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugszell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

»Sympathie zwischen Bayern und Frankreich«

Herkunft und geistige Voraussetzungen

»Meine geistige Einzelhaft«

Kindheit und Jugend (1870–1888)

»Nichtstun –, das wird nicht länger gehen«

Literarische Anfänge (1888–1899)

»Hofnarrenposten«

Auf dem diplomatischen Parkett (1899–1906)

»Ich würde Ihnen alle Blumen ins Haus schicken«

Der literarische Durchbruch (1907–1913)

»Jene Meisterprobe männlicher Stupidität«

Erster Weltkrieg und Schweizer Exil (1914–1918)

»René guckst du nach meinem Rosengarten?«

Neubeginn in Badenweiler (1919–1923)

»Meine Liebe, es ist ziemlich aussichtslos«

Das Badenweiler Jahrzehnt (1923–1933)

»Aber wir werden nicht zu Schanden werden«

Europäisches Exil (1933–1941)

»Dankbar und unglücklich«

Amerikanisches Exil (1941–1945)

»Aber einer muß es ihnen doch sagen«

Schwierige Rückkehr (1945–1961)

»Dein Land ist schon mein Land geworden!!«

Sehnsucht nach dem Heiligen Land (1961–1967)

Bildteil

Anmerkungen

Bibliografie

Zeittafel

Bildnachweise

Danksagung

Vorbemerkung

Hermann Kesten, einer der engsten Freunde Annette Kolbs, meinte einmal: »Sie ›liebt es nicht, sich zu erinnern‹ […] und veröffentlicht ihr Leben lang Erinnerungen. Ihre Romane sind verhüllte Autobiographien.«[1]

Sie selbst, aufgefordert, ein Bild von sich zu zeichnen, schrieb in Befohlenes Selbstporträt für Quartaner (1932): »Ob sie euch noch etwas zu sagen haben wird, und ob etwas von ihren Büchern noch bleiben wird, wenn sie tot ist, das sind Fragen, die nur ihr werdet beantworten können. Ihr werdet also mehr über sie wissen als sie selbst. Aber was sie besser weiß als ihr: sie hat sich, obwohl ihre Bücher nicht eben zahlreich sind, schrecklich geplagt. […] Zum Schreiben drängte sie nicht das Talent, sondern ihre Meinungen und in der Gedanklichkeit, was immer man euch heute über sie erzählen mag, liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeiten.«[2]

Der Chronist dieses fast ein Jahrhundert währenden Lebens folgte ihren Romanen und Erzählungen, ihren Essays und Plaudereien, ihren Briefen und Notizbüchern. Er tat dies in Bewunderung für ihr Talent und in Achtung vor der Courage, mit der sie ihre Meinungen verfocht, auch wenn er ihre Ansichten nicht immer teilen konnte. Er hofft, dass er die Leser dieser Biografie auf ihre Schriften neugierig macht. Franz Blei schrieb einmal an Annette Kolb: »Wär ich ein Verleger, machte ich eine Ausgabe deiner Werke in sechs hübschen Bändchen: das so hintereinander zu sehen und zu lesen, müsste eine reizende Offenbarung sein.«[3] Die überarbeitete Neuausgabe dieser erstmals 2002 erschienenen Biografie wird zum 50. Todesjahr Annette Kolbs vorgelegt. Zu diesem Anlass erscheint im Wallstein Verlag Göttingen auch eine vierbändige Werkausgabe.[4]

Abgesehen von Annette Kolbs bewunderungswürdigem literarischen Werk hatte ihr Leben exemplarischen Charakter in einem Jahrhundert geistesgeschichtlicher und historischer Umstürze und Katastrophen. Ihre Vita war beispielhaft und außerordentlich zugleich, indem sie sich ihre Überzeugungen, ihre Eigenheiten und ihre individuelle Freiheit wahrte, dies in einer Zeit der Diktaturen, Ideologien und Massenpsychosen. Sie selbst fragte sich nach ihrer geglückten Flucht vor den Nationalsozialisten: »Nur ich bin entronnen […] Warum? Warum? Was soll es heißen?«, und fand die Antwort: »Ich soll es zur Sprache bringen!«[5]

In einem Brief an René Schickele schrieb Annette Kolb unter Verwendung der fürs Bayrische typischen doppelten Negation: »Nein dafür werde ich schon Sorge tragen, dass es keine Biographie von mir nicht gibt oder alles erst … und erlogen, das wäre ganz wichtig.«[6] Der Biograf bittet Annette Kolb an dieser Stelle um Verzeihung, gegen ihr Verdikt verstoßen zu haben. Er hat, um nichts »erstinken und erlügen« zu müssen, auch viele bislang unveröffentlichte Dokumente, Briefe und Tagebücher eingesehen und ausgewertet. Die bisweilen eigenwillige Orthografie und Zeichensetzung Annette Kolbs wurden beibehalten, ebenso stilistische Eigenheiten.

»Sympathie zwischen Bayern und Frankreich«

Herkunft und geistige Voraussetzungen

In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts konnte man – so wird kolportiert – bisweilen beobachten, wie der junge, 1933 geborene Wittelsbacher Prinz Franz von Bayern in der Händelstraße 1 im Münchner Stadtteil Bogenhausen vorfuhr, um dort den Nachmittag bei Tee und Konversation mit einer alten Dame zu verbringen. Ihr Name: Annette Kolb. Als im Februar 1965 hochoffiziell ihr neunzigster Geburtstag gefeiert wurde, erstaunte sie die Öffentlichkeit mit dem Eingeständnis, sie sei bereits fünfundneunzig und führe seit einem halben Jahrhundert falsche Papiere.

Diese beiden Anekdoten sind bezeichnend für Leben und Haltung der Schriftstellerin Annette Kolb. Sie lassen etwas erahnen von der leicht skurrilen Zuneigung der überzeugten Demokratin zum Hause Wittelsbach, von der versponnenen Eitelkeit angesichts des eigenen Alters und von der Lust an Geheimnis und Geheimniskrämerei. Diese Anekdoten lassen den biografischen Blick aber auch hundert Jahre weiter zurückwandern in eine Zeit, als Bayern noch Königreich war und es noch kein geeintes Deutschland gab. Annette Kolbs langes und aufregendes Leben umfasste ein Jahrhundert, das von großen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Umwälzungen geprägt war, ein Jahrhundert, in dem Deutschland eine führende und zugleich fatale Rolle spielte. In ihre Lebenszeit fallen: der Krieg gegen Frankreich, die Gründung des deutschen Kaiserreichs, die drängende soziale Frage, die Erstarkung der sozialdemokratischen Bewegung, der Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und des bayrischen Königreichs, die Räterepublik in München, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur, der Zweite Weltkrieg, die Teilung Deutschlands und die Gründung zweier deutscher Staaten, die zweite Demokratie auf deutschem Boden mit ihrer konservativen Ausrichtung unter Konrad Adenauer und ihren linken Gegenströmungen in der Jugend- und Hippiebewegung der 1960er-Jahre.

Annette Kolb hat dieses bewegte Jahrhundert kritisch begleitet, in ihren Schriften wie in ihrem öffentlichen Engagement. Sie war katholisch und aufklärerisch, konservativ und liberal. Und sie strafte Kritiker Lügen durch die Kompromisslosigkeit ihrer Zivilcourage, als sie – die die Freiheit über alles liebte und verteidigte – um der Freiheit willen mehrmals ins Exil ging: Von 1916 bis 1922 lebte sie in der Schweiz, von 1933 bis 1941 in der Schweiz, in Luxemburg, Frankreich und Irland, von 1941 bis 1945 in den Vereinigten Staaten von Amerika – ein Zeitraum, dem sich noch ein »Exil nach dem Exil« anschloss: die unruhigen Wanderjahre zwischen Irland, Frankreich und der Schweiz von 1945 bis zu ihrer endgültigen Rückkehr in die Vaterstadt München im Jahre 1961.

Annette Kolbs gesellschaftliche und kulturelle Prägung weist jedoch über Deutschland und dieses Jahrhundert hinaus. Sie führt über die Eltern zurück ins liberal gesinnte, Künste und Wissenschaften fördernde Königreich unter Maximilian II. Joseph von Bayern. Es waren zudem die Jahrzehnte unter König Ludwig II. und dem Prinzregenten Luitpold, die Annette Kolbs künstlerische und politische Anschauungen prägten. Das »Deutsche« war ihr insofern suspekt, als es für sie lange Zeit ein Synonym für das »Preußische« war. Erst in der Weimarer Republik konnte sie sich als Künstlerin, Katholikin, Pazifistin und nicht zuletzt als Münchnerin mit dem Staat aussöhnen, wenngleich in dieser Republik das von ihr verehrte Herrscherhaus der Wittelsbacher keine politische Macht mehr besaß. Aus ihren letzten Lebensjahren stammt ein unveröffentlichter Essay mit dem Titel Bayern, worin sie sich an das Königreich ihrer Kindheit und Jugend erinnert und dessen zivilisatorischen Rang rühmt – wenngleich im nostalgischen Rückblick des Alters verklärt: »Wir nannten Bayern berufen: Es hatte eine Dynastie wie kein anderes Land. Der Krieg und seine Greuel waren ihr fremd. Sie hat gelebt für die Kultur, die Schönheit, den Frieden. In unserer schwer bedrohten Zeit war Bayern mit seiner Dynastie ein Glück und Segen für Europa.«[1]

Wie Annette Kolb um ihr Alter ein Geheimnis machte, so auch um ihre Herkunft. Es gab seit jeher Gerüchte über eine illegitime adlige Abkunft ihres Vaters Max Kolb. Annette Kolb selbst – so sehr sie mit der Liebe zur bayrischen Monarchie kokettierte – wies zeitlebens alle Mutmaßungen zurück. Im Jahre 1917 strengte sie sogar einen Rechtsstreit mit dem Genfer Verlag Éditions ATAR an, der behauptet hatte, sie sei »verwandt mit dem Hof des Königs von Bayern«.[2] Sie selbst hat jedoch im hohen Alter einmal ihrer Nichte ihre »wahre« Abkunft vom Hause Wittelsbach eingestanden.[3] Auch ihrem engsten Freund, dem Schriftsteller René Schickele, hatte sie von ihrer Verwandtschaft mit dem Königshaus erzählt.[4]

Max Kolb, Annette Kolbs Vater, kam am 28. Oktober 1829 in München als unehelicher Sohn der Juliana Lorz, einer Zofe Königin Thereses von Bayern, zur Welt. Nach der Geburt des Knaben unterschrieb der Hoflakai Dominikus Kolb eine Vaterschaftserklärung und gab damit dem Kind auch seinen Familiennamen. Max Kolb wuchs auf Schloss Possenhofen am Starnberger See auf und durfte später die Schule der Benediktinerabtei Scheyern besuchen. Die Schulkosten für den Sohn der mittellosen Zofe wurden vom Hause Wittelsbach getragen.[5] Es ist zu vermuten, dass Juliana Lorz-Kolb ihren Sohn nicht von ungefähr auf den Namen Max taufen ließ, und dass Kronprinz Maximilian, der spätere König Maximilian II. Joseph, der leibliche Vater des Knaben war. Die schulische und berufliche Förderung Max Kolbs durch den König deutet ebenfalls darauf hin.

Als junger Mann wurde Max Kolb nach Berlin geschickt, wo er bei Peter Joseph Lenné eine Ausbildung zum Gartenarchitekten erhielt. Es folgten Anstellungen in Potsdam-Sanssouci, in Gent und seit 1855 in Paris als »jardinier principal«. In der französischen Hauptstadt lernte Max Kolb seine Frau kennen. Zu jener Zeit herrschte Napoleon III. als Kaiser der Franzosen. Wenngleich das Empire ein Jahr nach Annette Kolbs Geburt im Deutsch-Französischen Krieg unterging, wurden doch Stil und Lebensweise der Pariser Gesellschaft im Kaiserreich prägend für Annette Kolbs eigene Kindheit – dies durch Vermittlung ihrer Mutter. Sophie Danvin wurde 1840 in Paris geboren und – anders als ihr eher bodenständiger Mann – früh mit den Künsten vertraut. Ihre Eltern waren die damals bekannten Landschaftsmaler Félix Danvin (er starb bereits 1842) und Constance Amélie Lambert-Danvin. Sophie selbst war hochmusikalisch und studierte am berühmten Pariser Konservatorium Klavier. Mit sechzehn Jahren gewann sie den Ersten Preis des Instituts. Sie komponierte auch und schrieb Aufsätze zur Musik.[6] Das Haus der Danvins war weniger bohemienhaft als vielmehr bürgerlich-akademisch. Max Kolb, der einen bürgerlichen Beruf ausübte (später brachte er es in München noch bis zum Oberinspektor und führte den Titel »königlicher wirklicher Rat«), galt den Danvins deshalb als gesellschaftlich akzeptabler Schwiegersohn, doch bedeutete die Ehe, die Max Kolb und Sophie Danvin 1858 schlossen, für die Braut den Verzicht auf eine pianistische Karriere.

Die Verbindung des bayrischen Gartenarchitekten mit der französischen Pianistin war eher eine amour fou als eine tiefere Seelenverwandtschaft. Für Annette Kolb jedoch wurden die Ehe der Eltern und das Aufwachsen an der Schnittstelle zweier Kulturen zum Symbol für das Verbindende dieser beiden Völker, die zur Kaiserzeit und darüber hinaus oft als »Erbfeinde« apostrophiert wurden. Zwar lebten Max und Sophie Kolb in ihrer Ehe ein wenig nebeneinander her, doch zeigten sie voreinander Achtung – wenngleich mit einer gewissen Ironie. Annette Kolb schrieb: »Daß sie mit sechzehn Jahren den ersten Preis für Klavier am Pariser Conservatorium davongetragen hatte, imponierte zwar meinem Vater, doch besaß er für Musik ebenso wenig Verständnis wie sie für Botanik. […] Ein sehr anmutiges und interessantes, aber ungereimtes Paar machte seine Hochzeitsreise nach London.«[7]

Annette Kolb setzte ihrem Elternhaus später ein zweifaches literarisches Denkmal: einmal in ihrem Essay König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner, ein andermal in dem autobiografischen Roman Die Schaukel. Noch wenige Jahre vor ihrem Tod erhob Annette Kolb die binationale Ehe der Eltern zu einem Symbol der Völkerfreundschaft und äußerte zugleich Vorbehalte gegen Preußen und dessen Rolle bei der Einigung des Deutschen Reichs: »Das alles in Folge der Kriege, an deren Ausbruch Bayern gewiss nicht schuld war. Sie [die Bayern] liessen sich von den Berlinern blenden. […] Es bestand von jeher eine Neigung zur Sympathie zwischen Bayern und Frankreich […].«[8]

1859 kam König Maximilian II. Joseph nach Paris und griff erneut in das Schicksal seines illegitimen Sohnes ein: Der frisch verheiratete Max Kolb führte den Monarchen durch die von ihm angelegten Gartenanlagen. Wenig später erhielt Max Kolb aus München das Angebot, die Leitung der botanischen Gärten in der bayrischen Hauptstadt zu übernehmen. »Haus, Licht und Holz frei, ein hübsches Gehalt, die Ermächtigung, Gärten anzulegen, wo sich ihm Gelegenheit bot, und last not least, freie Fahrt auf den bayrischen Staatsbahnen«, erinnerte sich Annette Kolb. Nicht alle waren darüber glücklich: »Meine Großmutter [Constance Danvin] war außer sich, meine Mutter mochte ihm [Max Kolb] nichts erschweren. Die beiden Damen setzten sich zusammen und lasen [Goethes] Hermann und Dorothea, in welcher Übersetzung ahne ich nicht, und meine Großmutter schloß aus der Lektüre, die Deutschen seien zwar sehr kleinstädtisch, mais de braves gens [aber rechtschaffene Leute]. Das Beste war ein Kompromiß. Lang hielt man es natürlich dort nicht aus: zwei Jahre München, dann nach Paris zurück.«[9]

1860 zogen die Kolbs einschließlich Constance Danvin nach München, in die Dienstwohnung des königlichen Gartenbauinspektors in der Sophienstraße 7. Aus den intendierten zwei Jahren wurden indes Jahrzehnte: Der Grund lag in Max Kolbs glänzender Karriere unter Maximilian II. Joseph (gestorben 1864), Ludwig II. (1864–1886) und dem Prinzregenten Luitpold (1886–1912). Zudem ließ es sich für Sophie Kolb und Constance Danvin in der französischen Gemeinde Münchens recht angenehm leben. Und schließlich vereitelte zehn Jahre später der Krieg von 1870/71 eine Rückkehr nach Paris. Sophie Kolb hat zeitlebens Deutsch kaum gesprochen, sie wollte es wohl nie erlernen. In der Familie – Max Kolb war zudem beruflich viel unterwegs – parlierte man überwiegend Französisch. Mode, Umgangsformen, Kunst, Musik, Literatur orientierten sich am Second Empire. Das Zierliche und Elegante, das Dandyhafte und das Raffinement kamen der süddeutsch-barocken Sinnesfreude entgegen: »Man stand noch im Zeichen des zierlichen Jäckchens zur weiten Crinoline, der seidenen Quasten, der aufgepolsterten Stühle und Schachteln, der wattierten Bonbonnieren. Auch das Leben war wattiert.«[10] Wenngleich das Leben Annette Kolb nicht mit wattierten Handschuhen anfassen sollte: Eine gewisse Eleganz – genährt aus dem Empire – in Kleidung und Auftreten, ja selbst im Schreibstil, blieb ihr stets erhalten.

Der Haushalt der Kolbs wurde in einer bald stadtbekannten Mischung aus Bürgerlichkeit und Bohème, aus finanziellem Leichtsinn und Beinahe-Bankrott geführt – oder vielmehr: improvisiert. Sophie Kolb spann sich in ihre künstlerische Welt ein, gab hin und wieder Klavierstunden und führte einen musikalischen Salon. Im hohen Alter definierte sie sich selbst wie folgt – und irrte sich dabei sogar in etwas so »Unwichtigem« wie der Anzahl ihrer Kinder (es waren in Wahrheit, die früh verstorbenen mitgerechnet, neun): »J’avais quatre enfants et un piano.«[11] [»Ich hatte vier Kinder und ein Klavier.«] Der eigene Anspruch an die Rolle in der Gesellschaft scheint größer gewesen zu sein als deren tatsächliche Einlösung. Eine spöttische, dabei liebevolle Darstellung dessen findet sich in Annette Kolbs autobiografischem Roman DieSchaukel: »Denn was brachte die Braut schon in den Hausstand mit? Die Sonaten von Haydn, Beethoven und Mozart und noch einige andere Musikwerke in roten Prachtbänden mit ihrem Namen […]. Frau Lautenschlag [d. i. Sophie Kolb] war eine so zerstreute Hausfrau, daß es schon besser war, sie komponierte. […].«[12] Und über den Talmiglanz des Haushalts heißt es: »Hier glitzert auch mancher Pokal, altes Kristall und Porzellan täuscht Luxus vor, silberne Tablette [sic], silberne Eisbecher stehen in ihrem Glanze und werden nie gebraucht. Womit sollten Lautenschlags eine Eismaschine beschaffen?«[13] In dem Roman spielt Annette Kolb das Familienleben der Lautenschlags gegen die preußische Starre der Familie von Zwinger augenzwinkernd aus und kehrt die Mélange aus französischen und bayrischen Elementen – die für sie selbst schicksalsbestimmend war – stolz hervor: »War der Haushalt bei Zwingers à l’anglaise aufgezogen, so gebärdete man sich bei Lautenschlags je nach Laune, teils penetrant bayrisch, teils sehr weitgehend lateinisch. Niemand beanstandete dies. Das in Bayern noch wenig beachtete Alldeutschtum lag in der Wiege.«[14] Katia Mann erinnerte sich als alte Frau: »Sie [Annette Kolb] sprach immer so etwas betont bayrisch. Das war in München Sitte, die Aristokratie sprach bayrisch, und die Kolbs waren zwar keine Aristokraten, aber sie hatten einen Salon, gaben pariserische Nachmittagsempfänge, wo auch Hofgesellschaft und alle möglichen Leute verkehrten.«[15]

Das Haus in der Sophienstraße 7 (es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört) lag zwischen Königsplatz und Stachus, in unmittelbarer Nähe zum Alten Botanischen Garten und zum Münchner Glaspalast. Diese 1854 erbaute, riesige Messe- und Repräsentationshalle in Stahl-Glas-Konstruktion war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst mit 234 Metern Länge und 25 Metern Höhe. Die Münchner waren dem Glaspalast – ähnlich wie die Pariser dem Eiffelturm – in Hassliebe zugetan. Der Brand der Halle im Jahre 1931 galt jedoch als Katastrophe (es verbrannten darin über dreitausend teils weltberühmte Bilder und Skulpturen), ein symbolträchtiges Ereignis, womit Annette Kolb ihren Roman Die Schaukel (1934) beginnen lässt.

Die Ehe der Kolbs war den damaligen Verhältnissen entsprechend kinderreich. Die ersten drei Sprösslinge starben jedoch kurz nach der Geburt. 1865 kam Louise zur Welt. Sie starb 1890 im Alter von nur 25 Jahren. Es folgte Germaine (1868–1949), Annette Kolbs Lieblingsschwester. Nach Annette (geboren 1870) kamen zwei Knaben zur Welt: Emil (1874–1933) und Paul (1876–1965), der sich im Alter eng an Annette anschloss und den sie »le petit frère« [den kleinen Bruder] nannte. Als Nesthäkchen folgte noch Franziska (1880–1946).

Annette Kolb stand, noch ehe sie selbst pianistisch daran teilnehmen konnte, unter dem geistigen Einfluss des literarisch-musikalischen Salons, den die Mutter in den Räumen der Sophienstraße führte. Dieser Salon wurde in München nach und nach bekannt, wenngleich er nie eine geistesgeschichtlich prägende Rolle spielen sollte. Die gesellschaftlich pikante Mischung, die sich ergab – es erschienen gleichermaßen arrivierte Künstler wie Bohemiens, verkrachte Provinzaristokraten wie demissionierte Königinnen –, verlieh der Einrichtung etwas leicht Zweifelhaftes und Anziehendes zugleich, so zumindest stellt es Annette Kolb im poetischen Rückblick in Die Schaukel dar.

Das geistige Klima Münchens war nicht nur von französischer Kunst und Literatur beeinflusst, auch die Naturwissenschaften und die Geschichtsschreibung spielten in jener positivistischen, zukunfts- und technikgläubigen Zeit eine befruchtende Rolle. Maximilian II. hatte Naturwissenschaftler, Historiker, Rechtsgelehrte, Dichter und Maler nach München berufen. 1850 war die von Ludwig von Schwanthaler geschaffene achtzehn Meter hohe, begehbare Statue der »Bavaria« auf der Theresienhöhe errichtet worden. Es folgte der Bau des Glaspalastes und der Neuen Pinakothek (die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde). Am Königsplatz wurden 1862 die Propyläen errichtet. Als Maximilian II. 1864 starb und sein 18-jähriger Sohn als Ludwig II. den bayrischen Thron bestieg, ging der repräsentative Ausbau der Wittelsbacher Metropole als Zentrum von Verwaltung, Wissenschaft, Technik und Kunst weiter voran. Vor allem für das geistige Leben gab der junge Ludwig entscheidende Anstöße: Im Mai 1864, keine zwei Monate nach der Thronbesteigung, rief er Richard Wagner, der sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern befand und seit seiner Teilnahme an der Revolution 1848 in Dresden politisch anrüchig war, nach München. Wenngleich Wagners Intermezzo an der Isar nur anderthalb Jahre dauerte, war diese Zeit sowohl für die Musikgeschichte im Allgemeinen (die Uraufführung von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865 im Münchner Hoftheater) als auch für das Haus Kolb im Besonderen von Bedeutung. Auch wenn diese Ereignisse in die Jahre vor Annette Kolbs Geburt fielen, beeinflusste die von der Mutter inszenierte Begeisterung für Wagners Musik auch sie nachhaltig. Den Begebenheiten von 1864/65 widmete Annette Kolb als 77-Jährige noch ihr Buch König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Darin schildert sie, wie Hans von Bülow im Gefolge des Komponisten eine Anstellung als Hofpianist erhielt und mit der Ehefrau Cosima (der Tochter Franz Liszts und Marie d’Agoults) und den Kindern nach München zog, in unmittelbare Nähe zur Familie Kolb. In jene Zeit fiel auch der Beginn der Liaison Richard Wagners mit Cosima und die Geburt ihrer Tochter Isolde im April 1865.

»Keine halbe Minute entfernt«[16], ergab sich zwischen Sophie Kolb und Cosima von Bülow bald ein reger Austausch. Cosima sah sich damals noch ihrer mütterlicherseits französischen Abkunft verpflichtet. Als sie zum ersten Mal den Salon Sophie Kolbs besuchte, habe sie ausgerufen: »Que je suis heureuse, de me retrouver dans une maison française!«[17] [»Wie froh bin ich, in einem französischen Haus zu sein!«] Sophie Kolb besuchte die legendären ersten Aufführungen von Wagners Tristan und Isolde. Max Kolb, sonst gegenüber Musik eher gleichgültig, »plünderte den botanischen Garten zu jeder Première, um die prachtvollsten Blumen zu schicken«.[18] Einmal begegnete Sophie Kolb auch Richard Wagner, als er – die Tochter Isolde war bereits geboren – seine Geliebte Cosima besuchte. Wagner habe auf Französisch einige Höflichkeitsfloskeln mit ihr gewechselt, seine deutsche Konversation mit Cosima verstand Sophie Kolb leider nicht. Während der Komponist in der Brienner Straße aufwendig Hof hielt, mangelte es bei Bülows mitunter an Geld. Als Cosima, die neue Schuhe benötigte, sich in ihrer Not ausgerechnet an Sophie Kolb wandte, musste diese – ihre Haushaltskasse war ebenfalls leer – die Freundin abweisen.

Bald nach Wagners erzwungener Abreise aus München folgte ihm Cosima. Unmittelbar vor ihrer Abfahrt besuchte sie nochmals Sophie Kolb, um sich zu verabschieden. Sie werde ja sicherlich auch bald München verlassen und nach Frankreich zurückkehren, so Cosima. Im Übrigen könne sie Sophies Heimweh nach Paris nachvollziehen. Sophie entgegnete: »Que voulez-vous, j’ai le mal du pays.«[19] [»Was wollen Sie, ich leide an der Krankheit dieses Landes.«] Sie meinte die Melancholie, an der ja auch der König litt, dem sie einmal auf einem Spaziergang am Starnberger See begegnet war und der sie sogar gegrüßt hatte.

Als sich für Sophie Kolb die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Paris endgültig zerschlug, nachdem Max Kolb einen Auftrag vom Regensburger Fürsten von Thurn und Taxis zur Anlage eines Parks erhalten hatte, zog auch sie sich resignativ immer mehr in die musikalischen Welten Schumanns, Chopins und Wagners zurück. Es glich einem inneren Exil.

Im August 1867 besuchte Kaiser Napoleon III. in Begleitung seiner Frau Eugénie Augsburg, wo er seine Kindheit im Exil verbracht hatte, und wurde daraufhin von Ludwig II. am Münchner Hauptbahnhof feierlich begrüßt. Zu dem Empfang war auch das Ehepaar Kolb geladen. Die Begegnung mit dem Kaiser riss in Sophie Kolb die Narbe des Heimwehs wieder auf. Sie rang damit, ihren Mann zu verlassen, und vertraute sich einem katholischen Priester an, dem Baron Oberkamp, der im Nachbarhaus Sophienstraße 5 wohnte. Dieser verwies natürlich auf die Unauflöslichkeit der Ehe. Auch eine offene Aussprache mit Max führte zu keiner Lösung. Er forderte recht eigensinnig, sie solle aufhören, einen Lebenshalt in ihm zu suchen. Sophie Kolb rief daraufhin ihre Mutter, die zwischenzeitlich wieder in Paris gelebt hatte, nach München zurück: So führte sie innerhalb der engen Grenzen ihres französischsprachigen Salons weiterhin ein Leben im Exil, ein Dasein für die Musik in einer Traumwelt, die ihr einen gewissen Trost schenkte.

Ihren Vater schildert Annette Kolb in den nachgelassenen Aufzeichnungen The Book of Dreams so: »Mein Vater war eine umherschweifende Natur, ein Perpetuum mobile, sehr schwer zu fangen, viel auf Reisen, zu Treffen und Kongressen, und, obwohl seiner Familie verbunden, oft ungeduldig darüber, daß er sich um jemanden zu kümmern habe. Er liebte die Familie zärtlich aus der Ferne, kam immer zurück, beladen mit reizenden Geschenken, aber er war mehr seinen Gärten ein Vater denn uns. Zuerst kamen seine Gärten. […] Er war zufrieden damit, daß wir Besuche empfingen, solange wir nicht seine Anwesenheit erwarteten. So erschien er wie zufällig, nachdem die Gäste gegangen waren, oder frühestens dann, wenn sie gerade dabei waren zu gehen.«[20]

Später schreibt sie in ihrem Buch über Richard Wagner, Max Kolb sei weder ein guter Vater noch ein guter Gatte gewesen.[21] Doch zeichnet sie ihn im Roman Die Schaukel in der Figur des Herrn Lautenschlag als durchaus sympathischen und warmen Menschen, der im Herzen ein Kind geblieben war,[22] der zugleich jedoch nur für seine Gärten lebte und dem die Salonwelt Sophies verschlossen blieb. Immerhin hinderte Max Kolb seine Frau nicht an der Ausrichtung ihrer Soireen. Auch scheint er tatenlos, ja, hilflos zugesehen zu haben, wenn seine Frau und die Kinder sein Gehalt, das in seiner Position nicht gering war, leichtsinnig und mit einem fatalen Hang zum Luxus vergeudeten. Man leistete sich viel Überflüssiges, wie es sich für eine »gute« Gesellschaft »schickte«, und war andererseits mittellos, wenn es um die Anschaffung notwendiger Dinge ging. Aber sie wussten, dass »die Armut im Grunde ein Freibrief war, aller Schablone, aller Konvention gegenüber«.[23] Auch wenn man den Familienmitgliedern bisweilen »rettungslosen Größenwahn«[24] attestierte, focht sie das doch nicht an. So preist Annette Kolb die geistige Freiheit und künstlerische Urteilsfähigkeit der Hespera in Die Schaukel: »Blöde Urteile über Musik oder Bücher oder Bilder unwidersprochen hinzunehmen, weil sie von Leuten kamen, in deren Sold man geriet, das war nichts für sie, o nein.«[25]

Diese Freiheit in der Armut war der Nährboden für eine liberale Weltsicht, für einen unbelasteten Umgang mit der Kunst. Dies und die unter Maximilian II. und Ludwig II. ohnehin offene geistige Atmosphäre Münchens trugen dazu bei, dass Annette Kolb als Frau aufwachsen konnte, die ihre eigenen Meinungen und Ansichten – auch unkonventioneller Art – besaß und verfocht, notfalls bis zur äußersten Konsequenz.

Die offene, tolerante, frankophile Geistigkeit Münchens, wie sie sich in Sophie Kolbs Salon widerspiegelte, verlor nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs unter der Führung Preußens an Glanz. Damit einher ging für viele Intellektuelle Bayerns ein gewisser Identitätsverlust. Ludwig II. von Bayern hatte die Kriegserklärung gegen Frankreich, das ihm persönlich nahestand, ungern unterzeichnet. Auch war er nicht der Aufforderung nachgekommen, nach Versailles zu reisen, um als Oberhaupt des ältesten herrschenden Adelsgeschlechts Deutschlands dem genealogisch weit unter ihm stehenden König von Preußen die Kaiserwürde anzutragen. Lediglich Versprechungen Bismarcks auf Zahlungen aus dem sogenannten Welfenfonds hatten den hochverschuldeten Ludwig geködert. Der ursprüngliche Plan, in Zukunft die Kaiserwürde zwischen den Häusern Hohenzollern und Wittelsbach alternieren und Bayern an Gebietsgewinnen in Frankreich (an der Grenze zur bayrischen Pfalz) teilhaben zu lassen, wurde jedoch fallen gelassen.

Die Untertanenhaltung, das Pflichtbewusste, Forsche, Disziplinierte, alles, was man gemeinhin als das »Preußische« gerne belächelte, war vielen bayrischen Bildungsbürgern zutiefst suspekt und zuwider. Ein Beispiel für die Auflehnung gegen die Bevormundung durch Preußen in einem geeinten Reich ist der Eklat vom September 1891, als Kaiser Wilhelm II. München besuchte und sich mit den Worten »Suprema lex regis voluntas!« [»Des (preußischen) Königs Wille ist oberstes Gesetz!«] ins Goldene Buch der Stadt eintrug. Diese absolutistische Äußerung erregte in der bayrischen Öffentlichkeit Zorn und Protest. Auch Annette Kolbs Haltung gegenüber Preußen wurde von dieser Atmosphäre geprägt. Sie, die »Deutsch-Französin«, blieb zeitlebens eine Gegnerin eines deutschen Staatsgedankens, der auf Stärke, Nationalismus, Militarismus und Fremdenhass unter der Führung Preußens baute. Viel zu dieser Haltung beigetragen hat die Stimmung im Kolbschen Elternhaus. Der Krieg von 1870/71 jedenfalls stellte auch die Ehe von Max und Sophie auf eine schwere Probe. Annette Kolb berichtet: »O wie verwünschte sie [Sophie Kolb] da ihre Ehe! Mit zwei deutschen Kindern, als eine deutsche Staatsangehörige stand sie da, zerrissenen Herzens auf immer. […] Mein Vater brachte sie nach Tegernsee […]. Über Frankreichs Niederlage trauerte er mit ihr. Mit der Vorherrschaft Preußens sah er die geistige Verheerung des Landes heraufziehen. […] Hatte er aber früher manchmal gewünscht, daß meine Mutter deutsch sprechen lerne, so mutete er ihr das nie wieder zu. Mochte sie ihre französische Eigenart ungeschmälert behalten, ihr Haus nichts anderes wie ein französisches sein. […] Gewiß bereicherte und verschönerte es auch das ihrer Kinder, doch um welchen Preis!«[26]

Der Preis war hoch: Annette Kolb wurde zwar in ein geistig aufgeschlossenes und liberales Haus hineingeboren, doch empfand sie von früh an schmerzhaft das Gefühl, heimatlos im eigenen Land zu sein, zwischen den Völkern, Sprachen und Kulturen zu stehen, ein Vater- und ein Mutterland, eine Vater- und eine Muttersprache zu besitzen und in allen mit dem Herzen und der Seele zu wohnen. Ihre späteren Exilaufenthalte in der Schweiz, in Frankreich und den Vereinigten Staaten sind so gesehen nicht nur die Antwort auf die jeweilige politische Situation von Krieg, Diktatur und Kaltem Krieg, sondern auch logische Konsequenz eines persönlich seit frühester Kindheit erfahrenen Dilemmas. Sie sind Folge einer Sozialisation, die zurückreicht in die Zeit vor der Entstehung des deutschen Kaiserreichs, eines Staatsgebildes auf der Grundlage nationalen Empfindens. Der Nationalismus konnte sich niemals durch objektive Reflexion definieren, sondern nur in aggressiver Weise ex negativo, indem er sich vom Fremden abgrenzte und das andere zum Feind erklärte. Annette Kolb waren die Auflehnung gegen dieses ideologische Konstrukt und die Trauer darüber gleichsam ins Blut mitgegeben.

»Meine geistige Einzelhaft«

Kindheit und Jugend (1870–1888)

Annette Kolb wurde am 3. Februar 1870 in München geboren. Getauft wurde sie am 13. Februar durch den Benediktiner P. Odilo Rottmanner in der Kirche St. Bonifatius auf den Namen Anna Mathilde. Taufpatin war Anna Freifrau von Freyberg.[1] Die Familie vereinfachte »Anna Mathilde« seit jeher in den Rufnamen »Annette«. Später gab Annette Kolb den 2. Februar (Mariae Lichtmess) als Geburtstag an. Grundsätzlich war sie jedoch gegen das Feiern von Geburtstagen. Hingegen war ihr das Fest der Namenspatronin stets bedeutsam.

Die wenigen Erinnerungen aus der Vorschulzeit, die uns Annette Kolb im hohen Alter mitgeteilt hat, stellen prägende Urerlebnisse dar, die zu Leitmotiven für ein beinahe hundertjähriges Leben wurden.

Das kleine, drei- oder vierjährige Mädchen stand einmal im Garten unter einem Baum, von der Natur berührt: »Das Leben ist schön, dachte ich.«[2] Da fiel ein Blatt vom Baum in ihre Hand, sie zerpflückte und zerriss es in seine einzelnen Fasern und wurde darüber »unsäglich verstimmt«. Die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit alles Schönen, die Begrenztheit ihrer selbst wurden ihr mit einem Mal bewusst: »Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne langweilige Ding in meinen Händen war ja mein Anteil. […] So schlägt der Grundakkord unseres Wesens zum erstenmal in unserem Bewußtsein an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das fin mot eines Ichs ist ein Motiv, und was hinzutritt sind Amplifikationen.« Dieser disharmonische »Grundakkord«, ein Hang zur Melancholie, eine Uneinigkeit mit sich selbst, das Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit, vermehrt um eine gewisse Ungeduld mit sich und anderen, wurden für Annette Kolb wegbegleitend. Viele ihrer literarischen Figuren leiden unter plötzlichen und scheinbar unmotivierten Stimmungsschwankungen und machen es ihrer wohlmeinenden Umgebung oft schwer. Der »Snob« Mathias im Roman DieSchaukel ist hierfür ein Beispiel. Auch die unbestimmte Langeweile, das Leiden an einem scheinbar sinnentleerten Leben, der »ennui«, die »Krankheit des Jahrhunderts« [»le mal du siècle«], wie das 19. Jahrhundert selbstdiagnostizierend es nannte, befiel sie. Dieses Leiden an der Sinnentleerung innerhalb einer vordergründig gesicherten, zukunftsgläubigen Welt war verbreitet. »Schon ein Jahr darauf«, so Annette Kolb, »lernte ich […] die Langeweile kennen, zu der ich neigte, wie andere zu Gichtschmerzen, und die mich anwehen konnte plötzlich […].«[3]

Früh erfuhr sie die eigene Sterblichkeit in ihrem Spiel »Ich bin ich«. Der Siebenjährigen gelang es durch eine Art Meditation regelmäßig, die Grenzen ihres Bewusstseins zu überwinden, sie konnte in Trance »wie an einem Seil« in »immer dunklere Schlünde hinabgleiten«.[4] Aus dem Spiel wurde Ernst: Wie ein Drogenkonsument, der eine zu hohe Dosis eingenommen hat, drohte sie einmal in diesem Labyrinth des Unterbewusstseins verlorenzugehen: Es »faßte mich ein Entsetzen, als hätte ich mich verloren, als hinge das Seil meiner Identität in der Luft, nicht mehr zu erhaschen, und wie ein Ertrinkender rang ich zur Oberfläche, das heißt zu meinem Bewußtsein zurück. Ein Instinkt riet mir, von dem unheimlichen Spiel zu lassen.«[5]

Eine zweite Grenz- und Todeserfahrung machte Annette Kolb im Alter von fünf Jahren. Die Familie verbrachte 1875 einen Sommerurlaub in Steinach in Tirol. Am Garten floss ein Gebirgsbach vorbei. Beim Spielen fiel das fünfjährige Mädchen hinein. Vergeblich versuchte sie, sich an Gras und Ästen festzuhalten, das schnell fließende Wasser trieb sie der nahen Mühle zu. Statt um Hilfe zu schreien, biss sie instinktiv die Zähne zusammen und versuchte, Grund unter den Füßen zu finden. Schließlich gelang es ihr, aus dem Bachbett zu klettern. Sie kehrte »als rinnende Säule mit schwarzen und blutigen Nägeln ins Haus«[6] zurück. Unnötigerweise erzählte eine Magd dem soeben dem Tod entronnenen Mädchen von einem anderen Kind, das unter den Schaufeln des Mühlrads umgekommen war. Annette reagierte schockiert: »Jetzt erst schrie auch ich, und niemals schwand der Vorfall aus meinem Gedächtnis. Er sollte bezeichnend werden für mein ganzes Leben.«[7] Annette Kolb zog aus dem Vorfall eine Lehre. Später, in der Zeit der Verfolgung, gab sie sich nie verloren, sondern entwand sich mit Zähigkeit und Kalkül dem drohenden Untergang: »Wie viele andere Menschen geriet ich in allerlei Gefahren. Aber fast nie riß mich eine Hand zurück, fast immer war die Bühne leer, und ich entkam dennoch.«[8]

Das Kind war früh auf sich selbst gestellt in einem Haushalt, der in Erziehungsfragen recht nonchalant war: »Ich bin nie in die Schule gegangen, ein altes Fräulein lehrte mich lesen«[9], so erinnerte sich Annette Kolb im Alter. Noch bevor sie mit sechs Jahren in ein Klosterinternat nach Tirol gegeben wurde, lernte sie lesen und die Bücher lieben. Sie war geistig frühreif und aufgeweckt. Mädchenspielen war sie abgeneigt: »Bücher waren meine Puppen. Ich verschlang, ich herzte sie.«[10] Eine bayrische Kinderfrau, Anna Knörr, »knorrig und bockig über die Maßen, aber treu bis in den Tod«[11], kümmerte sich um das Mädchen. Die Liebe, die Annette Kolb zum einfachen Volk empfand, mag damals in ihr geweckt worden sein.

An einen Spaziergang mit der Kinderfrau knüpft sich eine Erinnerung, die Annette Kolb zeitlebens beschäftigte. Mit sechs Jahren habe sie für sich selbst »die Judenfrage gelöst«[12]: Auf einem Ausflug im Forst von Planegg sahen sie auf einer Lichtung eine Gouvernante mit einem etwa zehnjährigen Mädchen. Das Kind, mit großen, blauen Augen, weichen Locken, in einem weiß und rosarot gestreiften Kleid, eine Korallenkette um den Hals, fing an, Seil zu hüpfen. Das Bild des hübschen Mädchens, das im Sonnenschein der Waldlichtung spielte, entzückte Annette, riss sie hin zu jungmädchenhafter Schwärmerei. Als sie gebannt den Blick gar nicht abwenden konnte, meinte Anna Knörr: »Sie gehört dem jüdischen Volke an.«[13] Auf dem Heimweg erzählte die Kinderfrau Geschichten aus dem Alten Testament, so auch vom Zug der Israeliten aus Ägypten durchs Rote Meer ins Gelobte Land, was Annette befriedigt kommentierte: »Und dann waren sie wieder daheim.«[14] Als aber die Kinderfrau vom Tanz ums goldene Kalb erzählte, entspann sich folgender Dialog:

»›Warum daß es sich nicht bekehren tut?‹ fragte ich.

›Sie sin aso‹, sagte Anna Knörr.

›Aber net für immer‹, sagte ich.

Erste Eindrücke sind deshalb unvergesslich, weil ihnen etwas Bestimmendes eigen ist. Die kleine Szene im Walde dominierte natürlich die Geschichten der Anna Knörr. Sie legte die Grundlage meines Interesses für das jüdische Problem.«[15]

Wenngleich Annette Kolb später bisweilen judenkritische Äußerungen machte, pries sie doch stets die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Deutschland seinen Bürgern jüdischen Glaubens verdankte.

Eine prägende Phase, die sich allerdings traumatisch auf die Kinderseele legte, waren die Jahre in einem Internat. 1876 gaben die Eltern das Kind in die Schule des Klosters Thurnfeld der Salesianerinnen in Hall in Tirol. Dort blieb Annette bis zum Jahr 1882. Ausschlaggebend war nicht der Ruf der Klosterschule, sondern, so Annette Kolb lakonisch, der »Genius des Geldes«: »Auf diese Familie und ihre Unbedachtheit, auf diese Kinder und ihren Größenwahn hielt er ein mißbilligendes, ein eiskaltes Auge gerichtet.«[16] Max Kolb hatte nämlich die Gartenanlagen des Klosters neu gestaltet – wie so oft für ein »Vergelt’s Gott!«. Im Gegenzug durfte seine Tochter Schule und Internat gratis besuchen. Max Kolb neigte zu solchen Tauschgeschäften: Ein andermal hatte er den Garten des Malerfürsten Franz von Lenbach in der Luisenstraße projektiert; zum Dank hatte Lenbach ein Ölporträt von Germaine Kolb gemalt.

Die Jahre im Klosterinternat stürzten Annette Kolb in eine schwere Persönlichkeits- und Glaubenskrise, die sie mehrfach literarisch verarbeitete. Später blieb die überzeugte Katholikin in gewisser Weise »antiklerikal« gestimmt, wie der Freund Hermann Kesten spöttelnd bemerkte: »Wenn sie Nonnen auf der Straße sah, ging sie auf die andere Seite. Sie war erzkatholisch und antiklerikal und liberal …«[17]

Nach Annette Kolbs Zeugnis herrschte in der Klosterschule heuchlerische Frömmelei. Mystische Geheimnisse wurden banalisiert. Die Nonnen zeigten sich hart und abgestumpft. Die Empörung über den Tod, den Annette Kolb nie anerkennen wollte (Hermann Kesten meinte einmal, sie sei nur aus »Abscheu vor dem Tod«[18] so steinalt geworden), war bereits damals in ihr angelegt und stürzte sie in Glaubenszweifel. In einem Bilderbuch sah sie eine Zeichnung, die zeigte, wie ein Mädchen von einem Tiger angefallen wurde: »Empört rannte ich im Zimmer umher und blickte zu den illustrierten Inschriften empor, die an den Wänden hingen: ›Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt‹ […] Doch wie reimte sich dies! Wie konnte Gott dies zulassen, wenn wir seine Ebenbilder waren und seine Kinder?«[19]

Von den Klosterfrauen erhielt sie keine befriedigende Antwort auf solch existenzielle Fragen. Vielmehr wurden spontane kindliche Regungen unterdrückt. Als einmal Geschenke der Eltern angekommen waren und Annette sie gleich auspacken wollte, wurde sie von der Oberin als »genußsüchtiges Kind«[20] gescholten. Rückblickend meinte Annette Kolb: »Dies Wort war mir neu, und ich vernahm es mit Interesse.«[21] Die Räume wurden im Winter kaum beheizt. Das Essen war schlecht und dürftig, die Schülerinnen hungerten und froren. Ihre Enttäuschung verbarg Annette Kolb hinter scheinbarer Gleichgültigkeit, ihre Verletzungen hinter der Fassade snobistischer Glätte. Als »Snob« hat sie sich später in der Figur des Mathias im Roman Die Schaukel selbst gezeichnet.

Dass sie etwas Besonderes war, spürte sie früh. Sie kultivierte dieses Image, womit sie sich nicht beliebt machte. Ihre Lektüre war von Sehnsüchten unterfüttert: »Bücher, Bücher. Anderes begehrte ich in meinem Kloster nicht. Sie allein halfen mir es vergessen. 3 Tage der Woche mussten wir italienisch sprechen. Mein Ideal jedoch wurde Amy Herbert. Amy Herbert in deutscher Übertragung. Ich schloß einen Pact mit einem englischen Mädchen und zwang mich vierhändig mit ihr zu spielen. Sie dafür mußte mir Englisch beibringen. […] Ich wurde Amy Herbert nicht ähnlich, lernte aber früh vier Sprachen.«[22]

Zum Lehrstoff gehörten Fremdsprachen. Der Unterricht wurde in Französisch und Italienisch gehalten. Diese Sprachen, zudem das Englische, beherrschte Annette Kolb später beinahe perfekt. Freilich sollte dieser Unterricht in erster Linie dazu dienen, den künftigen Damen der Gesellschaft eine angenehme »Konversation« zu ermöglichen. Literatur wurde kaum vermittelt, sie stand im Ruf, die Moral zu gefährden und die Fantasie krankhaft zu reizen. Es war nicht unüblich, dass die Nonnen Bücher konfiszierten.

Annette Kolb empfand für Mitschülerinnen schwärmerische Zuneigung. Rückblickend beschrieb sie in Klosterleben die Schönheit und Grazie dieser Mädchen. Ihre Empfindungen waren ästhetischer, vielleicht auch erotischer Natur. Doch war da stets auch eine Hemmung: »Mit Livia, die erst neun Jahre alt war, wäre eine nähere Beziehung sehr möglich gewesen, doch sie gefiel mir zu gut. Wo ich bewunderte, verehrte ich schon. In Wirklichkeit wollte ich weder von Freundinnen noch von Vertraulichkeiten etwas wissen, sondern von höheren Wesen, die mich meiner enthoben […].«[23] Die Furcht, sich in einem anderen zu verlieren und ein Ideal zerstört zu sehen mag später dazu beigetragen haben, dass sich Annette Kolb Männern nie ganz öffnete – wenngleich sie die eine oder andere Liebäugelei durchaus kannte. Sie war zeitlebens sogar stolz darauf, ein »Fräulein« zu sein, und verübelte es, wenn man sie als »gnädige Frau« anredete. Gleichwohl pflegte sie auch schwärmerische Freundschaften zu Männern (der unglückliche Flirt mit dem englischen Diplomaten John Ford wurde zur Initialzündung für ihren ersten Roman Das Exemplar). Auch besaß sie, wie Hermann Kesten hervorhob, »das Genie der Freundschaft und Freundlichkeit und hatte auch in aller Welt, und wie sie sich rühmte, in allen Gesellschaftsklassen, ergebene Freunde, wie sie selber ein unbeirrbarer, unerschrockener Freund war […].«[24] Auffallend ist jedoch, dass alle ihre engen Freunde glücklich verheiratet waren. Sie scheint solche Freundschaften bevorzugt zu haben, die aus dieser Konstellation heraus »ungefährlich« waren. Erotisches Empfinden war ihr keineswegs fremd, doch sie ließ es aus Furcht, die Herrschaft über sich selbst zu verlieren, selten zu. In ihren Jungmädchen-Schwärmereien während der Internatsjahre ist dies bereits angelegt.

Glaubt man den Erinnerungen Annette Kolbs, so führte die Schwester Oberin ein strenges Regiment. Sie trieb den Kindern jeglichen naiven Glauben aus, nannte Gott bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit und zerstörte das Geheimnisvolle, das der katholischen Religion innewohnt: »Sie hielt gerne Ansprachen, unermüdlich führte sie dabei Gott ins Feld. Kein Anlaß war ihr zu gering, um ihn zu nennen. Das Breittreten des Mystischen vollzog sie mit einer Gegenständlichkeit, die unsere Eindrücke verstümmeln mußte. Es ging mir wie so vielen. Daß Kinder einem Glauben, in den sie auf solche Weise eingeweiht wurden, eines Tages den Rücken kehren, ist das Naheliegendste, was es gibt, und erfordert spottwenig Geist.«[25] Von den Eltern war keine Hilfe zu erwarten, sie waren in ihren eigenen Sorgen gefangen und nahmen Annettes Bedrängnis kaum wahr: »Meine Mutter, die war ja gut, als Kind vergötterte ich sie, aber sie kam viel seltener als mein Vater.« Die Besuche des Vaters in Hall ließen Annette Kolb unbefriedigt: »Seine Besuche schüchterten mich ein. […] er war jedoch viel zu eilig, um auf Kinder einzugehen, und wandte sich, kaum hatte er mich begrüßt, der Oberin zu und interessierte sich für ihren Garten, warf wohl Striche auf ein Blatt Papier.«[26]

Die Familie Kolb war in den Kreisen des Münchner Bildungsbürgertums trotz ihrer Extravaganz und ihres »rettungslosen Größenwahns«[27] angesehen. Doch hinter den Klostermauern galten Geist und Bildung nichts. Stattdessen herrschte blindes Katzbuckeln vor Besitz, Adel und Titel – bezeichnend für ein klerikales System, das noch fest in alten feudalen Strukturen verankert war. Diese Erfahrung war für das heranwachsende Mädchen besonders schmerzhaft. Sie verachtete diese Haltung und war später stolz auf ihre Geistesleistungen, die sie sich selbst erarbeitet hatte.

Die Schwester Oberin musste Annette, die Tochter des königlich bayrischen Gartenbauinspektors, noch halbwegs mit Respekt behandeln. Andere Mädchen, die aus einfachen Verhältnissen stammten, bekamen hingegen die demütigenden Machtstrukturen mit ganzer Härte zu spüren: »Zu den jüngsten Zöglingen zählte die recht unschöne Tochter einer Witwe, deren bescheidener Zuckerbäckerladen in demselben Tiroler Städtchen lag, dem auch unser Kloster angehörte. Wenn nun diese Oberin das Wort an die Kleine richtete, konnte sie es fast nie lassen, etwas von Linzertörtchen einzuflechten, und dies in einem Tone, der sehr deutlich besagte, daß ihre Herkunft zu gering sei für unser feines Institut.«[28]

Die Leidenszeit im Klosterinternat dauerte sechs Jahre. Annette Kolb meinte später, sie sei damals charakterlich beinahe verdorben worden. In dieser prägenden Lebensphase wurde sie zudem intellektuell kaum gefordert, weder wurde eine klassische humanistische Bildung noch eine berufliche Ausbildung vermittelt. Diese mangelhafte Bildung empfand Annette Kolb zeitlebens, vor allem als sie als Schriftstellerin im Licht der Öffentlichkeit stand. Hugo von Hofmannsthal, der einmal aphoristisch über sie urteilte, sie sei dumm, aber weise, war nicht der Einzige, der so dachte. Umso erstaunlicher und bewundernswerter ist, dass sie weitgehend autodidaktisch und aus eigenem Antrieb sich ihre kritische Urteilskraft heranbildete und erkämpfte. Immerhin lernte sie im Klosterinternat sich nicht gleich zu fügen und ihren Kopf durchzusetzen. Als ihre Patin sie einmal fragte, was sie sich denn zum Namenstag wünsche, antwortete das Mädchen, sie hätte gern fünfzig Bogen Briefpapier mit dem eingeprägten Motto »D’ Leut ärgern!«. Denn, so Annette Kolb noch im hohen Alter, »auf meine Meinung war ich erpicht!«[29].

Als Sophie Kolb an Ostern 1882 ihre Tochter besuchte, fuhren sie auf zwei Tage nach Innsbruck. Dort lernte Annette die Klosterfrau Mutter Angelini kennen, die Stifterin des Ordens zur Ewigen Anbetung, eine gütige, warmherzige Frau, die Annette reich beschenkte und dem hageren, in der Pubertät stehenden Mädchen den lebensklugen Rat gab: »Pour bien aimer Dieu il faut bien manger!«[30] [»Um Gott richtig zu lieben, muss man gut essen!«] Mutter Angelini war neben dem Kirchenmann Monseigneur Duchesne, den Annette Kolb um die Jahrhundertwende kennenlernte, dafür ausschlaggebend, dass sie ihren Glauben trotz aller kritischen Vorbehalte nicht verlor.

Annette Kolb litt damals nicht nur unter geistigen und seelischen Deformationen. Auch körperlich hatte sie an der kargen Unterbringung im Internat zu leiden. Durch die Kälte im Winter bekam sie Frostbeulen und infolgedessen verkrüppelte Füße. Zudem litt sie Hunger.[31] Noch in der Notzeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb sie: »Heute, da in Europa so viele Millionen die Pein des Hungerns erfahren, ist es mir eine Genugtuung, sechs Jahre hindurch täglich auf ein paar Stunden wenigstens, mit solchen Leiden bekannt gewesen zu sein.«[32] Inwiefern die jahrelange Mangelernährung im Internat dazu beitrug, dass sie schütteres Haar bekam, ist unklar. Zeitlebens trug Annette Kolb Hüte, selbst in Innenräumen. Nicht einmal vertraute Personen haben sie je ohne Hut gesehen. Hüte wurden ihr skurriles Markenzeichen. Es war ein wenig Marotte, ein wenig modische Eitelkeit, aber auch mehr: Sie schämte sich ihres Makels.

Endlich nahm die Mutter die Not ihrer Tochter wahr und zog die Konsequenz: Im Sommer 1882 durfte Annette das Internat verlassen und nach München zurückkehren: »Hoch schlug mein Herz, als die schweren Klosterriegel auf immer hinter mir zufielen.«[33] In München besuchte sie als »Externe« das Aschersche Institut in der Luitpoldstraße, unweit der Sophienstraße. Hier frönte sie offen und ungestraft ihrer vom Elternhaus genährten Liebe zu Frankreich und dem Hass gegen das Preußische: »In meinen Schulaufgaben […] schrieb ich das Wort Frankreich doppelt so groß wie die anderen, umkränzte es mit Schnörkeln in roter Tinte und setzte zum Überfluß ein Ausrufungszeichen dahinter, ohne daß es mir jemals verwiesen wurde. Dies Land behielt nun einmal in Bayern sein ganzes Prestige. Unbeliebt war nur die preußische Gesandtschaft.«[34] Das hatte seinen Grund, hatte doch der preußische Gesandte Georg Freiherr von Werthern das bayrische Volk als politisch »noch ganz unzurechnungsfähig« bezeichnet und König Ludwig II. als feigen, doppelzüngigen »Hanswurst«.[35]

Prägend für die junge Annette Kolb wurde die Bekanntschaft mit der Musik Richard Wagners, vermittelt durch ihre Mutter Sophie. Das Wagner-Fieber griff damals auch in Bayern um sich. Wenngleich Ludwig II. im Tauziehen um den Komponisten 1865 nachgegeben hatte und auf Druck der Regierung die Planungen für ein von Gottfried Semper entworfenes Wagner-Opernhaus unweit der Isar hatte fallen lassen müssen, so war doch nach etlichen Kämpfen und Intrigen 1876 das Festspielhaus im fränkischen Bayreuth errichtet worden. Annette Kolb dürfte Wagners Opern, wie viele Musikinteressierte jener Zeit, durch Klavierauszüge kennengelernt haben. Sophie Kolb unterrichtete ihre Töchter früh im Klavierspiel. Später wurde ein Klavierprofessor der Hochschule engagiert. Annette Kolb besaß, ebenso wie ihre älteste Schwester Louise, ein außerordentliches pianistisches Talent. Louise wollte sogar Konzertpianistin werden, doch starb sie früh. Auch Annette liebäugelte zeitweise mit dem Gedanken an eine musikalische Karriere, doch unterblieb – Zeichen der Nonchalance des Elternhauses – eine weiterführende gediegene Ausbildung an einem Konservatorium. Noch im hohen Alter saß Annette Kolb, ihre Augen waren bereits so schwach, dass sie nicht mehr lesen konnte, häufig am Klavier und spielte aus dem Gedächtnis bevorzugt Stücke von Mozart, Beethoven, Schubert und Debussy – mit erstaunlicher Sicherheit und Geläufigkeit, wie Zeitzeugen ihrer letzten Lebensjahre versichern.[36] Der Besuch von Theater und Oper kam im Hause Kolb eher selten vor, da hierfür das Geld fehlte. So erwähnt Annette Kolb in einem Brief an René Schickele aus dem Jahr 1925 eigens den Besuch einer Aufführung, zu dem die Vierzehnjährige die Mutter einlud (und nicht umgekehrt).

Ebenso wie Richard Wagners Musik waren seine Schriften für Annette Kolb von großer Bedeutung. Im Jahre 1905 beschrieb sie in der autobiografischen Erzählung Torso ihre Begeisterung für den Meister von Bayreuth. Die Hauptfigur Marie durchläuft, wie Annette Kolb, eine verstörende Schulzeit im Klosterinternat. Die empfangene Halbbildung ist zu gering, als dass sie ihr eine Lebensstütze sein könnte, jedoch groß genug, um »für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt«[37] zu sein. Da stößt sie auf Richard Wagners Schriften, die in dem oberflächlichen Mädchen den Drang nach Erkenntnis und Wahrheitssuche entfachen: »Hier war sie: ein junges, bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit zu suchen.«[38] Doch fehlen ihr die grundlegenden Bildungsvoraussetzungen: »Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts, was Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt noch geschult.«[39] Es gelingt Marie immerhin, durch die Lektüre von Richard Wagner, Schopenhauer, Kant und Platon, sich aus den Fesseln der Trägheit zu lösen, ja, sie findet in der Auseinandersetzung mit diesen Denkern sogar den im Klosterinternat verloren gegangenen Glauben wieder, da sie erkennt, dass wahre Religiosität Zweifel, Toleranz, Liberalität und den Glauben an die Kunst als menschliche Ausdrucksform umschließt.

In den Erinnerungen Spitzbögen aus dem Jahre 1925 spricht Annette Kolb sogar davon, sie habe sich als junge Frau so sehr in einer Sinnkrise befunden, dass sie Suizidgedanken hegte: »Über die Brücke gelehnt, bedachte ich nicht mehr die Ausblicke und Bahnen meines Daseins, nur noch die besten Arten, mich ihm zu entziehen.«[40] In dieser Lebenssituation einer tiefgreifenden Adoleszenzkrise stieß sie durch Zufall auf die zehnbändige Ausgabe der Schriften Richard Wagners, sie habe ihn zu ihrem »Mentor« erkoren, »die tollste meiner ›Windmühlen‹«[41], wie sie etwas verschämt eingesteht. Welche Schriften das im Einzelnen waren, ist nicht bekannt. In ihren Erinnerungen unter dem Titel Musik von 1964 erwähnt sie zwei Aufsätze Wagners, Die Kunst des Dirigierens und Kunst und Religion.[42] Vermutlich fühlte sich Annette Kolb von Wagners Anschauung der Kunst als Religionsersatz, als quasi-religiöses Gemeinschaftserlebnis angesprochen. Noch Jahrzehnte später preist sie »die Erhabenheit seiner [Wagners] Gesinnung, über die ich nicht mit mir handeln ließ«.[43] Ja, sie behauptet sogar: »Aber meine geistige Existenz hatte ihre inavouablen [unaussprechlichen] Seiten: ich erachtete mich als ein wagnerisches Produkt.«[44] Uns Heutigen, die wir auch um die gefährlich intolerante, nationalistische und antisemitische Geisteshaltung Wagners wissen, mag dieses geistige Erweckungserlebnis der jungen Annette Kolb befremdlich erscheinen. Doch waren um 1900 etliche Intellektuelle – man denke nur an Thomas Mann –, die an der kollektiven Sinnkrise des »ennui«, des »mal du siècle« litten, von Wagners Werk rückhaltlos überwältigt.

Immerhin gelang es Annette Kolb mit Hilfe dieses Idols, die Fesseln ihrer Ängstlichkeit und Mutlosigkeit zu sprengen – eine Art Selbsttherapie, wenn man ihrer eigenen Darstellung glauben darf. Über ihre Erkenntnis, sie sei ein »wagnerisches Produkt«, führt sie weiter aus: »Mußte meine Verstiegenheit nicht Folge und Grund zugleich meiner Verlassenheit sein? […] Über Gute und Böse ging die Sonne auf, über den Narren aber stand sie still. […] meine geistige Einzelhaft schlug mir über dem Kopf zusammen.«[45] Die »Heilung durch den Geist«, wie Stefan Zweig es nannte, erfolgte bei Annette Kolb über die Vorstufe der bitteren Selbsterkenntnis: »Zweck- oder Sinnlosigkeit meiner verschütteten, greisenhaft verlebten Jugend bis zu den Sternen setzend, die letzten Lose auswerfend, da ich nichts zu verlieren hatte, wenn ich verlor.«[46]

Am Ende dieses mühseligen Prozesses, der sich über mehrere Jahre ihrer Jugend und ihres frühen Erwachsenseins hinzog, hatte sie unter Anleitung ihrer Lektüre zwar kein systematisches Denken herangebildet, wohl aber den Glauben an die Kraft der Gesinnung, an das umstürzlerische Moment des Ideals gefunden. Aus der Verpuppung trat sie mit fest umrissenen Idealen und Ideen hervor, die sie zeitlebens unnachgiebig verfocht, auch wenn man ihr bisweilen Halsstarrigkeit vorwarf. Sie hatte eine schwere Lektion gelernt: »[…] mein Alleinsein war köstliches Umgebensein. Jegliche Gemeinschaft, mit dieser Einsamkeit verglichen, war Verlassenheit. War ich allein? Wo fände sich ein Wort für solche Vielsamkeit? […] Ich saß aufgerichtet, meine Knie umklammernd, mein Gesicht vergraben. Mut, sagte ich zu mir, Mut, Mut.«[47] An diesem Mut, an ihrer Courage, hielt sie sich und andere fest. Sie wollte nicht mehr schweigen, sich den Mund verbieten lassen, wie einst in ihrer Kindheit im Klosterinternat: »Denn von der geistig besitzlosen Klasse wird das Recht auf eigene Meinung, so wir eine haben, am längsten angezweifelt und bekämpft; daher einem jungen Fräulein Niemand die beste Gelegenheit geboten wird, zur Menschenkennerin heranzureifen. Diesbezüglich befand ich mich in vorderster Szene, wo immer ich auftrat.«[48]

Von einem »Fräulein Niemand« reifte sie zur eigenständigen Persönlichkeit heran, die, als sie zu Beginn ihrer Laufbahn ihre Artikel bei Zeitungen und Zeitschriften anzubringen suchte und auf Desinteresse und Ignoranz stieß, ihr Gegenüber – ohne Widerspruch zu dulden – zurechtwies: »Ich habe etwas zu sagen. Was ich zu sagen habe, ist wichtig. Ich habe etwas zu sagen.«[49]

»Nichtstun –, das wird nicht länger gehen«

Literarische Anfänge (1888–1899)

Die Begegnungen im Salon der Mutter stärkten Annette Kolbs Selbstbewusstsein. Hier hatte sie Umgang mit Künstlern, Bohemiens, gekrönten und ungekrönten Häuptern. Selbst Franz Liszt besuchte, wenn er in München weilte, wiederholt den Salon in der Sophienstraße. Der kosmopolitische Klaviervirtuose und Vater Cosima Wagners, der lange Jahre in Paris gelebt hatte, schätzte die Pianistin Sophie Kolb und die französische Aura ihres Hauses, was nach 1871 allerdings bereits ein kulturelles Relikt war. »Indes gab es«, so Annette Kolb in der Erinnerung, »in der wilhelminischen Ära keine französische Kolonie in München mehr. Schade. Je nun, es war halt so. Regte man sich deshalb auf? Nein, so weit ging man nicht.«[1]

1883 starb Richard Wagner in Venedig, sein Schwiegervater Franz Liszt im Juli 1886 in Bayreuth, im Juni 1886 ertrank Wagners Förderer König Ludwig II. im Starnberger See unter ungeklärten Umständen. Auch die Familie Kolb hatte zwei Verluste zu betrauern: Am 18. Juli 1888 starb Sophies Mutter Constance in einer Nervenheilanstalt in Nancy. Dorthin hatte man die einst bekannte Landschaftsmalerin gebracht, die zusehends in geistige Umnachtung versunken war und ihre Tage damit gefristet hatte, Illustrationen aus Zeitschriften zu kolorieren. Zwei Jahre später starb, erst 25-jährig, Louise, die älteste der Kolb-Töchter. Sophie Kolb zog sich daraufhin in die kleine französische Welt ihres Salons zurück. Sie verließ kaum noch das Haus und wies selbst die Forderungen des Alltags von sich.

Nach dem Tod König Ludwigs II. wurde sein jüngerer Bruder Otto König. Da er jedoch seit Jahren geisteskrank und damit geschäftsunfähig war, übernahm Luitpold, der Onkel Ludwigs und Ottos, die Regentschaft. Er leitete bis zu seinem Tod im Jahre 1912 die Amtsgeschäfte in Bayern und wurde als »der Prinzregent« in seiner volksnahen, bodenständigen Art bald selbst zur Legende. München erlebte unter seiner Herrschaft – wie schon zuvor unter Maximilian II. Joseph und Ludwig II. – eine künstlerische Blüte. Schwabing, das literarisierte »Wahnmoching« der Schriftstellerin Franziska zu Reventlow, wurde zum berüchtigten und avantgardistischen Künstlerviertel. Es war die Kunst atmende Stadt, von der Thomas Mann in seiner Erzählung Gladius Dei (1902) schwärmerisch schrieb: »München leuchtete.«

Neben Franz Liszt verkehrten in Sophie Kolbs Salon noch andere weltgewandte Gäste aus aller Herren Länder, besonders aus Frankreich, Österreich, Italien und England. Nur Preußen begegnete man wegen ihres oft zackigen Gebarens und ihrer Kaisertreue mit abwartender Zurückhaltung. Einmal entgegnete Sophie Kolb einem Oberst, der ihr erzählte, er sei in Metz in Lothringen stationiert (das ja seit 1871 zum Deutschen Reich gehörte):»Je n’ai jamais rencontré un allemand assez malhonnête pour me le rappeler.« [»Nie zuvor habe ich einen Deutschen getroffen, der so unehrenhaft war, mich daran zu erinnern.«] »Dies«, so die Chronistin Annette Kolb, »mit einer liebenswürdigen Wendung ihres Kopfes, um es verletzender wirken zu lassen.«[2]

Zu Annette Kolbs Umgang gehörte der bekannte Maler Hugo von Habermann. Er war Mitbegründer der Münchner Sezession, zeitweise sogar deren Präsident. Bereits als 13-jähriges Mädchen war Annette Kolb ihm begegnet, nicht im mütterlichen Salon, sondern auf dem Schulweg: »Mein Weg zur Schule lag entweder rechts um den Glaspalast oder links um den botanischen Garten. Rechts war er länger, führte aber an dem Hause vorbei, in welchem Habermann wohnte. Ich pflegte daher rechts zu gehen, denn sehr oft kam er dann daher, von weitem an seinem schön ausbalanzierten Gang erkennbar. Unbefangen machte ich mit meiner Schultasche vor ihm Halt und geizte nicht mit meinem Lobe, wenn er seinen gelben Überzieher trug. Wir wechselten einige Worte, dann ging jeder weiter, er in sein Atelier, ich in mein langweiliges Mädcheninstitut.«[3] Schon früh fand Habermanns Künstlerauge Gefallen an ihrer Erscheinung, die er – anders als manche Zeitgenossen – als schön empfand. Nur ihr schütteres Haar missfiel ihm. Annette Kolb verwendete daraufhin Maiglöckchentinktur als Haarwasser und bekam davon einen Hautausschlag, an dem sie jahrelang litt. Sie konsultierte einen Arzt, in dessen Wartezimmer ihr Homers Odyssee in der Übertragung durch Johann Heinrich Voß in die Hände fiel: »So kam ich über ein Maiglöckchenwasser zu Homer, aber nicht zur Lockenfülle, die ich mir versprochen hatte.«[4] Aus den »Stehkonversationen« mit Habermann auf dem Schulweg entwickelte sich eine enge Freundschaft: »Vertrautheit ohne Vertraulichkeit war ihre Marke.«[5] Eine Qualität der Freundschaft, die Annette Kolb besonders schätzte. Sie begann damals, einen eigenen kleinen Salon zu führen, wenn ihre Eltern verreist waren. Freilich geschah dies ohne deren Wissen, und so bot die Wohnung in der Sophienstraße, die Habermann zum ersten Mal betrat, mit ihren mit weißen Leintüchern verhängten Möbeln einen recht gespenstischen Anblick. Habermann porträtierte Annette Kolb zwei Mal: 1903 fertigte er ein Ölporträt an (das Bild ist leider verschollen, es existiert nur eine Schwarzweißfotografie), 1914 konterfeite er die bereits anerkannte Autorin mit Pastellfarben. Beide Porträts sind beste Beispiele für Habermanns psychologisch einfühlsame Kunst. Annette Kolb allerdings missfiel das Ölporträt: Sie hatte es zunächst während der einwöchigen Sitzungen im halbfertigen Zustand gesehen und war von der »gleichsam transzendentalen Ähnlichkeit«[6] überwältigt. Am vollendeten Bild jedoch kritisierte sie eine gewisse Steifheit, »der Bann war jedenfalls gebrochen«[7].

Eine andere Person des öffentlichen Lebens, die Annette Kolb im Salon der Mutter kennenlernte, wurde für ihr weiteres Leben von bestimmender Bedeutung: 1888 begegnete sie dem französischen Diplomaten Camille Barrère. Der 37-Jährige, zuvor in Stockholm tätig, war soeben Geschäftsträger der französischen Legation in München geworden. Er musizierte gemeinsam mit Annette und ihrer Schwester Germaine (Annette Kolb nannte den Musikbegeisterten scherzhaft einen »Melomanen«[8]). Später lud er Annette mehrfach noch nach Bern und Rom ein. In der italienischen Hauptstadt war er von 1897 bis 1924 französischer Botschafter im Palazzo Farnese. Annette Kolb widmete seiner Person zwei Aufsätze, Bei Barrère (1913) und die in französischer Sprache geschriebenen Erinnerungen Mes entretiens avec Camille Barrère (1954).

Doch zurück ins Jahr 1888: In Berlin überstürzten sich die Ereignisse. Der alte Kaiser Wilhelm I. war gestorben, sein Sohn, Friedrich III., herrschte nur 99 Tage. So folgte fast unmittelbar auf den Großvater der Enkel, der 29-jährige Wilhelm II. Seine Ansichten, Äußerungen und politischen Handlungen beobachtete Annette Kolb von Anfang an misstrauisch: »Doch in der Nähe gesehen befiel einen oft Angst vor dieser Germania. Die vom Glück so Begünstigte glich mehr und mehr der Frau im Essigkrug. Alldeutsche und Flottenverein hatten schon die Parole vom Platz an der Sonne ausgegeben.«[9] Ob Flottenbau, Marokkokrise, Reichskanzler Bismarcks Abdankung, das Erscheinen von Bismarcks Memoiren, die Berufung Bernhard von Bülows zum Reichskanzler: Annette Kolb tauschte sich mit Barrère offen darüber aus und schärfte in den Gesprächen mit ihm ihr Urteilsvermögen. Sie entdeckte ihre Freude am Politisieren und an – wie sie sich ausdrückte – »Privatdiplomatie«, die darin bestand, dass sie versuchte, ihre Freunde im diplomatischen Corps in Paris, Berlin, London und Rom für ihre pazifistischen und völkerverbindenden Ideen zu gewinnen und dadurch indirekt auf die Außenpolitik einzuwirken.