Ansonsten munter - Fritz Vischer - E-Book

Ansonsten munter E-Book

Fritz Vischer

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Beschreibung

Zum Glück gibt es Pierrot, der mit ihm das Zimmer teilt. Er reisst unablässig unanständige Witze, klopft Sprüche und bringt sie beide auf andere Gedanken. Sie liegen in Rückenlage, ihre Köpfe und die verletzten Halswirbelsäulen sind eingeschient. Die Reha wird noch Monate dauern. Sie sind beide jung. Nichts ist mehr wie zuvor. Wer sich wegen einer Rückenmarksverletzung plötzlich im Rollstuhl sieht, muss sich neu erfinden. Das Trauma kann eine Chance sein. Sie zu nutzen, erfordert allerdings viel Kraft und die Fähigkeit, sich zu hinterfragen und Neues zu ergründen. Die Mauern scheinen unüberwindbar hoch. Fritz Vischer schildert, wie er, sein Zimmerkumpan Pierrot und andere Betroffene diese Mauern überwinden, teils aber auch einfach umgehen oder ausblenden. Vischer hat das Talent, nichts zu beschönigen. Er erzählt, wie Rollstuhlfahrer manchmal schroffer Ablehnung, Skepsis und Mühsal ausgesetzt sind, aber auch, wie sie mit Anerkennung und heller Freude rechnen können. Vischer erweist sich als begabter Brückenbauer, der Missverständnisse und Scham im Umgang mit einer Auffälligkeit auszuhebeln weiss. Wer sich gut einrichtet, hat es meistens gut, ist sich Vischer sicher.

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Seitenzahl: 267

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FRITZ VISCHER

ANSONSTEN MUNTER

EINSICHTEN EINES ROLLSTUHLFAHRERS

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Zytglogge Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Fritz Vischer

Ansonstenmunter

Einsichten eines Rollstuhlfahrers

Für Pierrot und die Meinen

Inhalt

Geleitwort

Teil 1 – Wie schön wir es doch haben

Die Sprache wertet uns auf

Das kann doch nicht sein!

Endlich ist sie vorbei, die Liegezeit

Zuckungen und Verkrampfungen

Der Zeitgeist lässt grüssen

Ergotherapeutinnen und ihre Gesichter

Im Pausenhof geht die Post ab

Jeweils am Mittwoch kommt der Chefarzt

Privilegien, Gefälligkeiten und kleine Freiheiten

Ende gut, alles gut

Da gab es noch Pendenzen

Teil 2 – Spiele mit der Hoffnung

Die Hoffnung als Energiequelle

Glück und Unglück sind relative Begriffe

Hilfe bedeutet Nehmen und Geben

Im Hier und Jetzt ist es auch schön

Sport, das mir ferne Wundermittel

Die Selbsterfahrungsgruppe

Der Service-Club lädt ein

Aufgeklärte und religiöse Denkweisen

Von der Reha-Schule in die Lehre

Die Hoffnung wird zur Mission

Wer hofft, spekuliert

Teil 3 – Wir und die andern

Die Taktlosigkeiten von Hanna und Salome

Rückkehr in die Bank

Moderne Alternde sorgen vor

Hans und seine Käfer

Separation, Integration und Inklusion

Diversität wird modisch

«Sie sind so tapfer»

Arbeitsreisen nach Bern

Adieu, ihr harten Burschen

Pierrot und ich verselbständigen sich

Gibt es doppelte Aussenseiter?

Teil 4 – Wie schwer wir es doch haben

Unter der Gürtellinie wird’s mühselig

Hans geht es schlecht

Wer nicht flucht, ist krank

Unsere unzulänglichen Hilfsmittel

Wir sind halbwegs hinlänglich

Benefizgala «pour une bonne cause»

Auf Reisen

Das Leben bleibt lebenswert

Paraplegie – eine Auswahl von Daten

Endnoten

Danksagungen

Geleitwort

Fritz Vischer hat ein besonderes Buch geschrieben: ein erstaunliches Kaleidoskop von Geschichten und Gedanken, Berichten und Porträts. Er erzählt von Aufbegehren und Anpassung, von Techniken der Bewältigung und Neuorientierung, von der Behinderung als Chance und der Hoffnung als Energiequelle. Er berichtet vom oft kräftezehrenden Versuch, als Rollstuhlfahrer ein möglichst normales Leben zu führen, schildert die Balanceakte im zwischenmenschlichen Alltag, den Umgang mit den Reaktionen und Emotionen der anderen, und er reflektiert über Denk- und Verhaltensmuster, über den sich wandelnden Umgang der Gesellschaft mit Behinderung.

Fritz Vischer schreibt anschaulich und lakonisch zugleich, nachdenklich und lustig, eindringlich und (selbst-)ironisch, scharfsinnig und scharfsichtig. Da ist einer, der genau hinschaut und hinhört. Und er schafft es, uns ebenfalls dazu zu bringen – zum genauen Hinschauen und Hinhören, zum Nachdenken und immer wieder auch Umdenken.

«Wir müssen gemeinsam kreativ sein, um uns entfalten zu können», schreibt er – und mit gemeinsam meint er uns alle, ob wir zu Fuss gehen oder im Rollstuhl sitzen oder mit dem Velo fahren. Sein Buch ist ein differenzierter Beitrag zur Entdeckung und Entwicklung dieser gemeinsamen Kreativität.

Die Kreativität von Fritz Vischer erleben wir an der Schweizer Paraplegiker-Forschung immer aufs Neue: Seit fast vier Jahren unterhält er einen gern gelesenen Blog in unserer Online-Community für Menschen mit Querschnittlähmung.

Zum Schluss möchte ich noch einen Satz aus dem Buch zitieren, der mich sehr berührt und gerührt hat: «Nottwil ist wie Mekka. Es ist Zufluchtsort, Heim- und Heilstätte zugleich.» Danke, lieber Fritz Vischer, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, für diese Worte, die uns nicht nur Lob, sondern auch Ansporn sind. Und danke für dieses ganze Buch, das uns Einblicke eröffnet und Einsichten ermöglicht.

Mirjam Brach

Geschäftsführerin

Schweizer Paraplegiker-Forschung

Teil 1Wie schön wir es doch haben

 

Am 20. August 2013 treffe ich mich wieder mal mit Pierrot. Wir stehen im Jahre 36 unseres Lebens im Rollstuhl. Das feiern wir nicht. Dafür bejubeln wir immer wieder unsere Verbundenheit.

1977, in der Erstrehabilitation, lag Pierrot im Bett rechts neben mir im Schweizerischen Paraplegikerzentrum, das damals noch in Basel war. Wir hatten zwölf Wochen in Rückenlage abzuliegen. Unsere Köpfe und verletzten Halswirbelsäulen waren eingeschient. So sollten die Wirbel und im besten Falle auch das – bei mir gequetschte, bei Pierrot durchbohrte – Rückenmark wieder zusammenwachsen. Operationen galten damals als zu riskant. Besucher mussten sich über uns beugen, um uns ins Gesicht zu sehen. Setzten sie sich neben dem Bett auf einen Stuhl, ermöglichte ein auf einen Ständer geschraubter schwenkbarer Spiegel den Blickkontakt. Zuvor mussten sie ihn allerdings richten, denn gewöhnlich war er so gestellt, dass ich zu Pierrot rübersah. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel – das weiss ich seither. Sonst verstehe ich nichts von Physik.

Wir befanden uns zu sechst in einem Viererzimmer, ich zum Glück am Fenster. Der Blick ins Freie, in den zumeist grauen Himmel, zerstreute mich etwas und liess mich in diesem überfüllten Raum in die Weite schweifen. Nach der schier endlosen Liegezeit durften wir zusammen in eines der beiden Zweierzimmer im ersten Stock des Hauses. Ursprünglich waren es Einerzimmer. Trotzdem war das ein grosses Privileg. Glück im Unglück.

Pierrot hatte die Zeit unmittelbar nach der Rückenmarkverletzung in Lausanne in einem sogenannten Sandwich-Bett verbracht. Erst als ich den Fensterplatz schon belegt hatte, stiess er zu uns. In seinem Gepäck hatte er Kassetten mit Musik der Rolling Stones und von schwarzen Blues-Interpreten. Ich hatte ein altes, schon lange nicht mehr benütztes Abspielgerät. Die andern vier im Zimmer waren nicht erfreut. Wir vereinbarten mit ihnen, dass sie uns jeden Tag eine Stunde Stones und Blues gewähren. Dafür erzählte Pierrot in der übrigen Zeit unablässig unanständige Witze. Die stellten alle zufrieden.

Auch am wohligen Augustabend in Bern, fast vier Jahrzehnte später, durfte ich mit zwei, drei neuen Abstechern unter die Gürtellinie rechnen. Er wiederholte sich nie. Ich lud ihn in den neu renovierten, eleganten Schweizerhof ein. Dort kannte ich Helga, die Zuständige für Marketing, eine ehrgeizige Frau, aber liebenswürdig und voller Energie. 1989 schlich sie sich kurz vor dem Mauerfall aus der DDR in den Westen und danach in die Schweiz.

Helga lässt sich nicht lumpen und spendiert eine grosse Sushi-Platte und dazu eine Flasche Champagner. Pierrot schwelgt, beginnt als ehemaliger Hotelfachschüler zu fachsimpeln und schmeichelt Helga. Im leutselig werdenden Gespräch fällt unverhofft der Begriff ‹Ossi›. Es ist eine verächtliche Bezeichnung, auch wenn das nicht immer so gemeint ist. Bei Helga kommt sie nicht gut an.

Die Sprache wertet uns auf

Mit uns in unseren Rollstühlen meint’s die Sprache wesentlich besser, werfen wir mit etwas spöttischem Unterton ein. Wir haben’s schöner als die Ossis. Vor 100 Jahren und mehr galten wir noch als Krüppel oder Invalide. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich arme Teufel mit gekrümmten Wirbelsäulen im westdeutschen Reisepass unter Besondere Merkmale als verwachsen bezeichnet. Kriegsverletzten und Menschen, die wie wir im Rollstuhl waren, erging es besser: Sie stiegen zu Beschädigten auf. Schliesslich setzte sich der etwas wohler klingende Begriff Behinderte durch, und heute sehen wir uns zu Menschen mit Behinderung befördert. Andere Bezeichnungen gelten als falsch und unzulässig. Die Rehabilitation erfolgt nicht mehr in muffigen Anstalten, wo man uns Insassen irgendwo in Aussenbezirken versorgt. Heute sind wir in Spezialkliniken oder in Zentren untergebracht, wo wir als Rehabilitationspatienten unser Potenzial auszuschöpfen lernen. Herzlich, aber bestimmt sind wir eingeladen, uns möglichst bald wieder im Arbeitsmarkt einzugliedern und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Das sind Verbesserungen. Die Sprache begleitet sie. In der Dynamik der Sprachregelung sind wir auf dem aufsteigenden Pfad, die Ossis wieder auf dem absteigenden, stellen wir verdutzt fest. Der Wandel vom bedauernswerten und eingesperrten Verwandten im Osten, der Unterstützung verdient, zum schmarotzenden, mehr oder weniger verwunschenen Ossi ist dagegen eine Verschlechterung. Das schlägt sich sprachlich nieder.

Wir erleben immer wieder, wie offizielle Sprachregelungen darauf abzielen, von trüben Gedanken abzulenken und Sachverhalte zu verniedlichen. So ist die Atomkraft zur unverdächtigen Kernenergie geworden, der Arbeitslose ist nur noch beschäftigungslos und mutiert wohl bald zum Menschen mit hohem Freizeitanteil. Der Pflegefall ist heute ein Mensch mit hohem Assistenzbedarf, der Mensch mit Behinderung hat Beeinträchtigungen, allenfalls ist er in seiner Mobilität eingeschränkt. Noch beschönigender und schonungsvoller wird es, wenn von deinem Handicap die Rede ist. Der Begriff kommt aus dem Golfsport: Vom Besten bis zum Schlechtesten hat dort jeder Spieler ein Handicap und ist stolz darauf.

Vor lauter Vernebelung vergessen die Sprachregler, dass neue Begriffe mitunter auch die Bedeutung von Aussagen verändern. Der Begriff Handicap führt ins Absurde, die Bezeichnung Menschen mit Behinderung ungewollt zu grundsätzlichen Lebensfragen. Dazu ein hoffentlich träfes Beispiel: Es würde uns kaum einfallen, eine junge Frau mit dem typischen Rundbäuchlein als Menschen mit Schwangerschaft zu bezeichnen. Sie ist schwanger, und das Austragen eines Menschenkindes betrachten wir nicht als zu vernachlässigenden Begleitumstand, sondern als Aufgabe. Die Schwangere verkörpert diese Aufgabe, sie gehört zu ihr.

Neu sind wir, Pierrot und alle unsere Leidensgenossen, offiziell Menschen mit Querschnittlähmung und nicht mehr Querschnittgelähmte bzw. Paraplegiker oder Tetraplegiker. Wir sind also Menschen, die mit der Querschnittlähmung einen ständigen Begleiter haben. Noch vor Kurzem war aber die Regel, dass wir querschnittgelähmt sind, das Krankheitsbild also Teil von uns ist.

Dahinter stehen unterschiedliche, eigentlich konträre Lebenseinstellungen. Querschnittgelähmt sein heisst, sich der erworbenen Querschnittlähmung hinzugeben und sie in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Eine Querschnittlähmung haben bedeutet dagegen, sie möglichst beiseite zu schieben, um am gesellschaftlichen Leben ohne Einschränkungen teilzuhaben. Beide Haltungen sind verbreitet, beide sind auf ihre Art gut und zu respektieren. Noch besser ist aber Haben und Sein, denn weder können wir die Querschnittlähmung unter den Tisch kehren noch sollten wir sie als Lebensmission verinnerlichen.

Im Alltagsleben weichen auch wir, die Betroffenen mit Querschnittlähmung, lebensphilosophischen Fragen ganz gerne aus. Schliesslich geht es uns auch ohne tiefgründige Auseinandersetzung mehrheitlich gut. Beschönigende und verharmlosende Ausdrucksweisen untermalen das. Sogar wir pflegen sie, nehmen sie gerne entgegen und hoffen, es seien nicht nur Hülsen. Gleichwohl können wir gut damit leben, dass es in unserer Umgangssprache munter, aber aufrichtig weiterhin quillt und spriesst. Wir gefallen uns unverändert als ‹Paras› und ‹Tetras›, zuweilen auch als ‹Querschnittler› oder ‹QS’ler›, den Kürzeln für Querschnittgelähmter. In Bern sind wir ‹Chribble› – eine liebevolle Abwandlung des in böser Absicht verwendeten Begriffs Chrüpu. Wir sitzen im ‹Rolli›, nicht im ‹Fahrstuhl›, Zürcher sagen im ‹Charre›.

Von «Schäuble in seinem Wägelchen» sprach Altbundeskanzler Helmut Kohl und meinte seinen ehedem treuen politischen Weggefährten und langjährigen Minister, der heute als hochgeachtete Persönlichkeit Präsident des Deutschen Bundestages ist. Sein Rückenmark ist auf der Höhe des sechsten Brustwirbels durchtrennt, mit allen Folgen, die das nach sich zieht. Kohl kam mit seiner verharmlosenden Wortwahl Evelyne, einer französischen Bekannten von mir, sehr nahe. Sie redet beharrlich von meinem ‹chariot›. Das erinnert so wunderbar ans herrliche chariot de desserts im Café de la Paix in Paris. Weniger poetisch, aber immer noch lieblich ist die Bezeichnung ‹Käreli›, an die sich mein Vater hielt.

Im Wirrwarr von politisch korrekten Bezeichnungen und umgangssprachlichen Wendungen hat sich noch eine weitere halbamtliche Formulierung eingebürgert. Wir sind Rollstuhlfahrer. Rollstuhlfahrer ist ein Sammelbegriff, der uns zur gesellschaftlichen Anspruchsgruppe erhebt. Kinder fahren Trottinett, später haben sie Rollschuhe, schliesslich befördern sie sich zu Velofahrern. Andere fahren E-Bike, ein Motorrad und wer protzen will einen Ferrari. Im Grunde könnten auch alle Rollstuhl fahren. Es steht nirgends geschrieben, dass nur Gehbehinderte und Gelähmte solche Fahrzeuge benützen dürfen. Es herrscht Wahlfreiheit. Jeder fährt das, was ihm behagt, jeder ist ein Fahrer. Seine Rechte sind ernst zu nehmen. Sie sind deshalb in der Verfassung und der Gesetzgebung verankert. Wir können unsere Fahrerrollen auch beliebig tauschen. Morgens fahren wir mit dem Velo zur Arbeit, abends im Wohnmobil in den Urlaub. Alle wandeln wir uns gelegentlich zu Tramfahrern. Rollstuhlfahrer können allerdings nur dann bequem einsteigen, wenn der Zugang gewährleistet ist. Das Gesetz sieht vor, dass das so sein sollte. Randsteine gehören entsprechend erhöht. An machen Stationen ist das inzwischen umgesetzt, das Trottoir angehoben. Die hinaufgesetzten Passagen sind wenige Meter lang. Alle, die irgendwie mit Rädern unterwegs sind, rollen dank ihnen mühelos in die Strassenbahn. Unter ihnen auch müde gewordene Velofahrer, die sich ins Tram retten.

Nun kommt es freilich vor, dass noch nicht ermüdete, aber etwas verträumte Velofahrer diese Randsteine mit ihren Pedalen streifen, bald stellt sich das Vorderrad quer, und sie stürzen. Sie erwachen unangenehm aus ihrem Träumchen. Das mögen sie, die Guten, gar nicht und mahnen durchaus hörbar an, dass da neue Gefahrenquellen entstanden sind. Die erhöhten Randsteine sind ihnen im wörtlichen Sinne ein Stein des Anstosses. Sie sehen ihre Interessen gefährdet und zweifeln an, ob es rechtens ist, kleine Teile ihrer Wegstrecke am Rande einfach zu erhöhen. Schliesslich ist niemandem gedient, wenn sie verunfallen und dabei riskieren, in der Folge als Rollstuhlfahrer durch die Stadt radeln zu müssen. Die Interessen der vielen Zweiradfahrer prallen hier auf die Anliegen der weniger Zahlreichen, die sich auf vier Rädern fortbewegen. Die Mehrheit der Guten wird sich gegen die Minderheit durchsetzen. Es ist absehbar, dass nie alle Stationen ebenerdig zugänglich sind. Wir, die freundlichen und duldsamen Rollstuhlfahrer, werden auch das tapfer und verniedlichend überstehen.

An besondere Wendungen und Kürzel halten sich die Mitarbeitenden an Flughäfen: Ich bin bereits als Rollstuhlfahrer angemeldet, checke ein, der freundliche Herr am Schalter ruft den Assistenzdienst an und meldet mit leiser Stimme: «Du, ich hab’ da noch einen Charly.» Ich höre es dennoch und entgegne: «Charly heisst unser Kater, der kommt aber nicht mit.» Der Mann errötet kurz, erklärt mir dann aber schelmisch lächelnd, Charly beziehe sich auf das C am Schluss meines Codes, der mich als Rollstuhlfahrer klar ausweist: WCHC. So lautet das Kürzel für Wheelchair Carry. Dahinter steht ein passenger who is unable to walk. Passagiere, die Mühe beim Gehen zeigen, verdienen sich je nach Schwere ihrer Gehbehinderung die Codes WCHR, Wheelchair Ramp, oder WCHS, Wheelchair Steps. Die weiteren Codes, die eindeutige Auffälligkeiten abdecken, sind BLND, DEAF, DUMB, DEAF/DUMB und STCR. Schliesslich gibt es noch DPNA. Das bedeutet, wie leicht zu erraten ist, Disabled Passenger with intellectual or developmental disability needing assistance, also Lernschwache und kognitiv Beeinträchtigte. Wer keines dieser Kriterien erfüllt, ist MAAS: Meet and Assist. Mal sehen, was diesem Menschen fehlt, verkündet dieser Code. So schnörkellos drücken sich hochprofessionelle Helfer aus. Im Grunde ist das angenehm, wenn auch ungewohnt. Dank ihnen stehen Flugzeuge allen offen, ihre Hilfe ist meistens tadellos. Alle andern lenken gerne ab, verklären, verhüllen und verniedlichen.

«Gehst du mit dem Rasenmäher?», fragt mich meine Frau. «Nein, mit dem Ferrari», antworte ich und spanne den Swiss-Trac, ein leistungsfähiges 65 Kilo schweres Traktionsgerät, vor meinen Rollstuhl. Mit ihm mutiere ich zum Ferrari-Fahrer: Er zieht mich mit 9 km/h, ich steuere ihn zur Tramstation, hänge ihn dort wieder ab, und lasse ihn bei den Rädern meiner lieben Kollegen stehen, um Tramfahrer zu werden.

Ich gehe wie meistens in die Stadt Der Einstieg in Therwil Zentrum ist nicht ebenerdig, noch nicht. Eine Stufe, vielleicht knapp zehn Zentimeter, ist zu überwinden. Alleine kriege ich das nicht hin. Das ist ja die Krux. Deshalb bitte ich wie immer jemanden um Hilfe und bekomme sie auch. Frauen bieten sie vielfach von sich aus an. Meistens wissen sie auch genau, was zu tun ist: Rollstuhl samt mir, dem ‹Zögling›, nach hinten kippen, die Vorderräder aufsetzen und ruck – ich bin drin. Manche steigen zuerst ein und ziehen mich über die Hinterräder hoch. Das ist allerdings anstrengender, bemerke ich jeweils. So oder so, immer bedanke ich mich überschwänglich für den liebenswürdigen Dienst. Dann heisst es, «Ist ja wie mit dem Kinderwagen» oder «Wissen Sie, ich arbeite in der Pflege» oder «Mein Vater ist auch im Rollstuhl». Oft folgt noch ein Schwätzchen. Ich finde das rundum sympathisch.

In der Stadt ist die Tramstation Theater mein wichtigster Drehpunkt. Dorthin radelte ich vor einiger Zeit zu später Stunde, ich war auf dem Weg nach Hause. Da stiess ich auf meinen ehemaligen obersten Chef, einen vornehmen, aber zart gebauten Herrn. Ich begrüsste ihn und seine Frau. Sie seien im Theater gewesen, erzählten sie. Er sagte gleich, er sei es, der mich ins Tram hebe, und er bringe mich auch nach Hause. Ich verwies auf jüngere Männer, die ebenfalls auf das Tram warteten. Es war mir etwas mulmig, denn ich errechnete mir, dass der ehemalige ‹Sitzdirektor› inzwischen das zarte Alter von 90 Jahren erreicht haben musste. Er beharrte aber darauf, mir zu helfen. Das sei Ausdruck gelebter Betriebsverbundenheit, und er habe schon immer grosse Stücke auf mich gehalten. Schliesslich fuhren er und seine Frau tatsächlich zwei Stationen weiter als nötig, um mich aus dem Tram zu geleiten. Sie begleiteten mich noch bis zum Standort meines Swiss-Trac und gingen erst zurück, als sie sich vergewissert hatten, dass ich unversehrt nach Hause gelangen würde. Solche, beinahe bemutternde Fürsorglichkeit zeigen sonst nur Frauen.

Gemäss korrekter Sprach- und Verhaltensregelung hätte mir der charmante und aufmerksame Herr Direktor nicht Hilfe, sondern Assistenz gewähren sollen, und auch das nur, wenn ich danach frage. Hilfe gilt als zu unterwürfig. Aus haftrechtlichen Gründen hätte er in Deutschland überdies einen entsprechenden Fachausweis vorweisen müssen, der seine Qualifikation als professioneller Assistenzerbringer bestätigt. Zum Glück spielt sich auch hier alles ab wie eh und je. Zwei kraftvolle Handgriffe, und auch der Vischer in seinem Wägelchen fährt in der Strassenbahn mit.

Mit seinem, ihm eigenen sarkastischen Humor verniedlicht auch Pierrot. Ein geteerter Spazierweg umgibt das Berner Wohn- und Schulheim, in das er, der Not gehorchend, 1978 zog. Diesen Weg bezeichnet er seit jeher als ‹Nürburgring›, auf dem «ich mit 2 km/h meine Entspannungsrunden drehe».

Ich selbst entspanne mich mit meiner lieben Frau gerne in Ferienhotels. Dort fragte einmal eine verunsicherte Rezeptionistin ihren Chef, wie sie denn vorgehen solle, «der Gast ist rollstuhlgängig». Eine gut gemeinte, sprachlich korrekte Wortschöpfung. Gängig ist sie trotzdem nicht, das Hotel aber schon. Wir sind immer wieder dort.

Das kann doch nicht sein!

Unsere lieben Mitmenschen bestimmen unser Wohlergehen, nicht die schöne Rhetorik. Pierrot erkannte das 1977 schnell und mit fast tierischem Gespür. Kaum war er im Schweizerischen Paraplegikerzentrum in Basel angekommen, begann er mit Lisa, der blonden finnischen Krankenschwester, zu schäkern. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Witze und derbe, aber immer treffende Sprüche waren sein Markenzeichen. Dafür war Lisa zu haben. Sie lachte gerne laut und beherzt.

Der Spiegel über meinem Bett war wie meistens so gerichtet, dass ich auf Pierrots Bett sah. Lisa hatte Morgendienst, und ich konnte verfolgen, wie sie Pierrot wusch. Dazu scherzten sie, und auch sein Geschlecht regte sich stark. Diese Szene wiederholte sich, allerdings nur, wenn Lisa Dienst hatte. So schien es mir zumindest: «Alle Glieder gelenkig bis auf eins.» Aber Achtung, das kann doch nicht sein, wir sind hier nicht in einem Goethe-Seminar, sondern in einer Rehaklinik. Die Verbindung vom Gehirn zum Körper ist gekappt, hatten sie uns gelehrt. Bei Pierrot erst recht, denn eine Pistolenkugel hatte sein Rückenmark auf der Höhe des fünften Halswirbels durchdrungen und durchtrennt – einen Querschnitt verursacht, wie es die deutsche Bezeichnung des Krankheitsbildes bildhaft umschreibt. Bei ihm bestand wenig Hoffnung, dass sich das Nervengewebe erholt. Seine Schädigungen waren, wie es im Jargon heisst, ‹komplett›. Er konnte deshalb keine Bewegungen mehr auslösen und spürte unterhalb der Brustwarzen nichts mehr. Was sonst noch beeinträchtigt war oder vielleicht auch nicht, blieb aber vorerst unklar, so unklar wie die merkwürdig anmutende Geschichte seines Waffenunfalls.

Jedem, der danach fragte, erklärte er mit ruhiger Stimme, seit jeher habe er sich für Waffen interessiert, schliesslich sei er auch Militärangehöriger. Am Tag nach dem Semesterabschluss habe er seine Pistole gemustert und von vorne prüfend in den Lauf geblickt. Unvermittelt, und von ihm sicher nicht verursacht, habe sich dann aus unerklärlichen Gründen eine Patrone gelöst. Direkt in seinen Mund sei sie gedrungen und habe den fünften Halswirbel getroffen.

Am frühen Morgen geschah das offenbar. Im Studentenhaus der Hotelfachschule Lausanne waren nur noch wenige anwesend. Die meisten waren bereits in die Semesterferien gereist. Erst gegen Abend hörte jemand seine Rufe. Zum Glück. Er lag in einer Blutlache am Boden seines Zimmers. Am allerschlimmsten sei das Durstgefühl gewesen, berichtete er. Mit Blaulicht kam er schliesslich ins Universitätsspital. Zu trinken gab’s nichts für die verletzte Kehle. Dafür einen Schnitt in die Luftröhre, eine Tracheotomie. Seine Atmung sei gefährdet, erklärten sie ihm. Allmählich labte ihn eine Infusion. Das alles bekam ich wesentlich öfter zu hören, als mir lieb war. Über den Unfallhergang sprachen wir untereinander nie.

Bei mir fragte der zuständige Stationsarzt, Dr. Rippel: «Sie spüren das doch, Herr Vischer?», und piekste mir mit einem spitzen Stäbchen in die linke Schulter, «Aua!», in den Ellbogen, «Aua!», in den Bauchnabel, «Gut erträglich!», und schliesslich in den linken Oberschenkel, «Etwas dumpf!» In intimeren Bereichen ging’s wieder in Richtung «Aua». Ich nahm also alle Stiche wahr. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, Berührungen und erst recht Stiche nicht spüren zu können. Damit verdiente ich mir den Stempel ‹inkomplett›. Ich nahm’s hoffnungsvoll zur Kenntnis.

Rippels Stellvertreter, der sich in Psychotherapie weiterbildete, fragte uns danach vermeintlich feinfühlig und mit sanfter Stimme, wie das alles bei uns ankomme. Er wisse, es sei hart, aber beschönigen wolle er nichts. Vornehmes Schweigen war unsere Antwort. Wir wurden nie warm mit ihm.

Pierrots genitale Regungen trugen zur allgemeinen Heiterkeit bei. Wir beschlossen, das Thema auf den Tisch zu bringen und Dr. Rippel bei nächster Gelegenheit zu nageln. Er war gewöhnlich recht einsilbig, liess kaum was verlauten, solange keine Komplikationen auftraten. Wir waren im Grunde voller Fragen. Einige besprachen wir mit den Physiotherapeutinnen. Sie waren gesprächsbereiter, weil sie nicht weghuschen konnten. Sie hatten unsere Gelenke beweglich zu halten. Wie denn das sei, unter der Gürtellinie, wollten wir aber von Rippel wissen und meldeten dies auch an. Zum ersten Mal antwortete er ausschweifend, holte lange aus. Unsere Frage sei nicht unberechtigt, aber vielleicht etwas früh, das Rückenmark sei jetzt in der Erholungsphase, bei mir sei das ja augenfällig. Er freue sich sehr, dass ich mein rechtes Bein wieder etwas bewegen könne und sich zudem am ganzen Körper das Spürvermögen, also die Sensibilität, zurückbilde. Bei Pierrot sei das leider weniger ausgeprägt, warten lohne sich aber, jede Prognose sei zu diesem Zeitpunkt unverantwortlich. Das gelte auch für den Bereich geschlechtlicher Aktivitäten. Im Moment sei das sicher etwas schwierig, aber alles werde sich über kurz oder lang wieder einpendeln. Deswegen seien wir ja hier und müssten diese etwas unangenehm lange Liegezeit über uns ergehen lassen.

Die schönen Worte hörten wir wohl, Glauben vermochten wir ihnen nicht zu schenken. Im Gegensatz zu seinem Stellvertreter, der uns mit seinen vermeintlich besonders einfühlsamen Fragen anödete, neigte er zu Ausflüchten: Entweder gab er sich wortkarg oder er schwadronierte. Das durchschauten wir. Wir standen vorerst im ungewissen Nichts und trösteten uns damit, dass in diesem dunklen Nichts immerhin Wunderliches und Überraschendes entstehen könnte. Vielleicht hatte er das gemeint. Jedenfalls verübelten wir ihm seine Ausschweifungen nicht und liessen das Thema auf sich beruhen. In einem übergreifenden philosophischen Sinne hatte er im Grunde Grosses verkündet. Es ist ja tatsächlich so, dass auf dieser Welt und in unserem Leben immer alles im Wandel ist und sich immer wieder einpendelt. Zumindest irgendwie. Diese Grunderfahrung tragen wir in uns, sie ist beinahe Glaubensgrundsatz und ewiges Thema der Philosophie: Alles fügt sich über kurz oder lang, alles kriegt irgendwann seinen Sinn. Tut es das nicht, so zerbrechen wir.

Pierrots Zuneigung zu Lisa dauerte nicht lange. In seiner Blase und seinen Harnwegen hatten sich fürchterliche Spitalkäfer eingenistet. Ihnen war nur intravenös beizukommen. Spritzen ansetzen war indessen nicht Lisas Stärke. Pierrots Unterarm war von ihren Versuchen blutunterlaufen, das Antibiotikum irgend­wo auf der Bettdecke, die Spritze am Boden. Da wurde er sehr resolut und verbat sich weitere Behandlungen durch Lisa. Nur Ärzte dürfen ihm Spritzen geben, verfügte er. Wesentlich geschickter waren die nicht, aber Lisa bekamen wir kaum mehr zu Gesicht. Mit diesem forschen Benehmen schuf er sich beim Personal freilich keine Freunde.

An einem der nächsten Tage stand plötzlich eine elegant gekleidete Dame, wohl um die 40, an seinem Bett. Das fiel auf, Pierrot bekam wenig Besuch. Sie war sichtlich sehr betroffen. Ich verkniff mir die Ohren, um das Geflüster der beiden nicht zu hören. Sie blieb eine gute halbe Stunde und verschwand mit bleichem Gesicht. «War das eine Cousine von dir?», fragte ich Pierrot abends vor dem Einschlafen. Er verneinte. Sie sei Prokuristin in einer Zürcher Privatbank und verdiene gut, antwortete er. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: «Als tem­porärer Mitarbeiter einer Umzugsfirma habe ich diese Frau vor Jahren kennengelernt. Sie hat mich gebeten, ihr mit den Vorhängen in ihrer neuen Wohnung zu helfen. So habe ich ihr an einem Samstagnachmittag alle Leisten montiert und die Vorhänge geduldig eingefädelt, zuletzt die im Schlafzimmer. Dort hat sie mich verführt. Seither bin ich immer wieder bei ihr gewesen», schloss er.

Das alles klang durchaus glaubwürdig. Als Nachbarn, über Wochen – tagein, tagaus – in diesen Betten, waren wir so entblösst und uns so nahe, dass für Prahlereien kein Raum mehr übrig war. Zu dieser so unverdächtig daherkommenden Prokuristin hatte er tatsächlich ein besonderes Verhältnis. Dafür sprach auch, dass sie es zustande brachte, Pierrot zur Ergänzung des ewigen Hagebuttentees wieder zu seinem bevorzugten privaten Getränk zu verhelfen. Sie veranlasste – offenbar mit Zustimmung der Stationsschwester – dass am folgenden Tag ein Kistchen mit 24 kleinen Flaschen Bier geliefert wurde. Mit Blick auf die Beruhigungstabletten und das verdünnte Blut musste es alkoholfreies Bier sein. Pierrot bedauerte das ein wenig, die Freude überwog indessen. Auch ins geistlose Kinderbier schütte der Braumeister am Schluss noch einen Schuss Starkbier. «Sonst wäre es süss», dozierte er.

Ich gehörte ausdrücklich zum Kreis der Mitbegünstigten, gelegentlich bekam auch Schmassmann auf der anderen Seite von Pierrots Bett eines. Ich durfte mitlaben, weil ich die Glotze bezahlte, in die wir abends über den Spiegel starrten. Auf dem Rücken liegend, im sogenannten Königsschlaf, war Lesen nicht möglich. Wir hätten ein Buch auch gar nicht halten können.

Das noch geistfreie Bier war ein erster Schritt zurück zu den Lebensgenüssen. Er erwies sich bald als nachhaltig, denn die besorgte Prokuristin hatte dem Lieferanten offenbar einen Dauerauftrag erteilt. Ihr Labsal beruhigte auch den mürrischen Schmassmann. Die Wirkung hielt indessen nicht lange an.

Gegen Ende der Liegezeit war Heiri Schmassmann in einer der vielen unruhigen Nächte noch störrischer als je zuvor. Auch er hatte Tag und Nacht in diesem Streckbett zu verharren. Bei ihm wäre eine Operation an der verletzten Wirbelsäule erst recht gefährlich gewesen. Er gehörte nämlich zu den wenigen, die gute Aussichten auf vollständige Heilung hatten. Er verstand das aber nicht und lehnte sich laut und kraftvoll auf. Er wollte nicht andauernd im Bett liegen.

Ärzte und Pflegepersonal rangen sich deshalb zu einer Massnahme durch, an die sie in diesem Spital für frisch verletzte Gelähmte sonst nie zu denken brauchten. Sie banden ihn mit zwei Lederriemen fest. In Verbindung mit Beruhigungsmitteln und einem gelegentlichen Bierchen aus Pierrots Schatzkiste half das vorübergehend. In dieser Nacht schnaubte, stöhnte und schimpfte er aber unentwegt. Wir riefen immer wieder die Nachtwache, die ihn zu besänftigen versuchte. Kurz vor Tagesanbruch riss er sich dann los und krachte wie ein Brett aus seinem gepolsterten Liegebett auf den harten Linoleumboden. Auffangen konnte er sich nicht, denn noch war sein Rückenmark nicht ganz genesen. Um ein Haar hätte er sich die Wirbelsäule nochmals brechen können. Die Aufregung war gross.

Erst nach einiger Zeit kehrt im Sechserzimmer wieder Ruhe ein. Schmassmann scheint erschöpft. Der stellvertretende Stationsarzt nutzt die Situation und verwickelt ihn in ein Gespräch. Nicht einmal der ungehobelte Schmassmann kann seinem Psychologismus entrinnen. Wie er es denn mit dem Alkohol so habe, fragt er ihn. Gelegentlich gebe es nach Feierabend noch ein Bierchen mit den Kollegen, antwortet Heiri. Das gehöre eben dazu. Der Arzt lächelt anteilnehmend und hakt nach: «Zum Frühstück, was nehmen Sie da?» Heiri räuspert sich erst, doch dann kommt es: «Kaffee, was denn sonst, vielleicht noch einen Kirsch dazu. Viel ist es aber nicht, denn um neun Uhr haben wir ja die grosse Pause.» Das Gespräch spinnt sich weiter. Ich lausche und vernehme, dass es in der grossen Betriebspause zum Käsebrot offenbar reichlich Kaffeeschnaps gibt, über Mittag ein, zwei grosse Biere und abends zum Wurstsalat am liebsten einen gespritzten Weissen. Warum er denn gesagt habe, er trinke nur gelegentlich, erkundigt sich der junge Mediziner. Er habe eben gemeint, er wolle wissen, wie er es zwischen den Mahlzeiten halte, und da trinke er wirklich selten, betont Schmassmann.

Kurze Zeit später wird Schmassmann verlegt. Wochen später begegne ich ihm in der Turnhalle der Physiotherapie wieder. Ich bin im Rollstuhl, er geht und scheint mich nicht zu erkennen. Dazu übt er, schwere Kisten hochzuheben und mit gestreckten Armen über dem Kopf zu halten. Seine Stelle in der Speditionsabteilung eines Grossverteilers kann er bald wieder antreten, heisst es. Ich winke ihm zu, aber er nimmt mich nicht wahr. Ich denke mir: Zum Wohl, Schmassmann! Du hast’s wirklich gut. Trotzdem bin ich froh, dass ich kein Schmassmann bin.

Endlich ist sie vorbei, die Liegezeit

Ende Juni haben wir’s ‹abgelegen›, die Liegezeit im zweiten Stock ist vorbei, das neue Leben liegt vor uns. Pierrot und ich kommen in den ersten Stock des Zentrums. Der zweite ist das Akutspital, der erste die Rehabilitationsklinik. Es geht rauer, aber unkomplizierter und unbeschwerter zu. Wir sind nicht im Schweizerischen Paraplegikerzentrum, sondern einfach im ‹PZ›. Im ersehnten Zweierzimmer können wir ungehindert unserer Musik frönen. Mein altes Kassettengerät ist öfters im Einsatz denn je.

Von den wenigen wirklich Qualifizierten bildeten auch im ersten Stock Mitarbeiter aus Jugoslawien die grösste Gruppe. Ob aus Slowenien, Kroatien oder Serbien, war seinerzeit nicht von Belang. Sie waren Marschall Tito weggelaufen. Ansonsten hatte es unter dem Pflegepersonal viele Ungelernte, unter ihnen manche, die «mal was wirklich Sinnvolles» machen wollten: Praktikanten und Suchende mit unterschiedlichsten Hintergründen, angehende Ärzte und vielleicht auch den einen oder andern, der sich angesichts seiner eigenen Hilflosigkeit gerne und hingebungsvoll im Elend anderer suhlte. Professionell waren sie nicht, sie gaben sich aber Mühe und legten Hand an. Die Aura des charismatischen Chefarztes1 begünstigte das sehr. Alle nahmen sie Anteil, viele waren für Schabernack und launigen oder besinnlichen Gedankenaustausch zu haben, auch für religiösen. Harry, ein stämmiger, bärtiger Amerikaner, arbeitete beispielsweise im Auftrag Gottes im PZ. Als Rucksacktourist sei er ohne die geringsten Sprachkenntnisse nach Europa gekommen, erzählte er uns. Später habe er sich in einer kalten Novembernacht irgendwo in der französischen Provinz derart verirrt, dass er nicht mehr weitergekommen sei. Alle Kräfte hätten ihn verlassen. Nur noch geschlottert und geweint habe er. Wenn jetzt jemand kommt, der mir den Weg weist oder mich gar mitnimmt, habe er sich dann zugeflüstert, dann ist das ein Signal, dass ihn Gott erhört hat, der Beweis, dass es ihn wirklich und leibhaftig gibt. Wenig später sei tatsächlich ein Auto gekommen, habe angehalten, der Fahrer sei ausgestiegen und habe ihm angeboten, ihn mitzunehmen. Es stellte sich heraus, wie Harry weiter schilderte, dass er sich bis in die Nähe der Schweizer Grenze verlaufen hatte.

Auch das war ihm ein göttliches Signal. Er überschritt die Grenze, kam in die Schweiz und trat einer christlichen Gemeinschaft bei. Dort lernte er schon bald seine Frau kennen. Sie brachte ihm Schweizerdeutsch bei, das er mit starkem amerikanischen Akzent leidlich gut sprechen konnte. Er sei glücklich hier und vor allem unendlich dankbar. Deshalb diene er jetzt gerne Gott und notleidenden Menschen. Mit seiner Statur, seinen glänzenden Augen und seiner schier unendlichen Hilfsbereitschaft wirkte Harry auf uns wie ein gebändigter Rausschmeisser. Gebändigt war auch sein missionarischer Eifer. Er könne sich kaum vorstellen, wie wir zwei die erlittene Unbill überwinden können, ohne Gottes Unterstützung zu suchen. Den Entscheid, diese Richtung einzuschlagen, überlasse er aber uns. Das war vornehm zurückhaltend.

Nicht ganz auf Harrys Linie war Salome, eine resolute Israelin mit buschiger, schwarzer Haartracht. Sie war für eine Woche zu uns entsandt worden, um zu sehen, wie in der Schweiz traumatisch Verletzte behandelt werden. Sie zeigte sich erstaunt, wie viel Aufhebens die Schweizer um vergleichsweise lächerliche Unfälle machen. Als Sanitäterin im Sechstagekrieg vom Juni 1967 sei sie sich anderes gewohnt. Das sei, verkündete sie schrill, echtes menschliches Elend gewesen, während wir uns wegen Lappalien in wehleidigem Gejammer gefallen. Vielleicht hatte sie der Stationsarzt zu ihrem schnöden Urteil verleitet. Es war der psychotherapeutisch Angehauchte. Wir durften ihn jetzt David nennen und duzen. Er lege Wert auf einen offenen und kollegialen Dialog, verkündete er, obschon er zum Stand der Mediziner gehöre. Dieser Stand bewahre gewöhnlich Distanz zu seinen Schutzbefohlenen, im Gegensatz zum Pflegepersonal.

Pierrot und ich waren froh, dass Harry der zänkischen Elendskennerin Salome nicht in ihr Land folgte. Die Gefahr bestand, denn immerhin zeigte sie ihm klar auf, wo die wahre Not zu finden war und wo er in Gottes Namen noch mehr Misere würde lindern können. Dafür war dieser durchaus sympathische, bärenstarke Mann doch zu bodenständig.