Anspruch und Wirklichkeit in der öffentlichen Beschaffung - Dieter Laux - E-Book

Anspruch und Wirklichkeit in der öffentlichen Beschaffung E-Book

Dieter Laux

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Vergaberecht und das Verhalten der öffentlichen Auftraggeber verhindern aus Sicht der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) den wirtschaftlichen Einkauf der Öffentlichen Hand. Ist das so? Was könnte man verändern? Dr. Dieter Laux (Hochschule für Polizei und Verwaltung, Wiesbaden) und Frank Lohse (GeschäftsführenDer Gesellschafter der CENARIO solutions GmbH, Leun) gehen dem in einem Dialog zwischen Wissenschaft und Wirtschaft nach. Hierbei werden die sinnvollen Aspekte des Vergaberechts genauso angesprochen wie problematische Verhaltensweisen und die Ver- wendung von Stereotypen in Unternehmen und Behörden. Viele Beispiele aus der Praxis ergänzen das aktuelle Gesamtbild. Für den Leser ergibt sich so ein ganz neuer Blickwinkel aus Sicht erfahrener Beschaffungsspezialisten, die ein komplexes Thema in leicht nachvollziehbarer Form diskutieren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 248

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Prolog

Die Regeln – Schutz oder Fassade?

1.1. Aus Sicht der Wirtschaft

1.2. Aus Sicht der Vergabestellen

1.3. Aus Sicht der handelnden Personen

1.4. Zwischenbetrachtung

Die Menschen – Persönlichkeiten oder Ausführungsautomaten?

2.1. Handlungsspielräume

2.2. Wissen, Erfahrung und Können

2.3. Motivation und Befugnis

2.4. Zwischenbetrachtung

Das Handeln – Ergebnisse oder Alibis?

3.1. Systematisieren

3.2. Effektives Handeln

3.3. Effizientes Handeln

3.4. Zwischenbetrachtung

Resümee

Danksagung

Prolog

Seit Jahren arbeiten sich Unternehmen als Bieter und Behörden mit ihren Vergabestellen bei öffentlichen Beschaffungen und Projekten aneinander ab. Die Gesetzgeber in Europa, im Bund und in den Bundesländern haben umfangreiche Rahmenbedingungen geschaffen, die geordnete Verfahrensabwicklungen und den Beteiligten alle Möglichkeiten eines fairen Handelns ermöglichen sollen. Auch die E-Vergabe hält inzwischen Einzug in die Vergabepraxis und erhebt den Anspruch, die Vergaben zu vereinfachen und sogar zu automatisieren. Alles im Lot könnte man meinen. Doch die Praxis heutiger Vergaben weckt Zweifel. Mittelständische Unternehmen fühlen sich von cleveren Rechtsanwälten und Beratern der Vergabestellen ausgetrickst und über den Tisch gezogen. Das Personal in den Vergabestellen ist oft überfordert und handelt bewusst oder unbewusst zum Nachteil mittelständischer Unternehmen. Dadurch kann das Personal den gestellten Anforderungen der Gesetzeslage offensichtlich nicht gerecht werden. Früher war die Klage eines Bieters die Ausnahme, heute ist sie die Regel. Das Buch möchte die vorgenannten pauschalierten Aspekte aufhellen und Hintergründe aufzeigen, das Problembewusstsein aller Beteiligten, ggf. auch das interessierter Politiker, schärfen und Alternativen aufzeigen. Es konzentriert sich dabei auf den Dienstleistungsbereich, insbesondere IT-Beschaffungen. Das Buch wurde bewusst nicht als wissenschaftliche Abhandlung verfasst. Es erhebt keinen Anspruch einer Ergänzung der aktuellen rechtlichen Literatur und will sich nicht im Dschungel der Rechtswissenschaften verausgaben. Es ist vielmehr der Versuch eines Dialoges zwischen Theorie und Praxis im Sinne: Was könnte man verändern?

Dr. Dieter Laux (Dozent an der Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV), Wiesbaden) und Frank Lohse (Geschäftsftsführender Gesellschafter der CENARIO solutions GmbH, Leun) gehen dem in einem Dialog zwischen Wissenschaft und Wirtschaft nach. Hierbei werden die sinnvollen Aspekte des Vergaberechts genauso angesprochen wie problematische Verhaltensweisen und die Verwendung von Stereotypen in Unternehmen und Behörden.

Kapitel 1.

Die Regeln – Schutz oder Fassade?

Gut gedacht heißt noch längst nicht gut gemacht!

In diesem Kapitel gehen wir der Frage nach, ob die Idee des Vergaberechts einem sinnvollen Ansatz folgt und die praktische Umsetzung dem Recht ausreichende Möglichkeiten bietet, seine gewünschten Wirkungen zu entfalten.

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Annahme, dass die Berücksichtigung von Regeln beim öffentlichen Einkauf grundsätzlich sinnvoll ist.

Allerdings sind wir uns auch einig, dass die Umsetzung der Regeln in der Praxis nicht immer deren Sinnhaftigkeit widerspiegelt.

Unsere Leitfrage für das Kapitel 1 lautet:

Ist das Regelwerk der Vergabe aus Sicht der verschiedenen Beteiligten ein Schutz für die Unternehmen oder eher eine scheinbar intakte Fassade? Wir gehen den unterschiedlichen Interpretationen nach und versuchen, einen Einblick hinter die Fassaden zu gewinnen.

1.1. Aus Sicht der Wirtschaft

Zu den einfachen Geboten in der Betriebswirtschaft gehört die Maßgabe des wirtschaftlichen Einkaufens. Wie ist es dazu gekommen, dass dies beim öffentlichen Einkaufen so kompliziert geworden ist?

In diesem Kapitel betrachten wir die Sichtweise der Wirtschaft zu den Vorschriften des Vergaberechts. Die Unternehmen folgen selbst einem der Grundgedanken der Betriebswirtschaft: der Wirtschaftlichkeit von Handlungen.

Insoweit ist es für Unternehmer und andere Handelnde aus der Wirtschaft schwer zu verstehen, warum der Staat aus ihrer Sicht so komplizierte Regeln eingeführt hat.

Den Unternehmern ist es geläufig, mit Regeln zu arbeiten. Immerhin erwarten sie von ihrem eigenen Personal ein wirtschaftliches Handeln und geben deshalb Anweisungen heraus, die nachvollziehbar sind und an die sich das Personal zu halten hat.

So stellt sich die Frage, warum ist das Vergaberecht so kompliziert, schwer verständlich und führt in der Umsetzung zu so vielen Irritationen?

Laux: Lassen Sie uns doch mit den Rahmenbedingungen bzw. der Gesetzeslage beginnen.

Lohse: Gerne. Ich beginne mit einer aktuellen Gesetzeslage. Das Bundesland Hessen hat in 2014 das Hessische Vergabe- und Tariftreuegesetz (HVTG) verabschiedet, welches seit März 2015 in Kraft ist. Eine Vorgängerregelung ist bereits im Juli 2013 in Kraft getreten.

Es lohnt sich, auf das heutige HVTG etwas näher einzugehen. Das Gesetz ist nach meiner Einschätzung nicht frei von Widersprüchen und folgt einer stark ausgeprägten Regulierung.

Einige Beispiele:

Das Gesetz regelt in mehreren Paragraphen ausführlich die Vergaben zum öffentlichen Personennahverkehr.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Gesetz genau dafür geschaffen wurde und andere wichtige Bereiche außer Acht lässt.

Die Bevorzugung ortsansässiger Firmen ist unzulässig, so gibt es das HVTG in § 2 (4) vor.

Gleichzeitig mühen sich viele Lokalpolitiker um Stärkung der ländlichen Regionen und der heimischen Wirtschaft. Damit widerspricht das Gesetz den berechtigten Absichten der Lokalpolitiker.

In § 2 (6) heißt es: „Die Vergabeverfahren sind fortlaufend und vollständig zu dokumentieren. Entscheidungen sind zu begründen. Die Berücksichtigung mittelständischer Interessen ist besonders aktenkundig zu machen.“

Die Interessen von Großunternehmen werden in der Praxis besonders berücksichtigt. Das Verfolgen von deren Interessen muss jedoch nicht dokumentiert werden. Dies kann als besonderer Schutz von Großunternehmen verstanden werden.

§ 3 regelt die „Soziale, ökologische und innovative Anforderungen, Nachhaltigkeit.“

Es werden neun innovative, soziale und ökologische Anforderungen festgeschrieben, welche die Vergabestellen in ihre Leistungsbeschreibungen übernehmen können.

Wie die Vergabestellen diese Anforderungen formulieren, werten und überprüfen sollen, bleibt jedoch völlig offen.

Es ist leicht vorstellbar, dass es auch den Unternehmen nicht leicht fallen dürfte, solchen Anforderungen zu genügen. Es wird für beide Seiten komplizierter und aufwendiger.

Der Regulierungsdrang wird besonders in § 9 deutlich, welcher die Nachweise und Kontrollen bezgl. Einhaltung des Mindestlohns festlegt.

Ein wirkliches Bonmot ist in § 10 (5) gelungen. Dort heißt es: „Werden mehrere Gewerke (Fachlose) ausnahmsweise nach § 12 Abs. 1 Satz 3 zusammengefasst, erhöht sich der in Satz 1 Nr. 1 genannte Wert nicht. Satz 1 Nr. 3 gilt nicht bei Rechtsdienstleistungen.“

Abgesehen davon, dass man diese Formulierung kaum verstehen kann, hat man hier ohne Begründung eine explizite Ausnahmeregelung zu Gunsten von Rechtsdienstleistungen geschaffen. Warum?

Der § 12 regelt die Förderungsgrundsätze. Es heißt dort: „Die Interessen der Unternehmen, die nach § 2 Abs. 1 des Hessischen Mittelstandsförderungsgesetzes vom 25. März 2013 (GVBl. S. 119) zur mittelständischen Wirtschaft zählen, sind bei der Angebotsaufforderung vornehmlich zu berücksichtigen“.

Wie man unschwer feststellt, steht dies in Widerspruch zu § 2 (4). Die Beschaffungsstellen können somit entscheiden, ob sie eher § 2 oder § 12 folgen wollen. Der wohlgemeinte Schutz mittelständischer Unternehmen wird praktisch ausgehebelt.

Die obige Aufzählung ist nur beispielhaft und längst nicht vollständig. Im HVTG wurde die Überprüfung der Auswirkungen nach drei Jahren festgelegt. Diese steht jetzt an. Meines Wissens befindet sich dies im Status der Landtagsberatung. Man darf hinsichtlich der Lerneffekte gespannt sein.

Laux: Die Vergaberechtsregelungen der Länder, des Bundes und auch der Europäischen Union bieten sehr umfangreiche Rahmenbedingungen, die zu einer fairen Beschaffung bei öffentlichen Aufträgen führen sollen.

Viele Regelungen sind zum Schutz der Unternehmen vor Willkür der Vergabestellen vorgesehen. Natürlich möchten die öffentlichen Auftraggeber weg von einer ehemaligen Kultur der Hoflieferanten und stattdessen hin zu marktgerechtem Wettbewerb. Zugegeben, das ist ein wahrlicher Spagat.

Lohse: „Die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“, sagt Faust in Johann Wolfgang von Goethes Faust 1. Es ist zweifellos richtig, dass umfangreiche Regelwerke zum angeblichen Schutz der Wirtschaft geschaffen wurden. Diese werden tagtäglich von Hunderten Juristen europaweit bewertet und vor allen Verwaltungsgerichten wird reichlich darum gestritten.

Es ist wahrlich nicht einfach, einen landes- bzw. europaweiten Konsens des Vergaberechtes herbeizuführen oder gerechte Standards zu setzen. Die Ausführungen zum HVTG zeigen jedoch vielfache Widersprüche auf und man kann den Formulierungen zu den Anforderungen bereits entnehmen, dass sie eine ganze Fülle von bürokratischem Aufwand nach sich ziehen müssen.

Aus meiner Sicht sind die gesetzten Rahmenbedingungen weder gut noch schlecht, es geht mir nicht um Schwarz-Weiß-Malerei. Ich bin kein Jurist und möchte mich nicht an juristischen Details abarbeiten.

Es geht mir bei unserem Dialog um die Auswirkungen der gesetzten Rahmenbedingungen, insbesondere für die Klein- und Mittelständischen Unternehmen (im Weiteren als KMU bezeichnet), denn diese sind die viel beschworenen Leistungsträger der bundesdeutschen Gesellschaft. Wie werden Spielräume genutzt und was passiert da alles in der Praxis? Deshalb ist zunächst eine Betrachtung der Auswirkungen unbedingt erforderlich, um zu sehen, was die Regeln in der Praxis bewirken.

Laux: Können wir denn an dieser Stelle dieser komplexen Fragestellung gerecht werden?

Lohse: Eine berechtigte Frage. Wir erheben ja keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn es uns gelingt, Auswirkungen und Hintergründe aufzuzeigen und zum Nachdenken anzuregen oder gar zur Verbesserung der Anwendung der Rahmenbedingungen beizutragen, wäre ich schon sehr zufrieden.

Vielleicht wäre auch eine öffentliche Diskussion zu dem Themenumfeld sehr hilfreich. Ich glaube, dass die breite Öffentlichkeit die Auswirkungen, die es zu beleuchten gilt, nicht wahrnimmt und sie folglich auch nicht kennt. Es scheint alles okay zu sein. Das folgende Bild signalisiert dem Betrachter das Projekt hat doch super geklappt!

Teil 1 der Karikatur „Budgetloch“ von O. Schopf 2014

Lohse: Beide Seiten reichen sich die Hand. In time und in budget, könnte man meinen. So oder so ähnlich werden uns die Ergebnisse vieler Projekte, die vom Staat abgewickelt werden, dargestellt. Doch der Schein trügt.

Ich möchte nachfolgend einige allgemein bekannte Beispiele in Kürze aufführen. Sie bilden nicht nur einen Einstieg in die Thematik, sie repräsentieren auch einen winzigen Teil der entstandenen gigantischen Fassade, hinter welcher die staatliche Beschaffungs- und Vergabepraxis operiert.

Toll Collect Beschaffung

Das System wurde zur Einnahme von LKW-Autobahngebühren in 2000 ausgeschrieben. Das Vertragswerk umfasst angeblich mehr als 17.000 Seiten und wird geheim gehalten. Jahrelange Einführungsprobleme und ein Schiedsverfahren von 2005 bis 2018 begleiten das gigantische Projekt.

Beschaffung des Airbus A400M

Sieben europäische NATO-Staaten beginnen in 2003 ein neues militärisches Transportflugzeug zu bauen. Die erste Maschine wurde elf Jahre später in 2014 geliefert. Die endgültige Version wird für 2021 erwartet.

Digitalfunk

Die Einführung als Sprach- und Datenfunklösung für die deutsche Polizei dauert an von 2005 bis heute. Inzwischen gilt die Technik als veraltet und der Nutzen des ehemals so hochgelobten Projekts ist mehr als fraglich.

Elbphilharmonie

2007 von der Bürgerschaft Hamburg beschlossen, Fertigstellung in 2010 vorgesehen, in 2016 fertiggestellt. Ursprünglich für 77 Mio € geplant und für 866 Mio € realisiert. Kostenüberschreitung um das 11,2-fache, Projektzeitüberschreitung um das 3-fache.

Gorch Fock

Spiegel Online berichtet am 13.01.2019:

„Der Bundesrechnungshof macht das Verteidigungsministerium für die Kostenexplosion bei der Instandsetzung des Segelschulschiffs Gorch Fock mitverantwortlich.

Ein vertraulicher Prüfbericht rügt, dass die Kostensteigerung für die Reparatur auf rund 135 Millionen Euro nur durch gravierendes Missmanagement bei Marine, Beschaffungsamt und auch im Ministerium möglich wurde.

In dem 39-seitigen Bericht wird bemängelt, dass von Beginn an ‚die Basis für die Planung‘ gefehlt habe - Schäden am Schiff seien nicht korrekt untersucht und bewertet worden. Andere Informationen wurden nicht genutzt, ‚um die Instandsetzung des Schiffs angemessen vorzubereiten‘. Die zuständigen Stellen hätten ‚aus den vorliegenden Informationen nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen‘“.

Flughafen BER in Berlin

Darf in der Aufzählung nicht fehlen: Spatenstich in 2006. Geplante Fertigstellung in 2011. Die endgültige Fertigstellung ist ungewiss.

(Quelle zur vorherigen Aufzählung Wikipedia 2018/2019)

Mit vielen und falschen Versprechungen sind die Protagonisten angetreten, haben die Projekte aufgeblasen und von den jahrelangen Verzögerungen profitiert.

Wirkung 1: Die Ziele werden verfehlt!

Die Befriedigung eines als berechtigt erkannten Bedarfs sollte bei jeder Beschaffung an erster Stelle stehen.

Fehlbeschaffungen oder Beschaffung veralteter Lösungen sind jedoch leider keine Seltenheit. Der Auftraggeber und der Unternehmer geben sich auf der Brücke nur zum Schein die Hand.

Teil 2 der Karikatur „Budgetloch“ von O. Schopf 2014

Während die vorherige Seitenansicht dem Leser einen einvernehmlichen Händedruck vorgaukelt, zeigt die Perspektive die knallharte Wahrheit: Das Ziel wurde verfehlt! Die Brücke ist unbrauchbar! Man hat aneinander vorbei gebaut! Auftraggeber und -nehmer täuschen die Öffentlichkeit durch ihren scheinbaren Händedruck.

Wirkung 2: Steuergeldverschwendung

Viele Steuermillionen versickern jährlich im Vergabesumpf. Die Beobachter der Szene beim Bundes- und den Landesrechnungshöfen kommen kaum hinterher mit Aufzählungen und eindeutigen Empfehlungen. Die obige Aufzählung betrifft nur einige Großprojekte, wo hunderte von Millionen € (fehl)investiert wurden. Es ist zu vermuten, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist, welche die Öffentlichkeit zu sehen bekommt.

Glauben Sie ja nicht, bei kleineren Projekten würde es besser laufen. Diese Projekte erfahren leider nicht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, kommen dafür aber viel zahlreicher vor. Dies sind die vielen Projekte, die bildlich gesprochen unterhalb der Wasserlinie liegen.

Ein weiteres Beispiel:

Das BMI (Bundesministerium des Inneren) beschaffte im Jahr 2011 IT-Geräte im Wert von 27 Mio. Euro, um sein Projekt „Netze des Bundes“ zu realisieren. Dazu gehörten z. B. teure schrankgroße Router für den Betrieb von Datennetzen. Mitte des Folgejahres beschloss das BMI, das Projekt nicht mehr selbst umzusetzen, sondern einen Generalunternehmer zu beauftragen. Dieser wollte die beschafften IT-Geräte nicht übernehmen. Auch die ursprünglichen Verkäufer wollten die teilweise originalverpackten Geräte nicht zurücknehmen. Das BMI hatte solche Risiken, die mit der Übergabe des Projekts an einen Generalunternehmer verbunden waren, nicht hinreichend untersucht. Ab Ende 2013 gab das BMI die IT-Geräte unentgeltlich an Behörden in der Bundesverwaltung ab. Diese hatten ihren Bedarf nicht belegt. Beispielsweise fehlte eine Bedarfsmeldung des größten Abnehmers. Diese Behörde hatte über die Hälfte aller abgegebenen IT-Geräte, darunter fast 80% der Geräte mit einem Beschaffungspreis von über 100 000 Euro, erhalten. Im Frühjahr 2016 stellte der Bundesrechnungshof fest, dass abnehmende Behörden so gut wie keines der IT-Geräte nutzten.

(Quelle: Bundesrechnungshof 2016, Bemerkungen Band I Nr. 10)

Wirkung 3: Absurd lange Projektlaufzeiten

Bemerkenswert bei vielen Projekten ist die Zeitachse. Das zuvor beschriebene komplexe Verfahren des BMI wurde mit Sicherheit von langer Hand vorbereitet und die Nachbereitung durch eine unabhängige Instanz dauert dann auch nochmal fünf Jahre - wie man sieht. Das ist insbesondere bei IT- und Dienstleistungsbeschaffungen fatal!

Komplizierte, umfangreiche Regelwerke bedeuten oft:

komplexe Beschaffungsverfahrenlange Verfahrenszeiten, ggf. gerichtliche Auseinandersetzungen etc.

Da rechnet sich schnell eine Dekade oder länger bis die Anwender das bekommen was sie ehemals beantragt haben. Wenn sie es denn überhaupt bekommen! Und wenn sie es nach so langer Zeit überhaupt noch brauchen!

Wirkung 4: Die Täuschung

Die Getäuschten dieser Auswirkungen sind jedoch, neben den Endnutzern, die Steuerzahler! Und leider auch die mittelständischen Unternehmen, die sich an öffentlichen Vergabeverfahren beteiligen (möchten). Denn in den milliardenschweren Verfahren dürfen sie allenfalls Handlanger der großen Platzhirsche sein. In den kleineren Verfahren werden sie häufig ausgebootet und um ihre eingebrachte Leistung gebracht.

Viele Mittelständler sind längst vom öffentlichen Vergabekarussell abgesprungen und meiden den seit Jahren stetig zunehmenden bürokratischen Aufwand, der mit einer Teilnahme verbunden ist. Hier bilden sich insbesondere die Vergaben, die über den EU-Schwellenwerten liegen, als Killerprojekte für die mittelständische Wirtschaft aus.

Für Liefer- und Dienstleistungsaufträge im Bereich der sog. „klassischen“ öffentlichen Auftraggeber liegt die Grenze bei 214.000 € (zzgl. MwSt.), im Bereich der Sektorenauftraggeber bei 428.000 € (zzgl. MwSt.) und für zentrale oberste Regierungsbehörden bei 139.000 € (zzgl. MwSt.). Für Bauaufträge im Bereich der sog. „klassischen“ öffentlichen Auftraggeber, im Bereich der Sektorenauftraggeber sowie für Baukonzessionen liegt der Schwellenwert einheitlich bei 5.350.000 € (zzgl. MwSt.). Die genannten Werte gelten ab 1.1.2020 voraussichtlich für die nächsten zwei Jahre.

Projektiert man heute mehr denn je am Bedarf vorbei? Werden mühsam erreichte und überteuerte Teilergebnisse als Erfolg gefeiert, um die Öffentlichkeit zu blenden? Sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen deshalb so kompliziert, damit sich die Beschaffungsbehörden besser hinter den geschaffenen Fassaden verstecken können? Haben sich die Vergabestellen bundesdeutscher Behörden zu erfindungsreichen Bürokratieförderungsanstalten entwickelt, die dem Druck eines bundesweiten Wettbewerbs der Aufwandsmaximierung folgen?

Laux: Das hört sich ja recht ungeheuerlich an. Ich sehe das allerdings nicht ganz so dramatisch wie Sie und werde das im Verlaufe unseres Dialoges noch begründen.

Allerdings sollten wir zunächst aufklären, was wir im Zusammenhang mit der Thematik Beschaffung und Vergabe als Fassade bezeichnen.

Lohse: Wikipedia definiert die Fassade als „ein gestalteter, oft repräsentativer Teil der sichtbaren Hülle (Gebäudehülle oder Außenhaut) eines Gebäudes“.

(Quelle: Wikipedia 10/2018, Stichwort: Fassade)

Eine vergleichbare Betrachtung wird gewählt, wenn es um menschliches Verhalten geht. Verändern Menschen für den Blick des Betrachters ihr Verhalten, ohne es beizubehalten, wenn der Betrachter es nicht mehr beobachten kann, wird in der Praxis von einer Fassade gesprochen.

Laux: Sie meinen hiermit zunächst den Öffentlichen Dienst?

Lohse: Ja. Natürlich werden gerade auch in der Wirtschaft Fassaden aufgebaut. Die kann man aber meist mit der Motivation zum Marketing erklären.

Laux: Der Öffentliche Dienst kennt doch auch Marketing.

Lohse: Sicherlich. Aber der Öffentliche Dienst hat in erster Linie die Aufgabenstellung transparent und nachprüfbar zu sein. Wenn also der öffentliche Auftraggeber aus Sicht des Betrachters der Wirtschaft ein anderes Verhalten zeigt, als dies im Gesetz vorgegeben oder gewollt ist, wäre das eine Fassade.

Laux: Müsste man in dem Zusammenhang nicht eher von straffälligem oder ordnungswidrigem Verhalten sprechen?

Lohse: Soweit möchte ich gar nicht gehen. Es geht nicht um ein bewusstes Verstoßen gegen geltendes Recht im Sinne einer kriminellen Energie. Vielmehr geht es mir um eine nicht gerechtfertigte Interpretation des Rechts bzw. dessen eher lockerer Handhabung.

Laux: Das sollten wir im weiteren Verlauf unseres Gespräches intensiver betrachten. Kehren wir aber jetzt zurück zu Ihren Ausführungen. Was sind die Ursachen dieser Entwicklungen?

Lohse: Sehen Sie, die Behörden, welche Beschaffungen durchführen, haben sich in den letzten Jahren entscheidend hinsichtlich ihrer Führungsebenen und ihrer Vergabepraxis verändert.

Ich möchte drei wesentliche Ursachen nennen:

Erstens eine formalere und juristischere geprägte Führungskultur in den Behörden.Zweitens der Verlust von Fachlichkeit in den Behörden.Drittens die Prioritätsverschiebung in den Vergabeverfahren. Früher ging es um die Sache, die Befriedigung des anstehenden Bedarfs, die Technik. Diese Priorität musste der juristisch und formal korrekten Verfahrensdurchführung weichen.

Laux: Das müssen Sie mir deutlicher ausführen.

Lohse: In vielen Behörden werden vornehmlich Juristen in die Führungsebenen berufen. Damit wurden und werden diese Behörden eindeutig formaler geprägt. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Vergabepraxis. Hierdurch bedingt haben die Vergabestellen ausgeklügelte Strategien etabliert, um unerwünschte Bieter fern zu halten. Unter ihren neuen Vorstellungen, wie die Vergaben ihren Lauf nehmen sollen, haben insbesondere KMUs zu leiden.

Laux: In einem gewissen Sinne kann ich Sie verstehen, Herr Lohse. Aber Ihre Darstellung klingt doch ein wenig paranoid. Könnten Sie etwas näher erklären, was Sie genau meinen?

Lohse: Gerne. Im Folgenden möchte ich erläutern, wie die Reduktion von Fachkompetenz zu Regelgläubigkeit und Regulierungswut bei der Beschaffung führt. Zunächst ist festzustellen, dass sich viele ausschreibende Behörden ihrer ehemals vorhandenen Fachkompetenzen selbst beraubt haben. Im Zuge der Verschlankungsprozesse und des Outsourcings der letzten 20 Jahre wurden immer mehr erfahrene Kompetenzträger, seien es fachliche, verwaltungstechnische oder juristische abgebaut. Das ist nicht nur meine Meinung.

Sehr plastisch hat das z.B. der Landtagsabgeordnete Mann (SPD) im sächsischen Landtag moniert:

„Hinzu kommt, dass durch den Stellen- und damit auch Kompetenzabbau in der öffentlichen Verwaltung teilweise nicht mehr genügend Fachwissen vorhanden ist, immer komplexere Entscheidungen zu verstehen. Als Folge wird immer mehr Beratungsbedarf outgesourct, wodurch wiederum noch mehr Fachwissen in der Verwaltung verloren geht.“

(Quelle: Protokoll des Landtag Sachsen vom 28.11.2013)

Laux: Spüren Sie die mangelhaft vorhandene Fachkompetenz auch bei der Projektbewältigung zwischen Auftraggeber und -nehmer?

Lohse: Natürlich. In den letzten 20 Jahren verzeichnen wir bei unseren Kunden eine zunehmende Ausdünnung des Fachpersonals. Dies führt dazu, dass die erforderlichen fachlichen Dialoge massiv dezimiert wurden. Das geht soweit, dass Kunden ihre eigenen Prozesse und Anforderungen, die sie vor Jahren noch als zwingend definiert hatten, nicht mehr kennen.

Dies wiederum hat nicht selten kuriose Folgen. So unterschätzte neulich ein IT-Fachmann eines behördlichen Kunden das Datenvolumen eines komplexen IT-Systems. Er ging von pro Jahr ca. 20.000 zu bewältigenden Datensätzen aus. Weil es scheinbar so wenige waren, befürwortete er die Abschaltung des IT-Systems im Rahmen der internen Verschlankungsstrategie. In Wahrheit handelte es sich jedoch um eine hochautomatisierte IT-Anlage, die 15.000 Datensätze pro Tag (!) bei einer Verfügbarkeit von > 99,99% bewältigt. Eine Abschaltung hätte fatale Folgen gehabt.

Die Personalverluste und stetigen Personalwechsel führen zu immensen Wissenseinbußen. Hinzu kommt die fehlende oder mangelhafte Dokumentation ehemals vorhandenen Wissens. Nicht selten werden bei uns als Lieferant Sachverhalte abgefragt, weil sie in der eigenen Organisation nicht mehr verfügbar oder nicht auffindbar sind. Viele dieser Ereignisse verlaufen jedoch anscheinend rein zufällig, denn die Steuerung auf Kundenseite ist nicht mehr vorhanden.

Laux: Welche Auswirkungen ergeben sich denn durch den Verlust von Fachlichkeit?

Lohse: Die sind natürlich vielfältig. Fachleute im eigenen Haus sind aus der Perspektive der Obrigkeit oft recht unbequem. Sie neigen dazu, die Sachverhalte genau zu durchleuchten und halten sich auch nicht mit kritischen Meinungen zurück. Fachkritische Meinungen und Neugier werden in Unternehmen geschätzt und zum Innovieren neuer Produkte genutzt. Behörden haben jedoch keinen eigenen Innovationsdrang. Kritische Meinungen werden dort oft seitens der Führung als Einmischung gesehen und sind deshalb unerwünscht. In den letzten Jahren wurde massiv Fachpersonal abgebaut.

Diese Verschlankung führt zu schwarzen Löchern im gesamten Kompetenzgefüge und zur Beseitigung unliebsamer Kritiker. Letzteres ist nicht selten gewollt.

Laux: Und wie wirkt sich das auf die Führungsebenen der Behörden aus?

Lohse: Die Entkopplung von der Fachlichkeit führt zu stärker werdenden technokratischen, formaljuristischen Entscheidungsprozessen mit dem vornehmlichen Ziel: Hauptsache die Aktenlage ist sauber.

Das ist das Hauptaugenmerk der juristisch geprägten Führungskultur. Hinter dieser Entkopplung können sich alle Beteiligten schließlich auch besser verstecken, wenn es mal nicht wie geplant läuft. Die obigen Beispiele zeugen davon, ich könnte aus meiner Praxis noch einige mehr aufzählen.

Laux: Herr Lohse, können wir den Kontext juristisch geprägte Führungskultur bitte noch tiefer auf den Grund gehen?

Lohse: Nun ja, wenn Sie in der Wirtschaft Führungskräfte und deren Arbeit betrachten, sehen Sie eine Orientierung an wirtschaftlichen Ergebnissen für das Unternehmen. Schaut man sich dagegen Behörden an, geht es anscheinend verstärkt darum, ob man sich regelkonform verhalten hat oder nicht. Die eigentlichen Ziele der Bedarfsbefriedigung treten dabei in den Hintergrund.

Laux: Aber es ist doch gerade die Aufgabe, sich als Behörde an die Vorgabe des Gesetzgebers zu halten, insbesondere um die kleineren Unternehmen zu schützen.

Lohse: An die Gesetzeslage müssen sich alle Beteiligten halten. Das können wir bei der Betrachtung voraussetzen. Die Verschiebung von einer ehemals starken Fachlichkeit hin zu einer juristischen Führungskultur bewirkt eben auch eine Verschiebung in den Prioritäten der Vergabeverfahren.

Laux: Welche Auswirkungen hat das auf die Beschaffungspraxis? Entstehen dadurch neue Freiräume?

Lohse: Ich möchte dies so beantworten: Früher gab es die klassischen Parteien: Vergabestelle und Bieter. Die Fachlichkeit und Juristerei waren auf beiden Seiten, sagen wir paritätisch, eingebunden. Der Verlust von Fachlichkeit auf Behördenseite schafft ein Vakuum. Dieses wird zunehmend durch externe Berater und Juristen besetzt.

Laux: Ist es nicht gerade gut, auf externe (Fach-)Berater zurückzugreifen, wenn die Fachlichkeit im eigenen Hause fehlt?

Lohse: In der Theorie ja, in der Praxis merkt man davon aber nichts!

Die Zuarbeit der Berater scheint zu verpuffen. Nehmen Sie nur die aktuelle Situation bei der Deutschen Bahn. Gab die Deutsche Bahn in 2012 noch 190 Mio. € für Beratungen aus, so steigerte sie das bis 2017 auf 325 Mio. €. Man hat jedoch nicht den Eindruck, dass diese Beratungen die angegangenen Missstände beseitigt oder gemildert hätten.

(Quelle: Handelsblatt vom 13.9.2018)

Ähnliche Situationen finden Sie bei fast allen Ministerien vor.

Die Bundeswehr toppt jedoch alles. Am 20. Juli 2016 berichtete die Zeit online von den größten Beraterverträgen in der Geschichte Deutschlands: 300 Mio. € für die Neuorganisation der Beschaffung von Rüstungsgütern

Am 20.12.2018 berichtet Spiegel online, dass sich die Bundeswehr weitere 343 Mio. € für externe Berater genehmigen lassen will.

Unausgeglichen durch den Ersatz von Fachlichkeit mittels externer Berater

Laux: Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen?

Lohse: Ich verzeichne seit gut zehn Jahren solche Effekte.

Die Projekte werden intern durch Erhebung neuer, teils fachlicher, aber häufiger noch mehr nicht fachlicher Forderungen überfrachtet. Ein deutliches Indiz für eine zunehmende Verrechtlichung.

In den vergangenen Jahren ist ein regelrechter Wettbewerb zwischen den Vergabestellen bundesweit festzustellen. Vergabestellen besorgen sich fachliche und nichtfachliche Anforderungen aus vergleichbaren Verfahren anderer Vergabestellen. Sie kopieren für ihr eigenes Verfahren alles zusammen und wissen dabei oftmals überhaupt nicht, was sich eigentlich hinter den Anforderungen verbirgt.

Laux: Haben Sie hier mal ein konkretes Beispiel?

Lohse: In einem Teilnahmewettbewerb, an dem wir uns vor ein paar Jahren beteiligt hatten, wurde zwingend die Vorlage eines gültigen Zertifikates nach ISO/IEC 27001 oder gleichwertig gefordert. Unsere Anfrage bzw. Bitte, diese Forderung erst zum Zeitpunkt der Vergabe erfüllen zu müssen, wurde brüsk abgelehnt. Da wir ohnehin die Prozesse gemäß ISO 27001 bereits praktizierten, haben wir uns kurzfristig vor dem Abgabetermin zertifizieren lassen und konnten das Zertifikat somit punktgenau vorweisen.

Die Vergabestelle wusste offensichtlich nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt nur wenige Firmen in diesem Bereich gab, die das Zertifikat überhaupt nachweisen konnten.

Wenige Tage vor Abgabetermin zog die Vergabestelle die Forderung zurück. Wäre sonst die Teilnahme des internen Bieter-Favoriten nicht möglich gewesen?

Wie heißt es doch in der Redensart: „Ein Schelm der Böses dabei denkt.“

Laux: Das dürfte nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen sein, oder?

Lohse: Nein, wahrlich nicht. Wir haben durch diese Anforderungen unnötige Kosten von 30.000 € generiert!

Laux: Aber was ist die Folge davon?

Lohse: Es entstehen immer komplexere Projekte durch diese enorme Aufwandsmaximierung. Sie zu managen und zum angestrebten Ziel zu führen, fällt beiden Seiten immer schwerer.

Und dadurch wachsen die Kosten und der Zeitbedarf immens an.

Laux: Natürlich kann man den Behörden einen Vorwurf machen, dass sie sich nicht mit ausreichend fachlich versiertem Personal versorgen.

Aber, was hat das jetzt mit einer juristischen Kultur zu tun? Wenn Sie doch selbst sagen, dass die öffentlichen Auftraggeber keine Fachlichkeit haben und sie sich immer stärker den Beratern der Wirtschaft ausliefern, dann ist doch die Wirtschaft das Problem und nicht die öffentlichen Auftraggeber!

Lohse: Tatsache ist, die öffentliche Beschaffung hat ihre fachlichen Kompetenzen erheblich reduziert und es droht eine weitere Reduktion. Damit bewirkt sie eine stärkere Verrechtlichung.

Laux: Wenn ich Ihre Reaktion richtig interpretiere, dann sehen Sie die Schuldigen beim Staat. Aber dann müssten diese Schuldigen doch auch einen Nutzen daraus ziehen können. Wenn Sie aber von einer juristischen Kultur sprechen, worin liegt dann der juristische Nutzen?

Lohse: Den würde ich vor allem bei denjenigen sehen, die sich für eine ständig steigende Verrechtlichung des Vergaberechts einsetzen. Sie wenden sich gegen die Ursprünge des Vergaberechts. In der Vergangenheit war Vergaberecht eine Methode, um den Staat davon abzuhalten, bei seinen Standardlieferanten einzukaufen. Das hat lange gut funktioniert.

Aber irgendwann ist es dann immer komplizierter geworden. Immer mehr rechtliche Absicherungen folgten. Die Ursachen der Verrechtlichung sind schwer zu ergründen. Es fällt mir aber schwer zu glauben, dass dadurch ein wirtschaftlicheres Arbeiten erzielt werden sollte.

Laux: Ja, da muss ich Ihnen durchaus Recht geben. Früher nannte man Aspekte, die nichts mit der Wirtschaftlichkeit zu tun haben, vergabefremde Aspekte. Im Laufe der Zeit sind immer mehr Aspekte dazugekommen und immer mehr Einzelprobleme sollten über den Einkauf gelöst werden.

Lohse: Was genau meinen Sie mit vergabefremden Aspekten?

Laux: Dabei handelt es sich um politische Ziele, die in einem Spannungsverhältnis zur Wirtschaftlichkeit und zum Wettbewerb im Vergaberecht stehen.

Lohse: Können Sie das etwas genauer ausführen?

Laux: Folgt man dem Rechtslexikon.net, wurden Ziele wie ...

das Einhalten der Tarifverträgedie Entgeltgleichheit von Frauen und Männerndie Berücksichtigung weiterer sozialer, umweltbezogener und innovativer Aspekte

... mit dem Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts vom 20.04.2009 integriert.

Der Begriff vergabefremd war vorher schon kontrovers diskutiert worden. Aber mit der Modernisierung gehört es zum Rechtsgut, die von mir genannten Aspekte aufzunehmen. Dadurch wird dem Begriff vergabefremd die Grundlage entzogen, weil diese Aspekte ja jetzt zum Vergaberecht explizit dazugehören.

Als jemand, der die öffentliche Beschaffung aus Sicht der BWL sieht, ist das Bestreben von Seiten der Politik zwar nachvollziehbar, aber es hat nichts mit Wirtschaftlichkeit zu tun.

Lohse: Und warum wird die damit verbundene enorme Kostensteigerung für alle Beteiligten billigend in Kauf genommen?

Laux: Tja, die Antwort auf diese Frage wüsste ich auch gerne. Wenn man den Einkauf aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht betrachtet, zählt nur das Einkaufsergebnis. Und hier waren die Vergabestellen früher genauso aufgestellt, wie der Einkauf der Wirtschaft noch heute.

Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Vergabestelle als operative Einheit selbst ein Interesse an der Komplexität hat. Vielmehr scheint sie mir umgeben zu sein von einer Politik, die immer mehr politische Interessen in das Vergaberecht hineinpresst, sowie von Fachlichkeiten, deren Wissen oftmals gar nicht dazu ausreicht, um eine fachlich wirtschaftliche Betrachtung vorzunehmen.

Lohse: Die genannten vergabefremden Aspekte, ich erinnere an unseren Gesprächsbeginn bezüglich HVTG, hören sich ja alle plausibel und nett an. Aber an die dadurch verursachten Mehrkosten hat doch vermutlich im Moment der Verabschiedung beim Gesetzgeber niemand gedacht, oder?

Laux: Nun ja, wenn man den Veröffentlichungen und den Vertretern dieses Ansatzes auf Tagungen Glauben schenken mag, handelt es sich um Erfolgsfaktoren in der öffentlichen Beschaffung.

Lohse: Aber wann ist eine öffentliche Beschaffung ein Erfolg? Woran wird das gemessen?

Laux: Man müsste meinen, dass es dafür betriebswirtschaftliche Bewertungsmaßstäbe gibt, die man letztlich nur anwenden muss. Dem ist aber nicht so. Hier haben Sie möglicherweise Recht, wenn Sie von einer juristischen Kultur sprechen. Erfolg machen wir nach meiner Beobachtung vor allem daran fest, ob wir uns an die rechtlichen Vorgaben gehalten haben. Insbesondere sollen die Vergaben im Falle einer Klage prozessfest sein.

Lohse: Diese Erkenntnis ist aus meiner Sicht extrem wichtig! Auch vom eigentlichen Zweck des Beschaffens wurden die Behörden auf Formalisierung getrimmt.

Laux: Da muss ich Ihnen Recht geben.

Lohse: Aber wenn doch früher schon die Wirtschaftlichkeit ein Aspekt der Vergabestellen war, was hat dann dazu geführt, dass sich die Bewertung im Laufe der Zeit so verändert hat? Ist denn die Bewertung eine andere, wenn es sich um eine öffentliche Beschaffung handelt?

Laux: Aus meiner Sicht als Praktiker des öffentlichen Einkaufs hat sich diese Sichtweise nicht geändert. Allerdings habe ich manchmal das Gefühl zu einer kleiner werdenden Gruppe zu gehören. Bei Tagungen und öffentlichen Veranstaltungen höre ich immer öfter, dass diese früher so bezeichneten vergabefremden Aspekte ihre Bedeutung hätten und absolut wichtig seien. Das kann ich nur schwer nachvollziehen. Immerhin verfügt die Politik über weitreichende Möglichkeiten, um ihren politischen Anspruch umzusetzen. Viele Aspekte davon im Einkauf unterzubringen, halte ich persönlich nicht für sinnvoll. Immerhin wird der Einkauf dadurch immer komplexer, ohne dass die Wirtschaftlichkeit des Einkaufs einen Vorteil hätte.

Lohse: Also meine Frage, wer hat etwas von der Komplexität?

Laux: Ich bin gar nicht so sicher, dass sich diese Frage in diesem Kontext so ohne weiteres beantworten lässt. Vielmehr glaube ich, dass wir es hier mit einer Portion von Naivität und einer Prise guten Willen zu tun haben.