Antoni Gaudí – Der Architekt Gottes - Kathrin Benz - E-Book

Antoni Gaudí – Der Architekt Gottes E-Book

Kathrin Benz

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Beschreibung

Katalanischer Nationalist, tief gläubiger Katholik und ein Revolutionär der Architektur – sieben seiner Bauwerke gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Wer war dieser exzentrische Architekt, der eine vollkommen neue Formensprache erfand? Er revolutionierte die Architektur durch die Nachahmung der Naturgesetze, die er auf den Schöpfergott zurückführte. So entstand ein höchst eklektischer Fusion-Stil aus Gotik, Barock und arabischen Elementen. Damit gilt er als Vater des spanischen Jugendstils. Sein bekanntestes Werk ist die Sagrada Família in Barcelona, die jährlich Hunderttausende von Besuchern nach Barcelona lockt. »Der Architekt Gottes« ist die erste Biografie einer höchst eigenwilligen Gestalt: Ein katalanischer Patriot, der Mitte seines Lebens zu einem sehr intensiven, spirituellen Glauben fand. Ein Sinnsucher, der sich mit Musik und Farbtheorie, Fotografie, Literatur und Glasmalerei beschäftigte. Er galt als Star, der sich aber immer mehr von der Gesellschaft abwandte und nach seinem legendären Straßenbahnunfall in einem Armenspital starb.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kathrin Benz

Antoni Gaudí

Der Architekt Gottes

wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Lektorat: Christina Kruschwitz

Covergestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Coverbild: Fassade Sagrada Familia: © mauritius images / Sérgio Nogueira / Alamy / Alamy Stock Photos; Gaudí: © mauritius images / GL Archive / Alamy / Alamy Stock Photos.

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL

ISBN Print: 978-3-534-61037-2

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-534-62408-9

ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61058-7

INHALT

Vorwort

I. VOM SCHMIEDEHAMMER ZUR ARCHITEKTUR

1. Das langsamste Fahrzeug der Welt

2. Stahlblaue Augen

3. Der schlaue Buchhändler von Barcelona

4. Gott ist tot

5. Genossenschaften und Wasserspeicher

6. Die Welt geht unter

7. Spinner oder Genie

8. Imperium eines Gentlemans

9. Das erste Haus

II. DIE SAGRADA FAMÍLIA

1. Tausend und eine Nacht

2. Musische Kaprize

3. Mit dem Nimbus des Auserwählten

4. Von der Hölle zu den Sternen

5. Modernisme

6. Astorgas Fluch und Ávilas Segen

7. Im bittersüßen El Dorado

8. Die Casa Botines fällt um

9. Da kommst du nicht hin

III. AM ZENIT

1. Durch die psychische Wüste

2. Die Versuchung des Judas

3. Kathedrale der Armen

4. Die perfekte organische Architektur

5. Bellesguard

6. Hänsel und Gretel

IV. GLANZ DER WAHRHEIT

1. Strumpfhalter

2. An der Grenze des Erträglichen

3. Zankapfel und Sparschwein

4. Duell der Giganten

5. Von New York, Hundehütten und Neandertalern

6. Die tragische Woche

7. Der ist am Ende

V. ZURÜCK ZUM URSPRUNG

1. Letzte Jahre im Park

2. Partituren über die Dächer der Stadt

3. Wie alte Eunuchen

4. Vom Bauhaus zu Gaudí

5. Die vierte Säule

6. Ein paar schöne Dinge

VI. WIE ES WEITERGING

Dank

Chronologie

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Namensindex

Über die Autorin

Weitere Abbildungen

VORWORT

Als die Hochschule für Architektur in Barcelona im Jahr 1878 dem Sohn eines Kesselschmieds aus der Provinz endlich das Abschlussdiplom ausstellte, meinte der Rektor zu den anderen Professoren, er sei sich nicht sicher, ob dieser Antoni Gaudí ein Genie oder ein Spinner sei. Ein Genie war Antoni Gaudí (1852–1926) allemal, und vermutlich auch ein bisschen verrückt. Er verbiss sich in alles, was ihn faszinierte, ob Architektur, Kunst, Technik, Musik, Poesie, Religion, Heimatliebe, Naturheilkunde, und besonders in seine geliebte katalanische Sprache. Mit seiner Kompromisslosigkeit brachte er alle um ihn herum auf die Palme, so dass sich sogar ein katholischer Priester resigniert zu dem etwas unchristlichen Ausruf hinreißen ließ: Mit Gaudí kann man nicht diskutieren. Entweder man gibt ihm Recht1. Er selbst gab zu:

 

»Um nicht in falsche Demut zu verfallen, hat uns der Herr den kleinen Wurm aufbrausender Selbstsucht hinterlassen. Ich bin vom Temperament her ein Mann, der kämpft. Ich habe ohne Unterlass gekämpft und alles erreicht, außer, meinen schlechten Charakter zu besiegen«.2

 

Gaudí ist der berühmteste Vertreter des katalanischen Jugendstils, der Modernisme genannt wurde. Jedes seiner Gebäude, von denen die meisten in Barcelona stehen und fast alle zum Unesco-Weltkulturerbe gehören, ist ein Gesamtkunstwerk und erzählt eine Geschichte. Seine architektonischen Konstrukte sind mathematische und technische Pionierleistungen, dabei behauptete Gaudí stets, nichts Neues erfunden zu haben, im Gegenteil, man brauche bloß die Natur zu beobachten, denn diese habe für alles die perfekte Lösung bereits vorgesehen. Sein berühmtester Satz lautet:

»Originalität ist die Rückbesinnung auf den Ursprung.«

 

Am Ursprung stehen die Naturgesetze. Deshalb war sein größter Lehrmeister der Baum, wie er sagte, und deshalb führt die Natur zu Gott, der ihre Gesetzmäßigkeiten geschaffen hat. Gerade unsere flatterhafte Zapping-Generation stellt erstaunt fest, dass ausgerechnet die tiefe Erdung dieses Architekten ihm ermöglichte, über alle Kategorien hinauszuwachsen und sich weit in andere Sphären zu strecken, bis hin zum Göttlichen. Man nennt Gaudí deshalb den Architekten Gottes. Sein Gott war der zärtliche Gott der Schöpfung und besonders der Schönheit, die das Herz des Menschen berührt. Schönheit wird die Welt retten, ließ der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821–1881) seinen Idioten sagen. Es klingt wie das Lebenslied Gaudís.

Seine eigenen Wurzeln, auf die er sehr stolz war, reichen sieben Generationen zurück, in denen die Gaudís als Kupfer- oder Kesselschmiede ein untrügliches Auge für Volumen und Perfektion entwickelt hatten. Antoni wird der Letzte sein, der mit diesen handwerklichen Tugenden aufwächst, aber er wird sie in seine Architektur übertragen. Er war nicht nur ein großartiger Handwerker, Beobachter, Statiker und Mathematiker, sondern vor allem eines: ein Erzähler. Seine Bauwerke sind Geschichten aus der Mythologie und der Bibel, wie das Drachenhaus des Batlló, der Märchenpark Güell, der höhlenartige Klotz der Pedrera oder das Palais seines großartigen Mäzens Eusebi Güell (1846–1918). Güell ist der wichtigste Name an seiner Seite. Der weitgereiste, sensible und hochgebildete Großindustrielle gehörte zu den reichsten Männern Spaniens und teilte die visionäre Kraft und Religiosität seines Freundes. Anders lässt sich nicht erklären, warum er ihm geschlagene zehn Jahre lang ein ganzes Team von Spezialisten einzig für das Basteln eines Hängemodells finanzierte.

Auch die Sagrada Família in Barcelona, diese noch immer unfertige, gigantische, faszinierende, lichtdurchflutete Kirche mit ihrem Baumkronen-Gewölbe und dem Wald aus angeschrägten Säulen, ist ein Bilderbuch aus Stein. An der Fassade hängen Skulpturen von guten und bösen Menschen, Heiligen und Soldaten, Kriechtieren, Bomben, Kinderleichen, Engeln und Dämonen. Sie ist übersät mit Blütenteppichen, riesigen Getreidesamen, Kleinvieh, flatternden Vögeln und Szenen aus der Heilsgeschichte, die jedes Jahr Millionen Besucherinnen und Besucher zum Staunen bringen. Auch wer nicht spirituell unterwegs ist, hält den Atem an.

Gaudí brach ständig Tabus und erntete für seine neuen ästhetischen Wege grenzenlose Bewunderung oder abgrundtiefen Spott. Ein wahnwitziges Gebräu3 nannte der deutsch-britische Kunstgeschichte-Papst Nikolaus Pevsner (1902–1983) die Architektur Gaudís, der er zwar Kühnheit beschied,4 ihr aber lange Zeit die kalte Schulter zeigte, bis er sich eines Besseren besann. Der spanische Kunsthistoriker Juan Antonio Gaya Nuño (1913–1976) nannte Gaudís Werke steinerne Missgeburten und obszöne Knollen.5

Andere hingegen waren des Lobes voll. Der exzentrische Surrealist Salvador Dalí (1904–1989) rief begeistert aus: Das letzte große Genie der Architektur war Gaudí, dessen Name auf Katalanisch Geniesse! bedeutet (…) Der Genuss und die Sehnsucht, die für den Katholizismus und die mediterrane Gotik charakteristisch sind, wurden von Gaudí neu erschaffen und in einen Freudentaumel versetzt.6 Auch der Schweizer Kultarchitekt und Großmeister der strengen Geometrie Le Corbusier (1887–1965) nannte ihn einen Mann von außergewöhnlicher Kraft, mit einem starken Glauben und technischen Fähigkeiten (…) Gaudí war ein großer Künstler. Nur jene, die zum empfindsamen Herzen der Menschen sprechen, bleiben und werden bleiben.7

Ein wichtiges Merkmal seiner kulturellen Identität war die katalanische Sprache, die bei seiner Geburt noch verboten war. Gaudís Lebenszeit war geprägt von der politischen Frage nach der Eigenständigkeit Kataloniens, die ja bis heute nicht geklärt ist, und die damals immer wieder zu Blutvergießen führte. Die spanische Zentralmacht versuchte wiederholt, der katalanischen Bevölkerung ihre Sprache zu verbieten, und so steigerte sich Gaudís Heimatliebe mit den Jahren in unbändigen Trotz gegen die Obrigkeit, der ihm sogar eine Nacht im Gefängnis einbrachte. Zwar hielt er sich von der Politik fern, weil er nach eigenen Worten nicht das Zeug zum Politiker hatte, aber er wurde mitgerissen vom Strudel der ideologischen Umwälzungen, die damals ganz Europa überrollten. Barcelona war eine reiche Stadt mit einer boomenden Industrie, doch die meisten Menschen lebten im Elend, und Kirche und Politik mussten wohl oder übel nach Antworten suchen. Besonders ab den 1890er Jahren forderten staatliche Repression und linker Gegenterror einen hohen Blutzoll, so dass Barcelona die Bombenstadt genannt wurde.

Zehn Jahre nach Gaudís Tod erfasste die Gewaltwelle auch die Sagrada Família, und viele von Gaudís Freunden wurden von den radikalen Aktivisten wegen ihrer Verbindung zu dem verstorbenen katholischen Architekten und dem Kirchenbau getötet. Alle schriftlichen Zeugnisse Gaudís, seine Zeichnungen und Modelle, sein ganzes Erbe, wurde 1936 von den Anarchisten verbrannt und zertrümmert. Was geblieben ist, sind seine Bauwerke und der Versuch der Nachwelt, die Sagrada Família in seinem Sinne zu vollenden.

Die katholische Kirche ist auf dem besten Weg, den katalanischen Architekten selig zu sprechen. 1992 gründeten fünf Architekten und Künstler in Barcelona einen zivilen Verein zur Seligsprechung von Antoni Gaudí, der Ende 2023 in eine kanonische Vereinigung umgewandelt wurde. Beim Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse im Vatikan liegt die offizielle, über 2000 Seiten zählende »positio« die Sammlung aller Dokumente zum Leben und Wirken Gaudís, vor. Sie enthält auch Zeugenberichte über die vorbildliche Gottessehnsucht und den unerschütterlichen Glauben des Schöpfers der vielleicht letzten Kathedrale der Menschheit und über wundergleiche Ereignisse nach seinem Tod.

Zu Lebzeiten Gaudís entstanden viele Biografien von Menschen, die später selig- oder heiliggesprochen wurden. Gaudí kannte mehrere von ihnen. Es waren Ordensgründer, Missionare oder Christen, Männer und Frauen, die Opfer des Hasses auf die Religion wurden. Das 19. Jahrhundert war in Katalonien bekannt für seinen Durchmarsch der Heiligen.8 Kritische Stimmen monieren, die katholische Kirche wolle Gaudí für ihre Zwecke vereinnahmen, indem sie ihn nun heiligspreche. Doch Gaudí hatte nun einmal ein inniges Gottvertrauen und lebte mit zunehmendem Alter wie ein Asket, nahm täglich die Eucharistie zu sich und beichtete jeden Abend. Als Kind war er oft einsam gewesen, in der Jugend ein unternehmungslustiger Lebemann, der sich ein paar Mal unglücklich verliebte und später irgendwie keine Zeit zum Heiraten fand. Allmählich verschmolzen Glaube und Arbeit immer stärker, er selbst versank immer tiefer im Gebet und in der Betrachtung der Schöpfung, die ihm die Antworten auf alle architektonischen, moralischen und ästhetischen Fragen und letztlich auch auf den Sinn seines Lebens lieferten.

Zuletzt lebte Gaudí nur noch für die Sagrada Família, die von der ersten Stunde an einzig und allein durch private Spenden finanziert wurde. Er war überzeugt:

 

»Nur eine Kirche kann das Empfinden eines Volkes auf würdige Weise ausdrücken, da die Religion das Höchste im Menschen ist.«9

 

Er wusste sehr wohl, dass er die fertige Sagrada Família nie sehen würde. Die Nachwelt wollte sie 2026 zu seinem hundertsten Todesjahr eigentlich fertigstellen, aber die Corona-Epidemie machte diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Wer weiß. Gaudí hatte längst keine Eile mehr. Die Sagrada Família war ja nicht sein Werk, sondern das Werk eines Anderen. Getrost konnte er sagen:

 

»Die göttliche Vorsehung wird für alles Weitere sorgen.« 10

 

I. VOM SCHMIEDEHAMMER ZUR ARCHITEKTUR

1. Das langsamste Fahrzeug der Welt

Als Antoni Gaudí seine Sagrada Família zum letzten Mal sah, existierte von ihr erst die Fassade eines Seiteneingangs, die sich wie eine wuchtige Tropfsteinhöhle aus der Erde erhob und wie ein Wimmelbild mit steinernen Skulpturen und Ornamenten übersät war. Darüber ragten vier schlanke konische Türme in den Himmel. Von dreien fehlte noch die Spitze, nur auf dem Barnabas-Turm ganz links prangte weit oben ein riesiges perlengesäumtes Medaillon. Rechts der Grotte reckten sich die schlanken Zinnen der Apsis wie ein Skelett dem Himmel zu, davor ließen sich ein paar Meter des Kreuzgangs erkennen. Das war’s. Der Rest der berühmten Kirche Sagrada Família in Barcelona bestand nur aus Gipsmodellen und Zeichnungen.

Am Montagabend, dem 7. Juni 1926, erhob sich der weißhaarige Architekt etwas unsicher von dem Arbeitstisch in seinem überfüllten Atelier, griff nach seinem Gehstock und setzte sich den alten Hut auf. Er drehte sich zu dem Bildhauer Vicenç Vilarrubias Valls (1891–?) um, der noch mit der liebevollen Ausgestaltung eines Lampenhalters beschäftigt war, durchbohrte ihn mit seinen stahlblauen Augen und sagte in seiner geliebten katalanischen Sprache und mit der gewohnt freundlichen und festen Stimme den Satz, der sein ganzes Leben zusammenfasste: ein Leben der innigen Hinwendung zur Schönheit, die sein Herz erfüllte und die er allen schenken wollte, denn er glaubte an ihre sinngebende, göttliche Kraft:

 

»Komm morgen frühzeitig, Vicenç, dann machen wir ein paar schöne Dinge.«11

 

Vorsichtig stieg der 74-Jährige die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg in die Altstadt, wo er wie jeden Abend in der kleinen Philipp-Neri-Kirche seinen Beichtvater treffen und eine Weile still beten würde. Er ging langsam, aber bestimmt, mit gebücktem Körper, an dem ein ausgeleierter Anzug schlotterte. In der Jackentasche tastete er an seinem Rosenkranz, seine Gedanken schweiften ab.

Der Tramführer sagte später aus, er sei mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Kilometern pro Stunde gefahren. Es war kurz nach sechs Uhr. Die Tramlinie Nummer 30 führte die breite Allee Gran Via de les Corts Catalanes entlang, vorbei an hohen Bäumen und schlanken Strommasten, und mit der Hupe verscheuchte der Tramführer Frauen in langen Röcken, eilende Männer mit Hüten, knatternde Automobile, klapprige Pferdedroschken und flinke Fahrräder von den Geleisen. Kurz vor dem Tetuan-Platz zwischen den Kreuzungen Girona und Bailèn habe er einen offensichtlich betrunkenen Landstreicher mit weißem Bart und Hut gesehen, der auf einen Stock gestützt, ohne nach rechts oder links zu blicken, die Geleise überquerte. Er habe zwar gehupt, aber nicht rechtzeitig abbremsen können, und daher habe er den Weißhaarigen gerammt.

Der vermeintliche Landstreicher wurde zu Boden geschleudert, prallte mit dem Kopf gegen einen Strommast und blieb am Boden liegen. Als der Wagen endlich zum Stillstand kam, stieg der Tramführer aus, hievte den Verletzten von den Geleisen, kletterte in den Führerstand zurück und setzte die Fahrt fort. Von den Passagieren hatte sich keiner bewegt. Dabei trug die Tramlinie 30 bei den Barcelonern ausgerechnet den Spitznamen Rotes Kreuz.

Natürlich war die Szene den vielen Passanten nicht entgangen, aber da es sich offensichtlich bloß um einen armen Penner handelte, gingen sie weiter. Zwei Männer allerdings hatten Erbarmen mit dem Verunfallten. Es handelte sich um den Hafenbeamten Antonio Roig und den Taubenzüchter Antonio Noria.12 Die beiden kauerten sich beim Umfallopfer nieder und stellten fest, dass der alte Mann das Bewusstsein verloren hatte und aus einem Ohr blutete. In seinen Taschen fanden sie keine Hinweise auf seine Identität, sondern lediglich 25 Cèntims, eine Handvoll Nüsse und getrocknete Korinthen, ein Taschentuch, ein paar Schnüre, ein abgegriffenes Gebetsbüchlein sowie eine kleine Bibel. Der Hut war von der Straßenbahn mitgerissen worden und irgendwo liegen geblieben.

Die Helfer versuchten ein Taxi anzuhalten, um den Schwerverletzten in ein Krankenhaus zu transportieren. Vier Taxis fuhren rasch weiter, als sie erkannten, dass der Passagier ein Landstreicher war, der ihnen die Sitze verdrecken und nicht zahlen würde. Die Fahrer wurden später von den Behörden ausfindig gemacht und wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Der Tramführer verlor nach dem Vorfall seinen Job.13

Ein Polizist der Guardia Civil bemerkte den Tumult. Er hieß Ramón Pérez, näherte sich den winkenden Helfern und zwang einen Taxifahrer zum Anhalten, um den Mann in eine Krankenstation einige Blocks weiter südlich zu fahren. Er selbst stieg ebenfalls in das Taxi, um sicherzugehen, dass es auch tatsächlich zur Krankenstation an der Ronda de Sant Pere Nummer 37 fuhr und den Alten nicht irgendwo am Straßenrand entsorgte.14

In der Krankenstation diagnostizierte ein Arzt drei gebrochene Rippen sowie eine Gehirnerschütterung und stellte fest, dass dem Patienten noch immer Blut aus einem Ohr rann. Die Pflegerinnen sahen, dass der dürre Mann unter dem ausgebeulten Anzug, dessen Hosen von Heftklammern zusammengehalten wurden, die Knie dick eingebunden hatte. Offenbar litt er an Gelenkrheuma. Der Arzt verabreichte ihm ein krampflösendes Mittel und beschloss, den Verletzten in das besser gerüstete Hospital Clínico zu überführen.

Doch das kafkaeske Trauerspiel nahm seinen Lauf. Der Ambulanzfahrer und die Sanitäter standen kurz vor Schichtende und hatten keine Lust auf die drei Kilometer lange Fahrt nach Westen zum Clínico, daher brachten sie den Landstreicher ins mittelalterliche Heiligkreuz-Hospital in der Innenstadt, das näher an ihrem Heimweg lag und das von Klosterfrauen geführt wurde. Heute ist dort eine Bibliothek untergebracht. Dort erlangte der Mann kurzzeitig das Bewusstsein wieder und murmelte seinen Namen, den jedoch niemand richtig verstand. Die Schwestern trugen ihn unter Antoni Sandì ein und legten ihn in einem Krankensaal für vierzig Patienten ins Bett Nummer 19. Niemand erkannte ihn, dabei war er doch früher oft hier gewesen und hatte Skizzen gemacht.

Mittlerweile waren einige Menschen in Barcelona unruhig geworden, denn ihr Freund Antoni Gaudí liebte die Routine und war immer pünktlich. Er hätte in die Neri-Kirche kommen sollen und hätte dann mit der Straßenbahn einen Abstecher in ein Krankenhaus gemacht, wo gerade sein guter Freund Santaló lag, um anschließend den Rückweg zu seinem Büro bei der Sagrada Família anzutreten, wo er seit ein paar Jahren auch wohnte. Doch der Freund kam nicht. Und es wurde bereits dunkel.

Der Pförtner der Sagrada Família alarmierte den Pfarrer und Vertrauten Gaudís, Gil Parés, der sogleich in ein Taxi sprang und zum Haus des Architekten Domènec Sugrañes i Gras (1878–1938) fuhr. Dieser war eine Generation jünger als Gaudí und nicht nur beruflich seine rechte Hand, sondern auch sein Freund. Von der Wohnung der Familie Sugrañes aus wurde die Suche nach dem Vermissten geleitet.

Die beiden klapperten mehrere Polizei- und Krankenstationen ab. Im kleinen Spital Ronda de Sant Pere erfuhren sie von einem schwerverletzten Bettler, der nach einem Verkehrsunfall zu ihnen gebracht und von da aus ins Hospital Clínico überwiesen worden war. Die Beschreibung des Unfallopfers stimmte: ausgezehrter Körper, weißes Haar und Vollbart, stahlblaue Augen, eingefallene Wangen, schäbige Kleidung, pantoffelartiges, selbstgebasteltes Schuhwerk. Allerdings hatte er keinen Hut dabei. Parés und Sugrañes eilten ins Clínico, wo man ihnen sagte, da liege tatsächlich ein Toter auf dem Seziertisch. Schockiert hasteten sie in die Pathologie, und Pfarrer Parés hob das Leintuch über dem Leichnam an: Es war nicht Gaudí. Erleichtert fuhren die beiden weiter zum Armenspital Heiligkreuz, um dort auf gut Glück nachzuforschen.

Es war bereits Mitternacht, als sie ihren Freund im vollbesetzten Thomas-Saal inmitten wimmernder Patienten entdeckten. Das Personal war erschüttert, als es erfuhr, wer da bei ihnen lag: der berühmte Antoni Gaudí, den sogar der spanische König persönlich kannte. Angesichts der schweren Kopfverletzung riet der wachhabende Arzt den Freunden von einer Überstellung des Patienten in eine modernere Klinik ab, da er die Fahrt vielleicht nicht überstehen würde. Die Schwestern verlegten ihn in das einzig verfügbare und winzige Einzelzimmer.

Die Nachricht von Gaudís Unfall verbreitete sich in Windeseile in ganz Barcelona. Wie war es möglich, dass der international bekannte Stararchitekt mit dem langsamsten Verkehrsmittel der Stadt zusammengeprallt und von niemandem erkannt worden war? Die Freunde wichen nicht mehr von seiner Seite. Als der Patient zwischenzeitlich das Bewusstsein erlangte, spendete ihm Pfarrer Parés die Sakramente, nahm ihm die undeutlich gehauchte Beichte ab und spendete ihm die Krankensalbung.

Die ganze Stadt wusste, dass Gaudí im Sterben lag, nur einer wurde im Dunkeln belassen: Gaudís bester Freund, der alte Arzt Pere Santaló (1849–1931), der nach einer Prostataoperation in einer anderen Klinik lag und auf den täglichen Besuch seines Freundes wartete. Seine Tochter Francisca (gest. 1954) schwieg, vielleicht um ihn nicht aufzuregen, vielleicht aber auch, weil der Architekt sie als Kind schwer beleidigt und sie ihm noch immer nicht verziehen hatte. Dabei murmelte ihr alter Vater auf dem Krankenbett immer wieder: Wie merkwürdig, dass der Anton nicht kommt.15

Derweil füllte sich das Heiligkreuz-Spital mit allem, was Rang und Namen hatte. Nur der Bürgermeister von Barcelona, Baron Darius Rumeu i Freixa (1886–1970), bemühte sich nicht persönlich zu ihm. Er wollte nicht das Wohlwollen des herrschenden Diktators General Primo de Rivera (1870–1930) in Madrid verspielen, da Gaudí als Galionsfigur der katalanischen Autonomiebewegung galt und der spanischen Zentralmacht ein Dorn im Auge war. Immerhin schickte er einen Vertreter ins Krankenhaus mit dem Angebot, den Patienten in eine Privatklinik zu überführen. Die Freunde lehnten ab. Gaudí selbst hatte einst gesagt, er würde am liebsten in diesem Armenspital, bei »seinen Leuten« sterben.

Noch fast zwei Tage hielt er durch, offensichtlich litt er unter großen Schmerzen. Seine rechte Hand ruhte auf einem weißen Taschentuch, die Finger umklammerten ein kleines Kruzifix. Am Donnerstag, dem 10. Juni 1926, um zehn nach fünf Uhr abends, starb der Schöpfer der Sagrada Família, Antoni Gaudí i Cornet, im Heiligkreuz-Spital in Barcelona, umringt von Freunden und Verwandten. Am selben Abend sagte der noch immer ahnungslose Pere Santaló im entfernten Krankenhaus zu seiner Tochter Francisca, endlich sei Antoni zu ihm gekommen und habe ihn besucht. Dabei sei es im Zimmer so hell geworden.16

2. Stahlblaue Augen

Bis heute ist nicht geklärt, wo genau Gaudí zur Welt kam, und er selbst machte widersprüchliche Aussagen dazu. Etwa hundert Kilometer westlich von Barcelona, nur wenige Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt, melden zwei Ortschaften Ansprüche an. Die eine ist Reus, das damals fast 27 000 Einwohner zählte, die zweitgrößte Stadt Kataloniens und ein lärmendes Handelszentrum. Die andere ist der kleine Nachbarsort Riudoms, der etwas weiter westlich von Reus liegt.

Dokumentiert ist lediglich die Tatsache, dass der kleine Junge am 25. Juni 1852 zur Welt kam und einen Tag später in der Peterskirche von Reus auf den Namen Antonio (nach der Mutter und dem Großvater Anton) Plácido (wie der Patenonkel) und Guillermo (gemäß dem Tagesheiligen) getauft wurde. Patin stand Raimun da Tarragó, Ehefrau des Paten Plàcid Gaudí, eines Drechslers aus Reus.

Es fragt sich, ob es die Eltern wirklich gewagt hätten, das Neugeborene unter der sengenden spanischen Sonne vom Landhaus der Familie Gaudí in Riudoms vier Kilometer nach Reus zu tragen, um es dort taufen zu lassen. Wahrscheinlicher ist, dass Antoni Gaudí in Reus im Haus der Großeltern oder in der Wohnung der Familie an der Straße San Juan zur Welt kam.

 

Am 26. Juni 1852 wird Gaudí in der Kirche Sant Pere in Reus getauft.

 

Gaudí wird seine geliebte Heimat, die Provinz Tarragona mit ihrem gleißenden Sonnenlicht und den satten Farben, sein Leben lang vermissen. Auf der einen Seite leuchtet das Meer, über das die Schiffe exotische Kulturen aus aller Welt ins Land brachten, und auf der anderen Seite wähnen die Menschen am Horizont das bizarre, heilige Montserrat-Gebirge und das berühmte Kloster Montserrat mit seiner legendären Statue der schwarzen Madonna, zu der alle Katholiken Kataloniens mindestens einmal im Leben pilgerten.

Die Bevölkerung lebte eingezwängt zwischen üppigem Reichtum und schreiender Armut, hin- und hergerissen zwischen tiefem Volksglauben und aufkeimendem revolutionärem Gotteszweifel, zwischen der Zugehörigkeit zu Spanien mit seiner Krone sowie dem Wunsch nach mehr Eigenständigkeit. Katalonien war in der Tat anders als der Rest Spaniens, was sich in der Sprache und der Geschichte zeigte. Als die Araber im Mittelalter die iberische Halbinsel eroberten und immer weiter nach Norden rückten, errichtete der Frankenkönig Karl der Große (748–814) um das Jahr 800 bei Barcelona die sogenannte Spanische Mark als Pufferzone. Deshalb ist Katalonien als einzige Region Spaniens karolingisch. Und die Sprache ist kein spanischer Dialekt, wie man meinen könnte, sondern ähnelt vielmehr dem südfranzösischen Okzitanisch.

Als Gaudí 1852 zur Welt kam, hatte der Staat dieses Katalanisch längst verboten. Es lebte nur noch in den Familien weiter, so auch bei den Gaudís. Aber die Zeichen der Zeit standen auf Umbruch. Allmählich erwachte Katalonien aus seinem Dornröschenschlaf, und es ist für die romantische Ader der Katalanen bezeichnend, dass am Beginn ihrer Emanzipation ein Gedicht stand, dazu noch ein für moderne Ohren ausgenommen kitschiges. Es wurde zwanzig Jahre vor Gaudís Geburt von dem Ökonomen Bonaventura Carles Aribau (1798–1862) geschrieben, der in Madrid arbeitete und Heimweh hatte. Unter dem Titel Oda a la Pátria (Ode an die Heimat) schilderte der Hobbydichter in sechs Strophen seinen Schmerz: Sterben möge der Undankbare, der in fremden Landen die Muttersprache vernimmt und darüber nicht in Tränen ausbricht!17

Trotz des Sprachverbots druckte die beliebte freiheitlich-liberale Zeitung El Vapor in Barcelona die Schnulze ab. Selbst Aribau hatte sich wohl kaum träumen lassen, dass er damit eine revolutionäre Kulturbewegung lostreten würde. Die Sehnsucht nach der Muttersprache wurde zum Politikum, denn die Menschen fragten sich immer lauter, warum ihnen diese eigentlich verboten war.

Im Hause der Familie Gaudí verfolgte man dieses aufkeimende Selbstbewusstsein mit Begeisterung. Vater Francesc (1813–1906) konnte im Gegensatz zu vielen anderen Handwerkern nämlich lesen, da ihn seine weitsichtige Mutter Rosa in die Schule geschickt hatte. Die früh verwitwete Rosa Serra, verheiratete Gaudí (1786–1851), war eine imponierende Persönlichkeit gewesen, die es geschafft hatte, als Frau den Ehrentitel La Calderera, die Kesselschmiedin, zu erhalten, was sie als Oberhaupt des Familienclans der Kesselschmiede auszeichnete. Ihr kleines Anwesen auf dem Land vor den Toren von Riudoms hieß denn auch der Hof der Kesselschmiedin, La Mas de la Calderera. Heute ist von dem rudimentären Originalstall längst nichts mehr übrig. Gaudí war immer sehr stolz auf seine Herkunft aus einer Handwerkerdynastie und sagte:

 

»Ich besitze die Gabe der räumlichen Vorstellungskraft, weil ich der Sohn, Enkel und Urenkel von Kesselschmieden bin. Alle diese Generationen von Männern mit ihrem räumlichen Empfinden haben meinen Werdegang bestimmt. Ein Kesselschmied kann aus einer flachen Platte ein Volumen erzeugen, und bevor er mit der Arbeit beginnt, hat er es sich bereits plastisch vorgestellt.«18

 

Der erste nachweislich katalanische Gaudí hieß Joan, war im 17. Jahrhundert aus Südfrankreich eingewandert und arbeitete als Weber. Seine Nachfolger sattelten auf den Beruf der Kesselschmiede um. Diese Handwerker waren für die Wirtschaft von großer Bedeutung, da sie neben Dachrinnen und Rohren auch Behälter und Kolben für die Schnapsbrennereien herstellten, in denen die Landwirte ihre Früchte zu Alkohol verarbeiteten und in die spanischen Kolonien nach Übersee ausführten.

Gaudís Vater Francesc machte seine Lehre bei einem Schmied in Reus und heiratete dessen Tochter Antònia. Das frischgetraute Ehepaar Francesc Gaudí und Antònia Cornet i Bertran (1830–1876) ließ sich in Reus nieder und eröffnete eine eigene Schmiedewerkstatt. Die erste Tochter kam 1844 zur Welt und erhielt den Namen Rosa (1844–1879). Ein Jahr später folgte Maria (1845) und drei Jahre danach Francesc (1848).

Das Familienglück währte jedoch nicht lange. Zu Beginn des Jahres 1850, zwei Jahre vor Antonis Geburt, starben sowohl Maria als auch der kleine Francesc. Die Lebensbedingungen waren ungünstig, in den Wohnungen gab es kein fließendes Wasser und keine sanitären Anlagen, Krankheitskeime konnten sich ungehindert vermehren, und an gesunde Ernährung war oft nicht zu denken. In Spanien erreichte die Hälfte der Kinder das Erwachsenenalter nicht. Bei Antònia hinterließ der Verlust ihrer beiden Kleinen eine schmerzliche Narbe, die nie heilte, auch nicht, als sie 1851 wieder einen kleinen Francesc zur Welt brachte und dann, am 25. Juni 1852, als letztes Antonio, auf Katalanisch Antoni.

Am auffälligsten an dem jüngsten Familienspross waren die Augen. Immer wieder werden Beobachter von diesen stahlblauen Augen berichten. In keinem Blick habe ich so viel frohes Licht gesehen, von sanfter Bescheidenheit, vereint mit derart penetranten und harten Blitzen, erinnerte sich Miquel Ferrà (1885–1947), Bibliothekar an der Universität Barcelona.19

Gaudís Leben fällt ausgerechnet in die komplizierteste Epoche der spanischen Politik, in der sich Dutzende von Regierungen die Klinke in die Hand drückten, ein Militärputsch den anderen jagte und in der die Königin Isabel II. (1830–1904) sowie regierende Politiker wiederholt ins Exil fliehen mussten. Das Ungemach hatte damit begonnen, dass Isabels Vater, der Bourbonenkönig Ferdinand VII., 1830 die Thronfolgeregelung änderte, um die Krone auch an weibliche Nachkommen zu vererben, denn er hatte keinen Sohn, dafür aber zwei Töchter. Damit hebelte er seinen Bruder, den Thronprätendenten Don Carlos de Borbón (1788–1855), aus, der von nun an mit seinen Anhängern immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen anzettelte, welche als die sogenannten Karlistenkriege über Jahrzehnte hinweg für schmerzliches Blutvergießen sorgten.

Im Laufe dieser Kriege wurde auch in Reus vor der Haustür der Gaudís gekämpft und geschossen. Als alter Mann wird Gaudí sagen:

 

»Der Krieg, der alles mit Gewalt löst, führt unweigerlich zum Verlust der Moral; deshalb wurden die Kreuzzüge zum Fiasko, und deshalb kehrten sich viele Karlisten, zumindest jene mit einem gesunden Menschenverstand, vom Karlismus ab, weil sich die karlistischen Truppen so schändlich verhielten.«20

 

Antoni wohnte mit den Eltern und den beiden Geschwistern in Reus zur Miete an der Calle de San Juan über der Werkstatt des Vaters. Francesc arbeitete weitgehend allein, manchmal mit einem Lehrling und später zeitweilig mit Hilfe seiner beiden Söhne. Er galt als vertrauenswürdig und korrekt, so dass ihn die Stadtverwaltung von Reus zum Beamten für Masse und Gewichte ernannte.

Neben seinen Aufgaben für den Staat und die Werkstatt kümmerte sich Francesc auch um das Land rund um die Mas de la Calderera bei Riudoms, das er von der Mutter übernommen hatte. Weil das bescheidene Anwesen in der Nähe eines Flusses lag, konnte Francesc auf dem Gelände nicht nur Oliven und Reben anbauen, sondern er erkaufte sich auch das Pachtrecht auf stundenweise Wassernutzung, was ihm ermöglichte, Obst, Haselnüsse und sogar Gemüse zu ziehen. Die Familie Gaudí ging jede Woche von der Stadt zur Mas de la Calderera hinaus, um ihr Land zu bewirtschaften.

Schon als kleiner Junge verbrachte Antoni viel Zeit bei seinem Vater in der Schmiede, hörte das Hämmern und Klopfen auf Metall, roch den Rauch aus den Brennöfen und beobachtete, wie im flackernden Licht des Feuers und der Öllampen Gegenstände und Werkzeuge geheimnisvolle Schatten an die Wände warfen. Er sah, wie der Vater nach Augenmaß Kupferplatten zu Rohren und symmetrischen, dickbäuchigen Kolben formte, und machte die prägende Erfahrung, dass das, was ein Handwerker im Kopf hatte, durch seine Hände plastische Realität wurde, auch ohne Pläne und mathematische Berechnungen.

Aber der jüngste Gaudí-Spross mit seinen eisblauen Augen und dem rotblonden Haar schien schwächlich und litt oft an Fieber. Er erkrankte früh an einer Lungenentzündung und entwickelte daraufhin rheumatische Arthritis, die ihn bis zu seinem Tod plagen sollte, wie er selbst schilderte:

 

»Ich wurde lange gestillt. Noch vor meinem sechsten Lebensjahr begann ich an Schüben von Gelenkrheuma zu leiden, die im Laufe meines Lebens immer wieder auftraten. Diese Krankheit wirkte sich stark auf meine kindliche Entwicklung aus: Immer öfter blieb ich auf der Mas (de la Calderera), und man erzählte mir später, dass ich häufig auf einem Esel transportiert wurde, weil mich die Schmerzen am Gehen hinderten.«21

 

Anton, wie er gerufen wurde, musste sich damit abfinden, dass seine Spielkameraden draußen herumtollten, während er am Wegrand oder auf der Wiese ausharrte. Das lange Harren machte aus ihm einen geduldigen Beobachter. Er bestaunte mit seinen hellen Kinderaugen die Natur, fixierte jede Faser der Gräser und Blumen, die Blätter in den Oliven- und Obsthainen und an den Rebstöcken, sah den Insekten zu, wie sie kreuchten und fleuchten, beobachtete Echsen, Hühner, Singvögel, Hunde, Kleinvieh, aber auch große Tiere wie Pferde und Esel, lauschte dem Summen der Bienen, dem Zirpen der Grillen und dem Rauschen des Wassers, und weit am Horizont sah er jene sagenumwobenen Berge, von denen die Katalanen mystische Geschichten erzählten, und auf der anderen Seite die unendliche Weite des Himmels über dem blauen Meer.

Die Bilder und Gerüche, die Texturen, die er streichelte, gruben sich tief in seine Seele ein, und immer wieder wird er sagen, die Natur sei seine erste und wichtigste Lehrmeisterin gewesen, denn alle Lösungen für architektonische Probleme ließen sich aus ihr ableiten. Er war ein intensiver Betrachter der Erde und des Sternenhimmels und mahnte:

 

»Das große Buch der Natur ist immer aufgeschlagen, und man sollte sich die Mühe machen, es zu lesen.«22

 

Auf Gaudí traf zu, was der französische Nobelpreisträger für Medizin Alexis Carrel (1873–1944) so formuliert hatte: Wenige Beobachtungen und viel Nachdenken führen zum Irrtum. Viele Beobachtungen und ein wenig Nachdenken führen zur Wahrheit.23 Als Gaudí Jahre später in seinem Atelier bei der Sagrada Família arbeitete, blickte er täglich aus seinem Fenster auf einen großen Eukalyptusbaum, von dem er sagte, er sei »das Modell für die gesamte Architektur«.24 Alle seine Besucherinnen und Besucher führte er zum Fenster:

 

»Dieser Baum, der da bei meinem Atelier steht, da seht Ihr meinen Lehrmeister!«25

 

Als kluge Pragmatiker erkannten die Eltern Gaudís sehr wohl, dass sich mit dem technischen Fortschritt die Welt veränderte. Katalonien gehörte dank seiner Export-Häfen zu den ersten industrialisierten Regionen Europas, dort wurde die erste Eisenbahnlinie Spaniens gebaut, und die spanischen Kolonien schwemmten reiches Kapital an. Seit den 1830er Jahren nahm in Katalonien die Zahl der Fabriken stetig zu. Man betrieb sie zuerst mit Kohle und ab den 1860er Jahren mit Dampfmaschinen, deren rauchige Kamine das Landschaftsbild prägten. Als Gaudí ein Kind war, lag die katalanische Baumwollindustrie europaweit auf dem dritten Platz hinter England und Frankreich.

Das Handwerk verlor allmählich an Bedeutung. Auch bei den Gaudís gab es immer wieder Monate, in denen die Familie kaum über die Runden kam und auf Zuwendungen besser gestellter Nachbarn angewiesen war, die ihnen Schuhe, Esswaren oder alte Kleider schenkten.26 Die Söhne Francesc und Antoni mussten schon als Kinder nach der Schule in der Baumwollfabrik La Fabril Algodonera, genannt Vapor Nou, von Reus als Feuerentfacher etwas Geld verdienen.

Um aus der beruflichen Sackgasse auszubrechen, das wussten die Eltern sehr wohl, musste man zumindest den Söhnen Zugang zu Bildung ermöglichen. Das öffentliche Schulwesen Spaniens war aber so schlecht, dass sie die beiden in eine kleine Privatschule des Lehrers Rafael Palau schickten, der sich in einem Zimmer im Krankenhaus von Reus eingemietet hatte. Da Anton oft krank war, wurde er erst mit acht Jahren eingeschult. Der Unterricht wurde auf Spanisch abgehalten, es gab weder katalanische Zeitungen noch Bücher. Wenn Gaudí im Alter nur noch Katalanisch sprach und so tat, als verstünde er kein Spanisch, so geschah dies aus purem Trotz.

Nach drei Jahren versetzten die Eltern Antoni und Francesc in ein anderes Institut, das im obersten Stockwerk eines Reihenhauses an der Hauptstraße von Reus und damit näher bei ihrer Wohnung lag. Leiter dieser Schule war ein gewisser Francesc Berenguer, dessen Name viel später in Gaudís Leben wieder auftauchen sollte. An diesem kleinen Institut blieb er ebenfalls drei Jahre und lernte einen Freund fürs Leben kennen: Eduard Toda i Güell (1855–1941).

Toda war drei Jahre jünger als er, also damals erst acht, und Neffe eines großen republikanischen Lokalpolitikers. Sein Vater lebte nicht bei ihm, denn er hatte den Sohn zwar anerkannt, die Mutter jedoch nicht geheiratet. Seine feinen Gesichtszüge und die hohe Stirn zeugten von der gutbürgerlichen Abstammung, im Gegensatz zu dem etwas plump wirkenden Handwerkersohn Anton mit den fleischigen Lippen. Er war hochintelligent und wird bereits mit 16 Jahren Beiträge für die republikanisch-demokratische Presse in Reus schreiben, anschließend in Madrid Rechtswissenschaften studieren und mit 21 in den diplomatischen Dienst eintreten sowie als Historiker und Archäologe Karriere machen. Von Toda stammt eine kleine Episode über Gaudí aus der Grundschulzeit. Als in der Klasse das Thema Vögel besprochen wurde, die Flügel hätten, um zu fliegen, habe Gaudí eingeworfen, die Hühner auf seinem Landsitz hätten auch Flügel, aber sie könnten nicht fliegen, sondern würden diese nur schlagen, um schneller laufen zu können.

Als gewöhnliche, praktizierende und gläubige Katholiken lasen Antonis Eltern mit Sorge von den Ereignissen in Italien, das allmählich zu einer Einheit zusammenwurchs und bedrohlich den letzten Rest des römischen Kirchenstaates unter Papst Pius IX. (1792–1878) umklammerte. Die Weltkirche schien in Gefahr, das alte Wertesystem wankte, mit dem Fortschritt machten sich neue Ideen und atheistische Utopien breit.

In Katalonien fanden immer mehr Verleger den Mut, Artikel, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke in der eigenen Sprache zu publizieren. Madrid duldete dies einmal mehr, einmal weniger. 1862 erschien erstmals seit dem Mittelalter wieder ein ganzer Roman auf Katalanisch. Der Autor Antoni de Bofarull (1821–1892) veröffentlichte sein politisch-historisches Melodrama L’Orfaneta de Menargues o Catalunya agonisant (Das Waisenkind von Menargues oder sterbendes Katalonien), ganz dem Zeitgeschmack entsprechend gefühlstriefend und durchmischt mit mythischen Legenden und Fabelwesen.

Als Antoni eines Tages wieder in der Baumwollfabrik als Feuerentfacher arbeitete, erwischte ihn Fabrikdirektor Joan Tarrats (1815–1885), wie er in einer Ecke sitzend in einem Buch über Arithmetik las. Statt den Zehnjährigen auszuschimpfen, brachte er ihm am Tag darauf ein Buch über Geometrie mit. Tarrats ermutigte die Gaudís, ihre Söhne auf das Gymnasium zu schicken.27 Tatsächlich schrieben die Eltern die Brüder ein Jahr später in das katholische Instituto Colegio de las Escuelas Pías in einem mittelalterlichen Klostergebäude in Reus ein, das von Priestern des Piaristenordens geleitet wurde.

Das Institut war kostenlos, dank eines Abkommens mit der Stadt Reus und einem privaten Sponsor. Zwar hatte sich der spanische Staat offiziell verpflichtet, alle Bevölkerungsschichten zu alphabetisieren, kam der Aufgabe jedoch nicht nach, so dass die Schulbildung Spaniens noch immer weitgehend in kirchlicher Hand lag.28 In Gaudís Klasse saßen durchwegs Knaben, denn die Mädchen wurden von den Familien nur selten ausgebildet. Im Gegensatz zu seinem Bruder Francesc wurde aus Antoni nie ein herausragender Schüler. Seine Leistungen waren bis zum Ende seines Architekturstudiums durchwachsen und hingen stark von seinen persönlichen Interessen ab. Besonders in Arithmetik, Französisch und Geografie fiel er immer wieder durch.

Auch sein bester Freund Toda wurde an die Piaristenschule geschickt. Spätenstens hier lernte Gaudí noch einen weiteren Weggefährten kennen, den gleichaltrigen und schmächtigen Josep Ribera i Sans (1852–1912), Sohn eines Pädagogen aus Reus. Der Junge mit den eingefallenen Augen wird sich später als Chirurg in Madrid niederlassen.

Sobald es seine wiederkehrenden Fieberschübe zuließen, durchstreifte Antoni mit dem Bruder und seinen Freunden die lebendigen Gassen von Reus. Jeden Montag wurde auf dem Markt ein Großteil der spanischen Haselnuss- und Mandelproduktion gehandelt. Es gab eine Bank, um die Handelsgeschäfte mit Übersee abzuwickeln, eine jüdische Gemeinde, eine blühende Alkohol- und Textilindustrie und mehrere Konsulate, sogar ein US-amerikanisches. Gleich hinter dem Wohnblock der Gaudís lag das Stadtpalais Bofarrull aus den 1780er Jahren mit seinem figurenverzierten Portal und einer Fassade aus unterschiedlich angeordneten Mauersteinen, sowie Ruinen eines alten Schlosses, die den Jungen faszinierten. Später wird der phantasiebegabte Erzähler schwärmen:

»Die höchste Ausdruckskraft erhält die Gotik als Ruine, halb von Efeu überwuchert und im Mondschein, oder wenn man fast nichts sieht.«29

 

Prägend für ihn und sein späteres Schaffen war besonders auch die Peterskirche, in der Gaudí getauft worden war, mit ihren hohen Kreuzgewölben und dem imposanten achteckigen Glockenturm, der noch immer das Wahrzeichen der Stadt ist. Seit der Antike steht die geometrische Figur des Achtecks für Vollkommenheit, weil es in der christlichen Symbolik den Neuanfang nach der siebentägigen Schöpfung bedeutet. Der Knabe stieg auf der Wendeltreppe sieben Stockwerke, jedes mit einem Kreuzgewölbe, hinauf zum Dach. Beim Herabschauen von der Treppe zeigte sich ihm eine enggewundene Spirale von Stufen bis weit nach unten. Er wird bei seinen Bauten immer wieder auf dieses Schneckenhaus zurückkommen. Die Aussicht vom Dach auf die vielen Kirchtürme der Stadt bis zum erahnten Horizont über dem Meer auf der einen und den Hügelkuppen der Sierra de la Musara auf der anderen Seite war atemberaubend. Die drei Freunde träumten von mittelalterlichen Helden und fernen Ländern, sagten Gedichte auf, schwärmten von Rittern und adeligen Damen und beschworen die sagenumwobene und glorreiche Vergangenheit des einst mächtigen Fürstentums Kataloniens herauf. Sie zeichneten, dichteten, schrieben und fabulierten.

Gaudí blieb fünf Jahre bei den Piaristen. Kurz nach seinem Weggang verstaatlichte eine neue Regierung das Institut und verjagte die Priester. Neben Griechisch, Latein und den üblichen Fächern erhielt Gaudí auch Unterricht in Religion und Liturgie und musste jeden Samstagnachmittag das lateinische oficium parvum, oder besser das kleine Offizium der allerseligsten Jungfrau Maria beten. Diese alte lateinische Tageszeiten-Liturgie war damals weit verbreitet. Der junge Gaudí stellte fest, dass ihm das Stillsitzen in der Kirche am Samstagnachmittag nichts ausmachte, sondern dass er sogar gerne betete:

 

»An der Piaristenschule (…) entstand meine Zuneigung zur Liturgie durch meine ersten Gebete der Psalmen und Verse der horetes (des Stundenbuchs), und in ihren Hallen erlernte ich die heilige Gottesfurcht.«30

 

Für die katholische Doktrin interessierte er sich hingegen weniger, was an seinen mäßigen Noten zu erkennen ist. Überhaupt hatte er eine gewisse Abneigung gegen all jene Fächer, in denen er viel auswendig lernen musste. Und trotz einer gewissen Sympathie für die Religion zeigte er keinerlei Anzeichen für eine geistliche Berufung. Er hasste es, wenn er wegen seiner Fieberschübe den Unterricht verpasste und dann den Stoff nachpauken musste, und verbrachte seine Zeit lieber mit Toda und Ribera als am Schulpult.

Als Sprössling einer Politikerfamilie diskutierte Toda schon im frühen Teenager-Alter gern über Politik, aber Gaudí nahm kaum Anteil an diesen Gesprächen. Dafür entwickelte er eine wachsende Faszination für die bildende Kunst und steckte die Nase gern in Zeitschriften, wo er Bilder von Bauwerken aus anderen Regionen und Ländern betrachten konnte. Mit seinen Freunden teilte er auch die Begeisterung für das Theater. Toda erzählte später, sie hätten auf Dachböden oder in Innenhöfen der Häuser von Bekannten so lange Theaterstücke aufgeführt, bis man sie weggejagt habe.31 Gaudí erschien jedoch nie auf der Bühne, nicht einmal als Statist, und blieb Zeit seines Lebens öffentlichkeitsscheu. Er kümmerte sich lediglich um das Bühnenbild, das er auf Zeitungspapier malte.

Das Trio Toda, Ribera und Gaudí verfasste auch eine eigene Schülerzeitung mit humoristisch-satirischen Beiträgen auf Spanisch. Sie nannten sie El Arlequín. Auch hier hielt sich Gaudí im Hintergrund, steuerte nur die Illustrationen bei, bis er nach gut einem Jahr damit aufhörte. Von Gedichten bekommt er Kopfschmerzen, erzählte Toda. Und er habe ihn nie auch nur eine Zeile schreiben sehen.32

3. Der schlaue Buchhändler von Barcelona

Dass heute in Barcelona die wohl letzte Kathedrale der Menschheit und die erstaunlichste Kirche der Welt steht, ist einem Buchhändler zu verdanken. Er hieß Josep Maria Bocabella i Verdaguer (1815–1892), trug einen dicken Schnurrbart und war neben seiner Buchhandlung auch Inhaber einer katholischen Druckerei. Der katalanische Autor Josep Pla (1897–1981) beschrieb Bocabella als einen Krämer, der keine Fremdwörter benutzte, den Banken nicht traute und alles Importierte ablehnte. Andere sagen, er habe im Nationalstolz der Katalanen ein Alibi für seinen offenkundigen Rassismus gefunden.33

Bocabellas Vater war früh gestorben, und von der Mutter erbte er den Fleiß, die Intelligenz und den Duchhaltewillen, den er im Leben oftmals brauchen sollte. Josep lebte in einem patriotischen Umfeld, das den Franzosen nie verzieh, dass sie 1812 unter Napoleon (1769–1821) in Katalonien eingefallen waren und die Region zwei Jahre lang beherrscht hatten. Nach eigenen Aussagen machte er nie Geschäfte mit den Franzosen und aß keine importierten Lebensmittel, schon gar nicht solche aus Frankreich, weil von dort aus auch republikanisch-atheistische Ideen seine Heimat überschwemmten.34

Er war katholischer Traditionalist, Monarchist und Pragmatiker. Als guter Unternehmer lieferte er seine katholischen Printwaren bis nach Amerika und in die Philippinen und stand im Briefverkehr mit großen katholischen Intellektuellen und Würdeträgern seiner Zeit. Papst Pius IX. erteilte ihm den Titel des Druckers für den Vatikan. Diese Auszeichnung brachte Bocabella allerdings eher Nachteile ein, denn der Wind drehte sich zunehmend gegen die Religion. Mit dem sozialen Elend und den neuen politischen Strömungen stieg der Hass gegen die Kirche, die als Kollaborateurin der privilegierten Oberschicht und des dekadenten Adels angesehen wurde. Unter den verschiedenen fortschrittlich-liberalen und antiklerikalen Regierungen wurden immer wieder adelige Großgrundbesitzer und besonders auch die Kirche enteignet und Priester und Ordensleute verjagt oder gar getötet.

Als der gewiefte Bocabella gegen seinen Willen in die Armee eingezogen wurde, schaffte er es, sich als Bläser in die Militärkapelle einteilen zu lassen, obwohl er noch nie im Leben eine Flöte in der Hand gehalten und im wahrsten Sinne des Wortes keine Ahnung von Tuten und Blasen hatte. Nach seinem Tod wurde bekannt, dass er jede Woche Gefangene besuchte sowie den Kranken im Militärhospital Geschenke brachte.35

Trotz seines Misstrauens gegen alles Fremde unternahm er Pilgerfahrten ins Ausland, so auch nach Italien. Besonders der Wallfahrtsort Loreto in der Gegend von Ancona mit seiner imposanten Basilika hinterließen in ihm einen bleibenden Eindruck, denn dort befindet sich ein wichtiges Heiligtum der Christenheit: eine Nachbildung des Wohnhauses von Maria von Nazareth, in dem ihr der Erzengel Gabriel erschienen war. Der Legende nach soll es sich sogar um das Originalhaus handeln, das auf wundersame Weise von Nazareth nach Loreto gelangt war. Reich mit Reliquien bepackt, kam Bocabella von seiner Italienreise zurück und war von nun an fest gewillt, dieses Wohnhaus der Maria in Barcelona nachzubauen.

Als die italienischen Nationalisten unter dem Freimaurer und Guerillageneral Giuseppe Garibaldi (1807–1882) nach Rom vorrückten, um auch den letzten Rest des Kirchenstaates zu erobern, beschloss Bocabella zu handeln. Seine Waffe war das Gebet, und so gründete er 1866 die Gebetsvereinigung der Anhänger des Heiligen Josef, Asociación Espiritual de Devotos de San José. Josef war der Vater oder streng genommen der Stiefvater von Jesus, der seine Anverlobte Maria nicht verjagte, als sie ihm eröffnete, dass sie schwanger war, und zwar nicht von ihm. Die Christen verehren ihn für seine demütige Mitwirkung am göttlichen Heilsplan. Er war ein Familienvater und somit Oberhaupt der Heiligen Familie, der Sagrada Família.

Die Mitglieder der Josefsvereinigung verpflichteten sich unter anderem, für die christlichen Werte der Familie einzustehen und durch ihr Gebet die Anliegen des Papstes mitzutragen. Nach dem Vorbild einer französischen Publikation gründete Bocabella die Zeitschrift El probagador de la devoción de San José, sinngemäß übersetzt Zur Verbreitung der Verehrung des Heiligen Josef. Schon bald zählte das Heft eine Auflage von 25.000 Exemplaren. Der Verein wuchs mit den Jahren zeitweise gar auf 600.000 Mitglieder an, von denen auch viele außerhalb Kataloniens wohnten. Selbst Papst Pius IX. und die Mitglieder des spanischen Königshauses traten der Josefsvereinigung bei. Da in den Straßen Barcelonas immer wieder Tumulte aufflackerten und Geschäfte und Kirchen geplündert wurden, versteckte Bocabella die Spendengelder in seiner Buchhandlung unter den Backsteinen, die den Ladentisch abstützten.

Im September 1868 wurde Königin Isabel II. aus dem Land gejagt. Sie hatte mit ihrer autoritären und konservativen Regierung alle progressiven, demokratischen oder republikanischen Kräfte Spaniens gewaltsam unterdrückt und wurde nun von einigen Generälen unter der Führung des populären Katalanen Joan Prim (1814–1870) gestürzt. Seinen Ruf als Nationalheld hatte Prim einem wichtigen militärischen Sieg in Marokko gegen die Berber zu verdanken. Nach seinem Putsch kehrten viele Oppositionelle aus dem Exil zurück, aber Spanien kam nicht zur Ruhe. Zwar ging seine Machtergreifung als die Glorreiche Revolution in die Geschichte ein, doch sollte sie Europa in einen Krieg reißen und sechs Jahre später durch die Rückkehr der Bourbonenmonarchie beendet werden.

Auch die Eltern Gaudís vollzogen im Revolutionsjahr einen folgenschweren Schritt: Sie schickten ihre Söhne schweren Herzens in die Großstadt Barcelona. Nach sieben Generationen war also Schluss mit der Kesselschmiede-Dynastie Gaudí. Der 16-jährige Antoni sollte sich in Barcelona auf das Abitur und die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereiten, wobei er noch nicht wusste, was er eigentlich studieren wollte, während der ältere Bruder Francesc zum großen Stolz der Familie mit dem Medizinstudium begann. Die Tochter Rosa, die acht Jahre älter als Antoni war, lebte bereits in der Metropole und stand kurz vor der Hochzeit, und auch andere Verwandte der Familien Gaudí und Cornet waren im Zuge der Landflucht vieler Katalanen bereits in der Großtadt angekommen. Mit ihrer Hilfe fanden die Gaudí-Brüder eine bescheidene Bleibe in einer Kammer über einer Wurstwarenhandlung an der Plaça de Montcada 12 im Altstadtviertel Ribera beim Hafen, genauer im Quartier Born mit seiner gleichnamigen alten Markthalle.

Barcelona platzte aus allen Nähten, Wohnraum war teuer, die Menschen lebten zusammengepfercht in stickigen Wohnungen, und wer ein paar Meter Raum übrig hatte, vermietete ihn an Familienangehörige oder Bekannte. Antoni trug sich im Institut d’Ensenyament Mitjà für die Vorbereitung auf das Abitur ein. Bei seiner Ankunft wurde gerade die verhasste Zitadelle, ein Symbol spanischer Vorherrschaft über Katalonien, eingerissen. Auf dem Gelände sollte ein öffentlicher Park entstehen, an dem Gaudí später sogar als studentischer Assistent mitarbeitete. Er war noch ein Kind gewesen, als die Stadtregierung beschlossen hatte, die alten Stadtmauern einzureißen und gegen Norden hin neue Siedlungsgebiete zu erschließen. Die neuen Quartiere wurden L’Eixample genannt, was in etwa Aschampla ausgesprochen wird und auf Katalanisch Erweiterung bedeutet. Noch heute ist das urbanistische Konzept des fortschrittlichsten aller europäischen Stadtplaner, Ildefons Cerdà (1815–1876), weltberühmt und gilt je nach Sichtweise als Meisterstück oder ideologische Katastrophe.

Cerdà zeichnete ein streng geometrisches Raster bestehend aus breiten Straßen und 625 angewinkelten Häuserblocks mit Innenhöfen. Er hatte bereits an Stromversorgung, öffentliche und private Mobilität und Kanalisation gedacht, obwohl die entsprechenden technischen Kenntnisse für solche Infrastrukturen noch in den Kinderschuhen steckten und es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis sie auch tatsächlich gebaut wurden. Außerdem war Cerdà ein sozialer Utopist, der von einer harmonischen Durchmischung der verschiedenen Gesellschaftsschichten träumte. Aber seine revolutionären Visionen fanden in der rigiden barcelonischen Klassengesellschaft kaum Resonanz, so dass letztlich nur ein Teil seiner Ideen umgesetzt wurde.

Ohnehin galt Antonis Interesse der Altstadt, wo er wohnte und studierte. Erst später wird er im Eixample tätig werden und dort einige seiner wichtigsten Privathäuser und die Sagrada Família bauen. Das Stadtleben war für die meisten Menschen eine Qual. Der Chefingenieur für die Sanierung Barcelonas, Pere Garcia Fària (1858–1927), beschrieb Ende der 1880er Jahre die prekären Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien und klagte die Behörden an, weil sich besonders bei den unteren Bevölkerungsschichten durch Hygienemangel und Platznot Krankheiten wie Typhus, Tuberkulose und Cholera ungehindert verbreiten konnten.36 Er schilderte die engen, dunklen und muffigen Eingänge zu den Treppenhäusern, die zugemüllten Korridore, den Schimmel an den Wänden und die Holzbretter am Boden, mit denen die Latrinenlöcher zugedeckt waren, aus denen ein pestilenzialischer Gestank aufstieg.

In den überfüllten Wohnungen der oberen Geschosse fehlte es an Luft und Licht, denn um Platz für weitere Mieter zu schaffen, wurden die Räume durch zusätzliche Trennwände aufgeteilt, die keine Öffnungen gegen außen hatten. In einem einzigen Zimmer lebten bis zu drei Familien. Die dreckigen Wände hätten undefinierbare Farben, steht in Garcias Bericht, und die Innenhöfe seien nichts weiter als übelriechende Müllhalden, aus denen der Gestank bis zu den Wohnungen aufstieg. Im Eixample sei die Situation nicht viel besser, da die Abwässer in Sickergruben endeten und das Trinkwasser verseuchten. Später wird Gaudí ganz klar unterscheiden zwischen Armut und Elend. Armut führe zu Eleganz und Schönheit, und sie sei nicht zu verwechseln mit dem Elend.37

Im Straßenlabyrinth lebten auf engem Raum Gerber, Schuhmacher, Zimmerleute, Gewürz-, Fisch- und Kleintierhändler, Metzger, Sattler, Goldschmiede, Geldwechsler, Handwerker und Verkäufer mit ihren Familien. Trotz der schlechten Wohnverhältnisse und der unangenehmen Gerüche befand sich der Teenager aus der Provinz plötzlich in einem der schönsten mittelalterlichen Stadtteile Europas hinter der gotischen Monumentalbasilika Santa Maria del Mar, die sich ausnahm wie eine mittelalterliche Festung. Die Einheimischen nannten sie auch Kathedrale des Meeres, Kirche der Armen oder Kirche des Volkes, denn im 14. Jahrhundert war der Prachtbau nicht etwa von Adligen, sondern von den einfachen Stadtbewohnern oder besser den Zünften gebaut worden, ähnlich wie der Mailänder Dom. Wer sich am Kirchenbau beteiligte, konnte sich sogar aus der Sklaverei freikaufen.38 Den Grundgedanken, dass das Volk aus eigenem Antrieb seinem Erlöser in liebevoller Hinwendung einen Raum schenkte, um von ihm Gnade für die eigene Seele zu erlangen, wird Gaudí viele Jahre später bei der Sagrada Família wiederfinden. Dort hat dieses Prinzip bis in unsere Tage überlebt, da die Kirche auch heute noch ohne staatliche Hilfe ausschließlich durch Spenden- und Eintrittsgelder finanziert wird.

Als der Teenager aus Reus zum ersten Mal die Santa Maria del Mar betrat, machte er eine nachhaltige Erfahrung. Seine Augen wurden wie von selbst in die Höhe gezogen, entlang der achteckigen Säulen, die weit oben in ein atemberaubendes filigranes Deckengewölbe ausästelten. Beim Hinaufschauen hatte er das Gefühl, als tue sich der Horizont über ihm auf, als geleiteten ihn die Säulen zum Himmel oder zum Allmächtigen hin. In diesem Meisterwerk der katalanischen Gotik mit ihrer kraftvollen Weite erfuhr Gaudí, dass das Gottesverständnis der Katalanen alles andere als bedrückend und moralisch einengend, sondern erhebend, herzergreifend, beinahe romantisch war. In Barcelona entdeckte er, dass Architektur nicht nur einschüchtern, sondern auch erheben konnte.39

Die Streifzüge durch die Gassen Barcelonas interessierten Gaudí weit mehr als die Schule. Er stieß auf architektonische und kunsthandwerkliche Meisterwerke des Spätmittelalters mit unzähligen baulichen und dekorativen Details und Ornamenten. Über die Jahrhunderte hatten die verschiedenen Generationen die Häuser aufgestockt und ihnen ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Auf romanischen Säulen waren neoklassizistische Balkone abgestützt, hinter modernen Fassaden versteckten sich einstige Gebetshallen der Tempelritter, römische Granitblöcke dienten als Grundfeste für gotische Kirchen. Gaudí berührte mit seinen Händen Zeugnisse einer königlichen Vergangenheit, die aber zusehends von dem wachsenden Elend der Bevölkerung überschattet wurde.40

Die Eltern waren allein in Reus zurückgeblieben und versuchten, sich mit ihrer Schmiedewerkstatt über Wasser zu halten. Für das Studium ihrer Söhne in Barcelona mussten sie einige Parzellen ihres Landsitzes in Riudoms verkaufen und eine Hypothek auf die Mas de la Calderera aufnehmen. Im März 1869 heiratete Antonis Schwester Rosa Gaudí in Barcelona den andalusischen Musiker José Egea i Ferrer (1845–?). Es war eine unglückliche Wahl, wie sich herausstellen sollte. Drei Monate später schloss Francesc sein erstes Studienjahr in Medizin mit Bestnoten ab, während Antoni nur einen Teil seiner Abiturprüfungen bestand. In Französisch fiel er durch, aber er wusste mittlerweile, wohin in etwa die Reise gehen sollte:

 

»Wenn es mit der Architektur nicht geklappt hätte, wäre ich Schiffsbauer geworden.«41

 

Getrieben von unbändiger Neugierde und dank eines beinahe fotografischen Gedächtnisses lernte Gaudí am liebsten autodidaktisch. Zwar war er sehr wohl in der Lage, stundenlang in Büchern und Zeitschriften zu lesen, die damals noch viel weniger Bilder enthielten als heute, sondern dicht zugetextet waren, aber offenbar fiel es ihm schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Besonders abstrakte Theorien und das Herunterrechnen von plastischen Figuren auf mathematische Formeln waren ihm ein Graus, obwohl er sich später als begnadeter Mathematiker und Statiker erweisen sollte.

Er sah sich selbst eher als Handwerker, der einen Körper zuerst in seinem Kopf erdachte und ihn dann mit den Händen auf die Wirklichkeit übertrug, wie er es von seinem Vater in der Schmiede gelernt hatte. Sein zuverlässigstes Maß war das Auge und das oberste Gesetz die Schönheit, wie er später erklärte:

 

»Eine Eisenbrücke ist Mechanik, aber sie ist nicht schön. Architektur hingegen ist Kunst. Die Mechanik ist das Skelett, der Knochenbau, aber es fehlt ihm das Fleisch, das ihm Harmonie verleiht.«42

 

Gaudí war überzeugt, dass zwar nicht alle Menschen für die Wissenschaft gemacht waren, aber alle nach Schönheit strebten. Er berief sich dabei auf den heiligen Augustinus (354–430):

 

»Schönheit ist der Abglanz der Wahrheit, und dieser Glanz zieht alle Menschen in ihren Bann; daher hat die Kunst diese Universalität.«43

4. Gott ist tot

Im Norden Kataloniens liegt das mittelalterliche Städtchen Tremp, in dem der junge Priester Josep Manyanet i Vives (1833–1901) lebte. Zwar hatte er eine sichere Anstellung in der Kurie, aber er gehörte zu jenem Teil des spanischen Klerus, der sich an den schlechten Lebensbedingungen der Bevölkerung störte und etwas dagegen unternehmen wollte. Manyanet hatte bereits mehrere Ordensgemeinschaften gegründet, die sich dem Schulunterricht widmeten. Alle seine Ordensmitglieder sollten sich die Heilige Familie zum Vorbild nehmen, besonders auch wegen deren demütiger Liebe zur Arbeit. Er selbst stammte aus einer Bauernfamilie, konnte schreinern und stellte sogar Möbel her. Der einfache Zimmermann Josef aus dem Neuen Testament war sein liebstes Vorbild.44

Obwohl die Gewalt gegen die Kirche und alle religiösen Institutionen massiv zunahm, breiteten sich Manyanets Schulen rasch über ganz Katalonien aus. Dennoch hieß der wachsende neue Glaube Fortschritt, sein Kind war der Nihilismus, so dass 1882 Friedrich Nietzsche (1844–1900) in seinem Werk Die fröhliche Wissenschaft einen Verrückten ausrufen ließ: Wir haben ihn getötet! Damit meinte er Gott.

Die Katholiken brauchten dringend Orientierungshilfen. Bereits 1864, vier Jahre vor der Glorreichen Revolution, hatte Pius IX. mit dem Syllabus errorum eine Liste sogenannter ideologischer Irrtümer publiziert, die sich in seinen Augen nicht mit dem Glauben an Gott vereinbaren ließen. Er warnte darin vor dem Modernismus, vor der Gleichstellung der Kulturen, vor Kommunismus, Liberalismus, religiöser Gleichgültigkeit und anderen Formen der Einschränkung kirchlicher Vorherrschaft. Einige seiner Analysen sind noch immer nachvollziehbar, wie wenn er schreibt, es sei falsch zu behaupten, der Glaube an Christus widerspreche der menschlichen Vernunft. Andere wurden mittlerweile von der katholischen Kirche revidiert. Hundert Jahre nach dem Syllabus antwortete der spätere Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger (1927–2022), auf die Frage, wie viele Wege zu Gott es gebe: So viele, wie es Menschen gibt.45

Aber seit der Glorreichen Revolution hatte die Kirche einen schweren Stand. Die neue Verfassung entzog ihr Vollmachten, viele katholische Schulen mussten schließen, darunter das Institut der Piaristen, wo Gaudí drei Jahre studiert hatte, ohne dass der Staat jedoch im Stande war, seinem Bildungsauftrag nachzukommen. Einmal mehr wurden die Jesuiten aus dem Land vertrieben, dafür hatten Arbeiterbewegungen und die Freimaurerei freie Fahrt.

Gegen die Abkehr vom Glauben und die Verdrängung des Christentums aus der Gesellschaft wollte Manyanet ein religiöses Zeichen setzten. Im Juni 1869 schrieb er seinem Bischof Josep Caixal (1803–1879) in einem Brief: Mir kam die Idee, an den glorreichen Patriarchen, den Heiligen Josef, zu gelangen, indem wir ihm (…) eine Sühnekirche errichten, die durch freiwillige Zuwendungen der Spanier gebaut werden soll.46 Unter dem Begriff Sühne verstand er die Bitte um Vergebung für den Abfall von Gott. Bischof Caixal zeigte sich erfreut, aber es brauchte ein weiteres Jahr und einen Buchhändler aus Barcelona, um den Stein ins Rollen zu bringen.

Auch die Weltkirche wollte handeln. Am 8. Dezember 1869 eröffnete Pius IX. im Petersdom zu Rom das Erste Vatikanische Konzil mit einem Paukenschlag: Der Papst hatte zwar über tausend Teilnehmer eingeladen, alle katholischen Bischöfe sowie Vertreter der anderen christlichen Konfessionen, aber kein einziges Staatsoberhaupt. Zum ersten Mal beriet sich die katholische Kirche unabhängig von politischen Mächten. Das Erste Vatikanische Konzil dauerte Wochen, Monate, es schien nicht enden zu wollen, und es endete auch nicht wirklich, denn nach fast einem Jahr wurde es im Oktober 1870 im Trubel europäischer Kriegswirren auf unbestimmte Zeit vertagt.

In Barcelona setzte Gaudí derweil sein Abiturstudium fort. Die Eltern nahmen inzwischen auch bei Verwandten Geld auf und hofften, dass die Söhne nicht an die Front berufen wurden, denn gerade jetzt führte die provisorische Regierung Spaniens die allgemeine Wehrpflicht ein. Spanien brauchte Soldaten gegen innere Revolten, gegen die Karlisten sowie für die Kolonien, in denen immer wieder Unabhängigkeitsrevolten aufflackerten. Besonders die katalanische Bevölkerung wollte ihre Söhne aber nicht als Kanonenfutter opfern und wehrte sich mit allen Mitteln. In der Vorstadt Gràcia bei Barcelona stürmten Frauen die Büros der Stadtverwaltung, rissen die Einwohnerregister aus den Regalen und verbrannten sie auf einem Scheiterhaufen, um die Namen ihrer Männer und Söhne auszulöschen.

In den Sommerferien machte Gaudí seine erste Erfahrung als Architekt. Sein Freund Josep Ribera weilte bei Verwandten im katalanischen Mittelgebirge in den Ferien und lud ihn und Eduard Toda nach Espluga de Francolì ein. Zu dritt besuchten sie die nahegelegene Klosterruine Santa Maria de Poblet aus dem 12. Jahrhundert. Die Zisterzienserabtei war einst ein mächtiges kulturelles Zentrum gewesen, wo sogar die Könige von Aragón begraben waren. Heute gehört das restaurierte Gebäude zum Unesco-Weltkulturerbe, doch damals lag es ausgehöhlt und verlassen da, denn um die Kriege gegen die Karlisten zu finanzieren, hatte der Staat 1835 große Teile des Weltklerus und der Klöster enteignet, die Besitzungen und Ländereien verkauft und Plünderungen freie Bahn gelassen. Auch in Poblet wurden die achtzig Mönche verjagt und das Gebäude geschändet.

Als die drei Teenager ehrfürchtig die verlassenen Hallen betraten, kam ihnen eine kühne Idee: Sie würden das Kloster restaurieren und zu neuem Leben erwecken! Im Schatten der alten Mauern unter den Spitzbögen des Kreuzgangs schworen sie sich mit heiligem Eifer, Zeit ihres Lebens für diesen Plan zu arbeiten. Mit ihrem Schwur legten zwei von ihnen tatsächlich die Weichen für ihre berufliche Laufbahn: Toda wurde später Archäologe, Gaudí Architekt.

Sie teilten sich die Arbeiten auf: Gaudí sollte ein Projekt für die Restaurierung planen und die Löcher, welche die Schatzsucher gegraben hatten, wieder auffüllen. Ribera würde als Chronist die Geschichte des Klosters aufschreiben, und Toda schließlich wollte Archive und Bibliotheken durchstöbern und ein Buch über das Kloster veröffentlichen, mit dessen Erlös ein Teil der Restaurierung bezahlt werden sollte. Tatsächlich katalogisierte er daraufhin 160 Bücher und sammelte 70 Schachteln mit Dokumenten, die er in Buchantiquariaten fand. Er schrieb ein leidenschaftliches Gedicht, in dem er die Republikaner anklagte: Infame Mörder (…) Ihr Feiglinge, die Ihr die Kunst entweiht. Wenn das Freiheit sein soll, dann stinkt sie gewaltig!47

Bereits für den jungen Gaudí waren Gebäude keine starren Mauern, sondern sie lebten. Die Ruine von Poblet stellte er sich als sterbenden Mann vor, der nach Hilfe rief, die Gemäuer waren das anatomische Skelett eines menschlichen Körpers.48 Leider ist außer einem Wappenbild von Poblet, das er von einem Kupferstich kopierte, keine Zeichnung Gaudís für die Restaurierung der Abtei erhalten geblieben.

Dafür wird sechzig Jahre später Eduard Toda tatsächlich maßgeblich am Wiederaufbau der alten Abtei beteiligt sein, als König Alfonso XIII. (1886–1941) seinen Chefdiplomaten beauftragte, die Restaurierung einzuleiten. Gaudí war damals bereits tot. 1940 siedelten erste Mönche aus Italien ins Kloster um, und 1952 wurden die Überreste der einstigen Könige von Katalonien und Aragón aus Tarragona zurück in ihre ursprünglichen Gräber nach Poblet gebracht.

Kaum zurück aus den Ferien, verliebte sich Gaudí zum ersten Mal. Zwar gibt es dazu keine direkte Aussage seinerseits, sondern nur einen Zeitungsartikel seines innigen Vertrauten, des Dichters Joan Maragall (1860–1911) aus dem Jahr 1904. Darin berichtet dieser von einem nicht namentlich genannten Architekten mit rotblondem Bart, blasser Haut und durchdringenden hellen Augen, der im Haus von Bekannten eine junge Französin kennengelernt habe. Maragall legte Gaudí folgende etwas hölzerne und daher plausible Worte in den Mund:

 

»Ich hatte mich in diesen Tagen schwer verliebt, und ich besuchte sie so oft wie möglich, und sie merkte offenbar etwas und sprach sehr liebenswürdig mit mir, sehr, sehr …; so sehr, dass ich ganz betört war; doch sie war schon vergeben in ihrer Stadt, und der Tag kam, als sie dorthin zurückkehren musste. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, mich von ihr zu verabschieden, und als sie abreiste, blieb ich daheim, wie tot. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört, außer dass sie heiratete und in ihrer kleinen Stadt wohnte.«49