Aphorismen und kleine Prosa - Rainer Malkowski - E-Book

Aphorismen und kleine Prosa E-Book

Rainer Malkowski

4,9

Beschreibung

Brillante Aphorismen und Kurzprosa in der Tradition von Lichtenberg und Karl Kraus. In den vom Autor selbst so genannten "Hinterkopfgeschichten" bietet Rainer Malkowski knappen Beobachtungen und Momentaufnahmen durch seine Kunst der sprachlichen Verdichtung einen weiten Hallraum der Reflexion. Neben diesen bereits im Jahr 2000 unter dem Titel "Im Dunkeln wird man schneller betrunken" veröffentlichten Prosatexten enthält der Band unter der Überschrift "Nach der Erfindung des Spiegels" auch Texte aus dem Nachlass. Malkowskis tiefenscharfe Beobachtungen und Gedanken eröffnen einen Horizont von den kleinsten bis zu den letzten Dingen. In seinem Gedankenreichtum, in seiner Lust an Sprachspiel und Sprachwitz erweist sich der Lyriker auch als großer Aphoristiker.

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Seitenzahl: 67

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Rainer Malkowski

Aphorismenund kleine Prosa

Herausgegebenund mit einem Nachwortvon Michael Krüger

Die »Hinterkopfgeschichten« erschienenzuerst bei Nagel & Kimche, Zürich 2000.

© Nagel & Kimche, Zürich 2000

Bibliografische Information derDeutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013

www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1358-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2445-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2446-6

Nach der Erfindung des Spiegels

APHORISMEN

Wir wissen mehr, als wir zu erkennen vermögen.

Daß wir zur Konsequenz nicht geboren sind, ist ein Mangel, der uns am Leben hält.

Auch unsere Fiktionen sind Fakten – wahrscheinlich sogar die entscheidenden.

Daß wir die Ewigkeit als Wirklichkeit erfahren können – und zwar ausschließlich im äußersten Gegensatz zur Dauer: nämlich für Bruchteile von Sekunden in einer aufflammenden Existenzerhellung. Es ist das Flüchtigste, von dem wir nicht lassen.

Natürlich kann man mit jedem Menschen auskommen. Das sieht man an sich selbst.

In der Kürze der Aphorismen liegt ihr Pessimismus.

Daß wir alle gleich sind, macht die Unterschiede so wichtig.

Was sagt die Erfindung des Spiegels über den Menschen? Daß er sich selber Objekt werden kann – in einer Weise, die ihn immer tiefer in seine Subjektivität verstrickt.

Nullpunkt-Tage. Funktioniert das Gehirn noch, wenn es seine Lähmung bemerkt?

Meistens löst man ein Problem dadurch, daß man sich ein anderes vornimmt.

Die meiste Oberflächlichkeit verbirgt sich in der Tiefe.

Fragen, auf die es keine Antworten gibt, führen am weitesten.

Ohne Erbarmungslosigkeit keine Erkenntnis.

Im Film sagte der Eskimo, manchmal müsse man neue Jagdgründe aufsuchen, und er meinte, mit den Gedanken sei es dasselbe.

Ich denke, um herauszufinden, was.

Es ist verhältnismäßig leicht, eine Wahrheit zu formulieren. Niemand kennt ihre Identität.

Was ich nicht weiß, macht mich heiß.

Je weniger man von einer Sache weiß, desto länger kann man über sie diskutieren.

Was einer nicht so genau wissen will, interessiert mich am meisten.

Die Fähigkeit zur Utopie unterscheidet den Menschen vom Tier. Nur Tiere sind Realisten. Realistische Menschen gibt es nicht – das setzte Einklang voraus, einen totalen Mangel an Empfindung für jeden alternativen Entwurf. Die Realität kann man nicht wahrnehmen; man kann sie nur proklamieren.

Seit Kain und Abel wissen wir, daß alle Menschen Brüder sind.

Wenn der Einzelne nichts vermag, warum verändert sich dann das Ganze?

Manchmal erscheint es einem ganz unmöglich, daß man nichts findet, wenn man wirklich sucht. Wird man nicht in jedem Fall das Suchen finden?

Die Ungenauigkeit unseres Gesprächs hat es in Gang gehalten.

Ob wir einen Fehler hinterher als vermeidlich ansehen, hängt von seiner Größe ab.

Wenn uns kein Ausweg mehr bleibt, tun wir das Nächstliegende.

Der Unterschied zwischen dir und mir bin ich.

Nicht alles, was auf der Hand liegt, kann man auch fassen.

Minderheitsthemen sind bei der Mehrheit am beliebtesten.

Tragödien verfaßt man am besten in gehobener Stimmung.

Am Ende ist alles ein Anfang.

Wenn der Bauch nicht in Stimmung ist, hat der Kopf nichts zu lachen.

Wer keine Schmerzen hat, weiß nicht was ihm wehtut.

Natürlich halte ich mich nicht für bedeutend. Ich möchte nur, daß andere das tun.

Wie heiter die Kunst ist, hängt von dem Ernst ab, mit dem sie gemacht wird.

Eine Sache blind beherrschen heißt sie aus dem Auge verlieren.

Wenn Müßiggang wirklich so leicht wäre, würden viel weniger Leute arbeiten.

Wer die Sprache vernachlässigt, kümmert sich auch nicht um den Menschen.

Die meisten Pläne macht man für den vergangenen Tag.

Wer weiß schon was er glaubt?

Sprachlosigkeit macht oft viele Worte.

Wer glaubt auf andere nicht angewiesen zu sein, macht von ihnen besonders sublimen Gebrauch.

Ein Toter belebt das Gespräch.

Das einzig Absolute ist die Relativität.

Im Grunde sind alle unsicher. Daher die Entschiedenheit ihrer Meinungen.

Man kann nicht ewig die Zeit verantwortlich machen.

Was alle sagen hört keiner.

Arbeit beruht nicht auf einem eingeborenen Ethos – sie ist ein Rettungsversuch.

Ein bißchen mehr Mißverständnis hätte man in dieser heiklen Situation schon erwarten dürfen.

Letzte Aufzeichnungen sind immer ein Versuch, endlich einen Anfang zu machen.

Neue Formen mißt man immer an den Regeln der alten.

Wer keinen Standpunkt vertritt, verweigert sich den Mitmenschen. Unsere Irrtümer werden gebraucht. Mit der sinkenden Zahl kontroverser Positionen schrumpft die Welt.

Ist es etwa keine Ironie, daß ausgerechnet das Gehirn des Menschen schmerzunempfindlich ist?

Auf den Verstand kann nur stolz sein, wer zuwenig hat.

Von der Fähigkeit, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu vergessen – auch davon hängt unser Überleben ab.

Ab und zu eine Verrücktheit ist vernünftig.

Auch der Aberglaube profitiert vom jeweiligen Stand der Wissenschaft.

Leute, die im Theater an der falschen Stelle lachen, liegen in der Beurteilung des Stücks oft richtig.

In dem Satz ›Alle Menschen sind Brüder‹ kommen Frauen nicht vor.

Im Nicht-Denkbaren liegt der Schöpfungsbeweis.

Wie viel muß ins Dunkel zurückfallen, damit das Bleibende zum Zeichen wird.

Es kommt darauf an, Gott ohne Possessivpronomen zu denken. Einen solchen Gott freilich muß man aushalten können, und es fragt sich, ob auf ihn ein Erlösungsglaube zu gründen ist.

Wenn es auf den einzelnen Menschen ankäme, wäre er nicht sterblich.

Der Kopf der Gottesanbeterin scheint ganz Freßwerkzeug. Als was erscheint unser Kopf einem Wesen vergleichbar überlegener Organisation?

Um eine Position zu gewinnen, muß man sie zuerst beziehen.

Ungeträumte Träume belasten am meisten.

Es gibt keine ›Anständigen‹ – nur Unanständige mit schlechtem Gewissen.

Langsam nehmen die Deformationen Gestalt an.

Intoleranz soll man nicht tolerieren.

Es gibt Krankheiten, die nur ein Gesunder ertragen kann.

Niemand ist zu häßlich, um Narziß zu sein.

Jede Kopie ist ein Original.

Vorsätze verfaßt man immer dann, wenn man sie gerade über den Haufen geworfen hat.

Das Interessante an andern sind wir.

Sentimentale haben kein Gefühl.

Nichts steht weniger im Widerspruch zur Wirklichkeit als ein Paradox.

Man kann nicht alles meinen, was man sagt. Dazu ist der Wortschatz zu groß.

Wenn das Wort ›Seele‹ stirbt, was bleibt dann von ihr selbst?

Kratzen Sie sich nur ordentlich, dann wird es Sie auch jucken.

Entscheidende Dummheiten macht man nie nur einmal.

Manche glauben, das Leben biete ihnen tausend Möglichkeiten. Aber dies zu glauben ist ihre einzige.

Wenn ein Buch gut ist, interessiert keinen Menschen worüber es geschrieben wurde.

Man möchte vieles. Aber will man es auch?

Was sich ändern läßt, bleibt bestehen.

Wenn man die Zeit totschlagen könnte, würde es nicht immer wieder versucht.

Klugheit hilft natürlich genausowenig wie Dummheit. Aber auf intelligentere Weise.

Unsere Unvollkommenheit hält uns beschäftigt.

Schönheit ist nie harmlos. Und Harmlosigkeit nie schön.

Heute abend ist morgen auch noch ein Tag.

Wenn man sich vornimmt, nur aufzuschreiben, was man sicher weiß, wird man mit wenig Papier auskommen. Und auch an diesem geringen Wissen hängt noch der Zweifel mit Zentnergewichten. Denn ist, was ich sicher weiß, nicht bloß entschiedener geglaubt?

Wahrnehmung als Ereignis.

Lehrer erziehen sich in ihren Schülern.

Handeln führt öfter zum Denken als Denken zum Handeln.

Auf komische Gefühle folgen meist ernste Gedanken.

Manche Gelegenheit nimmt man am besten wahr, indem man sie ausläßt.

Nach einem schlechten Buch ist man oft klüger als nach einem guten.

Keine Sache ist so schlecht, daß man sie nicht wenigstens gut formulieren könnte.

Auch Greise sind manchmal altklug.

Die einzige Nahrung, die der Geist wirklich braucht, ist Brot.

Je heftiger ein Gerücht dementiert wird, desto mehr ist an ihm dran.

Die Folgen des Folgenlosen sind enorm.

Jede Lösung ist ein Problem.

Es wird schon werden – warten wir ab, was.

Vernichtende Selbstkritik ist genauso eine Flucht aus der Wirklichkeit, wie die Verweigerung bitterer Einsicht. Wenn man nicht lernt, sich anzunehmen, fehlt dem Ungenügen an der eigenen Person die Basis, die es produktiv macht.

Es wäre sinnlos, alles sinnlos zu finden. Das ist der einzige Grund, der dagegen spricht.

Man darf nicht tadelsfrei sein wollen, wenn man sich nicht den Lebensfaden abschneiden will.

So anständig wie ich sein möchte, will mich gar keiner haben.

Besser ein orgineller Epigone als ein epigonaler Orgineller.

Sie würden mir sehr helfen, wenn Sie es nicht versuchten.

Bilden Sie sich nichts darauf ein, daß Sie Recht behalten haben. Sie haben auch von vornherein das Schlechteste angenommen.