Aquarií: Intrige der Rebellen - Sandra Baumgärtner - E-Book

Aquarií: Intrige der Rebellen E-Book

Sandra Baumgärtner

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Beschreibung

Melli reist ans Ningaloo Reef in den Westen Australiens. Sie ist zuversichtlich, dort Hinweise zur Rettung des Meervolkes zu erhalten. Doch ihre Hoffnung scheint sich nicht zu erfüllen. Als sie nachts am Strand auf alte Feinde trifft, überschlagen sich die Ereignisse. Wer kämpft auf der Seite der Aquarií? Wer will ihren Untergang? Während Melli nach Verbündeten sucht, kommt ihr jemand zu Hilfe, den sie nicht erwartet hätte.

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Prolog
Monstrum
Überraschungen
Manöver
Wiedersehen
Schauspieler
Fehleinschätzungen
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Blennidaá, der schlaue Schleimfisch
Lügenmärchen
Sisyphus
Überflieger
Aussies
Tauchbuddies
Logans Needles
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Keanaá Otio, der Wald der Einkehr
Sinnkrise
Nachtschwärmer
Strandläufer
Auf der Jagd
Mauritius Beach
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Wie die Aquarií zu ihren Schlafkokons kamen
Dickheads
Kontrahenten
Wassermänner
Time-out
Rückendeckung
Marahií
Beistand
Verräter
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Wie die Magie in Marahií Einzug hielt
Yin und Yang
Beichte
Epilog
Glossar Aquarií-Welt
Glossar Menschen-Welt
Danksagung
Sandra Baumgärtner

 

 

 

 

 

 

Herstellung&Satz:

MACHWERKE Verlag

C/O Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

 

© Covergestaltung: FANTASIO und TRAUMSTOFF Buchdesign

Lektorat/Korrektorat: Lektorat Bobrowski

 

ISBN 978-3-947361-17-5

 

[email protected]

www.machwerke-verlag.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

*

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

*

Die im Text genannten Personen und fantastischen Wesen, egal ob lebendig, tot oder untot, sind allesamt frei erfunden. Dies gilt auch für Zeitungsartikel, Mails und Nachrichten jeglicher Art. Sie wurden nie geschrieben oder veröffentlicht und entspringen alleine der Fantasie einer kreativen Autorin.

*

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Danke.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Hans und Heidi.

Und für all die anderen lieben Kängurus.

Prolog

 

Australien, am Great Barrier Reef

 

Der Speer durchbohrte den Brustkorb des königlichen Kriegers und drang am Rücken wieder hervor. Sofort trat Blut aus der Wunde und färbte das Wasser, während der Soldat sterbend zur Seite kippte. Das schlafende Kind, das er in den Händen trug, wurde ihm entrissen und weitergereicht.

„Nein!“, schrie Tachimaál und wurde sogleich von mehreren Speeren zurückgedrängt. Tatenlos musste er mit ansehen, wie das schlaffe Bündel von seinen Entführern fortgeschleppt wurde. „Ich hole dich zurück, Solameliaá. Hörst du? Ich hole dich zurück!“, schrie der Krieger der Kleinen hinterher.

Für einen kurzen Augenblick war er unkonzentriert und sah die nächsten Klingen nicht kommen. Sein Kontrahent schlug ihm mit dem ersten Hieb die Waffe aus der Hand, mit dem zweiten schlitzte er ihm den Arm auf. Er hatte gelobt, seine Schwester Solameliaá bis aufs Blut zu verteidigen, doch alle Mühen waren umsonst. Er hatte versagt. Machtlos stand er einem Pulk feindlicher Angreifer gegenüber.

Ein paar Königstreue, die den Ausfall ihres Kommandanten bemerkt hatten, stürmten heran, um ihn zu schützen. Einer nach dem anderen fielen sie den wütenden Speeren zum Opfer, die von den Gegnern mit geübten, kraftvollen Hieben geführt wurden. Längst war das glasklare Wasser vom Blut der Gefallenen trübe. Und während sich die Reihen der königlichen Pacha-Aárs im Umfeld der schicksalhaften Kindesentführung lichteten, wurden den Verbliebenen allmählich die Übermacht der Rebellen und die Sinnlosigkeit weiterer Rettungsversuche bewusst. Die letzten Krieger schienen ihren Treueeid zu vergessen und haderten, ob sie nicht besser fliehen sollten, statt zu sterben. Ihr Zaudern war ihr Todesurteil. Die Verräter fegten über sie hinweg und töteten sie.

Am Ende stand nur noch Tachimaál Eldeboroó gegenüber. Stolz reckte er den Kopf und ging in Position. Er hatte dem Befehlshaber der Rebellen nur noch seinen Körper und seinen eisernen Willen entgegenzusetzen. Doch mochte Eldeboroó auch Solameliaá geraubt, seinen Speer genommen und seine Männer getötet haben, solange es etwas gab, das es zu beschützen galt, würde Tachimaál weiterkämpfen. Er würde bis zum letzten Moment sein Volk und das, was ihm heilig war, verteidigen und versuchen, die Instruktionen des Königs umzusetzen. Er fürchtete weder Kampf noch Tod und würde sein Leben bereitwillig opfern. Es war nur ein kleiner Tribut für die Große Mutter und für das Überleben seines Volkes in Marahií.

„Wo ist der Schrein mit dem Sangua-Ahár?“, herrschte ihn Eldeboroó an.

„Das sage ich dir nicht“, antwortete er.

„Dann wirst du sterben, Tachimaál, wie alle anderen.“

„Lieber sterbe ich, als mein Volk zu verraten. Denn nichts anderes wird passieren, wenn das Sangua-Ahár in die falschen Hände gerät.“

Eldeboroó maß ihn mit spöttischem Blick. „Es wird geschehen, Tachimaál. Ob heute oder in einigen Reneveels. Irgendwann wird dein alter Vater entweder unter der Last der Neuerungen einbrechen oder sterben. Freiwillig oder gezwungen, dem Aqua-Lohií wird nichts anderes übrig bleiben, als mit den Landwesen zu kooperieren. Denn für unser Überleben gibt es nur eine Möglichkeit: ein Leben gemeinsam mit ihnen.“

„Das Sangua-Ahár ist unser Leben“, widersprach Tachimaál. „Nur siehst du in deiner Verblendung diese Wahrheit nicht. Aqua-Ahár wacht seit Anbeginn über uns. Sie hat uns nie verraten. Nun aber seid ihr dabei, unsere Große Mutter zu verkaufen.“ Er sah die umstehenden Pacha-Aárs der Reihe nach an. Fast jeden von ihnen kannte er, kannte ihre Familien und die Geschichte, die hinter jedem von ihnen stand. „Hat sie euch nicht immer beschützt und geleitet? Nie hatten wir Hunger zu leiden, hatten weder Kampf noch Krieg zu fürchten. Und nun gebt ihr unseren Frieden auf? Wofür?“

Eldeboroó knurrte. „Du redest wie dein Vater und bist von seinen rückständigen Ansichten vergiftet. Aqua-Lohií Tiraboroó ist alt. Er ist ängstlich und wirr und dem Archaischen zugewandt. Es ist Zeit für den Wandel, Tachimaál. Ich weiß das, und du weißt es auch. Du bist ein kluger und scharfsinniger Pacha-Aár. Die neue Ordnung braucht Männer wie dich. Also schließe dich uns an und werde Teil des neuen Reneveels. Wir müssen dem Unbekannten begegnen und neue Wege einschlagen, statt uns zu verstecken.“

„Warum?“ Wut stieg in Tachimaál auf. „Nenne mir einen Grund, warum unser Volk neue Wege beschreiten sollte, wenn der alte uns und unser Leben stets gut leitete.“

Eldeboroó blickte verächtlich auf ihn herab. „Gut leitete?“, fragte der Anführer. „Da oben wartet eine weitaus bessere Welt auf uns. Wir müssen sie erkunden. Die Landwesen werden uns dabei helfen. Zum Dank werden wir unser Sangua-Ahár mit ihnen teilen, so wie sie mit uns ihr Land teilen.“

„Siehst du denn nicht, dass sie euch alles nehmen, aber nichts geben werden?“ Tachimaál schüttelte wütend den Kopf. „Wir sind Kinder des Wassers, Eldeboroó. Wir sterben, wenn wir danach trachten, an Land zu leben. Was können uns die Luftmenschen geben, was wir nicht bereits besitzen? Du kennst die Geschichten unserer Oceanloggings.“ Er wendete sich an die restlichen Krieger. „Glaubt ihr wirklich, ihr könnt das Land für euch entdecken, euch dort oben ansiedeln und ein fruchtbares, erfülltes Leben führen? An Land? Auf dem Trockenen und in der Sonnenglut?“

Einige Soldaten blickten nachdenklich, einige nickten, andere senkten den Speer.

„Ihr kennt die Luftmenschen nicht und vertraut ihnen mehr als der Großen Mutter, die euch seit Reneveels umsichtig geleitet hat. Das Versprechen der Luftmenschen ist nichts anderes als der Lichtschein eines Gronuluúhs. Er täuscht euch, leitet euch in die Irre und in den sicheren Tod.“

„Schweig!“ Eldeboroós Speer stieß nach vorn und traf Tachimaáls Schulter. „Sag uns, wo wir das Sangua-Ahár finden, sonst wirst du leiden und jeder andere deines Volkes. Wir werden so lange kämpfen, bis wir haben, was wir brauchen.“

Tachimaál reckte trotzig das Kinn. „Ihr werdet den Schrein nicht mehr finden. Er ist an einem sicheren Ort. Ebenso wie das Volk und der Aqua-Lohií. Sie werden weiterleben, ihr aber werdet ohne die Unterstützung der Großen Mutter sterben, wenn ihr weiterhin euren falschen Hoffnungen nachhängt.“

Die Speerspitze schnitt eine tiefe Wunde in seinen Hals. Tachimaál verzog den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Er würde Eldeboroó diese Genugtuung nicht geben.

„Wir haben deine Schwester, und wir werden uns auch noch die anderen Königskinder holen, Tachimaál.“ Der Rebellenführer ließ ihm genügend Zeit, um die Drohung zu verdauen. „Ihr habt diesen Krieg angefangen, als ihr meine Familie zerstört und mir meine Söhne geraubt habt.“

„Wir haben deine Söhne nicht gefangen genommen.“

Eldeboroó lachte hämisch. „Du lügst! Deiner Schwester wird das gleiche Schicksal zuteil. Sie wird an Land ausgesetzt. Sie wird qualvoll in der Sonne sterben. Willst du, dass sie leidet? Wenn du uns hilfst, könnte ich sie verschonen.“

„Niemals“, presste Tachimaál hervor.

„Dann stirb!“ Eldeboroós Speer stach tiefer.

Plötzlich zog sich die Speerspitze wieder von Tachimaál zurück. Einer der gegnerischen Kämpfer war dem Pacha-Aár zu Hilfe gekommen und hatte die Waffe seines Kommandanten zur Seite geschlagen. Tachimaál konnte sein Glück kaum fassen. Es schien, als habe er die Rebellen von ihrer irrwitzigen Idee abbringen können. Unzählige Speere zischten durchs Wasser, trafen Eldeboroó in Brust und Hals. Tachimaál achtete nicht auf ihn. Er wusste, es waren zu wenige, die er überzeugt hatte. Doch der Tumult verschaffte ihm eine Fluchtmöglichkeit. Er machte kehrt und schwamm davon, so schnell er konnte. Wenn er es bis zu der Höhle schaffte, in der er sich mit seinen Soldaten auf den Kampf vorbereitet hatte, gab es vielleicht eine Chance zu überleben. Im weit verzweigten Labyrinth war die Orientierung schwer. Nahm man eine falsche Abzweigung, war man unweigerlich verloren. Die Gänge endeten allesamt in den Schlafhöhlen gefräßiger Wasserbestien. Es gab nur einen Ausgang, den man gefahrlos passieren konnte, und allein Tachimaál kannte den Weg dorthin.

Hinter sich hörte er die Rufe und Flüche der anderen. Sie waren ihm auf den Fersen. Tachimaál war verletzt und müde vom Kampf. Er spürte die Schwere seiner Schwingen, konnte aber den Eingang der Höhle bereits sehen und bot all seine verbliebenen Kräfte auf.

Nur noch wenige Flügelschläge trennten ihn von seiner Rettung, da traf ihn etwas an der rechten Schwinge. Es brachte ihn aus der Bahn und ließ ihn taumeln. Schwindel und durchdringender Schmerz raubten ihm kurzzeitig die Sinne. Er kämpfte und versuchte, den alten Kurs wieder aufzunehmen. Wut und Verzweiflung trieben ihn voran, hinein in die dunkle Höhle. Hinter ihm ertönten erneut Rufe. Speere flogen an ihm vorbei, prasselten auf die Felswände und verfehlten ihn nur knapp. Immer tiefer floh er in das Labyrinth, bog bald rechts, bald links ab, einem nur ihm bekannten Weg folgend. Er hetzte an den Wächtern des Labyrinthes vorbei. Die Globowees, die die königliche Garde für den Notfall an strategisch wichtigen Punkten platziert hatte, leuchteten grellrot und erloschen, kaum dass er sie passiert hatte. Erst als er weit in den dunklen Irrgarten vorgedrungen war – stets darauf bedacht, Haken zu schlagen und nicht den korrekten Weg zu nehmen –, hielt er inne. Er sah zurück und lauschte. Nichts. Nur das Gluckern des Wassers, das durch die Gänge strömte, und leises Zirpen, wenn ein Fischschwarm seine Bahnen zog. Die Globowees zeigten keinerlei Gefahr mehr an und strahlten weiß. Er war seinen Häschern entkommen.

Erschöpft ließ sich Tachimaál zu Boden sinken und schloss die Augen. Zum Schutz formte er einen Mucuó, einen Schlafkokon, und legte ihn sich um. Vorerst war er hier in Sicherheit. Doch wie lange noch? Was würde mit seinem Volk geschehen, wenn die Abtrünnigen mit den Luftmenschen gemeinsame Sache machten? Was würde aus den Aquarií und ihrem Reich werden? Wie sollten sie ohne das lebensspendende Sangua-Ahár überleben, wenn es von den Verblendeten verschachert wurde? Was würde aus seiner kleinen Schwester Solameliaá werden? Er kannte die Antwort auf all diese Fragen nicht. Allein die Göttin wusste, wie es mit ihren Kindern weitergehen sollte. Nur sie konnte sie noch vor dem Untergang bewahren.

„Aqua-Ahár, stehe uns bei“, betete er innig. Mutlos und gebrochen sank Tachimaál zu Boden und wartete auf sein Schicksal.

Monstrum

 

Morley, Perth, Western Australia

 

Die Aussicht vom Kings Park auf die Skyline von Perth und den Swan River war beeindruckend. Allein die Stadtautobahn, die sich vierspurig über den Fluss zog, störte die Postkartenidylle. Melli saß im Gras und trank den Smoothie, den Dawn zu Hause vorbereitet und mit den anderen Köstlichkeiten eingepackt hatte.

„Schmeckt er dir, Liebes?“, fragte die stämmige Australierin.

Dawn Blake war eine alte Freundin ihrer Adoptiveltern und sollte bei Mellis Australienreise der Anlaufpunkt sein, wenn es Schwierigkeiten gab. Und dass Melli in Schwierigkeiten geraten war, konnte sie nicht schönreden. Zum Glück hatte sie diese Notfalladresse, sonst hätte sie gleich nach einer Woche ihren Traumurlaub abbrechen und nach Hause fliegen müssen. Wobei von Traumurlaub längst keine Rede mehr sein konnte.

Nicht darüber nachdenken.

Zum gefühlt tausendsten Mal vermied sie, sich daran zu erinnern, was hinter ihr lag. Sie wollte nicht schon wieder an Juri denken oder an die Aquacon, die Organisation, die ihr so viel Ärger eingebrockt hatte. Oder an Marahií. An die Schönheit des Königreiches, an die Gefahr, in der ihr Volk schwebte. Und an ihre scheinbar unlösbare Aufgabe.

Nicht! Darüber! Nachdenken!

„Melli?“

„Äh, ja, der Smoothie war lecker.“

„Alles okay?“ Dawn nahm den leeren Becher entgegen und verstaute ihn im Koffer. Dann reichte sie ihr eine kleine Serviette. „Du siehst müde aus. Vielleicht sollten wir besser nach Hause fahren. Es war ein bisschen viel für heute, wie?“

Eigentlich liebte Melli Ausflüge. In den Tagen, in denen sie nun schon an der Westküste war, hatte sie viel gesehen. Dawn hatte sich freigenommen, um ihr die Gegend rund um Perth zu zeigen. Mit ihrem kleinen Van hatten sie hauptsächlich die Umgebung der Großstadt erkundet. Aber einmal waren sie in den Süden bis zum Walpole-Nornalup-Nationalpark gefahren. Der Baumwipfelpfad im Valley of the Giants hatte Melli fasziniert. Es hatte sie Überwindung gekostet, zwischen den Baumkronen über die schwankenden Brücken zu gehen, die in vierzig Metern Höhe an kräftigen Eisenkonstruktionen montiert waren. Doch dafür war sie mit vielen neuen Eindrücken belohnt worden.

Melli war dankbar für Dawns Rundumversorgung, musste sich aber eingestehen, dass sie der umfangreichen Bemutterung ihrer Gastgeberin und der gemeinsamen Reisen langsam überdrüssig wurde. Ihr lief die Zeit davon. Sie hatte eine Mission, und obwohl sie sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, war sie einem ersten Schritt, geschweige denn einer Lösung bis jetzt kein bisschen näher gekommen.

Sie versuchte ein Lächeln. „Alles gut, Dawn. Ich habe nur gerade überlegt, ob ich langsam wieder weiterziehen sollte.“ Sie sah Dawns Gesicht lang werden. „Bitte nicht falsch verstehen! Ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich in den letzten zwei Wochen so toll um mich gekümmert hast. Die ganzen Tagesreisen und die Besuche in Perth und der Umgebung waren echt super. Ich habe viel mehr gesehen, als ich auf meiner To-do-Liste hatte. Vermutlich wäre ich auch nie in diesen genialen Club gekommen, in dem wir die Nacht durchgetanzt haben. Wie hieß er doch gleich?“

„Das Gooseberry Drummers.“ Dawn verzog den Mund. „Verrate es bloß nicht Suza. Sie wird mit mir schimpfen, weil ich dich überhaupt dorthin mitgenommen habe.“

„Ich bin alt genug“, rechtfertigte sich Melli lachend. „Okay, sie wollten meinen Ausweis sehen, aber immerhin haben sie mich letztendlich auch ohne reingelassen. Davon und von den Cocktails verrate ich Mum garantiert nichts, keine Sorge.“

Dawn grinste spitzbübisch. „Besser ist das. Sonst kommt sie womöglich gleich angeflogen oder zitiert dich nach Hause.“

„Bloß nicht!“

Mellis innere Unruhe stieg. Der unvorhergesehene Aufenthalt bei Dawn dauerte schon viel zu lange, und je länger sie an einem Ort blieb, desto eher fand man sie.

Aber statt die Sache richtig anzugehen, stecke ich den Kopf in den Sand und lasse mich aushalten.

Sie wusste selbst, dass sie nur zu gerne der eigentlichen Aufgabe auswich, die ihr die Große Mutter gestellt hatte: den Untergang von Marahií und der Aquarií zu verhindern. Sie kam ihr wie ein riesiger, unbezwingbarer Berg vor.

Es ist, als müsste ich ganz allein gegen einen Gronuluúh kämpfen. Da braucht es erfahrene Soldaten, um dieses Tiefseemonster zu erledigen. Einen Pacha-Aár wie Tachimaál zum Beispiel.

Aber ihr Aquarií-Bruder war in Marahií. Er konnte ihr hier an Land nicht helfen. Vermutlich würde er sie ohnehin nicht unterstützen, selbst wenn er hier wäre. Tachimaál hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht mochte. Und außer ihm und ihrem Vater, König Tiraboroó, hatte sie niemanden, dem sie ihr Geheimnis anvertrauen konnte. Selbst Emma war nicht eingeweiht. Sie war zwar ihre beste Freundin, aber sie würde ihr niemals glauben.

„Hey, Emmi, stell dir vor: Ich bin eine Meerjungfrau.“

„Klar. Und ich bin eine Wenigerjungfrau. Mensch, Süße, hast du zu viele Drinks gehabt, oder was schlucken die in Australien in den Clubs? Gehts dir gut?“

Nein, es war besser, wenn niemand davon erfuhr.

„Komm, wir fahren nach Hause“, meinte Dawn und riss Melli aus ihrer Niedergeschlagenheit. „Und auf dem Heimweg erzählst du mir, was dich bedrückt, ja?“

Melli stand auf und half Dawn, die Decke zusammenzulegen. Sie gingen auf dem Kiesweg zurück, vorbei am State War Memorial, wo sie ein letztes Mal über die Stadt und die Bucht sahen. Vom Anleger hatte eine Stadtfähre abgelegt und fuhr unter den hübschen Bögen der Elisabeth Quay Bridge hindurch. Ein paar Minuten zuvor war ein buntes Partyboot voller Touristen mit viel Tamtam über den Swan River geschippert. Auch ein paar Motorjachten vom Jachtclub am Flussufer gegenüber kurvten auf der weitläufigen, tiefgrünen Wasseroberfläche. Aber der Fluss war nichts im Vergleich zum Meer, das Melli vor einer Woche am Cottesloe Beach gesehen hatte. Wie ihr das Herz geklopft hatte, als sie ins Wasser gegangen war! Jeden Moment hatte sie darauf gehofft, dass etwas passierte. Dass ein Delfin heranschwimmen oder ein seltsam geformter Kopf aus dem Wasser ragen würde. Nichts dergleichen war geschehen. Lediglich ein paar fliegende Fische waren aus den Wellen gesprungen und gleich darauf wieder verschwunden.

Melli seufzte und betrachtete die dahinziehenden Surfer. Sie blieb stehen, weil Dawn ihr klingelndes Handy aus der Tasche zog und den Anruf annahm. Als die Australierin ihr Telefon wieder einsteckte, hatte sie rote Flecke auf den Wangen.

„Komm, beeil dich“, meinte sie und winkte ungeduldig. „Das war Benjamin.“ Sie deutete bei einer Abzweigung nach links. „Da lang. Wir nehmen lieber ein Taxi. Damit sind wir schneller als mit dem Bus. Dumm, wir wären besser mit dem Auto gefahren. Ausgerechnet jetzt komme ich auf die Idee, Slow Motion zu betreiben und meinen Van zu Hause stehen zu lassen.“

Benjamin war Dawns Sohn und betrieb bei Exmouth einen Backpacker. Auf dem Wohnzimmerschrank im Haus stand ein altes Kinderfoto, auf dem ein kleiner blonder Junge grinsend auf einer Schaukel saß und stolz seine Zahnlücken zeigte. Vermutlich war das Benjamin. Melli hatte nie danach gefragt.

Dawn steuerte auf ein Taxi zu. Noch bevor der Fahrer aussteigen und ihnen behilflich sein konnte, saßen sie auf der Rückbank.

 

Die ganze Zeit über sah Dawn mit zusammengekniffenen Lippen aus dem Fenster und schien nicht an einem Gespräch interessiert zu sein. Melli war es recht. Sie hatte keine Lust, mit ihr über ihre innere Unruhe zu reden. Sie hatte es nicht einfach nur dahingesagt, dass sie Perth verlassen wollte. Sie hatte genug von der Stadt und genug vom Nichtstun. Ein Festival hier, ein Museum da und Strände, Strände, Strände. Dawns Aktivismus in allen Ehren, aber Melli war nicht nach Australien gekommen, um lange an einem Ort kleben zu bleiben. Erst recht nicht, nachdem sie in Marahií und in der Gorgoo Ahár gewesen war. Sie musste endlich aktiv werden.

Dass mich hier bisher niemand aufgespürt hat, grenzt fast schon an ein Wunder. Lange wird das nicht mehr so bleiben.

Eine Organisation wie die Aquacon, die Menschen als Köder engagierte oder entführen ließ, fand immer Mittel und Wege, jemanden aufzuspüren. Entweder legal oder illegal. Vorausgesetzt man hatte genug Geld und kannte die dafür notwendigen Leute. Melli hatte die Aquacon gegoogelt. Auf der Internetseite der Organisation stellte man sich seriös und unbescholten dar.

Man könnte die Aquacon für ein Unternehmen halten, das sich für unsere Umwelt einsetzt. Aber das ist, wie so oft, nur Greenwashing. Sie tun nach außen so, als ob sie nachhaltig arbeiten, aber in Wirklichkeit geht es bloß um Profit. Die Natur ist denen doch egal. Hauptsache, sie haben ihre Vorteile davon.

Melli kramte ihr neues Handy aus der Tasche und suchte den Screenshot, den sie von der Aquacon-Homepage gemacht hatte.

„Die Aquatic Assimilation Alliance mit Hauptsitz in Melbourne ist eine der führenden Organisationen auf dem Gebiet der Meeresforschung in Australien und der ganzen Welt. Ihr Ziel ist es, den Schutz der Meere und deren Bewohner mit Hinblick auf Nachhaltigkeit in harmonischen Einklang mit der wirtschaftlichen Nutzung zu bringen. Die Aquacon betreibt an über zwanzig Standorten internationale Forschungen auf den Gebieten der Meereswissenschaften und der maritimen Meteorologie. In den Laboren, die nach dem neuesten Stand der Wissenschaft ausgestattet sind, erforschen qualifizierte Wissenschaftler chemische, physikalische und biologische Prozesse des Ozeans und die Wechselwirkung zwischen Meeresboden und Atmosphäre. Die Forschungsbandbreite hat der Aquacon weltweit den Ruf eines einzigartigen, nachhaltig agierenden Konzerns eingebracht. AQUACON – damit wir auch morgen noch NATUR PUR erleben können.“

Darunter prangte das Bild des Firmengründers mit seiner vollmundigen Ansprache: „‚Mit mehr als fünftausend Mitarbeitern weltweit und einem Jahresbudget von über vierzig Millionen Dollar zählt die Aquacon zu einer der größten Organisationen Australiens‘, sagt Frederic Palmer, Senior Chef Manager und Founder der Aquacon. Lesen Sie mehr …“

Melli wurde schlecht von dem ganzen Geschwafel, und sie wischte das Bild beiseite. Sie kontrollierte die Inbox und fand eine Kurznachricht von ihrer Mutter, die wissen wollte, wie es ihr ging, und ihr berichtete, dass sie sie vermisste.

Ich vermisse euch ebenfalls. Aber ich bin auch sauer.

Sie fragte sich nach wie vor, was ihre Eltern von ihrer zweiten Existenz als Aquarií wussten. Ahnten sie, was der Ningyo-Opal bedeutete, den sie ihr zum Abschied geschenkt hatten? Wussten Suza und Henry von Mellis zweitem Leben? Bisher hatte es Melli vermieden, diese Sache anzusprechen. Ihren Adoptiveltern übers Telefon Vorwürfe zu machen, brachte nichts. So sehr sich Melli Vertraute wünschte, wusste sie doch genau, dass ihre Eltern zumindest im Moment keine große Hilfe waren. Die Antworten, die sie suchte, lagen nicht in Deutschland, sondern irgendwo in Australien versteckt. Aber vom bloßen Herumsitzen fand sie die nicht. Dazu musste sie endlich weiterziehen.

Melli suchte auf ihrem Handy nach den Notizen. In ihrer To-do-Liste fand sie die Sehenswürdigkeiten, die sie lange vor Reiseantritt ausgesucht hatte. Zum Beispiel eine Vier-Tage-süd-west-Tour, die über York, die Stirling Ranges, Albany und schließlich entlang der Küste zurück nach Perth führte. Alles Dinge, die man sich vornahm, wenn man eine Australientour plante, um Spaß zu haben und Erfahrungen fürs Leben zu sammeln. Naive Vorhaben, von einer naiven Abiturientin geplant. Doch diese Person war Melli längst nicht mehr. Sie würde nicht einfach da weitermachen, wo sie vor der Entführung aufgehört hatte. Sie war keine Touristin mehr. Ihre ursprünglichen Reisevorhaben bedeuteten ihr nichts mehr. Ein ganzes Volk verließ sich auf ihre Hilfe. Das Vertrauen, das die Aquarií in sie legten, wog mehr als ihr kindischer Wunsch, ihr Geburtsland kennenzulernen.

Weiterreisen und Lösungen suchen. Bloß wo?

Sie ging die einzelnen Punkte auf ihrer Liste durch. Halfen die weiter? Sollte sie gen Norden oder Süden? Wenn sie mit dem Bus reisen würde, hätte sie den Vorteil, in Gesellschaft und damit sicher zu sein. Ebenso wenn sie ganze Touren buchte. Im Süden war sie bereits gewesen. Gen Norden ging es nach Cervantes zu Geraldton und über Kalbarri nach Exmouth zum Ningaloo Reef. Wie üblich blieb ihr Blick für einen Moment an den Wörtern hängen. Das Ningaloo Reef. Tamati hatte es erwähnt.

Er sagte, wenn ich in Exmouth vorbeikäme, sollte ich unbedingt am Riff vorbeischwimmen.

Hatte Tamati mehr gewusst, als er vorgab? Wenn sie in sich hineinspürte, dann war da so ein sonderbares Gefühl, das sie nicht näher deuten konnte. Sie starrte auf die Buchstaben. Ningaloo Reef. Ein Riff, Korallen und das Meer. Das ergab Sinn. Sie sollte nach Norden reisen.

Vermutlich wartet die Aquacon dort schon längst auf mich. Das Great Barrier Reef im Osten und das Ningaloo Reef im Westen. Wo, wenn nicht in diesen Gegenden, würde man nach Wasserwesen wie den Aquarií suchen?

Aber dieses Risiko musste sie eingehen. Immerhin hatte sie alles Mögliche getan, um es der Aquacon schwer zu machen. Sie hatte ihren letzten bekannten Aufenthaltsort unter falschem Namen in einem Postflugzeug verlassen, hatte außerdem ihr altes Handy entsorgt und sich ein neues gekauft. Außer ihren Eltern, Emma und ihren Schweizer Freunden Elisa und Teo wusste niemand, wo Melli sich gerade aufhielt.

Oh, und Tamati!

Sie tippte auf das Display und fand auf Anhieb ihr Lieblingsbild, das sie mit allen anderen auf das neue Handy übertragen hatte. Es zeigte Tamati und sie an Bord seines roten Katamarans, der Coral Sea Bride. Sie saßen gemeinsam auf der Reling und grinsten in die Kamera. Mindestens einmal täglich schaute sich Melli das Bild an, und jedes Mal krampfte sich ihr Magen zusammen, aber lassen konnte sie es dennoch nicht. Mittlerweile kannte sie die Motive von Tamatis zahlreichen Tattoos auswendig. Vom Hals bis zu den Ellenbogen reichten sie ihm. Obwohl sie ihn immer noch deutlich vor Augen hatte, war er sehr weit weg. Tamatis Katamaran lag in der Marlin Marina in Cairns, gut 3500 Kilometer Luftlinie weit entfernt von Perth. Und vermutlich hatte er sie schon längst vergessen.

Sie wurden durchgeschüttelt, als das Taxi in die Almondbury Street einbog, in der Dawns wohnte. Schnell packte Melli ihr Handy wieder ein.

Wie fast alle hier im Viertel hatte auch Dawns Haus einen großen, offenen Vorgarten, in dem Gebilde aus alten Surfbrettern standen. Einige muteten wie Stonehenge-Stelen an, andere waren zum Tipi aufgebaut. Eine lange Zufahrt führte in die Garage und in den hinteren Gartenabschnitt. Die Kronen riesiger Eukalyptusbäume überragten das Dach des zweigeschossigen Hauses.

Der Wagen hielt an, der Taxifahrer schaute auf seinen Taxameter und nannte den Tarif. Dawn murmelte etwas Unverständliches und bezahlte mit einem knappen „Ta“. Kaum waren sie ausgestiegen, brauste das Taxi mit quietschenden Reifen davon.

„Unverschämtheit“, schimpfte Dawn, während sie die Haustür aufschloss. „Für das Geld hätten wir ein wunderbares Abendessen im Fletscher’s bekommen. Ich bin sicher, dass er den Tarif extra hoch eingestellt hat. Eigentlich müsste man beim Taxiunternehmen anrufen und sich beschweren.“ Sie drückte die Tür auf und trat in den dunklen Flur. Plötzlich stoppte sie und hieß Melli mit ausgestreckter Hand, draußen zu bleiben. „Warte“, flüsterte sie. Sie machte kehrt und zog zu Mellis Überraschung die Haustür zu. „Warte hier, ich bin gleich wieder da. Nicht bewegen. Und geh auf keinen Fall ins Haus, ja?“ Sie ließ Melli einfach auf der Veranda stehen und rannte zum Nachbarhaus hinüber.

Melli sah ihr nach. Was war nur in Dawn gefahren? Was hatte sie im Haus wahrgenommen, das ihr so einen Schreck eingejagt hatte?

Einbrecher?

War jemand im Haus? Jemand, der nach Melli suchte? Ihre Verwunderung verwandelte sich augenblicklich in Angst. Sollte sie nicht besser wegrennen? Warum unternahm Dawn nichts? Wieso holte sie nicht die Polizei, sondern ihren Nachbarn?

Melli hörte, wie sie nebenan mit einem Mann redete und ein Hund bellte. Besorgt blickte sie am Haus hoch und runter. Nichts deutete von der Straße her darauf hin, dass jemand eingebrochen war. Aber auf der Rückseite des Hauses gab es eine Terrassentür. Von dort aus kam man direkt in die Küche.

Dawn kam mit einem kräftigen Mann im Schlepptau zurück. Ihnen folgte ein riesiger, zotteliger Hund.

„Das sind mein lieber Nachbar Tom Hiltonson und Hagrid“, sagte Dawn.

Melli wurde von Hagrid stürmisch begrüßt und bekam die Hände abgeschleckt. Tom versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten.

„Er riecht vermutlich noch das Sandwich, das du vorhin in den Händen hattest.“ Dawn lachte. „Tom, das ist Melli, die Tochter meiner Freundin Suza.“

Wie können sie so ruhig dastehen, wenn Einbrecher im Haus sind?

Melli war so verwirrt, dass sie Hagrids Liebesbeweis über sich ergehen ließ. „Kann es nicht auch Benjamin sein, der im Haus ist? Hast du nicht gesagt, dass er vorbeikommen will, Dawn?“

„Nein, das da drin ist nicht Benjy.“ Die Tatsache, dass gerade jemand Fremdes im Haus war, schien die beiden wenig zu stören. Sie wirkten ruhig, ja fast schon amüsiert. Dagegen zitterten Melli mächtig die Knie.

„Schön, dich kennenzulernen“, grüßte Tom und schaffte es endlich, Hagrid zurückzuziehen. „Stopp jetzt!“, kommandierte er.

Der Hund winselte, doch er gehorchte.

„Keine Sorge, er sieht gefährlich aus, ist aber in Wirklichkeit bloß ein großes, hungriges und verschmustes Baby. Stimmts, Hagrid?“ Ohne sich zu bücken, konnte er dem Tier den Bauch tätscheln und es hinter den Schlappohren kraulen.

Bancroft hatte eine Waffe. Wenn das im Haus Leute von der Aquacon sind, dann sind sie bestimmt auch bewaffnet. Und ein Hund, egal wie groß, hat gegen eine Kugel keine Chance.

Ob Melli auf einen Anruf bei der Polizei bestehen sollte? Dawn wusste nichts von ihrer zum Glück gescheiterten Entführung und der Sache mit der Organisation. Und erst recht nichts von den Aquarií. Aber die beiden waren sich ihrer Sache sehr sicher.

„Das ist bloß Casper“, sagte Dawn. „Sorry, Kleines, wenn ich dir Angst eingejagt habe, aber ich wollte den Vielfraß aus dem Haus haben, und Hagrid ist da die beste und einfachste Methode. Okay, Tom, schick Hagrid los.“

„Casper? Wer ist Casper?“ Melli verstand gar nichts mehr. Aber ein wenig entspannte sie sich. Niemand gab einem Einbrecher den Namen eines niedlichen Gespenstes.

„Geht klar. Have a go, Digger!“ Tom ließ seinen Hund von der Leine.

Hagrid schnüffelte sofort auf dem Boden herum. Als er eine Fährte fand, kläffte er heiser und sprang los. Das Ungetüm verschwand um die Hausecke in den Garten. Einsetzendes Gebell und lautes Gerumpel veranlassten Tom und Dawn laut aufzulachen. Abgesehen davon hörte man keine Geräusche, die man von einem überrumpelten Eindringling erwarten konnte. Niemand schrie oder lief davon. Dafür vernahm man ein aggressives Fauchen und das tiefe Bellen Hagrids.

„Das sollte genug sein“, meinte Tom und hob die Finger zum Mund, um zu pfeifen.

Melli folgte Dawn und Tom zur Gartenterrasse und musste grinsen. Hagrid stand auf den Hinterläufen unter einem Eukalyptusbaum und stützte sich mit den Vorderpfoten am Stamm ab. Wütend kläffte er nach oben. Als Melli hinaufsah, entdeckte sie den Übeltäter. Ein graues Possum saß auf einem der oberen Äste und sah zu ihnen herunter. Gelegentlich biss es in ein Stück Brot, das es zwischen den Pfoten hielt, und kaute laut schmatzend.

„Gut gemacht, old boy“, lobte Tom.

Dawn tätschelte Hagrids Hals und kraulte ihm hinterm Ohr. „Braver Hund.“

Hagrid trottete davon und schnüffelte an der Verandatreppe herum.

„Das ist der Übeltäter?“, fragte Melli und deutete zum Baum hinauf. Erleichterung durchflutete sie und machte ihr gleichzeitig bewusst, unter welcher Anspannung sie die ganze Zeit schon gestanden hatte. „Ein süßes, kleines Possum?“

„Ein äußerst gefräßiges kleines Possum! Und gemeingefährlich obendrein. Ich habe einmal den Fehler gemacht und versucht, es eigenhändig zu vertreiben. Aber Kusus haben starke Krallen. Ich hatte hinterher total zerkratzte Arme und Beine. Seither muss Hagrid ran. Vor dem hat Casper mehr Respekt. Er ist der nervige Hausgeist, von dem ich dir kürzlich erzählt habe, erinnerst du dich?“

Ja, jetzt erinnerte sich Melli, dass Dawn von einem Hausgeist erzählt hatte, aber seinen Namen hatte sie nie erwähnt.

„Hagrid, aus!“ Tom sah mit gefurchter Stirn seinem Hund zu, wie er sich laut schnüffelnd die Treppe hinauf zur Hintertür bewegte.

„Lass ihn. Er wittert nur Caspers Fährte“, meinte Dawn. „Ich habe ihn mitgekauft, als ich mir das Haus zugelegt habe. Die Vorbesitzer hatten mich vor ihm gewarnt. Ich hielt es zunächst für einen Scherz. Zumindest so lange, bis mich der Kusu das erste Mal heimsuchte. Das war schon ein Riesenschreck, so mitten in der Nacht. Normalerweise sitzt er brav da oben in seiner Höhle, aber wenn ihm die Gelegenheit günstig scheint und keiner da ist, dann stibitzt er tagsüber sein Essen aus meiner Küche. Er schafft es immer wieder, reinzukommen. Du verfressener Beuteldieb!“ Sie schüttelte dem Tier die Faust entgegen, aber sie tat es mehr amüsiert als verärgert. „Wir hatten eine Abmachung, erinnerst du dich? Bediene dich am Futterhäuschen und lass meine Lebensmittel in Ruhe, dann können wir gut miteinander auskommen, und du kannst hierbleiben.“

Casper wippte lediglich mit seinem langen, buschigen Schwanz und kaute dabei unbeeindruckt weiter.

„Das ist sinnlos, Dawn“, meinte Tom. „Wie viele Lektionen hat er mittlerweile bekommen? Fünfzig? Hundert? Schaff dir endlich ein vernünftiges Türgitter oder gleich einen Hund an. Nur das hält ihn wirklich draußen. Ansonsten wird er es immer wieder versuchen. Das Possum ist stur wie ein Wombat und mindestens genauso verfressen. Hagrid, Schluss jetzt. Was hast du denn?“

Der Rüde war an der Tür hochgesprungen und schnupperte aufgeregt an der Türklinke.

„Oder dein Essen im Haus ist leckerer als das, was du ihm ins Futterhäuschen legst.“ Melli war froh, dass sich alles zum Guten gewendet hatte. Trotzdem blieb ein schales Gefühl zurück. Die Befürchtung, dass man sie aufgespürt hatte, hatte etwas in ihr losgetreten. Nur noch halbherzig folgte sie dem weiteren Gespräch.

„Das scheint neuerdings auch für meinen Vielfraß zu gelten.“ Tom ging zu seinem Hund und nahm ihn an die Leine. Nur widerwillig ließ sich Hagrid von der Tür wegziehen.

„Aber wenn ich Casper frisches Brot und Äpfel ins Futterhaus lege, werde ich ihn gar nicht los“, beschwerte sich Dawn.

„Das willst du doch auch gar nicht, oder?“, fragte Tom. „Eigentlich ist er ein netter Geselle, sonst würdest du vernünftig abriegeln. Und außerdem würdest du Hagrid damit den ganzen Spaß nehmen. Immerhin ist es ein paar Wochen her, dass Casper das letzte Mal zur Shoppingtour in deine Küche gegangen ist.“ Er grinste und verabschiedete sich.

„Danke, Tom. Ich spendiere Hagrid beim nächsten Barbecue auch eine extra große Wurst für seine Hilfe“, rief ihm Dawn hinterher.

„Spendier seinem Herrchen lieber einen Sixpack Foster.“ Der Nachbar winkte ein letztes Mal, bevor er mit dem Hund nach Hause ging.

Melli war sehr erleichtert, aber auch verärgert, weil Dawn so geheimnisvoll getan hatte. Hätte sie ihr gleich gesagt, dass sie ein Tier im Haus hatte, dann hätte Melli erst gar keine Angst haben müssen.

Andererseits hat es mir deutlich vor Augen geführt, dass ich endlich aufbrechen muss. Am besten so schnell wie möglich.

 

Sie bereiteten sich einen Salat vor. Während Dawn noch schnell Rhabarberlimonade ansetzte, deckte Melli den Tisch auf der Terrasse. Danach aßen sie schweigend. Erst als sie abgeräumt hatten, begann Dawn, ihr von Benjamin und seinem Anruf zu erzählen.

„Du weißt ja, dass er in Exmouth einen Backpacker betreibt, oder?“, fragte die Australierin und trank einen Schluck Limo. „Er hat die Oyster Shack als Baracke gekauft und sie wieder auf Vordermann gebracht. In handwerklichen Dingen ist er wirklich gut, aber allein schafft man so ein großes Vorhaben natürlich nicht. Dazu braucht es Handwerker. Zum Glück ist er auch in Betriebswirtschaft fit und verdient gutes Geld mit seinem Unternehmen.“ Sie war sichtlich stolz auf ihren Sohn. „Er hat damals als Bester seines Semesters abgeschlossen.“

„Glückwunsch“, sagte Melli. „Und wann kommt er vorbei?“ Sie war gespannt, ob Benjamin so nett war wie seine Mutter.

„Benjy hat vorhin noch mal angerufen und gesagt, er würde leider erst im Laufe des Abends eintreffen. Ich hatte ihn schon heute Mittag erwartet. Da muss ich ihn wohl falsch verstanden haben. Manchmal denke ich, ich höre nicht mehr gut und sollte zum Ohrenarzt.“

„Oh, das kenne ich von meiner Mum.“ Melli kicherte. „Sie hört manchmal auch nicht richtig zu und wundert sich dann, wenn ich zu einem anderen Zeitpunkt nach Hause komme.“

„Dann ist das wohl eine typische Mutterkrankheit.“ Dawn grinste. „Er sagte, es könne spät werden. Wir sollen nicht auf ihn warten. Aber morgen früh machen wir ein hübsches Brekkie auf der Terrasse. Dann könnt ihr euch kennenlernen.“ Dawn zwinkerte ihr zu, als wäre das eine geheime Absprache, dabei gab es jeden Morgen ein ‚Brekkie‘, wie Dawn das Frühstück nannte. Nur eben ohne Benjamin. So abwechslungsreich sie sonst bei der Auswahl des Essens war, fiel dagegen das Frühstück spartanisch aus. Es bestand meist nur aus weißem Toast mit Butter, Vegemite oder Marmelade und dazu Kaffee oder Tee.

„Klar, gerne“, antwortete Melli.

„Dann verschwinde ich jetzt mal für ein paar Minuten.“ Dawn stand auf. „Ich fahre rüber zum Coles und kaufe noch ein paar Lebensmittel. Hast du einen besonderen Wunsch?“

„Vielleicht crunchy Erdnussbutter, wenn es geht. Das alte Glas ist schon leer.“ Melli grinste. Sie war die Einzige, die sich morgens kein Vegemite aufs Brot schmierte.

Dawn lachte. „Na dann. Bis nachher also. Und lass dich nicht von Casper erschrecken, falls er noch mal hier auftauchen sollte. Er ist nicht angriffslustig. Mach einfach nur Krach, dann verschwindet er wieder. Aber er sollte eigentlich für heute genug gefressen haben. Bye!“

Dawn ging ins Haus. Ein wenig später rappelte das Garagentor, und ihr Wagen fuhr aus der Ausfahrt.

Melli blieb noch auf der Terrasse sitzen. Der Schreck von vorhin war zwar längst verflogen, dennoch hielt sich ein ungutes Gefühl. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. In Deutschland war es mittlerweile viel zu spät zum Anrufen. Timmi und ihre Eltern lagen jetzt im Bett und schliefen. Aber vielleicht war Emma noch wach und hatte Lust auf einen kurzen Chat. Sie aktivierte das Gerät, und tatsächlich ploppte eine neue Nachricht von einem anonymen Sender auf dem Display auf:

 

Hallo, Melli Meerjungfrau! Wie geht es dir? Wo bist du?

Überraschungen

 

Ihr erster Gedanke war: Juri!

Eine Gänsehaut überfiel sie. Die Nachricht war mit Smileys, Tieren und einem Kussmund verziert, was so gar nicht zu Juri passte.

Und woher sollte er meine neue Nummer haben?

Alle wussten, dass sie diese geheime Nummer nicht weitergeben durften. Suza war ohnehin ziemlich sauer gewesen, als sie gehört hatte, dass sich Melli von Juri getrennt hatte, weil er angeblich fremdgegangen war. Den wahren Grund für die Trennung hatte sie ihren Eltern und Emma natürlich nicht verraten.

Wieder pingte ihr Handy. Eine Nachricht von Emma.

„Hey, Süße! Bist du on?“, fragte sie mit zig Herzchen.

„Ja, bist du auch noch wach?“, tippte Melli ein. Sie freute sich, von ihrer Freundin zu lesen. „Sitze gerade auf der Terrasse und schlürfe homemade Rhabarberlimo. Hatte vorhin ein Date mit zwei Monstern …“

„Echt? Krass. Schreib!“

Melli grinste. Sie sah Emma vor ihrem Handy sitzen und gespannt auf die Geschichte warten. Melli schrieb ihr ausführlich von der Begegnung mit Hagrid und Casper.

„Hast du Juri zufälligerweise meine neue Nummer gegeben?“, fragte sie im Anschluss.

„Bist du blöd? Natürlich nicht!“, antwortete Emma wie erwartet.

Melli atmete auf. Wenigstens konnte sie sich auf Emma verlassen.

„Oh no! Will sich der Kackarsch etwa wieder bei dir einschleimen?“

„Weiß nicht genau“, antwortete Melli. „Ich hab vorhin eine mysteriöse Nachricht bekommen. Jemand Unbekanntes fragt, wie es mir geht und wo ich bin.“

„Vielleicht hat sich da jemand bloß vertippt und eine falsche Nummer erwischt?“

„Er oder sie hat mich aber mit Melli Meerjungfrau angeschrieben.“

Es erschien ein überlegendes Smiley und ein „Ominös“.

„Egal“, schrieb Melli. „Wird sich bestimmt noch mal melden, wenn ich nicht antworte und es wichtig ist.“

„Halt mich bitte auf dem Laufenden!“, bat Emma. Kurz darauf ging es weiter. „Übrigens haben sich deine Eltern bei mir entschuldigt. Voll süß von deiner Mum! Als ob sie sich bei mir dafür entschuldigen müssten, dass sie mal eben verreisen. Geht mich ja eigentlich auch nix an, aber lieb ist das schon, nach dem Stress, den ich mit meiner Überreaktion provoziert hab.“

„Schon gut. Ist ja alles gut ausgegangen.“ Die Panik, die Emmas Mail über das plötzliche Verschwinden von Mellis Familie bei ihr ausgelöst hatte, saß Melli noch in den Knochen.

„Schon, aber ich hätte genauer hingucken sollen, statt die armen Typen gleich als Fieslinge abzustempeln. Mann muss ja auch Geld verdienen, und es kann eben nicht jeder bei JTI oder als Banker in Luxemburg arbeiten.“

Kurz hatte Melli gedacht, dass die „freaky Typen“, die Emma nach dem Verbleib der Brauns gefragt hatten, in Wirklichkeit Männer von der Aquacon gewesen waren. Aber es waren nur Arbeit suchende Handwerker gewesen.

„Alles okay, Süße“, schrieb sie zurück.

„Wie geht es dir?“ Das war die Frage, die Melli am meisten hasste.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr von Juris Doppelleben und der Aquacon zu erzählen, statt ihr immer nur Reiseerlebnisse zu präsentieren. Immerhin war sie ihre allerbeste Freundin. Aber Melli kannte sie zu gut. Es wäre schwer geworden, Emma davon abzubringen, Suza und Henry oder die Polizei zu informieren. Irgendwer hätte sich sofort in den Flieger gesetzt, um zu ihr nach Australien zu kommen. Oder schlimmer noch: Ihre Eltern hätten verlangt, dass sie sofort nach Hause kommt. Und das ging auf gar keinen Fall. Immerhin hielt sie Emma über ihre Reiseroute ständig auf dem Laufenden. Melli betrachtete das als eine Art Lebensversicherung. Wenn etwas Schlimmes passieren sollte, wusste zumindest ihre Freundin, wo man sie suchen musste.

Etwas Schlimmes … das wird hoffentlich nie geschehen.

Melli merkte, dass sie auf ihrer Unterlippe herumkaute. Sie aktivierte das mittlerweile erloschene Display und tippte ein paar belanglose Worte zu ihrem Ausflug in den Botanischen Garten von Perth.

„Vermisst du ihn?“ Emmas Frage war völlig aus dem Kontext gerissen.

„Wen?“

„Den sexy Skipper. Tamati!“ Mit dem Text erschienen drei Zwinkersmileys im Chatfenster.

Melli seufzte. Bisher hatte sie sich nicht getraut, Kontakt zu ihm aufzunehmen und ihn nach seiner Nachricht in ihrem Tagebuch zu fragen.

Obwohl … Ich würde so gerne wieder mal seine Stimme hören.

Sie hatte die Nummer von Tamatis Scuba Club nicht gelöscht. Sie könnte ihn jederzeit anrufen und Hallo sagen.

Und dann? Ihn fragen, warum er mir „CU in Marahií“ ins Buch geschrieben hat? Ob er die Aquarií kennt? Oder ob die komische SMS eben von ihm stammt? Blödsinn.

Sie schüttelte den Kopf. So einfach war das alles nicht. Sie konnte mit dem Skipper nicht über die Aquarií reden. Das würde Fragen provozieren, die sie nicht bereit war, zu beantworten. Aber sein gut gelauntes „Hey-Ho“ und sein Lachen vermisste sie schon.

„Manchmal“, tippte sie für Emma. Die aufpoppenden Pünktchen beantwortete sie mit „Okay, oft“ und lachte, als Emmas „Also praktisch immer!“ erschien. „Ruf ihn an!“, folgte. „Hab ich auch schon ein paar Mal.“

„EMMI!!!“

„Was denn?“, antwortete ihre Freundin. „Der hat echt eine süße Stimme und seine Begrüßung ist total knuddelig. Ich kenne niemandem, bei dem sich so ein Spruch so süß anhört. Tamati kann das sagen, ohne dass es nach Anbaggern klingt. Da hört man voll die australische Sonne und seine Coolness raus.“ Herzchen folgten. „Hab euer Foto übrigens ausgedruckt und aufgehängt. Macht gute Laune! Sorry … bist du böse, wenn ich Schluss mache? Ich muss morgen früh raus. Ich frage mich immer noch, wieso ich ausgerechnet diesen f***ing Ferienjob annehmen musste. Regale einzusortieren ist übelst langweilig. Die Kunden sind so was von stinkfaul. Schmeißen den Kram, den sie nicht haben wollen, einfach wieder zurück ins Regal. Da landen dann die Nudeln beim Klopapier und die Butter beim Hundefutter. Ekelig!“

„Aber du kriegst Kohle dafür“, erinnerte sie Melli.

„Und wenn ich so weiter ackere, dann reicht es bald für ein Ticket nach Australien!!!“

„Ich freue mich auf dich!!!“, schrieb Melli zurück. „CU!“

„Miss you! 1000 Bussis!“ Dann war Emma wieder offline.

Mellis Finger flogen zu den Kontakten. Da stand es: TSC-Tamatis Scuba Club.

Pfeif drauf! Da geht ohnehin nur der Anrufbeantworter ran.

Sie tippte auf die Nummer und die Verbindung wurde aufgebaut.

„Hey-Ho, Folks“, grüßte sie Tamatis Stimme, leider nur vom Band. „Hier ist Tamati vom TSC, Tamatis Scuba Club. Ich bin mit meiner Braut gerade auf See und biete bis auf Weiteres keine Touren mehr an. Aber es gibt viele andere tolle Kollegen, die sich über euren Anruf freuen würden. Kommt am besten direkt zur Marlin Marina und schaut euch deren Boote an. Ein Besuch hier lohnt sich ohnehin immer. Oder surft im Internet. CU.“

Melli legte wieder auf und spürte dem warmen Gefühl nach, das sich in ihr breitgemacht hatte. Ja, Tamati klang nach Sonne, Meer und Unbeschwertheit. Genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie suchte noch einmal kurz ihr Lieblingsfoto. Prompt begannen ihre Finger im Takt der Schmetterlinge, die sich in ihrem Bauch regten, zu zittern. Schnell blätterte sie weiter zu den neusten Fotos, die von Elisa und Teo gekommen waren. Die zwei hielten sich gerade auf Fraser Island auf und hatten Melli tolle Bilder von tiefgrünen Süßwasserseen, Dingos und Urwaldpisten geschickt. Diese Fotos anzusehen, fand Melli weitaus weniger verräterisch als das Bild mit Tamati. Mit jedem weiteren Blick darauf, wurde die Verbindung zu ihm stärker. Was allerdings unnötig war. Für Verliebtheit hatte sie ohnehin keine Zeit. Und für den Skipper war sie sicherlich nur eine Touristin von vielen gewesen. Warum sich also unnötig Hoffnungen machen?

 

Knirschender Kies kündigte eine Stunde später Dawns Rückkehr an. Melli deaktivierte ihr Handy und stand auf, um beim Ausladen der Einkäufe zu helfen. Als sie in der Einfahrt ankam, öffnete sich gerade die Fahrertür. Ein großer, junger Mann stieg aus und musterte sie von oben herab.

Dawn kam dazu. „Hi, Liebes. Wir sind wieder da. Stell dir vor, wen ich unterwegs aufgegabelt habe?“ Sie lachte und nahm den hochgewachsenen Mann in den Arm. „Das ist mein Sohn Benjy.“

Benjamin nickte ihr kurz zu, machte aber keine Anstalten, ihr die Hand zu reichen. „Hi“, sagte er und schälte sich aus Dawns Umarmung. Er wendete sich ab, holte zwei Plastiktüten und einen Kanister Milch aus dem Kofferraum und ging kommentarlos ins Haus. Melli sah ihm unsicher hinterher.

„Nimm es ihm nicht übel“, meinte Dawn. „Er ist im Moment nicht gut drauf. Er hat viel Stress wegen der Umbaumaßnahme am Backpacker. Da läuft es nicht ganz rund und wirbelt seinen Zeitplan durcheinander. Komm, jetzt essen wir erst mal, und danach sieht die Welt hoffentlich schon wieder ein bisschen besser aus.“

Benjamin glich dem Kind aus Dawns Fotogalerie nur wenig. Seine Haare waren blond und schulterlang, und er hatte sonnengebräunte Arme. Aber obwohl er sportlich daherkam, war er nicht der klassische Beachboy. Benjamin wirkte zurückhaltend und unnahbar. Gar nicht wie ein Mann, der tagtäglich mit Reisenden zu tun hatte und sein Geld verdiente, indem er Touristen unterhielt.

In der Küche hatte Benjamin damit begonnen, die Einkäufe aus den Tüten zu holen und auf der Arbeitsfläche aufzureihen. Neben Käse, Schinken und Butter landeten auch ein Paket Toastbrot, Bagels und Chips auf dem Tresen, gefolgt von drei Plastikschalen mit Steaks und Würsten. Zu guter Letzt zog Benjamin ein großes Glas Erdnussbutter aus der Tüte. Seine Laune hob sich augenblicklich. „Oh, super! Danke, Mum, dass du das gekauft hast. Auch noch die mit den Stücken.“

„Die habe ich auch für Melli besorgt“, erklärte Dawn und lachte, als Benjamin ein langes Gesicht machte. „Was haltet ihr davon, wenn ihr euch draußen auf die Veranda setzt und euch unterhaltet, während ich das Abendessen zubereite? Benjy, erzähle Melli von deiner Oyster Shack. Ich habe ihr schon gesagt, dass sie unbedingt zu dir nach Exmouth kommen soll. Und natürlich muss sie eine Walhai-Tour machen und raus zum Ningaloo Reef. Und außerdem dachte ich …“

„Ich habe keine Zeit für Sightseeingtouren, Mum“, sagte Benjamin. Als er Melli einen genervten Seitenblick zuwarf, schaute sie schnell weg. „Der Umbau ist in vollem Gang. Es ist reiner Zufall, dass ich die nächsten drei Tage keine Baustellentermine habe und Mitch mir einen Platz im Firmenjet angeboten hat, damit ich dich besuchen kann. Heather macht ihre Sache an der Rezeption zwar gut, aber ich lasse sie nur ungern lange allein.“

„Ich weiß, ich weiß“, antwortete Dawn. „Ich rechne es dir auch hoch an, dass du zu meinem Geburtstag eine Ausnahme machst.“

Melli horchte auf. „Du hast Geburtstag? Das habe ich ja gar nicht gewusst.“ Sie wollte Dawn umarmen, doch die schob sie von sich.

„Erst morgen, Melli“, sagte sie. „Dafür sind auch der Champagner und die anderen Sachen. Aber heute Abend gibt es ein schönes Barbecue. Ich habe sogar ein paar vegetarische Grillwürstchen gefunden.“

Benjamin griff sich eine der Schalen und studierte deren Inhalt. „Ich habe mich schon gewundert, für wen das Zeug sein soll. Vegetarierin?“, fragte er und sah Melli zum ersten Mal direkt an.

Sein Blick machte sie überraschend nervös. „Ja, warum? Hast du was dagegen?“

„Nein, ist mir egal“, antwortete er und wendete sich ab, um die Einkäufe in den Kühlschrank zu räumen.

„Lass das!“ Dawn riss ihm die Schalen aus der Hand, drehte ihn demonstrativ zur Veranda und schubste ihn vorwärts. „Ich sagte, ihr geht raus und habt Spaß. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit ums Essen.“

„Ich kann dir helfen“, bot Melli an. Die Vorstellung, mit Benjamin allein auf der Terrasse zu sitzen, war ihr unangenehm.

„Es gibt Rührei. Das schaffe ich auch ohne deine Hilfe.“ Dawn drückte ihr zwei Gläser in die Hand und winkte sie resolut aus der Küche. „Ich bringe euch gleich die Limonade raus. Go and have fun!“

 

Melli zählte stumm bis sechzig. Dann noch einmal und noch einmal. Minute um Minute verstrich. Dawn hatte die Zitronenlimonade herausgebracht, ihre Gläser waren gefüllt und standen unberührt zwischen ihnen auf dem Tischchen. Und noch immer hatte sie mit Benjamin kein Wort gewechselt.

Er nahm sein Glas, trank es mit einem Zug leer und stellte es mit lautem Klirren zurück auf den Tisch. „Dann erzähl mal“, forderte er sie auf. „Warum kommst du ausgerechnet nach Australien? Willst du hübsche Fotos für dein Instagramprofil knipsen, um deine Follower zu beglücken und um dein Image aufzupolieren?“

Sein direkter Angriff machte Melli wütend. Sie stand auf. „Idiot“, zischte sie und ließ ihn einfach sitzen. Sollte er denken, was er wollte. Sie würde kein Wort mehr mit diesem blöden Kerl reden. Sohn von Dawn hin oder her, so eine Gemeinheit musste sie sich nicht gefallen lassen.

Schöner Mist! Wie soll ich die kommenden Tage mit dem unter einem Dach aushalten? Ich bin ja praktisch gezwungen zu bleiben. Es wäre Dawn gegenüber echt unhöflich, jetzt abzureisen, wo sie morgen Geburtstag feiert. Das würde mir Mum niemals verzeihen.

Sie ging in die Küche, in der ihre Gastgeberin gerade am Herd stand und den Schafskäse in die Pfanne bröselte.

„Sei mir bitte nicht böse, Dawn“, sagte sie. „Mir geht es nicht gut. Ich würde mich gerne hinlegen. Du hast ja bestimmt viel mit deinem Sohn zu bereden, weil ihr euch so lange nicht mehr gesehen habt. Da ist es doch nicht schlimm, wenn ich mich zurückziehe, oder?“

Dawn zeigte sofort Verständnis. „Aber sicher, wenn es dir nicht gut geht, solltest du besser ins Bett. Ich will ja nicht, dass du krank wirst. Brauchst du etwas?“ Sie legte den Kochlöffel beiseite und kam zu ihr. Wie eine fürsorgliche Mutter drückte sie ihr eine Hand auf die Stirn. Melli musste grinsen. Ihre Mum würde das genauso tun. Zum Glück schien Dawn mit der Temperatur zufrieden. „Kein Fieber“, sagte sie. „Ich schau nachher noch mal bei dir rein, ja? Nur für den Fall.“

„Ist gut.“

„Dann ruh dich aus, damit du morgen zum Frühstück wieder okay bist. Wir fangen erst an, wenn alle wach sind. Benjamin ist sicherlich auch froh, wenn er mal ausschlafen kann. Das kommt bei seinem Knochenjob ja leider selten genug vor.“ Sie stand schon wieder am Herd und schüttete die gewürfelten Tomaten in die Pfanne.

„Lasst es euch schmecken“, sagte Melli und ignorierte das schlechte Gewissen.

In ihrem Zimmer setzte sie sich an den Tisch und fütterte ihr Tagebuch mit den neusten Ereignissen. Sie schrieb über die Tour am Morgen, die tolle Aussicht über Perth und natürlich über Benjamin Blake, den unsensiblen, respektlosen Idioten.

„Aber vielleicht irre ich mich ja auch in ihm, und er ist ein netter Kerl. Schauen wir mal“, schrieb sie am Ende ihres Eintrags. Es gab vermutlich noch genügend Gelegenheiten, sich über den anderen eine umfangreichere Meinung zu bilden, als nur die Titel „Idiot“ und „Influencerin“ zu vergeben.

 

Am nächsten Morgen wurde Melli von Gelächter geweckt. Als sie auf die Uhr sah, sprang sie sofort aus dem Bett. Sie hatte lange geschlafen. Sicherlich warteten Dawn und Benjamin schon auf sie.

Wie Benjamin wohl heute drauf ist? Wenn er wieder einen gemeinen Spruch loslässt, bekommt er von mir eine passende Antwort. Noch mal werde ich mir das nicht gefallen lassen.

Sie zog Shorts und T-Shirt an und lief barfuß in den Flur, in dem sich der Duft von Kaffee und heißer Butter verteilte. An der Tür machte sie Halt und schielte zur Küche hinein. Dawn und Benjamin drehten ihr den Rücken zu und hatten ihre Ankunft noch nicht bemerkt.

---ENDE DER LESEPROBE---