Aquarií: Schlucht der Erinnerung - Sandra Baumgärtner - E-Book

Aquarií: Schlucht der Erinnerung E-Book

Sandra Baumgärtner

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Beschreibung

Endlich kann sich Melli ihren Traum erfüllen: Sie fliegt mit ihrem Freund Juri in ihr Geburtsland Australien. Aufregende Tauchgänge im glasklaren Wasser und romantische Spaziergänge an weißen Sandstränden stehen auf ihrer To-Do-Liste. Nie hätte Melli geahnt, dass in Down Under auch Kräfte am Werk sind, die für sie die größtmögliche Gefahr darstellen. Ist Juri wirklich der, für den er sich ausgibt? Welches Geheimnis birgt ihre eigene Vergangenheit? Liegt darin vielleicht die Antwort auf die Frage, warum ihr plötzlich eine mysteriöse Geheimorganisation auf den Fersen ist? Oder warum ungeheuerliche Dinge während eines Tauchgangs am Great Barrier Reef geschehen? Als Melli fast ertrinkt, begegnet sie sonderbaren Meerwesen. Eine Nahtoderfahrung? Ein Traum? Oder gibt es die sagenumwobenen Aquarií wirklich?

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Prolog
Prinzipien
Kapriolen
Abnabelung
Stress
Willkommen in Cairns
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Die Erschaffung von Land und Ozean
Unter Strom
Geständnisse
Verfolger
Abenteuer
Aufgetaucht
Buschbrand
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Wie das Sangua-Ahár zu den Aquarií kam
Oneiroid
Koinzidenz
Doppelleben
Superiorität
Leichenschau
Sturmböen
Tale of the aboriginal Oceanlogging - Wie die Fische ihre Farbe bekamen
Haifutter
Mutterland
Erwachen
Panta rhei
Nachbarschaftsofferte
Ausklang
Puzzlestücke
Tale of the aboriginal Oceanlogging – Wie die Aquarií ihren Ahári erhielten
Flucht nach vorne
Schmetterlinge
Epilog
A - Tale of the aboriginal Oceanlogging - The creation of land and oceans
B - Tale of the aboriginal Oceanlogging – How the Sangua-Ahár came to the Aquarií
C – Tale of the aboriginal Oceanlogging - How the fish received their colour
D – Tale of the aboriginal Oceanlogging – How the Aquarii received their Ahári
Glossar Aquarií-Welt
Glossar Menschen-Welt
Danksagung
Weitere Bücher der Autorin:
Sandra Baumgärtner

 

 

 

 

 

 

Herstellung&Satz:

MACHWERKE Verlag

C/O Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

 

© Covergestaltung: FANTASIO und TRAUMSTOFF Buchdesign

Lektorat/Korrektorat: Stephanie Kempin und Lektorat Bobrowski

 

ISBN 978-3-947361-06-9

 

[email protected]

www.machwerke-verlag.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

*

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

*

Die im Text genannten Personen und fantastischen Wesen, egal ob lebendig, tot oder untot, sind allesamt frei erfunden. Dies gilt auch für Zeitungsartikel, Mails und Nachrichten jeglicher Art. Sie wurden nie geschrieben oder veröffentlicht und entspringen alleine der Fantasie einer kreativen Autorin.

*

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Danke

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Mama und meinen Paps, die mir Abenteuerreisen ermöglicht haben.

 

XOXOXOX

 

 

 

~

The Oceans Wife

 

Where the sun is buried,

down in the depths below

Lives a maiden with little love to show.

Once a man will offer her his core

she will give him greatest wealth or gore.

 

For men who won a maidens heart

received not only wealth and dart.

That present from the oceans wife

had cost them nothing but their life.

 

So take your choice and be aware:

You will receive a heavy heir!

You going down to trace a lie

where maidens live and men will die.

 

 

old australian children’s song

~

 

Prolog

 

Australien, nahe bei Cairns am Greys Beach

 

Alle Augen waren auf das seltsame Wesen gerichtet, das sterbend am Strand lag. Die vier Touristen – zwei Frauen und zwei Männer –, die am frühen Vormittag mit ihrem Jeep zu diesem abgelegenen Abschnitt des Greys Beachs gefahren waren, zückten allesamt ihre Kameras und fotografierten den Körper, der am Saum des Wassers lag. Einer der Männer stupste das Wesen leicht mit dem Fuß an. Unter dem kräftigen Netz, in dem es sich verfangen hatte, sah man keinerlei Bewegung.

„Was meinst du, was es ist, Andi?“, fragte eine der Frauen.

„Woher soll ich das wissen?“ Besagter Andi hob die Schultern und machte eine Nahaufnahme.

Als das Ding plötzlich zuckte, schrie die Frau hysterisch auf und heulte: „Das lebt ja noch. Andi, unternimm etwas. Du musst es zurück ins Wasser schieben, oder so.“

„Bist du verrückt, Kornelia?“, schimpfte die zweite Frau. „So etwas fasst man doch nicht an. Vielleicht beißt es ja. Und was dann?“

„Wir könnten den Ranger anrufen“, schaltete sich der andere Mann ein. „Wie hieß der noch gleich? Peter Barrawa, oder so?“ Er hielt ein Mobiltelefon in der Hand, justierte den Bildausschnitt und fotografierte den Schwanz des Wesens, der halb aus dem Netz heraushing. „Wäre vielleicht ohnehin besser. Das glaubt uns sonst keiner. Ich habe so ein Tier noch nie gesehen.“

„Ob uns da jemand verarschen will?“ Andi sah sich um.

Der kilometerlange Sandstrand war bei Ebbe fest genug, um mit dem Jeep darüberzufahren. Ein Wall aus Palmen und Bäumen bildete landeinwärts eine unüberwindbare Barriere zum Nationalpark. Ein leichter Wind trieb ihnen den Duft von Eukalyptus und Meer in die Nase. Ein paar Meter voraus führte bei einem besonders breiten, sandigen Abschnitt eine enge Schneise in den Urwald hinein. Im Sand lagen eine zusammengeknüllte Strandmatte und eine Plastikflasche. Ansonsten konnte Andi nichts Außergewöhnliches entdecken. Ein anderes Auto war ihnen seit einigen Kilometern nicht mehr begegnet und auch auf dem Meer waren weder Schiffe noch Schwimmer zu erkennen. Lediglich zarte Schaumkronen, die auf den sanften Wellen heranrollten und sich schließlich im weißen Sand auflösten.

„Nichts zu sehen. Ist dir etwas aufgefallen, Patty?“

Patty schüttelte den Kopf. „Seit wir von der Autovermietung losgefahren sind, habe ich niemanden mehr gesehen.“

„Guck doch mal in Wiki nach, Tanja“, schlug Kornelia vor. „Vielleicht finden wir ja heraus, was das da für ein Vieh ist.“

Tanja schnaubte entrüstet. „Mach du es doch, wenn du hier draußen Empfang hast. Ich habe jedenfalls keinen.“

„Stimmt. Noch nicht mal Notrufe“, stellte Kornelia mit einem Blick auf ihr Handy fest. „Und jetzt?“

Andi hatte seine Kamera zur Seite gelegt und tippte erneut mit dem Zeh gegen das Wesen. Wieder zuckte es im Netz.

„Wir müssen doch etwas tun!“, lamentierte Kornelia weiter. „Man kann ihn doch nicht hier liegen lassen. Er stinkt schon.“ Sie rümpfte die Nase.

„Er? Wie kommst du drauf, dass das ein Er ist?“ Tanja musterte den kräftigen, geringelten Schwanz. Dabei blieb sie jedoch sicherheitshalber auf Abstand.

„Na ja, weil …“ Kornelia wurde rot.

„Wenn Kornelia irgendeinen Schwanz sieht, denkt sie doch immer gleich an Männer“, lästerte Patty gut gelaunt. „Und das hier ist ein ausgesprochenes Prachtstück. Habe ich recht, Kornelia?“

Sie verzog beleidigt das Gesicht. „Ha, ha. Sehr witzig, Patty! Ich dachte nur, weil er oder meinetwegen auch dieses Es einen Speer dabeihat.“

„Stimmt“, bestätigte Andi.

Die anderen drehten sich überrascht zu ihm herum.

„Hier drin liegt wirklich eine Art Stock.“

Er drückte das Wesen mit dem Fuß zur Seite und rollte es mit sichtlicher Anstrengung ein winziges Stückchen herum. Die dornenbesetzte Schwanzspitze schlug heftig auf dem Sand auf, sonst regte sich aber nichts.

Er beugte sich hinunter und zupfte am Netz herum.

„Hier.“ Patty reichte ihm ein Klappmesser. „Versuch es damit.“

„Sei bloß vorsichtig“, warnte Tanja. „Nicht, dass es dich beißt.“

Mit ein paar Schnitten hatte Andi das Netz gelöst, zog es vom Körper der Kreatur und legte so nicht nur das Tier, sondern auch einen schwarzen, langen Gegenstand frei. Er hielt ihn hoch, damit die Freunde ihn sehen konnten.

„Eindeutig ein Speer“, kommentierte Patty, als er seinem Freund den Fund abnahm. „Entweder, er ist zufällig mit dem Ding eingewickelt worden oder aber das Tier trug ihn als Waffe bei sich. Das wäre echt krass!“

„Ein Fisch, der eine Waffe trägt?“ Tanja musterte ungläubig die kunstvoll gefertigte Spitze des Speers und den mit Bändern umschlungenen Griff. „Ganz schön aufwendig gestaltet.“

„Ziemlich abgefahren für einen halb toten Fisch oder was auch immer das ist.“ Patty zeigte sich beeindruckt.

„Schaut mal, der trägt noch ein anderes Schmuckstück.“ Kornelia wagte sich näher heran und betrachtete über den kleinen Bildschirm ihres Handys den Kopf und die großen, offenen Augen. „Da ist so eine Art Brosche zwischen seinen Augen. Ui, das sind ja gar nicht zwei, das sind ganz viele Augen in einem. Alle in unterschiedlichen Grün- und Blautönen.“ Sie quiekte, als sich die Lider des Wesens bewegten. Schnell überließ sie Andi den Platz am Kopf. Der kniete nieder und schaute sich nachdenklich die Brosche an.

„Scheint eingewachsen zu sein. Ein metallener Rand, in dem ein Stein eingefasst ist. Sieht aus wie eine zusätzliche Augenlinse. Vielleicht ist sie durch die Sonne so trüb geworden. Das wird echt immer abgefahrener. Was zur Hölle ist das?“

„Wir sollten zurückfahren und den Ranger informieren.“ Tanja kam auf Pattys Vorschlag zurück. „Vielleicht weiß er, was es ist.“

„Ich habe von unserem Trip heute eh schon genug“, motzte Kornelia. „Kilometerweit nur Sandstrand-Autobahn und langweiliges Grünzeug. Außer dem Ding hier gab es bislang nichts zu entdecken. Und es sieht auch nicht danach aus, als würde sich daran noch was ändern.“ Ihr Blick folgte dem weiteren Verlauf des Strandes. „Sand, Sand und nochmals Sand. Kein Kiosk und kein Shop. Eine absolut sterbenslangweilige Gegend. Ich würde viel lieber zurück nach Cairns in die Einkaufsmeile. Dort gibt es wenigstens eine funktionierende Aircondition.“

Die Männer stöhnten. Tanja rollte die Augen.

„Na gut“, meinte Andi schließlich und stand auf. „Ich schlage vor, Kornelia und Patty, ihr wartet hier, während Tanja und ich zurückfahren und den Ranger holen.“

„Nichts da!“, motzte Kornelia sofort. „Ich fahre mit Tanja zurück und ihr Männer wartet.“

„Ich will aber bleiben“, widersprach Tanja. „Mir gefällt es am Strand. Ich liebe diese sterbenslangweilige Gegend. Hier halte ich mich nämlich gerne auf. Ganz im Gegensatz zum Einkaufscenter. Dort würde ich sterben. Was meinst du, Andi? Wir könnten die Einsamkeit genießen und vielleicht ein wenig schwimmen gehen, bis die beiden wiederkommen.“

Kornelia starrte sie aus großen Augen an. „Und wenn da draußen noch mehr von den Viechern sind?“

Die Freunde lachten und taten ihren Einwurf als kindisch ab.

Patty schlug Kornelia freundschaftlich auf die Schulter. „Wir beide machen uns jetzt auf den Weg. Und um die zwei Hübschen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Das sind richtig gute Schwimmer. Habt ihr euer Schwimmzeug? Sonnencreme? Handtücher? Genügend Trinkwasser?“

Andi klopfte auf seinen Rucksack. „Alles dabei.“

„Gut, also komm, du kleine Shopping Queen. Fahren wir zurück nach Cairns. Wir beeilen uns“, sagte er zu seinen Freunden und machte sich mit Kornelia auf den Rückweg zum Jeep.

„Beeilt euch nicht zu sehr“, rief ihnen Tanja nach, legte ihre Sonnenbrille beiseite und zog sich das Shirt über den Kopf. „Wer zuletzt im Wasser ist, hat verloren“, juchzte sie und rannte los.

 

Tanja und Andi planschten einige Zeit ausgelassen im glasklaren Wasser.

„Man kommt sich vor wie in einer Badewanne. Das Meer hat bestimmt 30 Grad“, freute sich Tanja. „Sogar an Schaum fehlt es nicht.“

Sie zog ihre Hand durch die weißen Kronen der Wellen.

„Das ist Algenschleim, der wie Eischnee aufgeschäumt wird“, meinte Andi und tauchte ein letztes Mal unter. „Mir reicht es. Ich geh raus.“

„Ich schwimme noch ein paar Bahnen“, sagte Tanja.

„Bleib aber bitte in Strandnähe“, bat Andi.

Tanja winkte ab und kraulte ins offene Meer hinaus.

Andi sah ihr nach, bis sie parallel zum Strand mit ihrem Training begann, und ging dann zurück. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf den Fisch. Er lag immer noch unverändert da und regte sich nicht mehr. Andi breitete sein Handtuch aus und ließ sich darauf fallen. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss die Wärme, das kontinuierliche Rauschen der Brandung und das leise Prasseln des Sandes, der vom Wasser aufgespült wurde. Lange dauerte es jedoch nicht, bis ihm langweilig wurde und der Sand unter ihm ebenso heiß brannte wie die Sonne auf seiner Haut. Er dachte an ihren ungewöhnlichen Fund. Die Haut eines Meereswesens war gewiss nicht für die Sonne geschaffen. Ob er vielleicht hingehen und Wasser drüberkippen sollte? Das machte man auch bei gestrandeten Walen. Andererseits hatte sich das Ding nicht gerührt und war jetzt vermutlich tot. Was brachte da ein bisschen Wasser?

Er drehte sich herum und bemerkte sofort, dass sich die Lage des Wesens verändert hatte. Statt ihm wie zuvor den Rücken zuzuwenden, starrte es ihn nun an. Vorwurfsvoll, wie es Andi vorkam.

„Scheiße“, fluchte er und sprang auf die Füße.

Er schleppte das Ding vorsichtig samt Netz näher ans Wasser heran. „Tanja?“, rief er beiläufig, ohne sich nach seiner Freundin umzusehen.

Stattdessen zog er noch einmal. Wenigstens lag der Schwanz nun in der Wasserlinie. Gelegentlich leckten die Wellen der einlaufenden Flut an der Dornenspitze des Fisches. Andi ging zurück, holte sein Handtuch und hüpfte schnell über den heißen Sand zurück zum Meer. „Tanja?“

Erst jetzt suchte er auf dem Meer nach dem Kopf seiner Freundin. Er warf das Tuch ins Wasser. Wo war sie? Tauchte sie gerade?

Andi hob das Tuch heraus und klatschte es achtlos über den Fischkörper. Tanja war wichtiger. Er musste wissen, dass es ihr gut ging. Dann konnte er sich wieder weiter um ihren Fund kümmern. Solange würde es auch noch ausharren können, ohne zu verrecken. Schützend legte er eine Hand an die Stirn, um besser sehen zu können. Doch er fand nur weiße Schaumkronen, keinen dunklen Haarschopf.

„Tanja?“, rief er und zählte die Sekunden.

Wenn er sie bei 15 nicht entdecken würde, würde er rausschwimmen, um sie zu suchen. Bei zehn stürmte er ins Meer.

„Tanja“, schrie er und versuchte, zwischen den Wellen und unter Wasser etwas zu erkennen.

Mittlerweile stand er bis zur Brust im Wasser. Er wusste, dass sie eine exzellente Schwimmerin war. Und eine Frau, die ganz gut selbst auf sich aufpassen konnte. Tanja wusste genau, was sie sich zumuten konnte.

Etwas riss ihm plötzlich an den Beinen. Im letzten Moment schnappte Andi noch einmal nach Luft. Er schlug wild um sich und kam prustend wieder auf die Füße.

Neben ihm tauchte Tanja auf und lachte sich halb tot. „Buuuh, ich bin das böse Unterwassermonster“, alberte sie aufgekratzt. „Ich fresse dich!“

„Boa, Mensch, Tanja!“ Andi war wütend. „Hast du mich erschreckt! Ich habe mir echt Sorgen gemacht.“ Dann musste er doch lachen. „Mach das nie wieder“, bat er. „Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen.“

Zur Antwort bekam er eine Ladung Algenschleim ins Gesicht gespritzt.

„Das Ding hat sich gerührt“, berichtete er und nahm sie bei der Hand. „Komm, lass uns rausgehen und nachsehen.“

Erneut spürte er eine Berührung am Fuß, diesmal allerdings nur eine leichte. Neben ihm quietsche Tanja erschrocken auf, und wurden zeitgleich mit ihm von den Füßen und unter die Wellen gerissen. Andi erahnte einen dunklen Schemen, der um sie herumjagte. Dann explodierte direkt vor ihm eine blaue Wolke. Bevor Andi reagieren konnte, umschloss eine zähe Masse sein Gesicht und seine Brust. Er kämpfte sich nach oben, durchbrach die Wasseroberfläche und wollte Luft holen. Doch der Schleim verklebte Nase und Mund. Hektisch versuchte er, die Masse vom Gesicht zu wischen, und wurde panisch, als er sie lediglich verteilte, jedoch nicht entfernen konnte. Der Schleim umschloss seinen Körper wie eine geplatzte Kaugummiblase, drängte sich in jede Öffnung und schloss ihm hermetisch die Luft ab. Hilflos ruderte Andi mit den Armen und sah Tanja neben sich. Auch sie zerrte vergeblich an der Hülle. Etwas raste heran und erwischte ihn am Arm. Tief stach es ihm tief ins Fleisch. Es brannte höllisch.

Andi wollte schreien und konnte nicht. Ihm wurde schwindelig. Verzweifelt tauchte er unter, in der Hoffnung, der Schleim würde sich doch noch irgendwie lösen lassen. In seiner Hilflosigkeit griff er auf dem Grund nach Sand und rieb ihn ins Gesicht. Es kratzte, doch es half nichts. Und sein Arm! Er spürte seinen Arm nicht mehr! Erneut riss er den Mund auf, um zu schreien. Er brachte keinen Ton heraus. Stattdessen kroch die Masse noch weiter in seinen Schlund. Andi hustete die letzte kostbare Luft aus seinen Lungen. Wenn er jetzt Luft holen würde, wäre es zu spät. Nicht atmen. Die Lähmung wanderte rasend schnell von seiner Schulter zum Brustkorb. Eine weitere Speerspitze bohrte sich mit brutalem Stoß in seinen Bauch und schlitze ihn von unten nach oben auf. Durch die Schleimmembran sah Andi, wie das Wasser um ihn herum eine neue Farbe annahm. Das Blau färbte sich zusehends ins Violette. Dann kippte er um und verlor das Bewusstsein.

Das Farbenspiel, das das Blut der beiden Menschen im Wasser darbot, war noch einige Zeit zu sehen und wurde dann von den Wellen für immer davongespült.

Prinzipien

 

Deutschland, Trier, im Oktober

 

„Schau mal, da drüben ist er.“ Melli stieß ihre Freundin Emma in die Seite und deutete auf einen Jungen an der Essensausgabe, der sich gerade unterhielt.

„War ja klar, dass sich Vanessa gleich an ihn ranschmeißt“, maulte Emma. „Er heißt angeblich Juri. Ich habe außerdem gehört, dass er schon etwas älter ist.“

Im Gegensatz zu den Jungs ihres Abiturjahrganges wirkte Juri tatsächlich erwachsener.

„Ist ein paarmal sitzen geblieben. Sein Vater soll irgendwo, ich glaube in Luxemburg, einen neuen Job angefangen haben. Daher ist Juri jetzt hier bei uns an der Schule. Ist bestimmt nicht einfach, so kurz vor dem Abi.“

Mellis Mitleid hielt sich in Grenzen. Ja, Juri sah gut aus. Sehr gut sogar. Vielleicht war er ja auch nett, aber dass er sich direkt von Vanessa anmachen ließ und sie anlachte, fand sie albern. Männer. Fallen immer wieder auf Vanessas Masche rein. Haben die keine Augen im Kopf? Das ist doch alles bloß Show.

„Wenn er die Klasse wiederholt hat, sollte er den Stoff eigentlich kennen, oder? Er hat also genügend Freizeit, sich um andere Sachen zu kümmern. Um Vanessa zum Beispiel.“

Emma seufzte. „Na ja, schon. Aber haben die auf seinem Gymi auch den gleichen Lehrplan? Es ist doch gut möglich, dass er einen Teil von unserem Stoff nachholen muss. Ob ich ihm Nachhilfe anbieten soll?“

„Brauchst du nicht. Vanessa hilft ihm ja bereits.“

Vanessa hatte ihren Arm um Juris Hüfte geschlungen und lachte so laut, dass man es trotz des schrillen Klingelns der Schulglocke durch die ganze Pausenhalle hören konnte. Arm in Arm steuerten die beiden auf den Tisch zu, an dem Melli und Emma saßen. Juri musterte Melli und plötzlich erschien ein strahlendes Lächeln in seinem Gesicht. „Hi“, grüßte er im Vorbeigehen. „Hältst du mir in Bio gleich einen Platz neben dir frei?“

Hatte ihm Vanessa erzählt, dass sie gemeinsam Biologie hatten? Also hatte sie wieder über Melli und Emma gelästert?

„Quatsch! Du sitzt neben mir.“ Vanessa drückte sich an ihn. „Zwischen den zwei Kletten ist eh keinen Platz für dich.“ Sie warf ihnen einen herablassenden Blick zu.

„Hört, wer spricht“, fauchte Emma. „Wer klebt denn hier an wem?“

Vanessa ignorierte den Kommentar. „Hast du schon unser kleines Biotop zwischen dem Neu- und dem Altbau gesehen? Mit Teich, Schilf und allem, was dazu gehört. Komm, ich zeig es dir.“ Sie flanierten davon.

Juri sah noch einmal zurück und lächelte Melli zu. „Bis gleich“, formten seine Lippen.

„Wow, was war das denn?“ Emma sah vom Pärchen zu Melli. „Mister Sitzenbleiber lässt ja echt nichts anbrennen, was? Sich von Vanessa abschleppen lassen und dich gleichzeitig anmachen? Das ist krass.“ Sie schaute den zweien noch einmal nach. „Aber sein Hintern ist phänomenal.“

„Passt doch genau zu so einem Typ, oder?“, antwortete Melli und packte ihre Brotdose wieder ein.

„Meinst du sein Verhalten oder seinen Hintern?“, feixte Emma und brachte sie damit zum Lachen.

„Komm jetzt“, sagte Melli. „Frau Höltin-Wiltenburger wird stocksauer, wenn wir nicht rechtzeitig zum Unterricht kommen.“ Mit der Biolehrerin war nicht zu spaßen und Melli wollte ihren guten Notendurchschnitt nicht in Gefahr bringen.

„Mal sehen, ob Vanessa mit ihrem neuen Fang rechtzeitig eintrudelt oder ob sie sich wieder ganz zufällig im Garten verläuft.“ Emma stopfte ihre Jacke in den Rucksack und stand auf. „Die Masche hat sie letztes Jahr bei Adrian auch abgezogen. Erinnerst du dich?“

„Wie könnte man diese Story vergessen?“ Melli rollte mit den Augen. „Fliegen, die ihnen angeblich in die Augen gerieten, sodass sie blind waren und den Rückweg aus dem Schilf nicht mehr fanden.“

Kichernd verließen sie die Sitzecke und machten sich auf den Weg zum Hörsaal. Als sie eintraten, stand die Biologielehrerin bereits am Lesepult und sortierte ihre Unterlagen. Die meisten Plätze waren belegt, nur die erste Reihe war frei. Melli und Emma stiegen die Treppe hinab, setzen sich wie üblich in die vorderste Sitzreihe und kramten ihre Schreibblöcke aus den Taschen. Vanessa und Juri waren noch nicht da.

„Da kommen sie“, flüsterte Emma plötzlich und deutete nach oben.

Vanessa kam, gefolgt von Juri, die Treppe herunter, hielt jedoch nach ein paar Absätzen an und quetschte sich an den anderen vorbei auf zwei freie Plätze zu. Erst als sie die Sitzfläche umgeklappt und sich gesetzt hatte, bemerkte sie, dass Juri ihr nicht gefolgt war. Unschlüssig stand er auf der Treppe und schaute sich um. Dann entdeckte er Melli und lächelte. Sofort setze er sich in Bewegung und kam auf sie zu.

„Aber, Juri …“, meckerte Vanessa.

„Mist.“ Melli duckte sich, was aber nicht verhinderte, dass sich Juri neben sie setze.

„Ist hier noch frei?“, fragte er, obwohl er schon längst saß.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete Emma frech. „Man hat hier echt eine gute Aussicht, aber ich warne dich. Frau Höltin-Wiltenburger ist sehr aufmerksam, was Nebenbeschäftigungen während des Unterrichts betrifft. Ich meine Handyspielchen und Co.“

„Ich hatte eigentlich vor, dem Unterricht zu folgen“, sagte Juri, sah dabei aber nicht Emma, sondern Melli an. „Ich bin Juri.“ Er strecke ihr eine Hand hin. Eine altmodische, aber eigentlich nette Geste.

Zögernd schlug sie ein. „Melli“, sagte sie und spürte die Wärme in ihre Ohren kriechen.

Vorne am Pult tippte die Lehrerin mit ihrem Stift ungeduldig auf die Tischplatte. Ihr Zeichen dafür, dass sie Ruhe erwartete und der Unterricht begann. Das Rascheln und Husten im Saal verstummte.

„Schön, dich kennenzulernen, Mell“, flüsterte Juri. „Es macht den ganzen Mist mit dem Umzug und dem Schulwechsel so kurz vor dem Abschluss viel einfacher, wenn man sympathische Schulkollegen neben sich hat.“ Er zwinkerte ihr zu.

Eigentlich hätte Melli sich nach vorn wenden sollen, aber seine Augen waren so unglaublich grün, dass sie sie unentwegt anstarren musste.

Juris Lächeln wurde breiter.

Das sind bestimmt Kontaktlinsen. Kein Mensch hat so grasgrüne Augen. Das müssen Kontaktlinsen sein.

„Frau Braun?“ Die Stimme der Lehrerin holte sie in die Realität zurück. „Hätten Sie wohl die Güte, sich jetzt auf den Unterricht zu konzentrieren? Wenn Sie sich schon so für die Augen ihres Sitznachbarn interessieren, dann treten Sie doch bitte nach vorne und erklären ihren Kommilitonen noch einmal das Davenport-Modell, das ich letzte Stunde vorgestellt habe.“

Melli ignorierte das Gekicher ihrer Mitschüler und schlängelte sich an Juri vorbei. Ihn dabei nicht zu berühren war schlichtweg unmöglich. Mit hochrotem Kopf ging sie zum Whiteboard, griff sich einen Stift und begann, das längst als überholt geltende Forschungsmodell der Vererbungsfolge von Augenfarben zu erklären. Wenigstens das schaffte sie ohne Schwierigkeiten.

 

Die restliche Stunde über musste Melli mit sich kämpfen. Juri konzentrierte sich zwar auf den Unterricht, aber gelegentlich berührte sein Bein das ihre, und er zog es nicht zurück, sondern hielt den Körperkontakt. Das war ihr unangenehm und sie rückte auf ihrem Sitz immer wieder zu Emma hinüber, die die ständige Unruhe mit einem verwirrten Gesichtsausdruck quittierte. Sie schob Melli einen Zettel herüber. „Was ist denn los?“, stand darauf.

„Er klebt an meinem Bein“, schrieb Melli als Antwort darunter.

Emma sah kurz unter die Ablage. „Immerhin behält er seine Hände bei sich“, schrieb sie und malte dazu ein Zwinkersmiley.

„Haha!“, flüsterte Melli ihr zu.

Die Klingel beendete die Stunde.

„Rekapitulieren Sie für morgen bitte noch einmal, was wir heute durchgenommen haben“, rief die Lehrerin über den aufbrausenden Lärm hinweg.

Emma seufzte. „Na prima. Heißt dann wohl, dass wir morgen einen Test schreiben.“

„Wir können es gerne noch mal zusammen durchgehen“, schlug Melli ihr vor.

„Mit mir auch?“, fragte Juri. „Ich habe nämlich kein Wort von dem verstanden, was Frau Wiltenberger da an das Board gekritzelt hat.“

Melli tat, als hätte sie ihn nicht gehört, doch Emma antwortete ihm: „Frau Höltin-Wiltenburger. Das solltest du dir gut einprägen. Sie mag es nämlich überhaupt nicht, wenn man ihren Namen vergisst oder falsch ausspricht.“

„Okay.“ Juri schloss die Augen und runzelte die Stirn. „Frau Höltin-Wiltenburger. Frau Höltin-Wiltenburger. Frau Höltin-Wiltenburger.“ Er öffnete die Augen und grinste Melli an. „Ich glaube, jetzt habe ich es.“

„Scheint so.“ Melli starrte zurück. So unglaublich grün!

„Also, Mell, kannst du mir dann nachher noch mal das mit der Gen- und der Genommutation erklären?“ Er lächelte sie so süß an, dass Melli nicht Nein sagen konnte.

Er hat mich Mell genannt. Klingt ungewohnt. Okay, er ist neu hier und weiß es nicht besser. Und er hat keine Freunde, die es ihm richtig sagen könnten. Juri tat ihr leid. Und nur, weil sie ihm den Lehrstoff erklärte, bedeutete das ja nicht, dass sie etwas von ihm wollte. Das würde sie ihm klar und deutlich sagen, wenn es nötig wäre. Außerdem konnte sie Emma als Anstandsdame mitnehmen. „Ich heiße Melli, nicht Mell. Und ja, kann ich machen“, sagte sie daher. „Wir drei könnten uns ja nach der Schule in der Pausenhalle treffen. Dann gehen wir den Kram gemeinsam noch mal durch. Wie sieht es aus, Emma. Du bist dabei, oder?“

Doch Emma schüttelte den Kopf und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich würde echt gerne, Süße. Aber ich habe dir doch gestern schon erzählt, dass mich meine Mutter heute direkt nach der Sechsten abholt. Sie hat sich extra freigenommen, damit wir etwas zusammen unternehmen können. Und diese Zeit ist mit heilig. Ich fürchte, ich muss riskieren, dass ich den Bio-Test versemmel.“

„Vielleicht schreiben wir ja auch keinen.“ Die Aussicht, mit Juri nach der Schule allein zu sein, war Melli unangenehm. Einen Rückzieher wollte sie jetzt aber auch nicht machen. Sie nickte Juri zu. „Gut, also dann. Bis nachher.“

„Danke“, sagte er und schulterte seinen Rucksack. „Ich freue mich drauf.“

Er stieg die Treppe nach oben, wo Vanessa schon auf ihn wartete. Die war sichtlich sauer, dass Juri nicht neben ihr gesessen hatte, und funkelte Melli böse an. Emma sah es und lachte. Dafür bekam auch sie einen wütenden Blick zugeworfen. Vanessa hängte sich an Juris Arm. „Komm, ich zeige dir, wo du jetzt hingehen musst“, schallte ihre Stimme durch den Saal.

Juri ließ sich willig ins Schlepptau nehmen und sah sich nicht einmal mehr nach ihnen um.

„Ich glaube ja, der meinte nicht die Nachhilfe, als er eben sagte: ‚Ich freue mich drauf.‘ Ne, der meinte dich, Süße. Oh, und sorry, dass ich nicht mitkommen kann. Aber wenn sich Mama schon mal freinimmt …“

„Schon gut. Ich schaffe das auch alleine.“ Melli trat auf die Treppe und wartete auf ihre Freundin.

„Denke ich auch. Der beißt ja nicht. Und wer weiß, es ist vielleicht ganz gut, wenn er neben Vanessa auch noch jemand Normales kennenlernt. Wobei, das sah jetzt nicht gerade nach Unwillen aus, wie die Zwei abgedampft sind.“

„Ist doch egal!“ Sie wollte keine Beziehung mit Juri anfangen, sondern ihm bloß helfen. Wen er sich als Freunde wählte, ging sie nichts an. „Ich gebe ihm Nachhilfe und gut ist.“

„Na dann …“ Emma hakte sich bei ihr so ein, wie es Vanessa vorhin bei Juri getan hatte. „Dann zeig mir mal, wo die Toiletten sind. Da muss ich nämlich ganz dringend hin.“

 

Nach der Schule ging Melli in die Pausenhalle. Juri saß schon an einem Tisch und winkte ihr. Vanessa stand neben ihm und sah von ihrem Handy auf.

„Hi, Mell“, grüßte Juri freundlich, während Vanessa die Lippen schürzte und stumm blieb. „Setz dich doch.“ Er schob den Stuhl neben dem seinen heraus und tätschelte auf die Sitzfläche. Melli ignorierte seine Aufforderung und nahm stattdessen ihm gegenüber Platz. Ein Fehler, wie sie sogleich feststellte. Ihm von Angesicht zu Angesicht nicht ständig in die Augen zu sehen war knifflig.

Vanessa setzte sich ungefragt neben Juri. „Wenn sie so gerne die Streberin raushängen lässt, dann kann sie mir ja auch gleich erklären, wie es geht“, meinte sie.

Melli fand Vanessas Verhalten unmöglich. Wären sie allein gewesen, hätte sie ihr die Meinung gesagt. Vor Juri wollte sie nicht unhöflich sein. Aber wie wurde sie Vanessa los? Sie hatte keine Lust, auch ihr Nachhilfe zu geben.

Noch bevor sie sich eine passende Antwort überlegt hatte, kam ihr Juri zuvor. „Das würde sie bestimmt gerne tun. Oder, Mell?“

Melli nickte verdutzt.

„Aber ich habe mich mit ihr hier verabredet“, fuhr Juri fort, „nicht du, Vanny. Drei sind zum Lernen eine blöde Zahl. So direkt eins zu eins lernt es sich einfach besser. Also sei nicht böse, und lass uns alleine, okay?“

Vanessa presste die Lippen aufeinander und stand so ungestüm auf, dass der Stuhl laut über die Fliesen schabte. Das unangenehme Geräusch, das die Stuhlbeine von sich gaben, erfüllte die ganze Halle. „Na dann. Viel Spaß beim Lernen, Mell.“

Wie Juri ausgerechnet auf diese Abkürzung ihres Namens kam, war ihr ein Rätsel. Jeder hier nannte sie Melli. Dachte er, er täte ihr einen Gefallen, wenn er sie anders nannte?

„Ich heiße Melli und nicht Mell.“

„Ganz wie du meinst, Ich-heiße-Melli-und-nicht-Mell“, äffte Vanessa sie nach. Dann beugte sie sich über Juri und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns nachher, mein Lieber.“ Ohne Melli noch einmal anzusehen, hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und marschierte davon.

„Sie ist ja ganz nett“, sagte Juri und zuckte mit den Schultern, „aber sie hat so eine Art an sich … Es kam mir vor, als ob sich keiner traut, mit mir zu reden, wenn sie dabei ist. Und außerdem, so ganz unter uns …“ Er beugte sich mit Verschwörermiene über den Tisch. „Sie redet immer über Mode. Ich mag ja Mode auch, aber das war eindeutig zu viel. Du kennst Vanny besser, als ich. Meinst du, sie regt sich wieder ab?“

Melli starrte ihn an. Sie brauchte ein paar Atemzüge, ehe sie sich gefangen hatte. „Klar tut sie das“, sagte sie und versuchte, unbeeindruckt zu wirken. „Vanessa ist ein bekennendes Fashion Victim. Sie ist manchmal echt ‚zu viel‘, aber sie wird bestimmt nicht lange sauer auf dich sein.“ Wenn sie auf jemanden sauer ist, dann auf mich. Weil ich für dich interessant bin. Zumindest im Moment noch.

Wenn Vanessa erst einmal richtig loslegte, hatten die Jungs keine Chance. Melli gab Juri maximal eine Woche. Dann würde er Vanessa erlegen sein und in ihren „Besitz“ übergehen.

So wie Alexander. Als Vanessa gemerkt hat, dass ihm wirklich etwas an mir liegt, hat sie ihn solange angemacht, bis er schließlich eingeknickt ist. Obwohl es ganz offensichtlich war, was sie plant. Es ging ihr gar nicht um Alexander, sondern bloß darum, mir eins auswischen. Und der Idiot hat es nicht kapiert. Oder besser: nicht kapieren wollen.

Es schmerzte immer noch, dass er sie wegen Vanessa hatte fallen lassen. Und das, obwohl sie schon ein paar Monate miteinander gegangen waren. Als Vanessa ihr Ziel endlich erreicht hatte, hatte sie Alexander eiskalt abserviert. Die ganze Schule tratschte heute noch gelegentlich darüber. Selbst vor intimen Details machten die Mitschüler nicht Halt. Alexanders jämmerliche Entschuldigung, es täte ihm alles ganz furchtbar leid und er wolle so gerne wieder mit ihr zusammen sein, hatte Melli nicht angenommen. Diesen gemeinen Vertrauensbruch konnte sie ihm einfach nicht verzeihen. Die Gewissheit, sich hundert Prozent auf den Partner verlassen zu können, war für sie eines der wichtigsten Dinge in einer Beziehung. Womöglich hatte sie deshalb nach Alexander auch keinen anderen Jungen mehr gedatet. Treue und Vertraulichkeit galten unter ihren Klassenkameraden als altmodisch. Sex war längst keine intime Angelegenheit mehr und wurde offen und ohne Scham besprochen. Dabei war es doch etwas ganz Besonderes. Zumindest für Melli.

Hier sitze ich und denke an Sex. Schluss! Konzentriere dich!

Demonstrativ zog sie ihre Biologieunterlagen aus dem Rucksack und breitete sie zwischen ihnen aus.

„Also. Ich sollte dir zeigen, was der Unterschied zwischen einer Gen- und einer Genommutation ist.“ Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf das Blatt. Dass sie dabei ihre Biologielehrerin imitierte, wurde ihr erst bewusst, als Juri stöhnte. Sie sah vom Blatt auf, ihm direkt in die Augen.

„Also, Frau Höllen-Willnichtburger. Schießen Sie los.“ Sein Lächeln war ansteckend und Melli lächelte zurück.

Die Hitze, die ihr in die Wangen schoss, versuchte sie zu ignorieren. „Dann hör gut zu. Sonst wird das nichts mit den 15 Punkten in Bio.“

„Aye, Sir, Mell“, sagte er und beugte sich wieder über ihre Aufzeichnungen. „Ich bin ganz bei Ihnen.“

Kapriolen

 

Australien, Melbourne, Southbank, im Dezember

 

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Studiofenster des Lofts. Das ungewohnt schlechte Wetter passte zu Freddys schlechter Laune.

„Ist mir scheißegal, ob es mitten im Schuljahr ist“, brüllte er ins Telefon. „Wir müssen da schnellstens eingreifen, bevor der Scout versagt.“

Er lauschte dem Geplapper seines Gesprächspartners und fuhr unwirsch dazwischen: „Dann lassen Sie sich eben etwas einfallen. Bestechen Sie ihn, überweisen Sie ihm eine Summe, bei der er nicht Nein sagen kann. Egal, was. Hauptsache, er begleitet sie.“

Freddy schnaufte durch. „Hören Sie, Emmerling“, sagte er. „Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Sache zu regeln, dann müssen wir eben jemand anderen finden, der es kann.“

Freddys Pranke hieb auf den Tisch. Die Kaffeetasse klirrte auf dem Unterteller, die Akten verrutschten durch den Windzug, den sein Schlag verursachte.

„Wofür haben wir Sie eingestellt, Sie Krautfresser? Wenn Sie nicht bis Ende der Woche alles in die Wege geleitet haben, dann sind Sie weg vom Fenster. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Emmerling? Was das für Ihre berufliche Zukunft in unserer Organisation bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern, oder?“

Freddy starrte missmutig zum Fenster hinaus, während sein Gesprächspartner etwas von „vollstes Verständnis“ und „Erfolgsrezept“ faselte.

Elender Speichellecker, dachte er. Dabei wirst du so oder so abgesägt, wenn du deine Arbeit verrichtet hast.

Der Regen wurde zusehends stärker. Der sonst so atemberaubende Ausblick aus dem vierundachtzigsten Stock des Eureka Towers war getrübt. Das Meer konnte Freddy nur noch erahnen. Ebenso die Docklands und den Yarra River, der sich dunkelgrau um die Grundmauern des Wolkenkratzers schlängelte.

Ausgerechnet heute sollte Cassias Abschlussparty stattfinden. Dass der Junge endlich seinen Master in der Tasche hatte, freute Freddy ungemein. Endlich konnte er seinen Sohn in die Organisation einbinden. Blut war dicker als Wasser, hieß es. Das galt auch für adoptiertes Blut. Sie hatten einen ordentlichen Aufwand betrieben, um die Feier standesgemäß und pompös auszustatten. Der beste Partyservice von ganz Melbourne, die ECM, hatte den Garten mit schicken Outdoor-Möbeln und ein paar Zelten vorbereitet. Das Catering versprach einen kulinarischen Gaumenschmaus auf Sterneniveau und Freddy hatte sich extra einen seidenen Maßanzug schneidern lassen.

Und jetzt machte ihm das Wetter alles zunichte. Wo sollte er auf die Schnelle die 150 geladenen Gäste unterbringen? Ob er Smith von ECM anrufen und zusammenbügeln sollte, wenn er nicht eine Alternative zum nassen Garten hatte? Andererseits: Niemand hätte im Traum damit gerechnet, dass das Wetter im Frühling so ungewöhnlich wechselhaft werden könnte.

Während Freddy den Regentropfen bei ihrer Reise entlang des Fensterglases zusah, sinnierte Emmerling laut über den geplanten Einsatz. Eine heftige Windböe erschütterte die Scheiben des Lofts. Freddy reichte es endgültig.

„Scheiß Klimawandel“, fluchte er leise und unterband Emmerlings Schleimerei. „Schon gut. Ich sehe, Sie haben kapiert, wo es langgeht. Geben Sie mir Bescheid, wenn er Kontakt aufgenommen hat. Ich erwarte ab da dann täglich Bericht.“

„Auch morgens?“, hakte Emmerling nach.

„Natürlich früh morgens, Sie Idiot!“, blaffte Freddy. „Einen vollständigen Tagesbericht. Ich will wissen, was sie tut, wohin sie geht, mit wem sie redet, was sie denkt, wann sie ihre Periode bekommt. Alle Details. Und wenn etwas Wichtiges passiert, rufen Sie mich an. Egal, welche Tages- oder Nachtzeit. Sofort! Kapiert?“

„Aber aufgrund der Zeitverschiebung …“

„Was kann ich dafür?“, fuhr Freddy ihn an. „Wären die Browns nicht ins sackkalte Deutschland abgehauen, dann hätten wir jetzt nicht die ganzen Probleme. Warum sind sie nicht in Australien geblieben? Hier gibt es doch viel angenehmeres Wetter.“

Den spontanen Gedanken, seinen Adoptivsohn Cassia für die Mission einzubinden, schob er gleich wieder beiseite. Cassia war zu sehr mit Australien verwachsen, als dass er in Europa eingesetzt werden konnte. Er war ohnehin nicht besonders beliebt beim weiblichen Geschlecht.

Wie der Vater, dachte Freddy verdrossen. Wir Palmers hatten noch nie Glück mit den Weibern.

Draußen peitschte der Wind die Tropfen fast waagerecht durch die Luft. Von einem schönen Frühlingstag im Dezember konnte man heute beileibe nicht mehr reden. Von einer angenehmen Witterung im Moment auch nicht.

„Scheiß Klimawandel“, fauchte er wieder. „Mailen Sie mir die Akte ihres Agenten“, schickte er Emmerling noch hinterher und legte dann auf.

Er stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf der Schreibtischplatte auf und schloss die Augen. Manchmal beschlich ihn das Gefühl, die ständige Kälte und der mangelnde Sonnenschein taten den Europäern nicht gut. Auf jeden Fall war dieser Emmerling nicht von der hellsten Sorte. Blieb nur zu hoffen, dass er seinen Job richtig erledigen würde. Alleine davon hing der Erfolg ihrer Mission ab. Und letztendlich auch der Erfolg der Aquacon. Alles zielte jetzt auf dieses deutsche Mädchen ab. Sie galt es einzufangen und zu überwachen. Wenn sie der lang gesuchte Schlüssel war, den zu finden sich die Aquatic Conservation Enterprices auf die Fahnen geschrieben hatte, dann wäre es der größte Erfolg seit Gründung der Organisation. Alles Bisherige war nur schmückendes Beiwerk, eine Rechtfertigung gegenüber den asiatischen Gönnern, die allmählich ungeduldig wurden und davon sprachen, den Geldhahn zuzudrehen. Sie erwarteten zu Recht Resultate und die würden sie hoffentlich dieses Mal bekommen.

„Wenn alle Stricke reißen, muss ich nach Deutschland fliegen und mich höchstpersönlich darum kümmern.“

Sein Vizechef Richard Timothy Walther hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit angekündigt, die weltweit tätigen Niederlassungen aufsuchen zu wollen.

„Gesicht zeigen und einnorden“, hatte Richard es genannt.

Plötzlich kam Freddy das Ganze gar nicht mehr wie eine Schnapsidee vor. Allerdings sträubte er sich gegen die lange, unbequeme Reise. 20 Stunden in einem engen Flieger, selbst erster Klasse, waren ihm zuwider. Richard hingegen tickte anders. Deutscher Regen und grauer Himmel würden dem wanderbegeisterten Vize nichts anhaben können. Wer auf Tasmanien tagelang wandern und campen konnte, steckte Wetterkapriolen besser weg als sonnenhungrige und Bequemlichkeit liebende Genießer, wie Freddy einer war.

Er setzte sich wieder und drückte eine Taste seines Telefons. Sofort meldete sich Mildred am Empfang.

„Ja, Herr Palmer?“

„Mildred, rufen Sie doch bitte Richard an.“

„Herr Walther hat noch Urlaub, Sir“, klärte Mildred ihn auf. „Heute ist sein letzter Tag. Soll ich trotzdem versuchen, ihn auf dem Privathandy zu erreichen?“

Freddy überlegte einen Augenblick. „Lassen Sie es.“ Dass er ihm eine Europareise auf Kosten der Organisation spendieren würde, konnte er ihm auch heute Abend noch sagen. „Aber, Mildred?“ Er nahm seine Tasse und trank den kalten Rest Kaffee aus. „Bringen Sie mir einen neuen Kaffee. Und eine dieser kleinen runden Pralinen, die die Österreicher zu Weihnachten geschickt haben. Wie hießen sie doch gleich?“

„Mozartkugeln, Sir. Kommt sofort.“

Freddy lachte. „Danke, Mildred.“ Er lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück, der knirschend nach hinten wippte. „Mozartkugeln“, murmelte Freddy. „Was hat ein Komponist mit Nugat und Marzipan zu tun?“

Zufrieden strich er sich über seinen Wohlstandsbauch und bekam plötzlich Hunger. „Warum auch immer. Egal, Hauptsache, es schmeckt“, seufzte er und freute sich auf den kleinen Nachmittagssnack.

Feines Essen hob seine Stimmung. Da konnte ihn selbst der Regen nicht mehr deprimieren. Und was Cassias Party anging, so waren noch ein paar Stunden Zeit. Vielleicht hatten sie Glück und es würde sich bis abends ausgeregnet haben. Wenn nicht, hätte Freddy wenigstens einen Grund, die Agentur zu verklagen und Schadensersatz zu fordern. Er hatte sich sicherheitshalber eine gesonderte Schön-Wetter-Klausel in den Vertrag einbauen lassen. Nicht, dass er gehofft hatte, das Fest würde ausfallen. Das wäre nicht in Cassias Sinn gewesen. Aber er liebte es, wenn andere in seiner Schuld standen. Das machte vieles einfacher. Erst recht für einen Mann in seiner Position.

Fünfundvierzig Minuten später kam er in Sandringham an. Wind und anhaltender Regen hatten seine sonst so bequeme und kurze Heimfahrt behindert. Freddy schimpfte, als ihm beim Aussteigen einige Wassertropfen vom Türholm seines Audis auf den Anzug fielen. Wenigstens musste er nicht draußen parken. Das automatische Tor und der direkte Zugang von der Garage zum Haus waren Bedingungen gewesen, die der Makler bei seiner Vorauswahl hatte einhalten müssen. Hier in Sandringham war das allerdings keine große Sache. Jedes Haus in dem noblen Vorort Melbournes war mit Komfort ausgestattet. Eine eigene Zufahrt, ein weitläufiger Garten mit Pool und ein Bungalow, der keine Wünsche offenließ. Das war der Mindeststandard und mit weniger hätte sich Freddy auch nicht zufriedengegeben. Er betrat den Flur, hängte den Autoschlüssel ans Board und rief nach Cassia. Natürlich war sein Sohn nicht da. Der Schlüssel seines MGs fehlte. Aber Freddy rief dennoch jedes Mal aus reiner Gewohnheit nach ihm. Wie schnell doch die Zeit verging. Eben war der Junge noch zur Schule gegangen. Jetzt promovierte er. Wie lange würde er noch hier bei ihm wohnen wollen?

Freddy griff sich den Stapel Post, den seine Haushaltshilfe Dolores hingelegt hatte, und ging ins Büro, um sich ein Glas zu genehmigen. Während der Whisky zart auf seiner Zunge zerlief und seinem Gaumen schmeichelte, blätterte er durch die Briefe. Zwei waren für Cassia. Einer trug eine handschriftliche Adresse und kam von Cassias Bekanntem Sasha aus Cairns. Cassia hatte den jungen Mann bei seinem Praktikum an der Ostküste kennengelernt. Während des Studiums hatte er dort am Great Barrier Reef geforscht. Freddy drehte den Brief vor und zurück.

Seltsame Schrift für einen Kerl, dachte Freddy. Ein wenig weibisch ist sie ja schon. Er stellte sich diesen Sasha als unscheinbaren, schüchternen Typen vor, der den Mund nicht aufbekam und allein für seine Arbeit lebte.

Sicherlich waren das bloß wieder langweilige Berichte über die alltäglichen Arbeiten an der Uni dort. Kein einziger Brief hatte jemals Interessantes beinhaltet. Freddy legte den Brief beiseite. Der andere Umschlag trug keinen Absender und war maschinell abgefertigt worden. Er wirkte förmlich und wichtig, aber nicht wichtig genug, als dass Freddy ihn öffnen wollte. Sein Sohn war mittlerweile zu gewieft, um sich hinters Licht führen zu lassen. Früher war das einfacher gewesen. Da war er immer bestens über die Angelegenheiten seines Adoptivsohnes informiert gewesen. In den letzten Jahren war es freilich immer schwieriger geworden. Und Cassia erzählte ihm längst nicht mehr alles. Dennoch blieb Freddy auf dem Laufenden. Wofür gab es schließlich GPS?

Er trank einen weiteren Schluck, ging dann seine Korrespondenz durch und legte sie schließlich in die Ablage. Abgesehen von einer unverschämt hohen Vorabrechnung der ECM für das anstehende Fest gab es nichts Bemerkenswertes.

Freddy stellte das Glas in der Bar auf das Tablett und ging in die Küche. Er hatte Dolores am Morgen angewiesen, für den Fall der Fälle eine deftige Lasagne vorzukochen. Bis zur Party am Abend dauerte es schließlich noch ein paar Stunden. Die österreichische Süßigkeit hatten nicht lange vorgehalten. Sein Magen knurrte bereits und verlangte nach vollwertiger Nahrung. Im Glauben, das Gewünschte vorzufinden, nahm er einen Teller aus dem Schrank und öffnete die Kühlschranktür. Eine Auflaufform fand sich darin nicht. Stattdessen lagen mehrere Fischfilets auf den gläsernen Ablagen und nahmen fast den ganzen Kühlraum ein. Eine zarte Blutspur lief vom obersten Fach auf die darunterliegenden Glasplatten und sammelte sich als kleine Lache in der Gemüseschublade. Angewidert schlug Freddy die Tür zu, knallte den Teller auf die Küchentheke und nahm sich vor, ein klärendes Gespräch mit seinem Sohn zu führen. Angelsport in allen Ehren, aber was zu viel war, war zu viel.

 

„Wie war es in Tasmanien?“, fragte Freddy seinen Vize am Abend auf der Party. „Konntest du den doppelköpfigen Tasmanierinnen widerstehen?“ Er lachte und Richard stimmte mit ein.

„Keine Chance, Freddy. Bei so viel Schönheit auf einmal musste ich kapitulieren.“ Richard grinste, wurde aber gleich wieder ernst. „Bist du sicher, dass der ganze Aufwand mit dem Mädchen gerechtfertigt ist?“

Der Himmel hatte aufgeklart, die Sonne die Pfützen ausgetrocknet. Nur das Gras quietschte leise unter ihren Füßen. Die Party war in vollem Gange und die Gäste amüsierten sich prächtig.

„Nur, weil wir auf eine Familie mit passendem Namen gestoßen sind, muss das doch nicht automatisch bedeuten, dass wir diesmal auf der richtigen Spur sind. Das letzte Mal …“

„Das letzte Mal war zugegebenermaßen ein Reinfall“, fiel ihm Freddy ins Wort und beobachtete Cassia, der sich am Ausschank aufgeregt mit einem Kommilitonen unterhielt. „Aber diesmal passt alles zusammen: das Land, die Namen, die Daten der Eltern.“

„Haben wir schon Fotos?“

„Emmerling hat nichts Vernünftiges zustande gebracht. Ich bete, dass er wenigstens den Scout dazu bringen kann, das Mädchen hierher zu begleiten. Bisher weigert er sich. Du hattest recht. Es wäre wirklich langsam an der Zeit, unsere auswärtigen Niederlassungen zu kontrollieren. Am liebsten würde ich ja selbst nach Europa jetten, um die Sache in die Wege zu leiten. Nur leider …“ Er seufzte und nickte andeutungsweise zu Cassia hinüber. Dann wartete er.

Die Antwort des Vizes kam sofort. „Lass mich fliegen. Ich könnte den europäischen Zweigstellen einen Besuch abstatten und dann in Deutschland vorbeisehen.“ Der Vize rückte ein Stück näher. „Und wenn sich herausstellen sollte, dass wir auf der richtigen Spur sind, dann wäre ich sogar bereit, mich um alles Weitere zu kümmern. Vorausgesetzt, die Organisation übernimmt die anfallenden Kosten.“

„Das wäre natürlich das Beste“, sagte Freddy und freute sich insgeheim. Alles lief nach Plan. „Aber ich würde es andersherum angehen. Erst Deutschland, dann die Zweigstellen. Nicht, dass es später heißt, wir hätten etwas übersehen. Ich kann dir natürlich nicht zusagen, dass die Asiaten mehr Geld lockermachen werden. Aber wenn wir auch nur einen Beweis dafür fänden, dass dieses Mädchen der gesuchte Schlüssel ist, dann haben wir nicht nur finanziell freie Hand.“ Er schlug seinem Vize jovial auf die Schulter. „Dann kannst du auf Organisationskosten ganz Europa bereisen. Ich habe gehört, Deutschland soll recht nette Ecken haben. Aber warten wir erst mal ab, wie Emmerling vorankommt. Danach entscheiden wir, wie wir weiter verfahren.“

Cassia kam auf sie zu. Er hielt einen vollgepackten Teller in der einen und ein Glas Bier in der anderen Hand. „Dad? Ah, hi, Richard. Schön, dass du kommen konntest.“ Er nickte ihm knapp zu. „Dad, hast du Dolores gesehen? Wir müssen endlich den Fisch auf den Grill werfen. Ich habe ihr doch extra eingebläut, ihn rechtzeitig aufzulegen.“

„Warum bezahle ich eigentlich Hunderte von Dollar für Kaviar und Lachs, wenn du dann doch nur deinen selbst gefangenen Fisch braten willst?“ Freddy schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich habe sie vorhin in der Küche gesehen.“

Wie auf Bestellung kam die Haushälterin mit einem großen Tablett aus dem Haus. Sie lächelte und winkte ihnen fröhlich zu.

„Da kommt sie gerade. Du siehst, alles wird gut, Sohn.“

„Wenn sie ihn bloß nicht wieder zu stark eingelegt hat“, motzte Cassia. „Das Knoblauchmassaker vom letzten Barbecue war zum Kotzen.“

Richard und Freddy lachten.

„Ich fand den Fisch beim BBQ vorzüglich“, sagte der Vize. „Herzlichen Glückwunsch übrigens zum Master. Weißt du schon, wie es jetzt beruflich weitergeht?“

Cassia blickte von Richard zu seinem Vater. „Ich bin noch nicht sicher“, antwortete er lahm. „Ich überlege, ob ich mich an der JCU bewerben soll.“

„Was willst du denn in Cairns an der James-Cook-Universität?“ Es war das erste Mal, dass Freddy davon hörte. „Du wirst bei der Aquacon einsteigen! Mit einem ordentlichen Anfangsgehalt.“

„Mal sehen.“

Cassias ausweichende Antwort machte Freddy wütend. „Mal sehen? Was heißt hier ‚Mal sehen‘? Du hast jahrelang auf meine Kosten Biologie studiert und bist im ganzen Land herumgekommen. Du hast den Master in Marine-Biologie. Wo, wenn nicht in der Aquacon, willst du unterkommen? Bei der SeaLiFed etwa?“ Er lachte und Richard stimmte mit ein.

Cassia blickte verdrossen zum Grill hinüber, wo Dolores gerade den Fisch platzierte.

„Nein, Junge, du wirst bei unserer Organisation einsteigen. Du wirst dein Potenzial nicht in der Provinz vertun. Oder liebäugelst du allen Ernstes mit der SeaLiFed?“

Freddy spürte eine Hand auf seinem Oberarm.

„Lass den Jungen doch erst mal durchatmen. Hast du etwa gleich nach dem Studium losgelegt?“, fragte Richard und deutete Cassia mit einer Kopfbewegung an, sich aus dem Staub zu machen. „Oder muss ich dich erst an deine zahllosen Feten und Gelegenheitsjobs erinnern?“

Freddy entspannte sich ein wenig und blickte seinem Sohn nachdenklich hinterher. Ja, der Vize brachte es auf den Punkt. Auch er war nicht auf geradem Weg zur Aquacon gelangt. Er hatte sich einige Umwege genehmigt, die teils beabsichtigt, teils illegal gewesen waren. Aber letztendlich war er in der Chefetage angelangt. Was zählten da noch die zurückliegenden Jugendsünden?

„Komm“, sagte Richard versöhnlich und schob ihn zum Ausschank. „Trinken wir ein Bier, bevor es leer wird. Da vorne steht Baldwin mit seiner Frau. Mal hören, wie die Sitzung beim Kricketverein ausgegangen ist. Er sagte mir, er hätte gute Chancen auf den Vorsitz.“

Freddy lachte humorlos, ließ sich aber bereitwillig führen. „Baldwin ist ein Schlitzohr. Der hat doch bei der Wahl garantiert seine Finger im Spiel gehabt. Lass uns lieber einen Wein trinken. Der ist noch kalt genug. Das Bier ist nur noch eine warme Brühe. Der Caterer hat zu wenig Eis mitgebracht.“

„Ist doch ein guter Grund, ihn auf Schadensersatz zu verklagen, nicht wahr?“ Richard grinste listig und Freddys Laune stieg wieder.

„Wohl wahr. Wohl wahr“, sagte er und rieb sich die Hände.

 

„Frederic Palmer!“

Die Stimme seiner Nachbarin schoss durch die Menge wie ein Pfeil. Freddy stöhnte, setzte eine freundliche Miene auf und wandte sich der Frau zu, die mit wackeligen Schritten auf ihren Pumps über den unebenen Rasen lief. Kurz bevor sie bei ihm ankam, strauchelte sie und warf die Hände in die Luft. Der Inhalt ihres Proseccos flog in hohem Bogen davon und klatschte, ohne größeren Schaden anzurichten, auf das Grün. Freddy hatte längst den Arm ausgestreckt. Er kannte ihre Taktik, schließlich stolperte sie ihm nicht zum ersten Mal in die Arme.

Nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, strahlte sie ihn an. „Frederic!“

„Olivia.“

„Hätte ich nicht die Musik gehört, hätte ich Cassias Party glatt verpasst“, jammerte sie und griff sich ein neues Glas Sekt vom Tablett, das ein Livrierter durch den Garten trug. „Du Schlingel hast vergessen, mich einzuladen!“

„Das tut mir außerordentlich leid“, meinte er. „Aber du siehst ja, was hier los ist. So viele Gäste. Außerdem brauchst du doch nicht wirklich eine Einladung, meine Liebe, oder?“ Er musterte sie von oben bis unten und nickte anerkennend. „Du siehst übrigens wieder hinreißend aus.“ Diesmal war er es, der sich ein Glas Wein vom Tablett klaubte. Er deutete dem Livrierten an, zu warten, trank den kühlen Rosé in einem Zug leer und stellte das leere Glas zurück. Dann nahm er sich Nachschub und winkte den Mann fort.

Olivia nippte an ihrem Sekt und musterte Freddy über den Rand ihres Glases hinweg. „Weiß Cassia schon, was er machen möchte? Wohin es ihn treibt?“

„Frag ihn selbst“, presste er heftiger hervor als nötig.

„Ach, komm schon“, winkte Olivia ab. „Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden. Man muss die Kinder loslassen, um sie zurückzugewinnen.“

„Ja, wahrscheinlich“, sagte er.

Sie lehnte sich vertrauensselig zu ihm. Sie war durchaus attraktiv und begehrenswert. Eine wohlproportionierte Frau Anfang fünfzig mit eigenwilligen Gesichtszügen und einem aussichtsreichen Dekolleté. „Hast du schon das Neuste gehört?“, fragte sie konspirativ. „Es gibt neue Mieter.“

Freddy horchte auf. Das Haus neben dem seinen war lange Zeit unbewohnt geblieben. Die ehemaligen Mieter, ein junges Pärchen, waren der Berufe wegen nach Sydney umgezogen. Seither stand das Anwesen zum Verkauf. So hätte es auch gerne noch die kommenden Jahre bleiben können. Keine Nachbarn waren ruhige Nachbarn.

„Und du weißt sicherlich, wer das Haus gekauft hat. Richtig?“

„Natürlich!“

Ihr schweres Parfum kroch ihm wie Nebel in die Nase und setzte sich dort fest.

„Es soll ein Banker aus Canberra sein. Man munkelt, er habe seine Firma in die Pleite spekuliert und daher habe man ihn nach Melbourne versetzt.“

„Ziemlich großes Haus für einen zwangsversetzten Banker.“

„Er kommt ja nicht alleine. Übrigens zieht er schon übermorgen ein und bringt seine Frau und vier Kinder mit.“ Sie beobachtete seine Reaktion genau. Die konnte er genauso wenig steuern, wie den Hustenreiz, der ihn plötzlich überkam. Er keuchte und rollte mit den Augen.

Olivia schlug ihm helfend auf den Rücken und lachte. „Entschuldige, ich wollte dir nicht die Party verderben“, kicherte sie. „Ach, da drüben ist ja auch Henrietta Collins. Ich muss ihr noch zur gewonnenen Vorstandswahl gratulieren. Wir sehen uns, Freddy.“ Sie zwinkerte und verschwand.

Er unterließ es, ihr nachzurufen, dass Collins noch kein Vorstand war, und winkte stattdessen einen Tablettträger herbei. Der kühle Rosé musste ihm durch die letzten Stunden der Party helfen.

 

Zwei Tage später saß Freddy auf seiner Veranda. Er hatte sich früher freigenommen und relaxte im Garten, was für einen Samstag durchaus eine akzeptable Beschäftigung war. Die Hinterlassenschaften der Party waren von ECM beseitigt worden, und so genoss er die Ruhe und den sonnigen Nachmittag.

Gegen fünf Uhr fuhr ein großer Umzugswagen von P&J Rental am Nachbarhaus vor. Mehrere kräftige Männer stiegen aus und begannen, Kisten und Möbel auszuladen und ins Haus zu schaffen. Freddy verdrehte sich den Hals, konnte aber keinen erkennen, der nach einem Mieter oder Eigentümer aussah.

Nach zwei Stunden zog die Umzugsfirma wieder ab, ohne dass sich ein neuer Nachbar hatte blicken lassen. Vielleicht kam der Banker mit seinen Kindern erst noch. Freddy lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch bereits nach wenigen Minuten zerschnitt erneut das Dröhnen eines Motors die Stille. Er horchte, und als der Wagen in der Nähe anhielt, sah er auf und entdeckte einen BMW vor dem Nachbarhaus. Ein Mann, in einen grauen Anzug und Krawatte gekleidet, stieg aus dem Sportwagen und holte einen Aktenkoffer aus dem Fond. Damit lief er zur Haustür, schloss auf und ging hinein.

Freddy überlegte. Schon allein aus Neugierde könnte er hinübergehen und sich vorstellen. Doch das würde bedeuten, er müsste seinen bequemen Platz aufgeben und sich bewegen. Er schwitzte auch so schon genug und stank nach Schweiß und Bier. Er hatte heute nach der Arbeit nicht geduscht, obwohl er bereits klitschnass aus der Firma gekommen war. Aber Freizeit war nun mal Freizeit. Die wollte er nicht mit Nebensächlichkeiten vertun. Besuch erwartete er heute nicht.

Wenn der Kerl da drüben auf ein nettes Nachbarschaftsverhältnis Wert legte, dann würde er schon bald klingeln und sich vorstellen. Also lehnte sich Freddy wieder zurück und verschob den Anstandsbesuch auf unbestimmte Zeit. Sollte der Mann erst mal in seinem neuen Heim ankommen. „Und wer weiß, vielleicht sind seine Kinder ja verzogene Rotzlöffel. Die will ich lieber später als früher sehen. Und vor allem hören.“

Es dauerte jedoch nur ein paar Minuten, da klingelte es bei Freddy. Er quälte sich aus dem Korbsessel, zog sein Hemd zurecht und ging an der Hausseite entlang nach vorn. Der neue Nachbarn trug immer noch Anzug, hatte die Krawatte jedoch abgelegt und den Hemdkragen geöffnet. Grauer Pelz wucherte auf seiner Brust und zwischen den Locken hing ein protziger Goldanhänger. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille. Es war eines dieser teuren Markengestelle von Porsche, wie Freddy beim Näherkommen erkannte. Und er sah auch den schmalen Goldreif im Ohr, der so gar nicht zu seiner Vorstellung von einem Banker passte.

---ENDE DER LESEPROBE---