Ylva Pauer - Sandra Baumgärtner - E-Book

Ylva Pauer E-Book

Sandra Baumgärtner

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Beschreibung

Wer braucht schon einen eisernen Superhelden, um die Schurken in der Moselmetropole Treverorum in die Mangel zu nehmen? Die freche Ylva Pauer jedenfalls nicht. Sie begibt sich lieber alleine mit ihrem cleveren Helfer Kay auf Verbrecherjagd. Eine witzige, abgedrehte Story über eine Heldin, die so gar nicht ins übliche Super-Oberweiten-Heldinnen-Korsett passen will. Gesamtausgabe der ersten Staffel „Ylva Pauer- Superheldin wider Willen“ mit den Episoden 1-3

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YLVA PAUER – Superheldin wider Willen
EPISODE 1 – Pompöse Provokation
1. Adam und Eva
2. Maffiamatten
3. Der La-Kay
4. Zangenmord
5. In der Mangel
6. Henkersmahlzeit
7. Im Zwinger
8. Sadomaso
9. Madam Mosella
10. Regenbogenpupse
11. Fahrt zur Hölle
YLVA PAUER – Superheldin wider Willen
EPISODE 2 – Billiger Bluff
1. Judas
2. Niederschmetternd
3. Vollhorsts
4. Abserviert
5. Affentheater
6. Galgenfrist
7. Knalleffekte
8. Dramaqueen
9. Spielbeziehung
10. Alibi
11. Geschenkt
12. Ablass
YLVA PAUER – Superheldin wider Willen
EPISODE 3 – Miese Maskerade
1. Sport ist Mord
2. Bullenreiten
3. Zoff
4. Foulspiel
5. Gehirnjogging
6. Rätselraten
7. Marathon
8. Bluff
9. Strip-Poker
10. Minesweeper
Sandra Baumgärtner
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Copyright © Februar 2023 by

MACHWERKE Verlag

Sandra Baumgärtner

C/o Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

[email protected]

www.machwerke-verlag.de

 

 

2. Auflage 2023

Buchsatz&Lektorat: Machwerke Verlag

Cover: Allan J. Stark

Umschlaggestaltung: Carina Klinkhammer

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.

 

 

 

Print: ISBN 978-3-947361-22-9

eBook: ISBN 978-3-947361-09-0

YLVA PAUER – Superheldin wider Willen

EPISODE 1 – Pompöse Provokation

1. Adam und Eva

 

Ylva kam langsam zu sich. Sie blinzelte ein paar Mal und sah an sich hinunter. Kein Wunder, dass Sie fror. Sie war nackt, nass und stand in einem zugigen Hinterhof, Gott weiß wo. Neben ihr lag auf einem Stapel Unrat eine alte, zerschlissene Decke. Sie zerrte sie herunter und hängte sie sich über. Immerhin war ihr jetzt nicht mehr so kalt.

Sie sah sich um. Keine Ahnung, wo genau sie gelandet war. Die Hausfassade, die hinter dem schmalen Durchgang zur Straße ausmachen konnte, kam ihr entfernt bekannt vor. Im Moment fiel ihr das Denken schwer. Ihre Beine gaben nach und sie lehnte sich erschöpft gegen die Hauswand. Hoffentlich kam niemand vorbei und entdeckte sie. Wie sollte sie ihren Zustand und ihr plötzliches Auftauchen erklären? Sie wusste ja selbst nicht, was passiert war, außer dass sie durch die Luft gewirbelt und hier ziemlich unsanft gestrandet war. Sie hatte sich gerade noch abfangen können, sonst wäre sie gegen den großen Müllbehälter geknallt.

Ylva bettete ihren dröhnenden Kopf auf die Arme und versuchte, sich zu erinnern. Was für ein Tag ist heute? Freitag? Ja, genau. Freitags ging sie immer zum Schwimmtraining ins Stadtbad. Dort hatte sich Bademeister Pedro, wie in letzter Zeit häufiger, über sie lustig gemacht. Dieser Idiot! Nur weil ich ihm eine Abfuhr verpasst habe und von Natur aus keine typisch weiblichen Accessoires mitbringe.

Die Tatsache, dass sie flach wie eine Lasagne-Platte war, bereitet Ylva selbst keine Probleme. Sie mochte sich so, wie sie war. Dass sie zudem mit 1,78 Zentimetern den meisten Männern auf Augenhöhe begegnete, war hilfreich. Größe und Flachbrüstigkeit waren ein adäquates Antidot zu ihren goldenen Augen und dem Schmollmund. Die meisten Männer standen jedoch mehr auf dicke Titten und nicht auf dicke Lippen. Aber die restlichen Kerle waren ohnehin eher nach Ylvas Geschmack.

Bademeister Pedro war von der ersten Kategorie. Er fühlte sich durch eine Abfuhr in seiner Mannesehre gekränkt und rächte sich auf eine recht kindische Art und Weise. Er stellte ihr nach und bombardierte sie mit Beleidigungen, um sein Ego aufzupolieren. So auch heute wieder.

Ylva zog die Decke enger um sich. Nach dem Training war sie zum Duschen gegangen. Sie hatte sich eingeseift. Dann war ihr Schaum in die Augen gelangt und sie hatte sie schließen müssen. Sie spürte den kalten Luftzug, der immer dann hereinwehte, wenn die Tür aufging, und dachte sich zunächst nichts dabei. Als sie sich das Shampoo aus den Haaren gespült hatte und die Augen öffnete, stand Pedro grinsend vor ihr. Reflexartig hatte sie mit einem Arm die nicht vorhandenen Brüste und mit der anderen Hand die Scham abgedeckt.

„Das hier ist die Damendusche, du Arsch!“, hatte sie sich beschwert. „Verschwinde gefälligst!“

Doch Pedro hatte laut gelacht und sich auf die Oberschenkel geschlagen. Er amüsierte sich ganz offensichtlich, während Ylva vor Wut schäumte. Ohne nachzudenken, hatte sie ihre Shampooflasche gegriffen und damit nach ihm geworfen. Gleichzeitig hatte sie sich weit weggewünscht. Weg von dem lästigen, eingebildeten Poolboy, der eine persönliche Niederlage offenbar nur durch Herabwürdigung anderer ertragen konnte.

Ylva hatte das Duschgel noch fliegen sehen. Sie hätte gerne auch noch miterlebt, wie Pedro vermutlich erschrocken zurückgesprungen, hoffentlich ausgerutscht und hart auf den Allerwertesten gelandet wäre. Nur leider war ihr ausgerechnet in diesem Moment schwindelig geworden. Sie war regelrecht im Kreis herumgewirbelt. Pedros entsetzten Schrei hatte sie noch gehört, doch ob er aus Schmerz oder wegen etwas anderem geschrien hatte, hatte sie nicht mehr erfahren. Da war lediglich ein dumpfes Rauschen und ein Übelkeit erregendes Wirbeln. Ylva hatte die Augen geschlossen, und als der Trubel endlich nachließ, hatte sie sich zu ihrer Verblüffung mit triefend nassen Haaren und nacktem Hintern in dem verwaisten Hinterhof wiedergefunden.

Wie, zur Hölle, hatte das passieren können? Man reiste nicht von einem Ort zum nächsten, ohne die Strecke dazwischen physisch zurückzulegen. Aber daran, dass sie gereist war, bestand kein Zweifel. Sie stand schließlich nicht mehr in der Dusche. In der Nähe schlugen die Glocken einer Kirche. Ylva kannte die Melodie. Es war das Geläut des Domes. Sie musste sich also irgendwo in Treverorum befinden. Es war dunkel, demnach also Abend. Blieb noch das Datum. Es konnte sich um jedes X-beliebige handeln. Als ein Auto vorbeifuhr, atmete sie auf. Es war weder ein Oldtimer noch ein futuristisches Vehikel. Es war einfach ein gewöhnliches Auto, wie es üblicherweise auf den Straßen fuhr. Also hatte sie keine Zeitreise unternommen. Nicht auszudenken, wenn sie in einer anderen Epoche gelandet wäre.

Was war vor dem Sport geschehen? Sie aß und trank generell wenig vor dem Training. Das Wasser, das sie immer an den Beckenrand stellte, und in das Pedro ihr eventuell etwas hätte hineinmischen können, hatte sie kein einziges Mal angerührt. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen. Abgesehen vom Strafzettel wegen Falschparkens ihres gemieteten Trever-O-Cars, den ihr eine bärbeißige Beamtin nicht hatte erlassen wollen. Wütend wischte Ylva ein paar Tränen fort, die über ihre Wangen rollten.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Die Stimme schreckte sie auf. Der Junge, der freundlich auf sie herunterblickte, war kaum älter als zwanzig, trug eine kleine, runde Brille und lächelte. Die Augen hinter den dicken Gläsern waren zwei schwarze Punkte. Der spärliche Bartwuchs vermochte die Pickelkraterlandschaft nur mäßig zu kaschieren, das Kinngrübchen hingegen war sehenswert.

Zumindest gafft er nicht lüstern. Ylva zog die Decke fester um ihren Körper. Ohne das notdürftige Kleidungsstück hätte sie sich ausgeliefert gefühlt. Doch der Typ schien keine Notiz von ihrer Nacktheit zu nehmen. Armer Kerl. Eigentlich hätte ihr das egal sein können. Ihr ging es selbst bescheiden genug. Was kümmerte sie da die Schwierigkeiten eines unreifen Bubis? „Hau ab!“, fauchte sie ihn an und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre harschen Worte. Sie verbarg den Kopf in der stinkigen Decke und hielt die Luft an. Wie viele Katzen und Hunde hatten darauf gepinkelt?

„Sie sehen so aus, als bräuchten Sie Hilfe.“ Er ging neben ihr in die Hocke und legte die Plastiktüte ab, die er bei sich hatte.

„Hast du nicht gehört? Geh einfach. Lass mich alleine, okay? Ich brauche keine Hilfe.“

Er ließ sich nicht beirren. „Nein!“, sagte er bestimmt. „Also, ja. Ich habe Sie wohl gehört, aber ich gehe nicht weg.“

Ziemlich couragiert für sein Alter. Ylva schielte unter ihrem Arm hervor. Der Junge lächelte immer noch.

„Ich sehe doch, dass es Ihnen nicht gut geht. Und eine Frau, die hier in der übelsten Ecke von Treverorum in einem Hinterhof sitzt und weint, der kann es nicht gut gehen.“

Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sie nicht als sitzende, weinende und nackte Frau bezeichnet hatte. „Ich heule nicht“, log sie. „Kümmere dich um deinen Kram, ja?“

Der Junge nickte lediglich und reichte ihr ein Tuch. Ylva rieb es ungläubig zwischen den Fingern. Solch ein Stoffding hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr zu sehen bekommen. Es war eines jener altmodischen Accessoires, die man als Kind von der Großmutter überreicht bekam. Schön nass mit Spucke angefeuchtet, um den schokoladenverschmierten Mund abzuwischen. Oder um den angetrockneten, dunklen Popel abzukratzen. Igitt! Zum Glück war dieses weiße Taschentuch sauber. Es war am Rand hübsch umhäkelt und hatte sogar ein Monogramm eingestickt. Als sie sich damit die Tränen abwischte, roch es weder muffig, noch nach alter Frau, sondern nach Lavendel. Ylva warf dem Jüngling einen schnellen Blick zu. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und blinzelte durch seine dicken Brillengläser hindurch, was ihn wie ein süßes, unschuldiges Lama aussehen ließ. Ylvas Laune besserte sich ein wenig.

„Danke“, sagte sie und zögerte, ihm das Tuch zurückzugeben.

„Behalten Sie es“, meinte er. „Ich brauche es nicht mehr. Ich habe genügend davon.“ Verlegen drehte er eine Schuhspitze im Sand. „Sind alle von meiner Oma Berta. Zugegeben, sie sind ein bisschen spießig, ich weiß. Aber dafür ökologisch sinnvoll.“

Berta. Dafür stand also das B. Blieb noch das K.

„Wenn man die Ökobilanz mit einer Schweißerbrille anschaut, vielleicht“, spottete sie und bemerkte zu spät, dass sie besser keine Anspielung auf eine Brille gemacht hätte. Der Jüngling zuckte gekränkt zusammen.

„Trotzdem danke.“ Sie schnäuzte sich geräuschvoll die Nase und legte das Tuch neben sich.

„Sie ist vor fünf Jahren gestorben“, erklärte er leise. „Sie hatte nicht weit von hier einen Unfall. Drüben, an der Römerbrücke.“

Jetzt konnte sich Ylva ungefähr vorstellen, wo sie sich befand.

„Sie war an dem Tag auf dem Weg zur Bank und hat ihr Geld für die Woche abgehoben“, redete er weiter. „Auf dem Weg nach Hause wurde sie von einem Motorrad angefahren und starb. Sie erlag noch am Unfallort ihrem schweren Trauma. Knochenbrüchen, innere Blutungen und das alles. Das sagten zumindest die Ärzte nach der Obduktion.“

„Das tut mir leid“, murmelte Ylva betreten. „Man hat den Unfallverursacher doch hoffentlich gefasst?“

„Schon. Es gab auch einen riesigen Prozess. Aber der Typ war ein Mitglied der Hocker Bande.“

Ylva horchte auf. „Ein Rocker vom Hocker?“

„Ja. Der einzige Zeuge, der den Überfall auf der Römerbrücke mitbekommen hatte, sagte anfangs, er habe einen mit rot-schwarzem Lederanzug gekleideten Motorradfahrer gesehen. Im Laufe der Verhandlung wurde daraus eine Weste mit dem Emblem der Hockerrocker. Am Ende hat er seine Aussage dann ganz zurückgezogen.“

„Weil er erpresst wurde.“ Sie nickte. Das war die gängige Methode der berühmt-berüchtigten Bande. Einschüchterung, Erpressung und Mord. Es gab nichts, wovor sie zurückschreckten. Am wenigstens vor der Gerichtsbarkeit.

Über ihre Köpfe donnerte blinkend ein Volarikopter hinweg. Der Junge wartete, bis das Dröhnen verklungen war, erst dann ging er vor ihr in die Hocke und reichte ihr eine Hand.

„Ich bin übrigens Kay Kaymann. Ja, ich weiß, komischer Name. Aber ich kann nichts dafür. Meine Eltern fanden es total witzig.“

Sie schlug ein, achtete aber tunlichst darauf, mit der linken Hand nicht die Decke loszulassen. „Ylva Pauer.“

„Ylva? Wie Ylva, die Wölfin?“, fragte er und macht große Augen.

„Exakt die.“ Sie seufzte, freute sich aber, dass er von ihrem ungewöhnlichen Namen mehr beeindruckt, denn belustigt war. Andererseits: Wer Kay Kaymann hieß, hatte in der Schule auch nichts zu lachen gehabt. Noch nicht einmal dann, wenn man wie ein Lama aussah. Ein ziemlich niedliches Lama mit hervorstehendem Adamsapfel.

„Bloß haben nicht meine Eltern den Namen ausgesucht, sondern ich mir“, sagte sie. „Ich heiße eigentlich Ylona Vanessa Pauer, aber mir gefällt die Abkürzung der beiden Vornamen viel besser.“

Und außerdem hatte Darren Mahlzahn damals in der Zwölften gelästert, Ylona Vanessa klänge nach einer Prostituierten.

„Ach so.“ Er wirkte enttäuscht.

„Aber mit der Wölfin stimmt trotzdem“, verriet sie ihm aus einem, ihr selbst unerfindlichen Grund. Irgendwie vertraute sie diesem putzigen Lama. Sie zog die Decke zur Seite und legte die linke Schulter frei.

Kay stupste mit dem Mittelfinger seine Brille zurecht und kam näher heran. „Krass“, sagte er. „Ein Wolfskopf. Der sieht voll echt aus. Hast du … ähm, haben Sie …“, verbesserte er sich sofort und ging wieder auf Abstand.

„Ja, habe ich“, lachte Ylva, weil sie die Frage schon x-mal gehört hatte. „Das Tattoo zieht sich über meinen gesamten Körper. Der Wolf umarmt mich quasi von hinten.“

Kay grinste. „Witzig! Das hat Ramses auch immer gemacht, wenn ich zu Oma kam. Als ich klein war, hat er mich immer umgerannt. Später, als ich gewachsen war, begnügte er sich dann damit, mir seine Pranken auf die Schultern zu legen und mir an meinem Ohr zu kauen. Der gute Ramses.“ Er blickte in die Ferne.

„Hört sich … nett an. Ramses.“

„Eine Deutsche Dogge“, erklärte er. „Ein riesiges Vieh, aber lammfromm. Ramses nahm selbst vor Katzen Reißaus. Er liebte es, Socken herumzuschleppen und sie im Garten zu vergraben. Einmal hatte Oma sogar Streit mit Opa angefangen, weil von ihren teuren, halterlosen Seidenstrümpfen bloß noch einer im Schrank lag. Sie hat Opa sogar mit Rauswurf gedroht, wenn er nicht augenblicklich ihren Strumpf rausrücken würde. Und ich setzte einen drauf und vermutete, dass Opa eine Bank überfallen und sich den Strumpf als Maske über den Kopf ziehen wollte. Dann fiel mir aber ein, dass Opa den Strumpf bestimmt nicht übergezogen hätte, weil er doch nach Käsefüßen stank. Meine Großeltern haben sich kaputtgelacht. Opa wurde letztendlich nicht rausgeworfen. Ramses lief vor unseren Augen mit besagtem Strumpf im Maul vorbei in den Garten. Dort buddelte er in aller Seelenruhe im Gemüsebeet ein Loch, warf seinen Fund hinein und scharrte das Loch wieder zu.“ Erst jetzt sah er Ylvas konsternierten Blick. Er klappte den Mund zu und räusperte sich. Sein Pickelgesicht lief knallrot an. Hastig stand er auf und griff dabei nach seiner Plastiktüte. „Ja, äh … so war das damals mit Ramses.“

Ylva erhob sich ebenfalls. „Was ist aus ihm geworden?“, fragte sie, um die Situation zu retten. „Ramses, meine ich. Nicht den Seidenstrumpf.“

„Der ist, wie auch das Corpus Delicti, längst verrottet. Ramses ist schon vor Ewigkeiten gestorben. Hat sich ironischerweise an einer Socke verschluckt und ist erstickt.“

Trotz der Tragik konnte sie sich nicht zurückhalten, zu kichern. „Das ist schade“, sagte sie mühsam beherrscht und hoffte, es klang einigermaßen traurig.

Zwei Typen liefen an der Ausfahrt des Hofes vorbei und palaverten lautstark über ein verlorenes Basketballspiel der Treverer Plagiators. Ylva ging in Deckung und hielt den Atem an. Auch Kay wich in den Schatten der Hauswand zurück. Selbst im funzeligen Licht, das eine Straßenlaterne in den Innenhof warf, hätte man sie mühelos entdecken können.

„Ich fasse es aber immer noch nicht“, motzte einer der Männer im Vorbeigehen. „Knallt der Sprank den Ball noch in der letzten Sekunde ins Sieb. Scheiß Pasta Wechda!“

„Und dann noch der Slogan: Pasta e basta. Voll assi. Also echt assisi-assig“, bestätigte der andere und blieb plötzlich stehen. „Du, warte mal Finn“, sagte er und kam direkt auf Ylva und Kay zu. „Ich glaube, da hinten war was!“

2. Maffiamatten

 

Er kam näher und schaute sich zwischen den geparkten Autos um. „Ich hab´s doch genau gesehen …“

„Mensch, Didi, mach schon.“

„Moment noch.“ Der Typ war ein Auto vor Ylva und Kays Versteck angekommen und blieb zwischen einem BMW und einem Cabriolet stehen.

„Hab´s gefunden“, rief er seinem Kumpel zu. Es ratschte, als er den Reißverschluss seiner Hose öffnete. Es folgte ein Plätschern und ein erleichtertes Ächzen. Der Reißverschluss rasselte erneut und der Typ verließ den Hof, ohne zurückzusehen.

Ylva wartete, bis er mit seinem Kumpel verschwunden war, und atmete erleichtert auf.

„So ein Ferkel!“, mokierte sich Kay angewidert. „Hat einfach gegen den Türgriff des Autos gepinkelt.“

„Du hast nicht zufällig Klamotten dabei, die du mir leihen könntest?“, fragte Ylva ungerührt.

Noch mal würde ein Besuch nicht so glimpflich abgehen, davon war sie überzeugt. Jede Sekunde konnte jemand aus dem Haus kommen und den Müll runtertragen oder ein streunender Hund sie anbellen. Spätestens dann würde man sie entdecken. Sie schätze Kays Größe ab. Er war annähernd so groß wie sie. Es war natürlich Blödsinn zu glauben, dass er mehr Kleider mit sich hatte, außer denjenigen, die er trug. Aber man konnte ja nie wissen, was er in der Tüte hatte, die er in der Hand hielt. Die Aussicht, mit einem lumpigen Deckenponcho bekleidet durch die Stadt zu laufen, war Ylva weitaus unangenehmer, als ihn um Hose und Shirt anzubetteln.

„Zufällig nicht, nein“, antwortete er. „Da ist bloß Müll drin. Aber ich wohne in der Nähe. Wenn du magst, kann ich dir … ich meine, kann ich Ihnen gerne etwas zum Anziehen leihen. Ich habe aber bloß Jeans und knitterige T-Shirts. Was für eine Schuhgröße hast du … äh, Sie?“ Er sah auf ihre Füße. Wieder wunderte sich Ylva, warum er nicht fragte, wieso sie nackt war.

„40 und sag bitte Du, okay?“

„Du, ich habe auch noch ein paar Turnschuhe für dich, wenn du magst.“ Er grinste und schob seine Brille hoch.

„Das wäre prima. Danke!“

„Dann komm.“ Er deutete zum Ausgang des Hinterhofs. „Es ist nicht weit.“

„Was hast du überhaupt hier zu suchen?“, fragte Ylva, als sie in die Kaiserstraße abbogen. „Hast du in den Mülltonnen nach Pfandflaschen gegraben, oder was?“ Sie deutete auf seine Tüte.

„Heute jährt sich Omas Todestag“, antwortet er. „Ich gehe dann immer an den Ort, an dem sie verunglückt ist.“

„Du pilgerst jedes Jahr an diesem Tag zur Römerbrücke und hältst Andacht?“

Er nickte. „Und ich lege ihr Blumen hin. Weiße Nelken. Die mochte sie besonders gerne. Natürlich räume ich dann auch den Müll dort weg, der sich ansammelt. Du glaubst gar nicht, wie viel Dreck da rumfliegt.“

So jung und schon so ernst. Der Junge war ausgesprochen nett, höflich und hilfsbereit. Seine Einstellung beeindruckte Ylva.

„Das ist sehr lieb von dir“, meinte sie. „Bestimmt freut sie sich darüber.“

Kay lachte nicht. „Ja, ich denke auch. Da lang.“ Er zeigte nach rechts. Sie überquerten die Hauptverkehrsader der Stadt und liefen den Grünstreifen entlang, der zwischen den zwei Fahrbahnen verlief. Egal, wohin man sah, überall häufte sich Unrat, Hinterlassenschaften von Hunden und leere Bierflaschen. Die wenigen Mülleimer quollen über, die über den Bänken schwebenden Werbetafeln waren vermoost und starrten vor Dreck.

„Wo wohnst du eigentlich?“, fragte Kay und umging einen breitgetretenen Haufen. „Wenn die Stadt wenigstens die Demonstratoren sauber halten könnte, dann wäre es hier nicht so verflixt dunkel.“ Er nickte zu einer besonders schmutzigen Tafel, deren flackerndes Bild nicht mehr zu erkennen war. Ylva hasste diese riesigen Werbebildschirme, die überall in der Stadt die Lockbotschaften der finanzstarken Industrie anpriesen. Es gab kaum einen Platz, der nicht mit diesen Dingern verschandelt wurde.

Hinter ihnen kamen andere nächtliche Spaziergänger heran.

„Ich wohne im Gartenviertel“, antwortete Ylva und drehte sich kurz um.

Das Pärchen hinter ihnen schloss auf, schien aber keine Eile zu haben und blieb sogar stehen. Der Demonstrator über einer Parkbank in der Nähe beleuchtete das Paar kaum. Anhand der Silhouette glaubte Ylva jedoch, einen Mann und eine Frau auszumachen. Beide trugen lange Mäntel und Hüte.

„Komm“, sagte sie zu Kay, nahm ihn am Arm und zog ihn weiter. „Machen wir ein bisschen schneller.“

Kaum legten sie einen Zahn zu, rückte das Pärchen nach. Als Ylva zurückblickte, hatten die beiden aufgeholt. Sie blieb stehen und wandte sich demonstrativ zu ihnen um.

„Was hast du?“, wollte Kay wissen und drehte sich ebenfalls um.

Langsam schlenderte das Paar auf sie zu. Ylva gefiel die Situation ganz und gar nicht. Mit den beiden stimmte etwas nicht. Es war die Art, wie sie auf sie zukamen. Das war nicht beiläufig, wie es Spaziergänger sonst getan hätten. Die Zwei handelten zielgerichtet. Die Frau hob die Hände in die Höhe. Ihre Fingerkuppen blitzten blau und verliehen ihren Händen ein seltsam, technisches Aussehen. Im Licht, das sie aussandten, leuchtete das Gesicht der Frau für Sekundenbruchteile auf. Dann schoss ein greller Strahl aus ihren Händen heraus und direkt auf Ylva und Kay zu.

„Runter!“, schrie Ylva, warf sich zu Boden und zerrte Kay mit sich.

Mit einem gemeinen Zischen pfiff der Lichtpfeil um Haaresbreite über sie hinweg und explodierte an einem Baum. Als Ylva aufsah, konnte sie außer den Umrissen der Angreifer nichts erkennen. Beide hatten sich ins Dunkel der Bäume zurückgezogen. Man konnte nicht ausmachen, ob sie sich für eine weitere Attacke vorbereiteten und Ylva hatte auch keine Lust, eine neue abzuwarten. Sie erhob sich und half Kay auf die Füße. Sie rannten, so schnell es ging quer durch die Büsche und stolperten direkt auf die Hauptstraße vor einen heranrasenden Lkw. In letzter Sekunde wichen sie dem laut hupenden Koloss aus und erreichten die andere Straßenseite. Dort huschten sie in eine Einfahrt und suchten hinter einer Hecke Deckung.

„Was war das denn?“, fragte Kay völlig außer Atem.

„Pst!“, wies sie ihn zurecht und linste vorsichtig zwischen dem Geäst zum Grünstreifen hinüber. Sie konnte niemanden entdecken, aber das mochte nichts heißen. Die beiden konnten immer noch unter dem Baum stehen.

„Ich habe keine Ahnung, wer sie waren und was sie wollten“, flüsterte sie. „Ich weiß bloß, dass diese komische Lady mit den blauen Laserfingern uns ans Leder wollte.“

Kays Stimme zitterte, als er zurück wisperte: „Vielleicht waren es Leute von Hocker, die mir eins auswischen wollen, weil ich sie damals angezeigt habe.“

Ylva schüttelte den Kopf. Sie hatte den feindseligen Ausdruck im Gesicht der Lady noch allzu deutlich vor Augen. Sie glaubte nicht, dass Kays Rechtsstreit mit den Rockern etwas mit diesem Anschlag zu tun hatte. Die Laserlady hatte lediglich auf Ylva gezielt und Kay links liegen gelassen, obwohl der sich in der direkten Schusslinie befunden hatte. Blieb die Frage, warum. Was hatte Ylva getan, das die Beiden dazu gebracht hatte, sie unter Beschuss zu nehmen?

 

Sie warteten noch ein wenig. Als sich auch nach fünf weiteren Minuten nichts rührte, verließen sie die Einfahrt, liefen aber stets an der Häuserfront entlang und nutzten die Deckung der geparkten Autos. Sie kamen unbehelligt bei Kays Wohnung an.

„Hier sind wir.“ Kay schloss die Tür eines riesigen Ziegelbaus auf.

Sie betraten einen großen Flur. Die unverputzten Wände waren mit zerfledderten Postern und jeder Menge Tags versehen. Kay schloss eine ramponierte Stahltür auf, die mit einem bunten Graffiti verziert war. Ylva gefiel der plastisch dargestellte Totenschädel ausgesprochen gut. Die Sprühbilder, die man sonst in der Stadt sah, waren dagegen Schmierereien.

„Willkommen in meinem Loft“, sagte er und gab den Durchgang frei.

Ylva trat ein. „Oha!“, staunte sie.

Sie standen in einer riesigen Halle, die das Ausmaß eines Tennisfeldes hatte. Es roch leicht nach Farbe und Motoröl. Der Geruch war dennoch nicht unangenehm. Blanke Betonstützen teilten den hohen Raum ein. In einer Ecke erhob sich eine Empore zu einer Art zweiten Stock. Alle Wände waren, bis auf eine einzige, unverputzt. Abgesehen von schmalen Oberlichtern im Dach gab es keine Fenster oder Türen. Es gab lediglich ein riesiges Tor, das vermutlich in den Hinterhof führte. Vor dem Rolltor stand ein uralter, eingestaubter Karren.

„Magst du etwas trinken? Ich habe Kraftbräu kalt stehen“, sagte Kay und warf seine Schlüssel an eine Stahltafel neben der Tür. Der Bund blieb einfach daran hängen.

„Was zum Anziehen wäre nicht schlecht“, meinte Ylva und wackelte mit ihrem Behelfsponcho. „Das Bier nehme ich danach sehr gerne.“

„Ach ja. Hatte ich ganz vergessen.“ Kay stieg die Wendeltreppe hinauf, die auf die Empore führt.

Währenddessen sah sich Ylva weiter um. Eine offene Küche mit Küchenblock und Tresen, ein paar Regale, die zu einem Büroeck gehörten und ein Arrangement mit Sofa, Sessel und Tisch.

Kay kehrte kurz darauf mit ein paar Sachen auf dem Arm zurück. „Da drüben ist das Bad“, sagte er und deutete in Richtung Treppe. Unterhalb davon waren zwei Türen. „Die linke Tür.“ Er übergab Ylva den Kleiderstapel. „Ich hole schon mal das Bier. Hast du auch Hunger?“

„Ja“, stellte sie überrascht fest. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?

„Backofenpizza?“

„Egal was, Hauptsache genießbar.“

Alles, bloß kein Rucola! Sie hasste nichts mehr als dieses bittere Kaninchenfutter.

Sie ging auf die Türen zu und zögerte. Links? Wo war gleich noch mal links? Links ist da, wo der Daumen rechts ist, zitierte sie den Rat eines ehemaligen Lehrers. Dass man, selbst wenn man die Pauker von damals hasste, solche doofen Sprüche nie vergessen konnte!

Sie seufzte, öffnete eine der Türen und stand vor einer Rumpelkammer, in der Staubsauger, Besen und Eimer untergebracht waren. Ylva schloss die Tür wieder. Erleichtert stellte sie fest, dass Kay von ihrer falschen Wahl nichts mitbekommen hatte. Das Bad war, bemessen an Ylvas Klodusche zu Hause, groß. Sie zog sich aus und stellte sich in die Dusche. Gleich darauf rieselte ein herrlich heißer Regenguss aus der Decke auf sie hinunter. Als sie das Waschgel von Kay zur Hand nahm, kam ihr eine Idee. Im Schwimmbad hatte sie auch unter der Dusche gestanden, als es passiert war. Ob es hier ebenfalls funktionierte?

Sie schloss die Augen und versuchte, sich die Situation noch einmal ganz genau ins Gedächtnis zu rufen. Sie fühlte die Wassertropfen, die auf ihre Schultern klatschen, hörte das Plätschern, roch den Duft der Seife und … fühlte Wasser, hörte es plätschern und roch Seife. Kein Wirbeln, kein Schwindel, kein plötzlicher Ortswechsel. Eine einfache, alltägliche Waschaktion. Probehalber warf sie die Flasche mit dem Duschgel aus der Kabine. Das Plastikding knallte zu Boden, sonst passierte nichts. Tropfnass stieg sie aus der Dusche und schnappte sich die Flasche.

Bescheuert, dachte sie grimmig. Ich bin doch nicht auf der Enterprise. Als könnte ich mich von hier raus in die Küche beamen.

Im nächsten Moment wirbelten die Fliesen um sie herum und ihr Magen zog sich in bekannter Manier zusammen.

Ein paar Minuten später kam sie leicht benebelt, aber frisch geduscht und angezogen aus dem Bad. Im Loft roch es nach verbrannter Pizza. Leise Musik erfüllte den Raum. Kay richtete gerade Teller auf dem Küchentresen an.

„Pass auf, dass du nicht ausrutschst“, warnte er. „Da, wo du stehst, ist der Boden nass. Das Dach ist wohl undicht.“ Er nickte nach oben. „Seltsam ist bloß: Es hat in den letzten Tagen gar nicht geregnet.“

„War vielleicht eine Katze, die da hingepinkelt hat.“ Ylva wendete sich schnell ab.

„Ich habe keine Katze. Wie sollte eine Fremde hier reingekommen sein?“

„Weiß ich doch nicht.“ Sie ließ ihn stehen und begutachtete das Graffiti, das die Stirnwand des Raumes dominierte. „Das sieht klasse aus. Hast du das gemacht?“ Sie war ehrlich beeindruckt und nahm eine besonders hübsche Darstellung genauer unter die Lupe.

„Nah!“, murrte er. „Ich bin kein Aerosol-Junkie, aber ich habe einen Kumpel, der es echt drauf hat.“

„Das sieht man.“

Ein Totenschädel grinste sie an, streckte eine verrottete Zunge heraus. Aus der aufgeklappten Schädelkalotte, an der noch Haare und mumifizierte Hautfetzen herabhingen, sprangen mathematische Formeln und Zeichen hervor. Ylva kannte lediglich Bruchteile davon. Über dem kunstvoll gesprühten Bild stand in blockartigen Lettern: Alles ist relativ!

„Soll das Albert Einstein sein?“, fragte sie.

„Wohl eher eine Parodie darauf.“ Kay stellte zwei Bierflaschen auf den Tresen. „Eigentlich ist es gar nicht gesichert, dass der Spruch tatsächlich von Einstein stammt. Genauso wie seine Erklärung für Relativität. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Mann schon lange tot ist und als Mumie posiert, passt der Spruch ganz gut.“ Er trank einen kräftigen Schluck und rülpste leise. „Ich muss die ganze Zeit an diese komische Frau und ihren Begleiter denken. Es war eine blöde Idee zu glauben, es seien Hockers Leute gewesen. Wenn die mir eines auswischen wollten, würden sie doch nicht Jahre damit warten, oder?“

„Man weiß nie, was solchen kranken Typen durch den Kopf geistert“, meinte Ylva. „Aber sie hatte nicht unbedingt dich im Visier, Kay. Mir kam es eher so vor, als wolle die Laserlady mich treffen, dabei kenne ich sie und ihren Begleiter nicht. Ich habe die Beiden noch nie in Treverorum gesehen. Wobei man in der Dunkelheit auch nicht viel erkennen konnte.“

„Hattest du in letzter Zeit mit jemandem Ärger? Jemandem, der jemand anderen auf dich ansetzt?“

Seine Ehrlichkeit war rührend. In seiner Frage lag Neugierde und Besorgnis. Ylva fühlte sich ungewohnt umsorgt. Sie hatte noch nie einen Beschützer gehabt, geschweige denn einen gewollt.

Und jetzt habe ich ausgerechnet einen pickeligen Jungspund als Aufpasser, dachte sie verwundert. Dabei hätte es gut andersherum sein können. Er war der Welpe und sie der alte Hase. „Ich hatte in letzter Zeit mit niemandem Streit.“ Das war ein wenig gelogen, aber sie wollte nicht von ihrem Möchtegern-Exfreund Kristian anfangen. Wobei sie niemals einem Mann nach einer einzigen gemeinsam verbrachten Nacht den Titel Ex verlieh. Kristian hingegen hatte sich dank seiner fehlgeleiteten Selbstwahrnehmung als solcher verstanden. Nach seiner dezidierten Entlassung in die Realität hatte er sie aufs Übelste beschimpft und die beleidigte Leberwurst gemimt. Dass er sie deshalb aber gleich aus dem Weg räumen wollte, bezweifelte sie sehr.

Kay sah sie lange an.

Wie ein flauschiges Lama, dachte sie wieder und grinste.

Er lächelte schüchtern zurück und rückte seine Brille zurecht. „Was könnte denn die Motivation dieser Laserlady sein? Ich finde, das sah nicht nach zufälligem Kampf aus, auch wenn sie auf dich gezielt hat. Der Angriff war geplant, da steckte Absicht dahinter.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann diese Annahme freilich an nichts Konkretem festmachen. Es ist bloß so ein Gefühl“, entschuldigte er sich verlegen.

Ylva nickte. „Aber du hast recht. Das denke ich auch.“

Er bestätigte ihre Vermutung. Und es rührte sie, dass er von Wir gesprochen hatte und sich nicht ausnahm. Sie hätte einen Rückzug von ihm sehr gut nachvollziehen können. Immerhin waren sie keine Freunde. Sie kannten sie sich erst seit einer Stunde.

Es piepste ein paar Mal laut. „Pizza ist fertig“, sagte er und ließ sie am Tresen sitzen.

Er kümmerte sich um das Essen, während Ylva ihm dabei zusah, wie er das Essen aus dem Ofen nahm, auf Teller legte und ihr einen davon reichte.

„Kein Rucola“, stellte sie erleichtert fest, als sie den verbrannten Teigfladen musterte.

Kay nickte. „Leider nein. Der würde im Ofen schließlich verbrennen. Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob dir die Klamotten überhaupt passen.“ Er schnitt seine Pizza in winzige Stücke. „Ist übrigens eine vegetarische Bio-Pizza. Ich hoffe, das ist okay? Ich habe vor Kurzem allen tierischen Leichenteilen abgeschworen und bin unter die Vegetarier gegangen.“

„Alles bestens“, log Ylva. „Sowohl die Sachen, als auch das Essen.“

Sie seufzte, schnitt ein Stück ab und aß. Wie befürchtet schmeckte der harte Fladen wie alter Schuhkarton. Nach ein paar weiteren Bissen wurde ihr klar: Es musste ein alter Schuhkarton gewesen sein. Mit einer Mäusefamilie darin. Vermutlich sogar ganze Generationen von Mäusen. Nicht, dass sie eine Ahnung hatte, wie so etwas schmeckte. Sie wollte auch gar nicht wissen, wie so etwas schmeckte. Aber sie konnte es sich jetzt, nach dem Verzehr dieser Pizza, sehr gut vorstellen.

„Das ist meine Lieblingssorte“, erklärte Kay mit vollem Mund und lächelte zufrieden. Wenn er kaute, bewegte sich seine Brille auf der Nase lustig auf und nieder. Von Zeit zu Zeit schob er sie hoch.

Ylva schluckte die Pampe hinunter und spülte mit einem ordentlichen Schluck Bier nach.

„Wohnst du schon lange in Treverorum?“, fragte sie zwischen zwei Bissen.

„Ich wurde hier geboren“, antwortete er. „Meine Mutter ist früh gestorben. Meine Oma war quasi mein Mutterersatz. Auch und gerade erst recht als Vater gestorben ist.“

Ylva konzentrierte sich verlegen auf ihre Pizza, doch Kay schien es nichts auszumachen, sich über solch persönliche Angelegenheiten zu unterhalten.

„Ich war noch nie wo anders. Also, abgesehen von kurzen Urlauben. Es gibt ja auch keinen Grund dafür, wegzugehen. Treverorum bietet Alles, was man braucht.“

Da war Ylva zwar anderer Meinung, doch sie hielt den Mund. Der war ohnehin mit staubtrockener Pizza voll. Sie kippte die Pappe mit dem letzten Rest Bier hinunter. Später würde sie sich zu Hause ein ordentliches Leichenteil in die Pfanne hauen und es lediglich drei Minuten braten, damit es schön saftig-blutig und mürbe blieb. Dazu Knoblauchbutter und ein Glas Whisky. Das war Essen nach ihrem Geschmack.

Von diesen italienischen Maffiamatten wird man einfach nicht satt. Sie war froh, als sie endlich fertig war. Der verkohle Rand lag fein säuberlich als Scheiterhäufchen am Tellerrand.

„Noch ein Bier?“, fragte Kay höflich.

„Um ehrlich zu sein, wäre mir etwas Kräftigeres lieber.“ Die Pizza lag ihr jetzt schon wie ein Kleinwagen im Magen. „Ein Whisky, wenn du hast?“

„Ich habe etwas viel Besseres.“ Er grinste, stand auf und holte eine unetikettierte Flasche aus einem Schrank. Es folgten zwei kleine Gläser, in die er die klare Flüssigkeit einschenkte.

„Was ist das?“ Ylva beäugte den schlierigen Inhalt ihres Glases kritisch und roch daran. Eine angenehme Mischung aus Früchten, Zimt und Vanille schlug ihr entgegen.

„Selbstgebranntes von meinem Kumpel aus Hansehaven. Er nennt es seinen bärbeißigen Höllenhund“ Er prostete ihr zu. „Gut zum Verdauen.“

„Na, dann. Prost!“

Etwas zum Verdauen, genau das brauchte sie jetzt. Noch bevor Kay etwas erwidern konnte, kippte sie den Alkohol hinunter und knallte das leere Glas auf den Tresen.

„Schmeckt gut. Aber einer reicht nicht. Ich brauche noch einen.“ Sie schenkte sich gleich die doppelte Menge ein. Ihr Frust über das Essen wollte ertränkt werden. Kay stoppte mitten in der Bewegung und starrte sie mit offenem Mund an, wie sie das Glas erneut ansetzte und in einem Zug leerte. Die Prozedur veranstaltete sie noch zweimal.

„Ich darf doch, oder?“, fragte Ylva beim vierten Einschenken. Noch einen, und das Bauchgrimmen wäre verschwunden. „Echt lecker, das Zeug. Schmeckt wie flüssiges Weihnachtsplätzchen. Ups …“ Ein wenig Flüssigkeit war daneben gegangen. Das Glas wackelte in ihrer Hand, als sie trank.

„Ähm, Ylva?“ Kay musterte sie besorgt. „Mehr solltest du jetzt aber wirklich nicht davon trinken.“

Er hatte womöglich recht. Ylva spürte, wie sich der Alkohol in ihren Adern ausbreitete. Er floss wärmend durch sie hindurch, verwandelte das unangenehme Ziehen in der Magengegend zu einem wohligen Gefühl. Sie lachte zufrieden. „Aber nur vorerst“, meinte sie. Ihre Zunge wollte ihr nicht recht gehorchen. Himmel, das Zeug war wirklich kräftig.

Sie half Kay, die Teller wegzuräumen, und setzte sich dann leicht benebelt zurück an den Tresen. Ihr Kopf war noch schwerer als ihre Füße. Sie stützte das Kinn auf den Händen ab und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Darf ich dich was fragen?“, riss Kays Stimme sie aus dem Dämmerzustand. Er saß vor ihr und sah sie an.

„Klar.“ Sie fühlte sich vom Alkohol ganz warm und entspannt. Sie war gut für die Frage gerüstet, die irgendwann hatte kommen müssen. Und sie kam auch prompt.

„Wieso hast du nackt im Hinterhof gesessen? Du bist doch nicht so spazieren gegangen, oder? Hat dich dein Freund vor die Tür gesetzt?“ Er stupste seine Brille zurecht. „Oder hattest du einen im Tee?“

„Hey, Vorsicht!“ Ylva kicherte und verzieh ihm die Anmerkung, sie wäre betrunken gewesen. „Vorhin war ich noch nüchtern. Echt! Und eigentlich vertrage ich einiges an Alkohol.“ Sie seufzte und ließ den gewichtigen Kopf hängen. Er war aber auch viel zu schwer. „Ich weiß selbst nicht, wie ich dorthin gekommen bin.“

Sie war froh, nicht lügen zu müssen. Das hätte Kay nicht verdient. Wie sie von jetzt auf gleich vom Schwimmbad in den Hinterhof gelangt war, war ihr tatsächlich ein Rätsel. Nicht jedoch, warum sie nackt gewesen war. In einer Dusche war man schließlich für gewöhnlich unbekleidet.

„Verstehe ich nicht“, sagte er.

„Ich auch nicht.“

Sie starrten eine Weile nachdenklich auf den Tisch.

„Ach, was soll´s“, sagte Ylva schließlich. Egal wie hirnrissig es für ihn klingen musste, sie war dem süßen Lama einfach eine Erklärung schuldig. „Gib mir noch ein Glas von diesem Zeugs“, verlangte sie.

Kay schüttelte vehement den Kopf.

„Bitte!“ Sie versuchte den süßen Lama-Blick zu imitieren, und hatte Erfolg. Kay bediente sie mit einem skeptischen Blick.

„Das ist die letzte Runde!“, kündigte er an.

Ylva genoss den wärmenden Guss im Rachen, schmatze ein paar Mal genüsslich und seufzte dann. „Okay, pass auf, ich erzähle es dir“, kündigte sie an. „Aber halt mich bloß nicht für verrückt, ja?“

Kay schob sich die Brille zurück auf die Nase und nickte zum Sofa hinüber. „Sollen wir es uns dazu nicht lieber bequem machen?“, fragte er.

„Gute Idee.“ Sie versuchte aufzustehen und war plötzlich anderer Meinung. Sie schwankte, hielt sich an der Tresenkante fest und rutschte zurück auf den Barhocker.

„Komm“, sagte Kay und hakte sie fürsorglich unter.

Unter normalen Umständen hätte Ylva ihn dafür gehasst. Aber heute gab es keine normalen Umstände. Also ließ sie ihn gewähren und sich wie eine alte Frau zum Sofa führen. Dort fiel sie tief in die Kissen und stöhnte.

„Gewöhnlich vertrage ich mehr“, wiederholte sie und hoffte, er würde ihr Gelalle verstehen.

„Der Schnaps ist nicht gewöhnlich“, meinte Kay entschuldigend. „Ich hätte dich vielleicht vorher warnen sollen.“ Er musterte sie besorgt.

„Alles gut!“, versicherte sie und sah ihre Hand selbsttätig durch die Luft wischen. Ja, sie war betrunken und lallte ein wenig. Furchtbar peinlich, aber auch egal. „Das war heute definitiv ein bisschen zu viel Trubel für eine einzige Frau.“ Sie schniefte.

Dusselig. Wenn ich betrunken bin, werde ich immer so gefühlsduselig.

Er fuhr ihr kurz mitfühlend über den Oberarm und setzte sich neben sie. „Also, wenn du nicht darüber reden willst, dann …“

Ein Rappeln an der Eingangstür unterbrach ihn. Überrascht fuhr er herum.

Ylvas Augen brauchten ein paar Sekunden zusätzlich, um die Situation einzuschätzen. Die Tür schwang auf und knallte mit lautem Donnern gegen die Wand. Eine blaue Spitze kam in Sicht.

„Scheiße!“, fluchte Ylva und sprang alarmiert auf. „Die Laserlady!“

3. Der La-Kay

 

Das heißt, sie wollte aufspringen, kam aber nicht aus dem Sofa heraus. Ihre Beine versagten den Dienst. Der Boden war viel zu nachgiebig. Unmöglich, auf dem Schwamm vernünftig Halt finden zu können. Ihre Hände krallten sich die Couchkissen, die neben ihr lagen, um sie im Notfall als Schutzschild verwenden zu können. An der Tür brach derweilen das Chaos los.

Ein Schrei erfüllte das Loft. „Hab ich´s doch gewusst!“

„Scheiße, nicht schon wieder!“, maulte Kay. „Michelle!“ Er stürmte zum Eingang, doch er konnte das Mädchen in rotem Rüschenrock und weißer Bluse nicht aufhalten. Im letzten Moment wich er einem wirbelnd, roten Etwas aus und sah der Besucherin konsterniert hinterher.

Sie staubte auf Ylva zu. „Ist das da deine Neue?“, keifte sie und fuchtelte mit ihrem Speer durch die Luft. Es war lediglich ein Stockschirm mit blauer Metallspitze.

Ylvas Puls beruhigte sich langsam wieder. Sie sank zurück in die Kissen.

„Ist die nicht ein bisschen zu alt für dich?“ Ihre schrille Stimme war so laut, dass sie auch ohne Megafonunterstützung in Ylvas Hirn von einer Seite zur anderen schepperte.

„Ich bin keine alte Neue“, lallte Ylva und musste kichern. „Ich bin eine junge Alte.“

„Was?“ Mit fliegendem Rock drehte sich das Mädchen zu Kay um und funkelte ihn an. „Ward ihr etwa schon zusammen, als du mich abgeschleppt hast? Wie fies ist das denn?“

Kay hob hilflos die Hände. „Hey! Nur, um das mal klarzustellen: Ich habe dich nicht abgeschleppt. Andersrum wird ein Schuh daraus. Du hast mich angebaggert.“

Michelle fuhr wieder zu Ylva herum. „Jetzt lügt er schon wieder! Darin ist er ganz große Klasse. Lügen und Computer. Hat er dich schon als Exceltabelle angelegt und auf seiner Homepage als Neuzugang gepostet?“

„Ich poste nichts Privates in …“

Michelle übertönte seinen Widerspruch spielend mit größerer Lautstärke. Sie brauchte gar kein Megafon. Bestimmt hatte man ihr einen Verstärker implantiert. Oder sie hatte von Natur aus einen eingebaut. Genetische Mutation oder so etwas. Man hörte ja immer wieder davon.

„Bei mir hat er sich nämlich geweigert. Dabei habe ich ihn lieb darum gebeten und ihm die schönsten Bikini-Pics rausgesucht.“

„Ich trage keine Bikinis.“ Ylva fand diese knappen Fetzen unmöglich. In einem schicken Schwimmanzug trainierte es sich wesentlich bequemer.

„Hast du nichts Eigenes zum Anziehen oder warum rennst du in seinem Lieblingsshirt rum?“ Die Kleine zupfte ihr frech am Ausschnitt. Es war das quietschgelbe Shirt, das Kay ihr geliehen hatte. In Großbuchstaben war „I´m NERDritious.“ darauf gedruckt.

Michelles Augen wurden groß, als ihr eine Antwort auf die Frage einfiel. „Habt ihr etwa … Aaah! Ich glaub´s ja nicht! Deshalb trägst du seine Klamotten!“

„Natürlich. Ich war nackt …“, versuchte Ylva ihr zu erklären. Ob sie die Begründung verstand, war allerdings fraglich. Dennoch war die Mimik der kleinen Madam Poppins putzig. Ylva giggelte leise vor sich hin.

„Waaah!“, kreischte Michelle wieder, leider knapp unter Ultraschallfrequenz.

Selbst mit den Händen auf den Ohren tat es noch weh. Der Ausruf schrillte in Ylvas Gehörgängen wie der höchste Ton einer Kirchenorgel.

„Ich habe sie so gefunden“, meldete sich Kay verzweifelt zu Wort. „Sie lag nackt …“

„Aha! Aufgerissen hast du sie!“, schrie Michelle ihn an und drohte ihm mit ihrer Behelfswaffe.

„Hey, Mary, lass mein … Ka … La …“ Ihr fiel das Wort nicht mehr ein. Nach was sah Kay aus? Nach einem Kamel nicht. Auch kein Dromedar. Lama! Er sah wie ein Lama aus. Ein leicht verschwommenes Lama. Weich gezeichnet mit Weihnachtsplätzchensaft. Ylva kicherte ausgelassen. Sie stotterte weiter: „Lass mein La … La … -Kay in Ruhe!“

„Dein Lakai?“ Sie fuhr zu Kay herum. „Ich hätte es wissen müssen. Typen wie du haben immer Hunderte Freundinnen am Start. Und ich blöde Kuh gehe dir auch noch auf dem Leim. Hast du sie absichtlich betrunken gemacht, damit sie willig wird, wie?“

„Mein persönlicher La-Kay!“, gluckste Ylva.

Michelle wedelte wütend mit ihrem Schirm. Die heftige Bewegung ließ ihn aufpoppen. Mit einem Plopp breitete er sich zur vollen Größe auf. Ein paar Sekunden lang sah Michelle auf den Schirm, bevor sie ihn wieder zusammendrückte. „Das hat er mit mir auch gemacht, bloß dass du es weißt!“, überging sie die Unterbrechung. „Erst hat er auf lieb und unschuldig gemacht. Das kann er gut mit seinem Kinngrübchen und Dackelblick. Und dann hat er mich abgefüllt und eiskalt abserviert. Genau so wird er es mit dir machen, wetten?“

„Michelle, bitte“ Kay kam unschlüssig herangeschlichen, traute sich aber nicht, seine Ex-Freundin zu stoppen.

„Ich habe mir selbst serviert“, gickelte Ylva und erschrak, als die Kleine sie mit der behelfsmäßigen Waffe in die Schulter pikte. „Aua, das tut weh!“, beschwerte sie sich und wischte den Schirm mit der Hand weg. Ihre Reaktionsgeschwindigkeit war aufgrund des Höllenzeugs reduziert. Wenn die Kleine jetzt einen Kampf beginnen würde, sah es schlecht für sie aus. „Ziemlich unfair“, meckerte sie. „Ich bin unbewaffnet. Reiche mir mal eine Knarre, La-Kay!“

Michelle starrte sie böse an. „Kannst du überhaupt kochen?“, knurrte sie. „Oder gehörst du zu der Sorte, die nur noch mit einem Aromenreplikator überleben kann?“

„Mit einer ordentlichen Wumme schieße ich mir mein Abendessen selbst.“ Ylva fand sich großartig. Was so ein bisschen Alkohol ausmachte. Da war sie gleich noch mal so witzig. Seltsamerweise lachte aber Mary Poppins nicht und auch Kay sah alles andere als belustigt aus. Was kein Wunder war, weil er angegiftet wurde.

„Was willst du bloß mit der?“, plärrte die Ex. „Ich kann mit Sicherheit viel besser kochen als sie. Schau sie dir doch an. Vermutlich lässt sie selbst Wasser anbrennen. Ich gehe jetzt. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, mein Lieber“, drohte sie Kay mit erhobenem Schirm und stapfte zurück zur Tür.

„Au revoir, Michelle, mon amis“, rief Ylva ihr hinterher. Dieses Mal funktionierte es wie geschmiert. Die Worte rollten ihr ohne Zögern von der Zunge.

„Ich verstehe kein Wort!“, schrie das Mädchen. Die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss.

„Und mir erzählte sie, sie könne gut Französisch“, meinte Kay trocken und ließ sich neben Ylva ins Sofa plumpsen.

Sie platzte fast vor Lachen und konnte sich kaum beherrschen, bis sie zu husten begann. Kay schlug ihr helfend auf den Rücken.

„Sorry, der Alkohol. Danke, es geht wieder“, meinte sie schließlich. „Nette Freundin hast du.“

„Ex-Freundin! Eine Einzige!“, sagte er mit zerknautschtem Gesicht.

 

Während sie langsam wegdämmerte, erzählte Kay von seinem Job als Programmierer. Und von seinen Kenntnissen in allem, was mit Computern und Technik zu tun hatte. Ylva verstand nicht ein Wort von dem, was er von sich gab. Entweder lag es an seinem Computer-Sprech oder am Höllenhund. Sie hatte seine Büroecke neben der Küche gesehen und über das Ausmaß des Arbeitszimmers gestaunt. Es beherbergte etliche Computer und drei große Monitore, von denen der größte über dem Schreibtisch schwebte und das Ausmaß einer Kinoleinwand hatte. Dazu ein Laptop und diverse Pads und Mäuse, die auf einem anderen Tisch und auf einem kleinen Stehpult lagen. Der Teppich darunter bestand aus bunten Stromleitungen, in deren Mitte auf einem kleinen, freien Fleck ein ramponierter Drehstuhl stand. In mehreren Metallregalen rund um das Arrangement reihten sich die unterschiedlichsten Geräte, Apparate und Instrumente. Kisten mit Steckern und Kabeln untermalten das Chaos. Ein paar Bücher standen wie Relikte aus einer vergangenen Ära dazwischen.

Kay hatte das Fabrikgebäude von seinem Vater geerbt. Er hatte es in Eigenarbeit zum Loft umgebaut, nachdem die mitvererbte Autowerkstatt pleitegegangen war. Dass er das mühsam aufgebaute Geschäft seines Vaters nicht mehr weiterführen konnte, tat ihm leid. Aber für schmutzige Motoren hatte er nichts übrig. Wohl aber für Computer. Vom Programmieren der Bordcomputer defekter Autos konnte man jedoch nicht lang überleben. Also hatte Kay die insolvente Werkstatt aufgegeben und sich auf das konzentriert, was er am besten konnte: PC-Service und Web-Design. Seine Dienste waren weltweit gefragt. Und dazu musste er noch nicht einmal die Hände schmutzig machen oder das Haus verlassen.

„Du kannst hierbleiben, wenn du magst“, weckte sie Kays Stimme irgendwann auf.

Wie lange hatte sie schon vor sich hingedöst?

„Du kannst mein Bett haben. Ich schlafe hier auf der Couch.“

„Ich gehe nach Hause!“ Ylva schaffte es nicht einmal, die Augen aufzumachen, geschweige denn, sich zu rühren. Jemand musste sie gefesselt und ihr die Augenlider festgeklebt haben. Sie versuchte krampfhaft, sie zu lösen, und gab schließlich auf. Um sie herum tobte ein Orkan. Alles wackelte, selbst die Couch. „Ordentlich Seegang heute Nacht“, meinte sie und kippte um. Ihr Kopf fiel schwer auf die Kissen. Ihre Beine flogen von selbst auf das Sofa, ein kaltes Laken kühlte ihre Haut und deckte sie zu. Dann tauchte Ylva wieder ab.

Sie landete in einem Schwimmbecken. Das Wasser war glasklar und warm. Sie spürte es ausnehmend deutlich auf ihrer Haut. Als sie an sich herunter sah, wusste wie, warum: Sie trug keinen Trainingsanzug und war vollkommen nackt. Weiter unten entdeckte sie ihre paddelnden Füße und noch weiter unten war … nichts! Quadratische, blaue Kacheln am Beckenrand, die sich nach unten ausbreiteten, aber nicht am Boden endeten. Das Becken schien endlos tief. Aber es gab eine gewöhnliche Stahltreppe am Rand. Der mit einer Absperrung gesicherte Aufgang war ein paar Meter von ihr entfernt. Ein Schild daneben wies darauf hin, dass sie sich im Abklingbecken 7-A befand. Ylva tat ein paar Züge, um den Ausstieg zu erreichen, doch so sehr sie auch schwamm, sie kam nicht näher heran. Sie kraulte kräftiger, hieb eine gefühlte Ewigkeit ins Wasser und kam nicht vom Fleck. Schließlich gab sie auf und ließ sich treiben.

Eine Weile spielte sie Toter Mann und schwebte im warmen Nass. Das Wasser umschmeichelte angenehm ihren Körper. Ylva genoss die Berührung und die in der Ferne klingende Musik. Sie kannte das Lied, wusste aber weder Band noch Titel. Dennoch glaubte sie, es schon einmal gehört zu haben. Sie schloss die Augen und wartete. Schließlich fanden sie sich ein. Ylva hatte keine Ahnung, wer diese Typen waren. Aber dass sie eintrafen, stand außer Frage.

Natürlich! Irgendwie bekommen sie einem immer.

Sie wusste, dass sie sie in diesem Becken gefangen hielten. Flucht war lediglich eine Freiheit auf Zeit. Niemand entkam den Häschern der Sieben. Und niemand entkam dem großen Plan. Sie traten an den Beckenrand und musterten sie neugierig. Männer und Frauen in weißen Kitteln und weißen Badelatschen beratschlagten miteinander, deuteten auf sie und notierten sich vereinzelt etwas auf ihre Blöcke. Einige diskutierten leise miteinander. Ylva hätte ihr Getuschel und ihre Gespräche hören müssen oder zumindest eine Ahnung davon bekommen müssen. Doch obwohl ihre Münder auf- und zuklappten, blieb es gespenstig still. Selbst das Wasser plätscherte nicht, wie es das üblicherweise im Schwimmbad tat. Alles, was Ylva vernahm, war das Lied aus der Ferne.

Die Atmosphäre änderte sich schlagartig. Ein unangenehmes Kitzeln durchfuhr ihren Körper. Alle Nerven spannten sich, als bereiteten sich die Muskeln zum Sprung vor. Gehetzt sah sich Ylva um, aber nichts hatte sich verändert. Die Kittelträger hielten weiterhin ihren stummen Rat, die Musik spielte leise. Und doch spürte Ylva mit allen Sinnen, dass sich etwas Übles auf sie zubewegte. Wie eine heranschleichende Vogelspinne, die ihre Beine suchend ausstreckte und langsam, Stück für Stück, näherkam. Mit jeder Sekunde wuchs Ylvas Gewissheit, sich in tödlicher Gefahr zu befinden. Hilflos drehte sie sich im Wasser um die eigene Achse. Abgesehen vom fehlenden Boden war es ein normales Schwimmbecken, wie es sie in Tausenden von Städten gab. Ein rechteckiges Becken mit blauen Fliesen am Rand. Ein grünes Leuchten flirrte durchs Wasser. Sie sah in die Tiefe. Wo vorher klare Leere herrschte, tauchten vier grelle Punkte auf. Aus jeder der vier Ecken rasten sie auf Ylva zu und gewannen rasch an Größe. Bald füllten sie das gesamte Becken mit ihrem Licht aus.

Ylvas Magen schrumpfte zu einem harten Kern. Ihr Herz setzte aus, als sie die Wesen erkannte: vier riesige Kraken mit Köpfen, so groß wie Autos. Das Leuchten ihren Augen vergiftete das Wasser und ließ es zu einer tödlichen Brühe werden. Die Tentakel der Ungetüme folgten ihren pumpenden Bewegungen wie schwerfällige Schleier. Ylva strampelte, versuchte, den Kraken zu entkommen, und wusste, dass sie nicht die geringste Chance hatte. Unzählige Arme ergriffen sie, zerrten sie unter die Oberfläche. Sie versuchte zu schreien und bekam kein Ton heraus. Immer noch spielte das Lied diese bekannte Melodie, immer noch war alles still. Verzweifelt sah sie nach oben und nahm neben dem verschwommenen Umriss der Kittelträger eine weitere Gestalt wahr. Ihr Kopf war blau umrahmt und sie trug ein dunkles Gewand. Alle starrten zu ihr hinunter, doch helfen tat ihr niemand. Sie konnte ihnen auch keinerlei Nachricht zukommen lassen, denn die Kraken drehten sie herum, zurrten sie zu einem menschlichen Kreuz auseinander. So hing sie knapp unter der Wasseroberfläche, den Blick in die Tiefe gerichtet, und starrte dem entgegen, was sich ihr in anmutiger Bewegung näherte.

Es hatte keine Eile. Handlanger hielten sein Opfer an Ort und Stelle. Es öffnete sein Maul und spie blaue Lichtblitze. Zwei mächtige, mit Widerhaken besetzte Zungen schossen auf Ylva zu, bohrten sich in ihre Ohren und erreichten ihr Gehirn. Es tat nicht weh, und doch spürte Ylva die fremde Existenz. Sie schnitt scharfkantig und eiskalt in ihr Gedächtnis, riss Teile heraus und ersetzte sie durch metallene Fragmente. Es baute sie zu einem neuen Vasallen zusammen. Ylva schrie, als das immaterielle Wesen endgültig die Herrschaft über ihren Körper übernahm. Sie hörte das Monster laut triumphieren. Im nächsten Moment explodierte ihr Kopf.

4. Zangenmord

 

Das Fauchen und Zischen eines Aromenreplikators beendete ihren beängstigenden Traum. Ylva brauchte eine Weile, um sich zu sortieren. Sie blieb mit schmerzendem Schädel und geschlossenen Augen liegen, lauschte und zuckte zusammen, als Tassen klirrten. Sie wartete, bis der Duft frisch gebrühten Kaffees durchs Loft zog. Erst dann drehte sie sich vorsichtig auf die Seite und versuchte, aufzustehen. Es gelang wider Erwarten gut. Als sie stand, streckte sie sich ein paar Mal. Ihre Schultergelenke knackten, als sie die verschränkten Hände durchdrückte. Ansonsten war alles beweglich und geschmeidig. Bis auf den Kopf.

„Guten Morgen“, rief Kay fröhlich von der Küchenzeile herüber. „Schon wach? Oder habe ich dich mit dem Krach geweckt? Magst du frühstücken? Ich bin gerade dabei, etwas vorzubereiten.“

Auf dem Tresen warteten bereits zwei Teller, dazwischen ein paar Scheiben bleiche Wurst, eine Dose, die nach Katzenfutter anmutete, und Vollkornbrot.

„Kaffee kommt sofort.“ Er wirbelte herum und stellte ihr eine große Tasse vor die Nase. Irgendetwas an ihm war anders. Ylva betrachtete ihn, kam spontan aber nicht drauf. Seine Bartstoppeln waren dunkler geworden, das Grübchen sah man aber immer noch. Sie schob ihre Zerfahrenheit auf den Kater, der ihr zu schaffen machte.

„Brauchst du Zucker oder Milch?“, fragte Kay zuvorkommend. „Ich habe momentan allerdings nur Sojadrink da.“

„Danke“, winkte Ylva sofort ab. „Ich trinke ihn immer schwarz und bitter.“

Er goss ihr Kaffee ein und sie trank einen kleinen Schluck. Er war heiß, stark und schmeckte furchtbar.

„War wohl doch ein bisschen viel Schnaps, wie?“ Kay setze sich zu ihr und deutete auf die Auslage. „Greif zu.“

„Ich verstehe das nicht“, murmelte Ylva. „Normalerweise bin ich trinkfester. Aber das Zeug kommt anscheinend direkt aus der Hölle!“

„Nein, der Schnaps kommt aus Hansehaven, was aber, wie ich finde, so in etwa das Gleiche ist, wie die Hölle. Das Zeug hat über 50 Prozent Alkohol und trägt seinen Namen damit zurecht.“ Während er sich lachend bediente und ein Brot mit einer pergamentartigen Wurstscheibe belegte, griff Ylva nach der Dose und studierte die Inhaltsangabe.

„Vegetarischer Brotaufstrich“, erklärte Kay. „Schmeckt wie feine Leberwurst.“ Er hing tief über seinem Teller und biss in sein Brot.

„Bloß Tofu, Nährhefe und Sonnenblumenkerne?“, las sie skeptisch vor. „Und das schmeckt dann wie Fleisch?“

Eine Dose Bio-Pseudo-Katzenfutter würde das Loch in ihrem Bauch nicht füllen können. Auch nicht mit einem ganzen Laib Schwarzbrot als Beilage. Sie verzog den Mund und stellte die Dose zurück.

Er lachte immer noch vergnügt. Zum ersten Mal sah sie seine grün-braunen Augen und jetzt wurde ihr bewusst, was anders an ihm war.

„Du trägst keine Brille!“, stellte sie erstaunt fest.

Ohne das Gestell mit den starken Gläsern wirkte er attraktiver. Zumindest, wenn man großzügig über die Aknekrater hinwegsah.

„Ich habe Kontaktlinsen drin.“

„Ah, genau. Das ist mir gleich aufgefallen.“

„Du bist mir übrigens noch eine Antwort schuldig.“

„Ich habe die Frage total vergessen.“ So dick konnte ihr Schädel gar nicht sein, dass sie die Frage vergaß. Aber verdrängen ging sehr wohl.

„Wieso hast du nackt im Hinterhof gesessen?“

Na klar. Das musste ja kommen, dachte sie und seufzte.

Sie holte tief Luft und erzählte ihm, was am Tag zuvor im Schwimmbad geschehen war. Wie Pedro sie ausgelacht hatte und sie sich an einen anderen Ort gewünscht hatte und dann plötzlich im Hinterhof gelandet war. Und weil Kay Ehrlichkeit verdient hatte, gestand ihm im selben Atemzug auch vom zweiten Versuch, den sie in seiner Dusche unternommen hatte. Sie hatte sich aus dem Bad an einen anderen Ort gedacht. Zu ihrer Überraschung hatte es sogar geklappt, doch die Reise hatte sie nicht weit fortgebracht. Sie war tropfnass ortsgereist, hatte eine riesige Wasserlache am Tresen hinterlassen und zurück ins Bad geflohen, bevor Kay sie bemerken konnte.

Er lachte herzlich und freute sich sowohl über ihren Erfolg, als auch darüber, dass er sich Geld für eine Dachreparatur sparen konnte. An der Glaubwürdigkeit ihres Berichtes schien er keine Sekunde zu zweifeln. Er hörte zu und fragte gelegentlich nach, wenn er etwas nicht verstand. „Versuche es jetzt noch mal“, bat er, nachdem sie fertig war. „Wünsche dich zum Beispiel ins Bad.“

„Ich weiß nicht …“

Kay bezirzte sie so lange mit seinem Lamablinzeln, bis sie nachgab.

„Okay, ich versuche es.“

„Aber lass die Tasse los. Sonst gibt es eine riesen Sauerei“, feixte Kay.

Sie kniff die Augen zusammen, rief sich die Situation ins Gedächtnis und stellte sich die Dusche im Bad vor. Die Glastür, die grauen Fliesen, die weiße, flache Wanne. Selbst wie das Waschbecken und die Toilette aussahen, wusste sie noch. Doch egal, wie sehr sie sich anstrengte, wohin sie sich auch wünschte, es misslang. Ylva bewegte sich keinen Millimeter und blieb auf dem Barhocker am Tresen sitzen.

Ylva öffnete die Augen und seufzte. Sie war ebenso frustriert wie Kay, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Sie versuchte es noch einmal mit ihrer Küche als Ziel. Doch auch das funktionierte nicht.

„Es geht nicht“, sagte sie enttäuscht.

Sie überlegten, warum ihr Versuch fehlgeschlagen war.

„Ich habe es mir nicht eingebildet!“ Ylva weigerte sich zu glauben, dass sie das Ganze geträumt hatte. „Ich bin ortsgereist.“

„Ich habe die Wasserlache schließlich auch gesehen“, merkte Kay an.

Auch die Variante, dass sie im Schwimmbad verunglückt war, schied aus.

„Hättest du einen Unfall gehabt, wärst du im Krankenhaus gelandet und nicht im Hinterhof“, war sich Kay sicher.

Sein Eifer war herzerwärmend. Sie musste sich eingestehen, dass sie ihren La-Kay zunehmend sympathischer fand. Sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohler, als es bei den meisten Männern der Fall war. Vielleicht war es der Tatsache geschuldet, dass er jünger als sie war, und er damit noch unter Welpenschutz stand. Oder, weil er so unvoreingenommen nett und hilfsbereit war. Letztendlich spielte es keine Rolle, sie genoss das zwanglose Beisammensein mit ihm. Er schien ihre Fähigkeit ernst zu nehmen und Ylva war ihm dafür sehr dankbar.

„Wir sollten aufschreiben, wie es zu deinem ersten Jogg kam. Alles kann wichtig sein, auch das winzigste Detail. Vielleicht finden wir ja irgendwann eine Möglichkeit, so ein Jogg kontrolliert durchzuführen.“

„Ein Jogg“, wiederholte sie. „Die Bezeichnung beschreibt die Art zu reisen ganz gut.“

„Was hältst du davon, im PC eine Akte darüber anzulegen und in einer Tabelle alle Infos zu sammeln. Dann können wir sie besser analysieren und …“

Er registrierte erst jetzt, dass sie von seinem Vorschlag nicht begeistert war.

---ENDE DER LESEPROBE---