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Die Auswanderer Jacob, Martin, Irene und ihr Sohn sind wohlbehalten auf dem Weg nach Cairo, doch sie kommen nicht zur Ruhe. Unverschuldet geraten die deutschen Auswanderer ins Kreuzfeuer des gnadenlosen Hasses zwischen Yankees und Rebellen. Dann erfahren sie, dass die „Schwarze Schar“ um William C. Quantrill, eine gefährliche Freischärlertruppe aus dem Süden, ein Attentat auf Lincoln plant. Das Leben der Deutschen gerät erneut in Gefahr, denn sie sollen das eines bedeutenden Mannes retten: des Nordstaatenpräsidenten Abraham Lincoln. Folge 5 der großen »Amerika«-Saga von Jörg Kastner. Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2014
Jörg Kastner
Folge 5 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Roman
Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind angeblich nach Amerika ausgewandert, und seine Verlobte ist mit dem Bierbrauersohn Bertram Arning verheiratet. Von Arning fälschlicherweise des Mordversuchs beschuldigt, verlässt Jacob seine Heimat und schifft sich nach Amerika ein, um nach seiner Familie zu suchen. Aber auch in der Neuen Welt lauern Gefahren. In New York müssen sich Jacob und seine neuen Freunde, Martin Bauer und Irene Sommer, gegen die durchtriebenen Machenschaften des einflussreichen Max Quidor wehren. Als sie die Stadt endlich verlassen haben, geraten sie in die Wirren des Bürgerkriegs zwischen den Nord- und den Südstaaten: Jacob und Martin heuern als Frachtbegleiter auf einem Ohio-Dampfer an, der ohne ihr Wissen gefährliche Schmuggelware befördert: Revolverkanonen für den Süden.
Das Kanonenboot USS RAVAGER schaufelte sich mit seinem gewaltigen Heckrad aus Gusseisen und Holz durch die Fluten des unteren Ohio, kurz hinter der Mündung des Wabash. Es war ein sonniger und scheinbar friedlicher Junimorgen des Jahres 1863. Bis auf die drei Geschütze hinter den Eisenplatten am Bug des Raddampfers und die blauen Marineuniformen der Besatzung deutete nichts darauf hin, dass sich das Land im Krieg befand. Die drei zivil gekleideten Menschen, zwei Männer und eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm, die auf dem Promenadendeck standen und sich die bewaldeten Ufer betrachteten, verstärkten noch das Bild einer friedlichen Flussfahrt. Niemand an Bord ahnte, dass im dichten Grün des Unterholzes der Tod lauerte.
Dort versteckten sich uniformierte Männer. Einer von ihnen beobachtete den Fluss durch ein Fernrohr. Als er das hölzerne Schiff als die RAVAGER identifizierte, schob er das Rohr zusammen und steckte es in das Lederfutteral an seiner Hüfte. Dann gab er einem einhundertfünfzig Yards entfernt stehenden Mann mit den Händen ein Zeichen, das dieser an einen anderen weitergab. So pflanzte sich das Signal durch die Postenkette fort, bis es den Haupttrupp der Uniformierten etwa eine Meile flussabwärts erreichte. Die Posten gaben ihre Stellungen auf und liefen im Schutze des Unterholzes zum Haupttrupp.
Die drei deutschen Auswanderer auf dem Promenadendeck bemerkten davon ebenso wenig etwas wie Lieutenant Leonard Slyde, Kommandant der RAVAGER, und seine Männer. Slyde trat in seiner sauberen, blitzblanken Uniform neben die Deutschen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sog tief die würzige Luft in seine Lungen.
»Ein schöner Fluss, unser alter Ohio, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Jacob Adler. »Wenn man es nicht gerade mit Schlägern, Messerstechern, Waffenschmugglern und Flusspiraten zu tun hat.«
Die erst wenige Tage zurückliegenden Ereignisse standen noch deutlich in seiner Erinnerung. Vivian Marquand, die Frau eines Frachtagenten, hatte ihn und seinen Freund Martin Bauer in Pittsburgh angeheuert, um die Ladung auf dem Frachtdampfer ONTARIO zu begleiten. Aber statt Fleischkonserven befanden sich Revolverkanonen samt Munition in den Kisten. Sie waren für die in Vicksburg eingeschlossenen Südstaatler bestimmt und sollten durch die Linien der Nordstaatler geschmuggelt werden. Als der Plan aufzufliegen drohte, hatte Max Quidor, der Hintermann der Waffenschieber, die ONTARIO gekapert, an deren Bord sich noch Irene Sommer und ihr kleiner, anderthalb Monate alter Sohn Jamie befanden. Jacob und Martin waren an Bord der RAVAGER gewesen, als das Kanonenboot die Verfolgung aufnahm. Bei der entscheidenden Auseinandersetzung explodierten die Munitionskisten an Bord der ONTARIO, und das Schiff sank, riss Quidor und Vivian Marquand mit sich in den Fluss.
Jacob, Martin, Irene und Jamie waren mit der RAVAGER nach Louisville zurückgekehrt. Dort blieben sie ein paar Tage, um den Wissensdurst der Militärbehörden zu stillen und sich von den Strapazen zu erholen. Irene und ihr Sohn waren sehr mitgenommen und hatten sich im Wasser des Ohio eine Erkältung eingefangen.
Sie hörten, dass Alec Marquand, Vivians Mann, sich in Pittsburgh dem Zugriff der Armee entzogen hatte und untergetaucht war. Er blieb ebenso verschwunden wie die Leichen von Max Quidor und Vivian Marquand, die der Ohio auf ewig verschluckt zu haben schien. Aber an ihrem Ableben konnte kaum ein Zweifel bestehen. Quidor war von Mrs. Marquand in den Rücken geschossen worden, und sie war wenige Sekunden später über Bord gestürzt, wahrscheinlich von explodierender Munition getroffen.
Als sich Jacob, Martin und Irene nach einer Passage bis Cairo erkundigten, wo der Ohio in den mächtigen Strom des Mississippi mündete, waren sie ebenso überrascht wie erfreut über Lieutenant Slydes Angebot gewesen, mit der RAVAGER nach Cairo zu fahren. Zwar beförderte das Kanonenboot in der Regel keine Passagiere, aber Slyde hatte gemeint, nach den Verdiensten der Deutschen bei der Überrumpelung der Flusspiraten hätten sie sich eine kostenlose Fahrt auf dem Kanonenboot verdient. Sie hatten nur sehr überstürzt aufbrechen müssen, weil die RAVAGER Louisville aus den Deutschen nicht bekannten Gründen noch vor Morgengrauen verlassen musste.
Das war jetzt zwei Tage her, in denen die RAVAGER, mit dem Strom schwimmend, gut vorangekommen war. Slyde teilte den Auswanderern mit, das Kanonenboot werde spätestens im Laufe des nächsten Tages in Cairo einlaufen. Den Deutschen war das nur recht, wollten sie doch so schnell wie möglich eine Passage den Mississippi hinauf buchen, um von dort weiter nach Westen zu reisen, wo sie sich einem Oregon-Treck anzuschließen hofften.
In Oregon, dem Land jenseits der Rocky Mountains, suchte Irene Carl Dilger, ihren Geliebten und Vater ihres Kindes. Martin wollte sich dort als Farmer niederlassen. Jacob, der mehr für Irene empfand als es ein bloßer Freund durfte, wollte sie sicher bei Dilger abliefern und dann weiter nach Texas reisen, wo er seinen Vater und seine Geschwister zu finden hoffte.
»Unternehmen Sie öfter solche Spazierfahrten auf dem Ohio, Lieutenant?«, fragte Jacob, dem die friedvolle Ruhe nach all den gefährlichen Abenteuern fast unheimlich erschien.
»Eine Spazierfahrt ist es nicht. Wie Sie am eigenen Leib erlebt haben, treibt sich allerhand Gesindel – Schmuggler, Deserteure und Saboteure – am Fluss herum. Nur durch ständige Präsenz können wir sie von ihren Untaten abschrecken.«
Slyde sah hinauf zum Ruderhaus, das auf der Brücke über dem gesamten Schiff thronte und an Höhe nur von den beiden Schornsteinen übertroffen wurde, aus denen dunkle Rauchfahnen aufstiegen und sich nur langsam im blauen Himmel verloren. »Ich muss jetzt auf die Brücke. Gleich erreichen wir die Bedfordbänke, eine Reihe von Untiefen, schwieriges Gewässer. Und kurz dahinter kommen Stromschnellen.«
Der Marineoffizier wandte sich um und ging zu der Treppe, die hinauf zur Brücke führte. Er war froh, mit seinen Passagieren nicht weiter über Sinn und Zweck der Flussfahrt diskutieren zu müssen.
Slyde war ein aufrichtiger Mann und hasste es, Menschen belügen zu müssen oder ihnen einen Teil der Wahrheit zu verheimlichen, was auf dasselbe herauskam. Er durfte den Deutschen nicht sagen, dass ihr nächtliches Betreten der RAVAGER und das Auslaufen vor Sonnenaufgang wichtig für die Aufgabe gewesen war, die man dem Kanonenboot übertragen hatte. Seine Vorgesetzten hatten ihm verboten, darüber zu sprechen, und sie hatten auch ihm selbst nichts Genaues über die Mission mitgeteilt.
Eine Mission, auf der die RAVAGER eine Art Lockvogel spielte, so viel wusste der Lieutenant immerhin. Er sollte unterwegs Augen und Ohren offenhalten und im schlimmsten Fall mit einem Überfall rechnen, hatte man ihm gesagt. Aber wer diesen Überfall ausführen sollte und weswegen, darüber hatten sich seine Vorgesetzten in tiefes Schweigen gehüllt.
Wegen dieser Gefahr, die ständig über dem Schiff schwebte, hatte er die Passagiere nur ungern an Bord genommen, besonders die Frau und ihr kleines Kind. Aber seine Vorgesetzten hatten darauf bestanden. Zum Glück war bis jetzt alles gut gegangen.
Slyde hoffte, auch noch den letzten Tag der Reise ohne Zwischenfälle zu überstehen, als er über den schmalen Aufgang das Ruderhaus betrat, um Mr. Rodney, dem Rudergänger, beim Durchfahren der Untiefen zu helfen, die jetzt vor dem Bug der RAVAGER auftauchten.
Der erfahrene Schiffskommandant gab dem Rudergänger Anweisungen für eine geringfügige Kurskorrektur. Die RAVAGER sollte noch ein kleines Stück weiter ans Steuerbordufer fahren, um die Untiefen möglichst gefahrlos zu umgehen. Die Sandbänke erhoben sich in der Mitte des Flusses und reichten mit vereinzelten Ausläufern bis ans Backbordufer. Indem man dicht am Steuerbordufer entlangfuhr, wählte man den gefahrlosesten Weg.
Das dachte Lieutenant Slyde zumindest. Er konnte nicht ahnen, dass er sein Schiff direkt ins Verderben lenkte.
*
Auf der Höhe der Bedfordbänke kauerte ein junger, nicht besonders großer Mann in der Uniform eines Captains hinter einem Felsblock und beobachtete das sich nähernde Schiff durch ein Fernrohr. Als er es absetzte, blickten seine blauen Augen skeptisch einen kleinen, untersetzten, bebrillten Mann an, der vor einem kastenförmigen Sprengzünder am Boden hockte.
»Da kommt die RAVAGER. Sind Sie sicher, dass Sie die Torpedos auf elektrische Weise zünden können, auch unter Wasser?«
Der Mann mit der Brille blickte zu ihm auf. »Keine Sorge, Captain. Die Drähte sind bestens isoliert. Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal.«
»Wären Kontaktzünder nicht sicherer gewesen?«
Der Bebrillte schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Im Fluss treibt allerhand Zeugs herum, Baumstämme und so weiter. Es braucht nur etwas davon gegen einen Kontaktzünder zu stoßen und wumm! Dann wäre unsere ganze schöne Überraschung dahin.«
Der Captain nickte und sah trotzdem besorgt aus. Er wusste, dass von seiner Mission unendlich viel abhing. Es lag an ihm, den Bürgerkrieg zu entscheiden. Mit dem Überfall auf die USS RAVAGER konnte die Sache des Südens, die nicht mehr so rosig aussah wie noch vor ein paar Monaten, mit einem Schlag zum Sieg geführt werden. Und – was ihm viel wichtiger war – sein ganz persönlicher Ruhm würde ins Unermessliche steigen.
Als das Kanonenboot den Fluss vor ihm ausfüllte, schob er das Fernrohr zusammen und zog sich ins Gehölz zurück. Die RAVAGER fuhr jetzt nah am Ufer, und ein aufmerksamer Beobachter auf dem Schiff hätte ihn hinter dem Felsen mit bloßen Augen sehen können.
Dann war das Schiff auf einer Höhe mit den Uniformierten. John Kellerman, der bebrillte Sprengstoffexperte, gab ein paar Männern ein Zeichen, und sie zogen das dicke Seil mit den Torpedos, wie man die Wasserminen nannte, straff. Das andere Seilende war an einem eisernen Pfahl befestigt, den die Männer tief in eine der Sandbänke gerammt hatten.
Der Captain zog einen seiner beiden schweren Revolver aus dem Holster und gab damit seinen Leuten einen Wink, ihre Karabiner und Revolver schussbereit zu halten.
Der flache Rumpf der RAVAGER glitt über das Seil hinweg, an dem die vier Torpedos befestigt waren. Die Augen hinter Kellermans runden Brillengläsern glitzerten, als er den Zündstab in die Zündkammer drückte. Der elektrische Impuls jagte in Sekundenbruchteilen durch die Leitung und löste eine Kette von vier rasch aufeinanderfolgenden Explosionen aus.
Für einen Augenblick war es, als würde die RAVAGER aus dem Wasser gehoben. Dann aber brach der Rumpf auseinander wie die Schale eines rohen Eies. Binnen weniger Sekunden herrschte auf dem Kanonenboot das absolute Chaos.
*
Matrosen fielen um, wurden durcheinandergewirbelt und stürzten schreiend ins Wasser. Die Feuerbüchsen der Kesselbatterie verstreuten ihre Glut über das Vorschiff und setzten es in Brand. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus und versperrte den Menschen von den oberen Decks den Fluchtweg.
Die Dampfleitungen brachen an mehreren Stellen auf und versprühten ihren Inhalt. Ein Matrose wurde von dem heißen Dampf voll ins Gesicht getroffen, stolperte geblendet über das Hauptdeck und stürzte über die Reling in den Ohio, wo seine qualvollen Schreie vom Wasser verschluckt wurden.
Mit einem letzten Ruck verstummten die Maschinen, und das Schaufelrad stand still. Es gab auch kein Schiff mehr, das es hätte antreiben können. Nur noch ein Konglomerat von Wrackteilen, einige davon lichterloh brennend, das immer tiefer in den Fluten versank. Das Schiffsheck mit dem nutzlosen, stillstehenden Schaufelrad ragte wie zum Spott aus dem Wasser empor.
Lieutenant Leonard Slyde war wie erstarrt, als die Torpedo-Explosionen sein Schiff erschütterten. Erst das schreckliche Schicksal des Rudergängers löste ihn aus dieser Erstarrung. Rodney wurde mit dem Gesicht in die Glasscheiben geschleudert, aus denen die Ruderhauswände etwa ab Hüfthöhe bestanden. Der Kommandant packte den Rudergänger an den Armen und zog ihn vorsichtig aus den zersplitterten Scheiben. Rodneys Gesicht war eine einzige blutende Wunde, aus der eine Unzahl kleiner Splitter ragte.
Slyde drehte sich zum Maschinentelegrafen um und legte den Befehlshebel von ›ganz langsam voraus‹ auf ›stop‹. Das war mehr eine für den Notfall eingeübte Reflexhandlung als von tatsächlicher Bedeutung. Denn die Dampfleitungen zwischen der Kesselbatterie und den Antriebsmaschinen waren längst zerrissen, und das Schaufelrad stand still.
Als sich der Kommandant um seinen verletzten Rudergänger kümmern wollte, wurde die gesamte Brücke zur Seite geschleudert. Slyde verlor den Halt und stürzte aus dem Ruderhaus. Als er auf dem Brückendeck schwankend wieder auf die Beine kam, neigte sich die hintere Brückenhälfte, und der Offizier fiel erneut auf die Planken, wo er nach achtern rutschte und aufs Kesseldeck stürzte.
Auf dem Promenadendeck schrie Irene bei der ersten Explosion auf und drückte das Kind in ihren Armen ganz eng an sich. Sie verlor den Halt, aber Jacob fing sie auf.
»Bloß runter vom Schiff!«, brüllte Martin gegen den infernalischen Lärm an.
Die drei Freunde wollten zur Treppe laufen, die hinunter aufs Hauptdeck führte. Aber unter ihnen fraß sich das Feuer voran und hatte die Treppe bereits erfasst, die vor ihnen wegbrach und in die hungrigen Flammen stürzte.
»Zum Kesseldeck!«, rief Jacob und zeigte nach hinten. »Von dort kommen wir vielleicht noch runter aufs Hauptdeck.«
Sie kämpften sich, von den Erschütterungen, denen die RAVAGER ausgesetzt war, hin und her geworfen, auf der Backbordseite nach achtern durch. Da brach das Heck plötzlich vom restlichen Schiff los. Ein Beibootsdavit fiel auseinander, und das herunterstürzende Ruderboot streifte Irene am Kopf. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und stürzte dem Boot nach über Bord, im Fallen noch immer das Stoffbündel mit dem kleinen Jamie an ihre Brust gepresst.
»Irene!«, schrie Martin auf und folgte ihr ungeachtet der überall herumtreibenden Trümmer mit einem Hechtsprung.
Auch Jacob wollte ins Wasser springen, aber ein Hilferuf ganz in seiner Nähe hielt ihn zurück. Er kam von der Steuerbordseite, wo der andere Bootsdavit ebenfalls zusammengebrochen war. Aber das zweite Beiboot war nicht in den Fluss gefallen, sondern aufs Deck und hatte einen Mann unter sich begraben. Es war Lieutenant Slyde, der mit den Beinen unter dem großen Ruderboot lag.
Jacob rannte zu der Unglücksstelle und versuchte, das Boot anzuheben. Obwohl er ein großer, kräftiger Mann war und er seine Muskeln bis zum Zerreißen anspannte, wollte es ihm nicht gelingen. Das Boot war einfach zu schwer. Er konnte es kaum einen Zoll bewegen.
»Geben Sie es auf, Adler«, keuchte der Kommandant des sinkenden Schiffes. »Bringen Sie sich in Sicherheit, bevor die RAVAGER Sie mit in den Fluss nimmt!«
»Ich werde mich in Sicherheit bringen«, antwortete Jacob und sah sich Hilfe suchend um. »Aber nicht, ohne Sie mitzunehmen!«
Er fand eine lange, starke Holzlatte, die beim Zusammenbruch der Bootsdavits wahrscheinlich von einer der Taljen abgesplittert war. Er schob ein Ende der Latte unter das heruntergefallene und umgestürzte Boot und drückte sein ganzes Gewicht auf das andere Ende, das er – ungeachtet der zahlreichen Splitter, die in seine Haut stachen – mit beiden Händen fest umklammert hielt. Das Ruderboot bewegte sich nach oben, Zoll um Zoll, und gab den eingeklemmten Kommandanten allmählich frei.
»Jetzt!«, stieß Jacob hervor, während sein ganzer Körper zu zittern begann. Er spürte, dass er das gewaltige Gewicht nicht lange würde halten können.
Langsam, wie eine verwundete Schnecke, kroch Slyde unter dem Boot hervor. Dabei zog er sich fast nur mit den Armen voran, konnte die Beine anscheinend nicht gebrauchen.
»Schneller!«, ächzte Jacob, der spürte, wie ihn seine Kräfte verließen.
Slydes Gesicht war vor Schmerz und Anstrengung so angespannt, dass es wie eine Maske wirkte, wie die grausame Karikatur eines Menschen. Zoll um Zoll kroch der Offizier aus der Falle hervor, als plötzlich der hölzerne Hebel zersplitterte und das Boot wieder herunterkrachte. Nur um Haaresbreite verfehlte es den Mann in der blauen Uniform, der sich mit einer letzten Kraftanstrengung nach vorn warf und so dem Verhängnis entging.
Jacob stand wie angewurzelt auf dem schwankenden Kesseldeck und konnte es noch gar nicht glauben, dass Slydes Rettung geglückt war. Die Arme des jungen Zimmermannes zitterten noch immer, obwohl die Last von ihnen genommen war; die Anstrengung war einfach zu groß gewesen.
Da brach die RAVAGER vollends auseinander, und das Heck ragte immer steiler in die Höhe. Jacobs Gehirn wurde nur von einem Gedanken beherrscht: Er musste sich und Slyde in Sicherheit bringen, bevor das Schiff unterging und sie mit in die Tiefe zog.
Slydes Beine waren von dem herunterfallenden Beiboot zertrümmert worden. Jacob griff unter seine Schultern und schleppte ihn mit sich zu dem Geländer, welches das Kesseldeck ursprünglich umschlossen hatte, jetzt aber durch den umgestürzten Davit durchbrochen war. Er warf den Offizier ins Meer und sprang hinterher.
Im Wasser schwamm er zwischen Matrosen und Wrackteilen auf Slyde zu, der große Mühe hatte, sich über Wasser zu halten. Da der Lieutenant seine Beine nicht gebrauchen konnte, war das kein Wunder. Jacob umfasste den Schiffskommandanten und schwamm mit ihm durch das aufgewühlte Wasser in Richtung Ufer. Es war ein sehr mühevolles Unterfangen, und immer wieder schluckte er Wasser. Vor seinen Augen wurde das auseinandergebrochene Kanonenboot immer mehr ein Opfer des breiten Stromes.
Als er endlich Boden unter den Füßen fühlte, glaubte er sich und Slyde gerettet. Aber allmählich drangen die vielen Detonationen und Schreie in sein Bewusstsein. Das kam nicht von dem sinkenden Schiff, sondern war ganz nah. Er drehte sich um und achtete darauf, dass Slyde nicht unter Wasser rutschte. Was Jacob dann sah, schien eine Szene aus einem Albtraum zu sein.
Die Matrosen, denen es gelungen war, sich an Land zu retten, und die sich endlich in Sicherheit glaubten, erwartete ein schreckliches Schicksal. Am Ufer stand eine lange Kette von Männern, die mit Karabinern und Revolvern auf die an Land wankenden Matrosen von der RAVAGER schossen. Die Schiffbrüchigen waren unbewaffnet, wehrlos, da sich ihr Schiff nicht im Alarmzustand befunden hatte. Sie wurden abgeknallt wie die Hasen. Kein Einziger von ihnen erreichte das vermeintlich rettende Ufer. Ihr Blut färbte das flache Wasser rot.
Das Schlimmste an der Sache war, für Jacob unbegreiflich, dass die Mordschützen die blauen Uniformen der Unionsarmee trugen. Die Soldaten der Nordstaaten schossen auf ihre eigenen Leute, obwohl die Matrosen ebenfalls in das Blau der US-Truppen gekleidet waren. Aber das störte die Männer am Ufer nicht. Gnadenlos sandten sie eine tödliche Kugel nach der anderen aus ihren heiß geschossenen Läufen.
Jacob wurde ganz flau im Magen, als er an Irene, Jamie und Martin dachte. Waren sie ebenfalls den uniformierten Mördern in die Hände gefallen? Was war mit ihnen geschehen?
*