Auf den Tag genau - Stefan Murr - E-Book

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Stefan Murr

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Beschreibung

Friedrich Dax ist Bundestagsabgeordneter und Strahlemann seiner Partei. Die Frauenherzen fliegen dem sportlichen, gutaussehenden Mann zu. In einer Woche ist Wahl, und Dax ist erstes Zugpferd der Partei, die sich in der Opposition befindet und endlich wieder an die Macht will. Da wird an einem Abend am Ufer des Bodensees auf Dax geschossen. Das Attentat mißlingt, Dax wird nur an der Schulter verletzt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Stefan Murr

Auf den Tag genau

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Auf den Tag genau [Teil 1]Auf den Tag genau [Teil 2]

»Graf! Dieser Mortimer starb Euch sehr gelegen!«

Friedrich Schiller MARIA STUART, IV/6

MITTWOCH, 4. OKTOBER

Daß Zuessy tot war, konnte Paul Polch nicht einmal begreifen, als er, den Mantelkragen wegen der Frühherbstkühle hochgeschlagen, die Fäuste in die Taschen versenkt, auf sein Gesicht herabsah.

Mortimer Zuessy hatte äußerlich keine sichtbaren Verletzungen. Der Mund war geschlossen, die Augen hatte man ihm noch nicht zugedrückt. Sie schienen trotz der Starre der Iris spöttisch dreinzublicken, und Polch hätte sich nicht gewundert, wenn der Tote wegen der unablässig über seinen Körper hinweggehenden Blitzlichtgewitter geblinzelt hätte. Aber das würde Mortimer Zuessy niemals wieder tun, und Kommissar Paul Polch fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen, als er daran dachte.

Zu sehr hatte er sich in den zurückliegenden Tagen ihrer gemeinsamen Arbeit an dem Fall Dax an die mürrische und doch intelligente, gelassene Art des Älteren, an seine noble Distanz und seinen Humor gewöhnt, um nicht in diesem Augenblick schmerzlich zu spüren, daß es das alles nie mehr geben würde. Er hatte es auch erst gar nicht geglaubt, als Schirrmacher ihn angerufen und ihm mitgeteilt hatte, zwei Männer namens Ernst Reichmann und Franz Flaschner hätten in den Büschen des Parkes um Zuessys Wohnhaus herum den Hauptkommissar gefunden, anscheinend tot; anscheinend beim Blumengießen über die niedere Brüstung seiner im 6. Stock gelegenen Dachterrasse gestürzt.

Man hatte nichts verändert. Die Messingkanne mit dem langen Schnabel lag nicht weit von dem Toten auf dem Plattenweg, der zum Müllplatz führte. Das ausgelaufene Wasser war noch nicht einmal ganz getrocknet.

Vorne wurde ein Wagen auf den Parkplatz gefahren. Die Männer von der Spurensicherung machten Platz, denn der Mann, der jetzt rasch in Trenchcoat und Trachtenhut um die Hausecke bog und in das grelle Licht der Strahler und Blitzlichter trat, war ihrer aller Chef – Polizeidirektor Georg Schirrmacher.

»Ich habe es gar nicht geglaubt«, sagte er und starrte in das Gesicht des Toten, der noch vor einer Stunde der Leiter seiner Kriminalpolizei gewesen war.

»Ich glaube es jetzt noch nicht«, sagte Paul Polch und spürte einen Kloß im Hals, denn er war noch jung und nicht so abgebrüht wie viele andere in diesem Job.

Aber der Arzt hatte den Tod festgestellt. Mortimer Zuessy hatte nicht gelitten. Die Männer, die die Spuren gesichert und die Fotos geschossen hatten, waren fürs erste mit ihrer Arbeit fertig. Jemand sah fragend auf Polch, der müde nickte. Der Arzt drückte die Lider über Mortimer Zuessys Augäpfel. Ein anderer deckte ein Tuch über sein Gesicht. Durch das Buschwerk kamen sie mit einer Trage, auf die sie Zuessys Leiche schnallten. Ab und zu schallten aus halbgeöffneten Fenstern und Balkontüren Jubelstürme. Es war der Tag einer Vorentscheidung für die Fußballweltmeisterschaft. Aus diesem Grunde hatte auch niemand gesehen, wie Mortimer Zuessy starb.

»Und wer sind Sie?« fragte Schirrmacher und musterte die Männer genauer.

»Wir waren mit Herrn Zuessy verabredet«, sagte Flascher. »Um neun Uhr. Wir waren auch pünktlich und läuteten. Aber oben öffnete niemand.«

»Die Haustür wird erst um zehn Uhr abgesperrt«, sagte einer der Beamten. »Und an Tagen wie heute noch später. Ich habe nachgefragt.«

»Stimmt«, sagte Reichmann. »Nachdem wir oben an seiner Wohnung geläutet und geklopft hatten, aber niemand öffnete, obwohl man die Übertragung des Fußballspiels hören konnte, sind wir wieder heruntergegangen, um zu sehen, ob Licht bei ihm brennt, und dann vielleicht von irgendwo anzurufen. Dabei fanden wir ihn.«

Reichmann fügte hinzu: »Ich bin beinahe über seinen Körper gestolpert. Das war vielleicht ein Schreck!«

»Wußten Sie denn, wer es ist?« fragte Polch. »Kannten Sie ihn? Hatten Sie ihn schon vorher gesehen?«

»Natürlich«, antwortete an Reichmanns Stelle Franz Flaschner. »An dem Abend des Attentates auf Friedrich Dax hat er die Untersuchung geführt. Wir waren dort, Herr Reichmann und ich. Damals haben wir Herrn Zuessy kennengelernt.«

Mit einem letzten frenetischen Jubelsturm ging in den Wohnstuben der Blocks die Übertragung des Fußballspiels zu Ende. Fenster öffneten sich, und plötzlich waren die Balkons voller Menschen. Aber das Interessanteste war schon vorbei. Der Tote war abtransportiert, die Geräte wurden zusammengepackt, die Strahler erloschen. Bedauernd und nach dem Fieber des Spiels fröstelnd gafften die Schaulustigen auf eine leere Bühne.

»Waren Sie schon in seiner Wohnung?« fragte Schirrmacher den jungen Polch.

Polch schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Wir haben auch gar keine Schlüssel.«

»Wahrscheinlich sind sie das«, sagte ein Beamter und hielt Paul Polch einen Bund blinkender Sicherheitsschlüssel hin.

Polch nahm sie und betrachtete sie. »Das könnte sein. Wo haben Sie die her?«

»Sie gehören zu den Asservaten aus seiner linken Hosentasche«, sagte der Beamte.

»Dann begleiten Sie uns also nach oben«, sagte Schirrmacher. Er wandte sich an Flaschner und Reichmann. »Und Sie, bitte, auch, meine Herren. Wenn Sie Ihre Aussage gemacht haben, können Sie frei über Ihre Zeit verfügen.«

Sie gingen um das Haus und drängten sich zu fünft in einen neonbeleuchteten Aufzug. Im obersten Stock sahen die anderen vier zu, wie der Beamte den Sicherheitsschlüssel in das Zylinderschloß schob und herumdrehte. Die Tür öffnete sich. Sie betraten die Wohnung.

Es war alles ganz normal. Der Flur war dunkel, aber im Wohnraum brannte schummriges Licht. Der Fernseher flimmerte. Der Sprecher brachte Nachrichten. Neben dem Sessel, den Zuessy benutzt hatte, lagen Zeitungen auf dem Boden. Sie gingen in die Küche. Auch dort brannte Licht. Auf der Arbeitsplatte hatte Mortimer Zuessy drei Gläser zurechtgestellt. Der Flaschenöffner lag daneben. Der Wasserhahn am Spülstein war geöffnet, das Wasser lief. Gewohnheitsmäßig hielt Schirrmacher die Hand darunter. Es war kalt.

»Er hat die Herren ohne Zweifel erwartet«, sagte Schirrmacher. »Dann erinnerte er sich, daß er die Geranien noch gießen mußte.«

Sie begaben sich durch den Wohnraum auf die breite, rings um das Haus laufende Altane, die von relativ niedrigen Blumenkästen gesäumt war, hinaus.

»Mein Gott! Und hier hat er Übergewicht bekommen oder ist gestolpert. Wir werden das morgen bei Tageslicht noch einmal nachvollziehen müssen.«

Sie gingen zurück in den Wohnraum. Noch einmal blickte der Polizeidirektor um sich und zuckte dann mit den Schultern.

»Alles ganz normal«, sagte er.

Es entstand ein Schweigen.

Polch wandte sich an den Polizeibeamten. »In welcher Tasche befanden sich die Schlüssel, sagten Sie?«

»In der linken Hosentasche«, antwortete der Mann.

»Sie täuschen sich nicht?«

»Was soll das, Herr Polch?« fragte Schirrmacher. »Kommt es darauf an?«

»Wie lange kannten Sie Herrn Zuessy?« stellte Polch eine Gegenfrage.

Schirrmacher antwortete: »Seit vier Jahren. Seitdem ich diese Stelle hier habe. Aber ich verstehe nicht …«

»Sie wußten doch, daß Zuessy einen steifen Arm hatte, Herr Schirrmacher. Haben Sie jemals darauf geachtet, welcher es war?«

Georg Schirrmacher mußte sehr lange überlegen. Er machte sich klar, wie beschämend es in der Tat war, daß er nicht wie aus der Pistole geschossen antworten konnte. Natürlich – Polch, es war der linke – oder auch der rechte – oder welcher es auch immer gewesen sein mochte. Dieser junge Mann aus Stuttgart hatte ihn in Verlegenheit gebracht. Er konnte nur raten.

»Nun«, sagte er unsicher, »ich glaube – ich denke – der linke …«

»Es war wirklich der linke«, sagte Polch. »Und er war so steif, das Mortimer Zuessy nur mit größter Mühe und mit Hilfe des rechten Armes in seine linke Hosentasche greifen konnte.«

»Schön«, sagte Schirrmacher und sah auf die Uhr. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Glauben Sie, daß Zuessy sich diese Mühe gemacht hat, um seine Hausschlüssel in seine linke Hosentasche zu bugsieren?«

Schirrmacher sah Paul Polch eine ganze Weile zweifelnd an. Dann zuckte er mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, was in ihm vorgegangen ist. Woher soll ich das wissen?«

War dieser junge Mann, den man aus Stuttgart geschickt hatte, um in der Sache Dax mitzumischen, vielleicht dabei, aus einem eindeutigen Mißgeschick einen zweifelhaften Mord zu konstruieren, um aus einer unkomplizierten Geschichte eine komplizierte, aus einem Routinefall einen Haufen überflüssiger Arbeit zu machen?

Mißmut nistete sich in ihm ein.

Die beiden soignierten Herren, die die Absicht gehabt hatten, Mortimer Zuessy an diesem Abend aufzusuchen, hatten sehr aufmerksam zugehört und waren darauf gefaßt, daß Polch sich jetzt ihnen zuwenden würde.

»Was war es eigentlich, was Sie von Herrn Zuessy heute abend wollten?«

»Tja«, sagte Reichmann gedehnt.

Und nach einer Weile fuhr Flaschner entschlossen fort: »Tja, wissen Sie, das ist nämlich eine ziemlich heikle Geschichte …«

 

 

 

DIENSTAG, 26. SEPTEMBER

Diese heikle Geschichte begann am Abend des 26. September.

Das Klicken, als der Mann den Verschluß des Gewehres verriegelte, war überaus laut, so laut, daß er sich überrascht und erschrocken eine ganze Weile lang regungslos verhielt und in den von der unbewegten Oberfläche des Sees aufsteigenden Dunst starrte. Er hielt die schwere Büchse mit dem aufmontierten, klobigen Zielfernrohr zwischen den Händen und lauschte. Gleichzeitig versuchten seine Blicke den feinen, perlmuttfarbenen Dunstschleier zu durchdringen, der zwischen dem Bootskörper und dem südwestlichen Seeufer hing, welches er fast verbarg. Noch drängte ihn weiter nichts. Er hörte das Planschen, Schnaufen und Grunzen des Badenden bis hier herüber, dann die regelmäßigen und kräftigen Stöße, wenn der andere wieder ein Stück schwamm. Aber die Geräusche entfernten sich noch immer nicht in Richtung Ufer; noch immer genoß der Schwimmer die völlige Ruhe des Spätsommerabends, die Wärme des von der Sonne des Tages ein wenig aufgeheizten, seidenweichen Wassers.

Der Mann auf dem Boot glaubte jetzt den Kopf des Schwimmers zu sehen, auf den er es abgesehen hatte. Er lächelte, entblößte dabei die Zähne, hob das Gewehr und legte den Lauf auf die Unterkante des winzigen Bullauges, dessen Glas hoch an die Kabinendecke geklappt und dort befestigt war. Er brachte das Gewehr mit der Routine des geübten Jägers in Anschlag, schmiegte eine Wange an den glänzenden, glatten Schaft, schloß das linke Auge und blickte mit dem rechten durch das Präzisionsfernrohr. Der langsam herumschwenkende Lauf der Waffe suchte nach dem dunklen, ein wenig verwaschenen Fleck – als der sich der in der milchigen Suppe treibende Kopf darstellte – und fand ihn auch. Es bedurfte nur einer geringen Korrektur, um diesen verwaschenen Fleck mit dem dunklen Fadenkreuz, das den Gesichtskreis in Ringe und Felder zerschnitt, in Deckung zu bringen.

Ruhig und kontinuierlich folgte das Fadenkreuz dem Fleck. Fast spielerisch ließ es ihn hin und wieder entkommen und fing ihn erneut ein. Der Mann auf dem Boot spielte mit seinem Opfer Katz und Maus. Er sah, wie der andere zu schwimmen aufhörte, wassertrat und sich dabei mit beiden Händen das nasse, schon angegraute Haar am imposanten Schädel zurückstrich. Es war ein Kopf, der Millionen aus zahlreichen Zeitungsbildern und Fernsehreportagen bekannt war und der jetzt hier in der einfallenden Dämmerung – naß und prustend – nichts von der Faszination ausstrahlte, von der sich besonders die Frauen bei der Wahl nur allzugern betören ließen.

Der Mann auf dem Boot lächelte, während er an diese Diskrepanz dachte und zusah, wie der andere, nachdem er sein nasses Haar glattgestrichen hatte, den linken Arm hob, an dem die wasserdichte Rolex-Uhr mattgolden glänzte, um nach der Zeit zu sehen.

Im gleichen Augenblick schaute auch der Mann auf dem Boot auf die Uhr und stellte fest, daß es elf Minuten vor acht war. Der andere blickte ganz plötzlich, vielleicht eine Sekunde lang, zu dem Boot herüber, als spürte er, daß er sich im Schnittpunkt eines lebensgefährlichen Kreuzes befand, wandte sich dann aber ab und begann auf das Ufer zuzuschwimmen.

Es wurde ernst.

Der Mann auf dem Boot setzte das Gewehr ab, legte sorgfältig den Sicherungshebel zurück und brachte es wieder in Anschlag.

Es herrschte eine sonderbare Stimmung an diesem schon herbstlichen Spätsommerabend. Heiter lag der Untersee zwischen den freundlichen Hügeln, hinter denen die Sonne für den Schützen und den Schwimmer schon untergegangen war, während sie die mit Neuschnee bedeckte Kette der Schweizer Berge noch überstrahlte. Das Land zwischen den Bergen und dem See versank langsam im Schatten.

Allmählich begann Friedrich Dax doch zu frösteln. Zwar war er abgehärtet – kaltes und heißes Duschen jeden Morgen und jeden Abend, hartes Training im Trimmstudio, Sauna, Jogging, Segeln – es gab nichts, was er nicht für sich und seine Kondition tat –, doch war das Seewasser um diese Jahreszeit schon auf siebzehn Grad abgekühlt, und er war gut fünfundzwanzig Minuten geschwommen.

Mit lang ausgreifenden Bewegungen begann Friedrich Dax dem Ufer zuzustreben. Sein riesiges Grundstück, auf dem das weitläufige, große Haus mit dem Walmdach stand, grenzte unmittelbar an das Seeufer. Das aus rohen Balken gezimmerte Bootshaus, das hinten durch eine Fichtenparzelle abgeschirmt war, schwebte teilweise über dem Wasser. Der Badesteg hatte an einer Ecke eine Treppe, die ins Wasser führte.

Auf diese Treppe bewegte sich Friedrich Dax jetzt zu. Er dachte dabei an den bevorstehenden Abend. Sie hatten Gäste eingeladen, und er mußte sich beeilen. Lisa wurde ärgerlich, wenn er nicht rechtzeitig zum Mixen der Aperitifs und zum Entkorken der Weinflaschen zur Stelle war.

Der Anlaß dieser Einladung war nicht gerade ein Grund zum Feiern. Die Umfrage, die sie sich bei der kaltschnäuzigen Nachbarin drüben in Allensbach geleistet hatten, hatte viel Geld gekostet. Wenn sie das erhoffte Ergebnis gebracht hätte, wäre Friedrich Dax froh gewesen. Aber sie hatte ihm nur eine hauchdünne Chance, den Wahlkreis zu erobern, eingeräumt. Doch er brauchte diesen Wahlkreis, und er brauchte auch die Partei. Und die Partei brauchte den Wahlkreis und ihn. Er hatte seine Freunde für diesen Abend eingeladen, um mit ihnen zu beraten, wie es weitergehen sollte.

Friedrich Dax schwamm die letzten Meter bis zur Holztreppe. Endlich fühlte er mit den Händen die Enden des Geländers. Er tastete mit dem Fuß nach dem glitschigen Brett der untersten Treppenstufe, schob den von der Sonne und auch von der Höhensonne gebräunten, schon ältlichen Körper aus dem Wasser und stieg langsam die Treppe nach oben, den Kopf mit dem strähnigen, nassen Haar im Fadenkreuz des Mannes auf dem Boot, das draußen auf dem See trieb.

Der Mann, der das Gewehr umklammert hielt, war ohne Zweifel ein Sadist. Er malte sich aus, wie es aussehen würde, wenn der Kopf zersprang, von einer Sekunde zur anderen aufhören würde zu denken, was er soeben dachte, zu fühlen, was er soeben fühlte, und zu einem komischen Kloß aus rohem Fleisch wurde.

Friedrich Dax hatte die Ebene des Badestegs erreicht. Sein Körper hob sich jetzt relativ hell vor der dunkleren Balkenwand des Bootshauses ab, als er nach dem Handtuch griff, um sich den Rücken abzutrocknen.

Der Mann auf dem Boot berührte in diesem Augenblick den elektronischen Abzug des Gewehres mit der sensiblen Kuppe seines Zeigefingers.

Krachend schoß die Kugel hinaus in den romantischen Spätsommerabend. Donnernd brach sich der Knall an den bis zur Seefläche herabreichenden Laubbäumen und zerriß die Stille; das Geschoß fegte dicht neben Friedrich Dax’ Kopf in den Rahmen der Bohlentür, die in das Innere des Bootshauses führte.

Eine halbe Sekunde dauerte es, ehe Friedrich Dax begriff, was soeben geschehen war, und Panik von ihm Besitz nahm.

Zwei Sekunden vergingen, bis der Mann auf dem Boot das Gewehr wieder gerichtet hatte und erneut schoß.

Das Krachen zerstörte die friedliche Stimmung des Abends. Mit von Angst gejagten Bewegungen versuchte Friedrich Dax sich gegen die Balkenwand, dann gegen die Türfüllung zu pressen und den splitternden Einschlägen der großkalibrigen Geschosse rings um ihn her zu entkommen. Plötzlich spürte er einen brennenden Schmerz im linken Schulterblatt. Friedrich Dax ahnte, daß dieses entsetzliche Krachen und Splittern um ihn her möglicherweise erst dann aufhören würde, wenn sein Mörder glauben konnte, sein Ziel erreicht zu haben.

Der Mann auf dem Boot sah – durch die Optik stark vergrößert – den Körper von Friedrich Dax mit erhobenen Händen an der Balkenwand abwärts rutschen und auf dem Steg zusammensacken. Er beobachtete das mit einem Lächeln, das etwas Geringschätziges an sich hatte. In dem immer mehr und mehr schwindenden Licht suchte er im Fadenkreuz den Kopf des Zusammengesunkenen. Aber die durch den stillen Abend hallenden Schüsse – insgesamt sieben, wie Zuessy später feststellen sollte – hatten drüben am Ufer schlafende Hunde geweckt. Heulend und kläffend kam eine ganze Meute den Garten heruntergejagt. Hinter ihnen ertönte eine ängstliche Frauenstimme.

»Fritz! Fritz! Um Himmels willen, ist was, Fritz?«

Keuchend und schnaufend hetzten drei gefleckte Dalmatiner auf den Badesteg zu. Sie fegten um die Ecke und bemerkten ihren zusammengesunkenen Herrn, der ihnen entgegenstarrte und sich das orangefarbene Frotteehandtuch auf eine große, heftig blutende Wunde an der linken Schulter preßte. Da er zur Verwunderung der Hunde heute abend offenbar nichts dagegen einzuwenden hatte, begannen alle drei den mit dem Wasser vermischten Angstschweiß vom Körper ihres Herrn zu lecken. Dies und das Abdrehen des Bootes brachten Friedrich Dax wieder zur Besinnung. Eigentlich war es nur ein Rauschen, mit dem sich das Boot entfernte. Durch den Dunst sah Friedrich Dax nichts weiter als einen weißen Bootsleib, an dessen Heck das Wasser weiß schäumend aufspritzte.

Als Lisa Dax – Mittvierzigerin in hellgelber Wolle, blond und mit teurem Perlenschmuck behangen – hochhackig auf den Steg stolperte, stand ihr Mann bereits aufrecht.

Er hielt sich das Handtuch auf die Schulterwunde und sagte: »Die Schweinehunde haben auf mich geschossen, Lisa.«

Lisa Dax sah das Blut an ihres Mannes Schulter und in dem zusammengeballten Handtuch, ja sogar den Fleck auf dem Holzboden des Steges, an dem die Hunde jetzt neugierig schnüffelten. Sie war zuerst völlig sprachlos, dann hob sie die geballte Hand an den Mund, als wollte sie schreien.

»Beruhige dich!« fuhr ihr Mann deshalb fort. »Du siehst ja, ich lebe.«

»Fritz«, stammelte die Frau. »Fritz, ich bitte dich …« Mehr brachte sie zunächst nicht heraus.

»Da draußen haut er ab«, sagte der Mann und sah dem weißlichen Wasserschwall nach, der sich, jetzt von einem sonoren Motorengeräusch begleitet, in Richtung Weitsee entfernte.

Eigentlich ist er doch großartig, dachte Lisa Dax. Diese Fassung hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Seine Ruhe übertrug sich auf sie, und sie konnte sachlich zu denken beginnen.

»Ein Arzt«, sagte sie. »Du mußt dich hinlegen. Komm mit rauf ins Haus! Ich werde den Leuten absagen – falls ich sie überhaupt noch erwische.«

Sie sah dem langsam in der Dämmerung ganz verschwindenden Fleck nach. Friedrich Dax bemerkte es.

»Das hat gar keinen Zweck, Lisa. Bis wir jetzt in Konstanz jemanden erwischen, der zuständig ist, ist der Kerl längst durch die Brücken und verduftet irgendwo auf dem Weitsee in der Dunkelheit. An diese Sache müssen wir anders rangehen.«

Allmählich stellten sich bei Friedrich Dax nun doch die Nachwirkungen des Schocks ein.

»Verdammt noch mal!« fluchte er. »Das schmerzt.«

Außerdem zitterte er. Vor Kälte? Oder vor Angst?

Hastig riß die Frau die Tür des Bootshauses auf und zerrte den schweren Veloursmantel ihres Mannes vom Haken.

»Wer kann – nur so – etwas – tun?« brachte sie stoßweise heraus, während sie ihm behutsam, doch energisch half, in einen Arm hineinzuschlüpfen, und die andere Seite um die verletzte Schulter legte.

»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Dax. »Natürlich könnte ich mir denken, daß wir Neider haben. Aber ein Mordanschlag …«

Sie gingen langsam den sanften Hang zum Haus hinauf.

»Ich bin alles andere als abergläubisch, Fritz«, sagte Lisa Dax, »aber du hast immer behauptet: Mir passiert so was nicht. Und hier – in diesem friedlichsten Winkel Mitteleuropas – schon gar nicht. Warum soll das, was anderen passiert ist, dir nicht auch passieren? Denk nur an Drenkmann, Schleyer, Ponto, Moro, Buback …«

»Schleyer, Ponto«, murmelte Friedrich Dax. »Das ist doch gar kein Vergleich. Das sind doch alles Fälle, in denen ein paar Politneurotiker ihre verkorkste Weltanschauung in den Mittelpunkt bomben wollten. Drenkmann ist denen durch konsequente Urteile aufgefallen, Buback durch hartes Durchgreifen im Vorfeld. Und Schleyer, Ponto, Moro – das waren schließlich System-Exponenten. Wo bin ich denn ein System-Exponent?«

Sie erreichten das Haus. Lisa brachte ihren Mann nach oben und zwang ihn, sich niederzulegen. Ihre Telefonate führte sie vom Schlafzimmer aus. Das erste mit dem Arzt in Wangen, das zweite mit der Polizei in Radolfzell.

Dort befand sich nur ein Revier der Schutzpolizei. Der Leiter war der Polizeihauptmeister Gerhard Schultheiß. Ein gewissenhafter Mensch mit wenig Höhenflug, den der Schrecken packte, als er begriffen hatte, wer ihn anrief und was im Hause Dax passiert war. Er ordnete als erstes das an, was alle Konsumenten von Krimis im Fernsehen im gleichen Falle angeordnet hätten: Nichts zu berühren und keine Spuren zu verwischen. Dann dachte er nach. Dabei kam er zu dem Ergebnis, daß er einerseits einen so populären Mann wie Dax auf keinen Fall seinem Schock überlassen konnte, ohne wenigstens am Tatort zu erscheinen, daß aber andererseits der Mordanschlag auf eine Persönlichkeit von solch politischer Brisanz seine Kompetenz bei weitem überschritt. Also hängte er sich ans Telefon und führte ein Dienstgespräch mit der zuständigen Polizeidirektion, die über eine Kriminalpolizei verfügte. Diese befand sich in Konstanz.

In Konstanz gab es nur einen einzigen Mann, der sich den Anforderungen der Untersuchung eines Anschlages auf Friedrich Dax gewachsen fühlte und es vielleicht auch war. Dieser Mann war der Kriminal-Hauptkommissar Mortimer Zuessy.

An diesem Abend hockte Zuessy, wie jeden Dienstag, im ›Pfaffenpfännle‹ beim Skat. Bei der Bereitschaft wußten sie das und gaben Schultheiß die Nummer.

So erfuhr Mortimer Zuessy in dem lärm- und dunsterfüllten Durchgang zwischen Theke und Küche hemdsärmelig und mit einer Grand-Karte in der linken Faust des Armes, den er nicht strecken konnte, daß ihm auch dieses Spiel – das erste, das er heute abend hatte – nicht gegönnt war. Er schob die Karten zusammen, ließ sie in die obere Westentasche rutschen und angelte nach einem Schreibstift.

»Habt ihr schon irgendwas gemacht da draußen?« brummte er ins Telefon.

»Nein«, antwortete Schultheiß. »Ich bin gerade erst angerufen worden. Es muß vor kurzem passiert sein. Ich habe versprochen, hinüberzufahren. Aber was können wir schon tun?«

»Kalte Füße, wie?« knurrte Zuessy, der bekannt war für seine Ruppigkeit.

Übrigens auch bei Schultheiß. Aber Schultheiß ließ sich nicht einschüchtern.

»Was heißt kalte Füße?« sagte er. »Es geht um die Zuständigkeit. Und wir haben nicht mal eine Ausrüstung zur Spurensicherung hier. Ihr habt das doch alles in Konstanz. Und wer Dax ist, wissen Sie ja.«

Zuessy wußte es. Und Zuessy war auch klar, daß er ran mußte, weil niemand anderer da war, der es konnte oder der es sich auch nur zutraute. Und er wußte außerdem, daß er eine brandheiße Sache anfaßte. In eineinhalb Wochen waren Bundestagswahlen. Friedrich Dax gehörte zu den Zugpferden seiner Partei. Und nun das.

»Fahren Sie schon hin, Schultheiß!« sagte er. »Beruhigen Sie die Leute! Sehen Sie sich alles an! Stellen Sie ein paar Fragen, die nichts kosten. Sagen Sie, daß wir kommen! Und vor allem: Lassen Sie Dax nicht mehr aus dem Haus! Wenn dem etwas passiert, vor der Wahl …«

Den Rest verschluckte Zuessy. Aber Schultheiß verstand ihn auch so. Als Schultheiß schon auflegen wollte, fiel Zuessy noch etwas ein.

»He!« rief er in die Sprechmuschel. »Hallo, Kollege!« Und als der Polizist in Radolfzell sich wirklich noch einmal meldete: »Wenn die ein Licht an ihrer Bootshütte haben, sollen sie es anmachen, damit wir wissen, wo wir hinfahren müssen. Wir kommen mit einem Boot. Und noch etwas: Müssen wir Daktylogeräte mitbringen?«

»Was ist das?« Der Polizist in seinem kahlen Dienstzimmer kratzte sich am Hinterkopf. »Habe ich noch nie gehört.«

»Na, der Krimskrams für die Fingerabdrücke. Wenn wir das brauchen, muß ich noch drei andere von ihren Fernsehern wegholen.«

»Ich glaube nicht«, antwortete der Uniformierte. »Es soll von einem Boot aus geschossen worden sein, sagte Frau Dax.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Zuessy. »In einer Stunde sind wir dort.«

Mortimer Zuessy verkniff es sich, seinen Skatbrüdern im einzelnen zu erklären, weshalb der Abend für ihn so unerwartet schnell zu Ende ging, obwohl es natürlich seinem Selbstbewußtsein auch schmeichelte, daß ihm der Zufall noch einen Fall von übergeordneter Bedeutung vor die Füße schmiß, kurz bevor er seine Laufbahn beendete. Er hatte keinerlei Angst vor diesem Fall. Zeitpunkt des Anschlages und die Person des Betroffenen schienen nahezu zwingend in eine Richtung zu weisen. Es würde Motive geben, sie würden Fakten und Spuren sichern können. Der Fall lag schon von Anfang an weitaus klarer vor Zuessy als manch eines der zahllosen Drogen-, Schmuggel-, Wirtschafts- und Fälschungsdelikte, mit denen er sein Polizistendasein ausgefüllt hatte.

Die drei anderen, die jetzt zu ihm hochblickten, als er das Jackett von der Stuhllehne nahm, würden schon noch zur rechten Zeit erfahren, daß ihr Skatbruder dazu ausersehen war, seine Nase in eine Sache von übergeordneter Bedeutung zu stecken. Denn derjenige, der diesen Attentatsversuch wenige Tage vor einer entscheidenden Wahl inszeniert hatte, würde jedenfalls Geschichte machen. So oder so. Gleichgültig, ob der Anschlag geglückt war oder nicht. Und der Mann, der die Hintergründe aufzudecken hatte, würde demzufolge ebenfalls Geschichte machen. Und das war, aller Voraussicht nach, Kommissar Mortimer Zuessy von der Kriminalpolizei der Polizeidirektion Konstanz.

»Immer das gleiche«, schnaufte er mürrisch und schlüpfte in seine Jacke. »Wenn es irgend so einem Kriminellen einfällt, seinen Tick nach Feierabend auszutoben, ist unsereins an der Reihe. Da hilft nichts. Du kennst das vielleicht, Edgar.«

Edgar Wüst, einer der drei anderen, war nämlich Tierarzt. Und nicht nur für Kleinvieh. Auch er mußte los, wenn es einer Kuh irgendwo draußen in der Umgebung um Mitternacht einfiel, ihren Nachwuchs in die Welt zu setzen. Edgar Wüst hatte großes Verständnis.

»Aber willst du uns nicht trotzdem wenigstens deine Karten hierlassen«, sagte er, als Zuessy schon den Hut aufgesetzt hatte und mit dem Finger an die Krempe tippte.

»Richtig«, sagte Zuessy, griff mit der Rechten in die Westentasche und ließ das Kartenpäckchen auf den Tisch klatschen. »Und wehe, wenn du mit diesem Blatt nicht gewinnst, Edgar!«

Auf dem Weg zum Amt wurde er sich darüber klar, daß er in dieser Sache keine Alleingänge unternehmen durfte. Nichts war wichtiger, als sich Rückendeckung zu verschaffen. Denn in den vierzig Jahren seines Dienstes hatte er eines gelernt: Wo immer es einen gab, der dafür bezahlt wurde, die Verantwortung zu tragen, sie diesem auch zu überlassen.

Der Leiter des Amtes war Polizeidirektor Georg Schirrmacher. Ihn rief Mortimer Zuessy, vor seinem Schreibtisch stehend, zu Hause an.

»Dax?« sagte Schirrmacher. Und als er gehört hatte, worum es ging: »Du lieber Himmel, ausgerechnet! Wissen Sie, was das bedeutet?«

Da Zuessy allein war, konnte er es sich erlauben zu feixen. Das hörte er nun schon zum zweitenmal an diesem Abend. Doch er hätte es auch gewußt, wenn man ihn nicht mit der Nase draufgestoßen hätte.

»Jawohl«, sagte er. »Wenn sie ihn erwischt hätten –, oder vielleicht jetzt noch erwischen – entsteht die Frage, ob seine Partei dann nicht gewinnt, weil sie die Vaterfigur verloren hat, oder deswegen gewinnt, weil die Volksseele vor Zorn und Mitleid überfließt.«

»Das haben wir nicht zu entscheiden, Herr Zuessy«, antwortete der Vorgesetzte. »Das ist Politik. Wir haben herauszufinden, wer das war und warum er es getan hat. Diese Sache hat politische Hintergründe.«

»Das vermuten wir. Aber wir wissen es noch nicht.«

»Sie kann sie jedenfalls haben.«

Die Stimme Schirrmachers klang ungeduldig. Bringen Sie da keinen Wurm rein, Zuessy! hieß das, denn auch Georg Schirrmacher war ein Beamter, der seine Lektion von der Verteilung der Verantwortung gelernt hatte.

Deshalb fuhr er fort: »Da muß ohnehin Stuttgart ran. Schicken Sie nach Stuttgart ein ausführliches Fernschreiben, sobald Sie mit Ihren Ermittlungen soweit sind.«

Hinter dem Wort ›Stuttgart‹ verbarg sich das Landeskriminalamt von Baden-Württemberg, wie Zuessy wußte.

»Noch während der Nacht?«

»Noch während der Nacht, Zuessy. Die sollen es vorfinden, wenn sie morgen in den Dienst kommen. Dann sind wir aus dem Schneider. Verstehen Sie? Alles, was verkehrt gemacht wird, geht dann auf ihr Konto. Die schicken schon jemanden, der sich seine Sporen verdienen will. Mir legen Sie das Konzept des Fernschreibens auf meinen Schreibtisch. Ich möchte auch morgen sehen, was Sie losgeschickt haben.«

Damit war von Schirrmacher aus alles getan, was zu tun war.

Zuessy legte auf und trommelte anschließend die kleine Mannschaft zusammen, die er auf jeden Fall brauchte: einen Fotografen, einen Beleuchter, einen Protokollführer und einen Mann für die ballistische Spurensicherung, der die Projektile zusammensuchen und fachgerecht asservieren konnte.

Die fünf Mann stießen mit dem notwendigen Gerät und einem Zollboot, das sich Zuessy für diese Fahrt organisiert hatte, in See und nahmen Kurs auf das Wangener Ufer. Der Bootsführer kannte den See auch bei Dunkelheit wie seine Rocktasche. Sobald sie die dunkle Kulisse der Reichenau hinter sich ließen, steuerte er auf das Licht zu, das am Daxschen Grundstück entzündet worden war. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Der Bootsführer tastete mit dem Suchscheinwerfer den Landesteg und die Balkenwände des Bootshauses ab. Plötzlich stand dort, aus der Dunkelheit hervorgeholt, eine Frau und sah ihnen, ohne sich im geringsten zu rühren, entgegen. Sie war blaß. Dunkle Haare hingen lang und unordentlich um ihr Gesicht. Den Oberkörper verdeckte ein sackartiges Kleidungsstück, aus dessen Achsellöchern nackte Arme hervorragten. Die Hände steckten in den Tütentaschen eines knöchellangen, unten ausgefransten, gestreiften Rockes. Die Frau war barfuß.

»Typische Aussteigerin«, sagte der Fotograf, während der Bootsleib knirschend gegen den Anlegepfahl rammte.

»Hättest du hier wohl am wenigsten erwartet«, antwortete Zuessy und versuchte eine Stelle zu finden, von wo aus es ihm möglich war, sich auf den Steg hochzuschwingen.

Die junge Frau beobachtete das eine Weile, zog schließlich die eine Hand aus der Tasche des Rockes und hielt sie Zuessy hin. Die Hand war überraschend nervig und kräftig. Dieser Frau war Arbeit mit den Händen keineswegs fremd, und das nahm Mortimer Zuessy zunächst einmal für sie ein.

Sie machten das Boot fest, und Zuessy zog auch die anderen nach oben.

»Und wer sind Sie?« fragte Zuessy, als sie alle ein wenig unschlüssig, teilweise mit geschulterten Stativen und Lampen auf dem Steg standen.

»Mein Stiefvater hat mich gebeten, hier auf Sie zu warten.«

»Dann sind Sie eine Tochter aus der ersten Ehe von Frau Dax?« fragte Zuessy.

»Ich bin Tibby«, antwortete die Frau. »Und Sie können mich auch ruhig so nennen.«

»Ist das hier passiert?« fragte Zuessy.

Tibby nickte. Sie griff mit einer Hand in den Balkenrahmen der Tür und zeigte auf eine Einschußstelle, an der helles Holz absplitterte. Sie zog an den Splittern.

»Nicht!« sagte Zuessy. »Lassen Sie das!«

»Es wurde hier auf ihn geschossen, nachdem er aus dem Wasser gestiegen war und begonnen hatte, sich abzutrocknen«, sagte Tibby.

»Waren Sie dabei?«

»Nein, niemand war dabei. Er war allein. Aber er hat es uns erzählt.«

»Uns?«

»Was meinen Sie … Da oben ist das ganze Haus voller Leute. Meine Mutter, der Arzt, Herr Reichmann, Flaschner, Gäste, die er heute abend eingeladen hatte und denen meine Mutter nicht mehr absagen konnte, weil sie aus der Gegend von Stuttgart kommen. Vorn an der Straße schlägt sich ein Polizist mit den Journalisten herum.«

Mortimer Zuessy schluckte einen drastischen Fluch nur halb hinunter. Sein schon ergrauender englischer Schnurrbart zitterte.

»Journalisten! Das hat mir gerade noch gefehlt. Wie kommen denn die hierher?«

»Na, das Ballern hat doch über den ganzen See gehallt, als ob die Russen kämen«, sagte Tibby. »Außerdem hat es sich rumgesprochen. Am besten gehen Sie mal rauf und hören es sich an. Vielleicht werden Sie besser als der arme Schultheiß mit den Zeitungsleuten fertig.«

Zuessy winkte dem Protokollführer, einem zu blassen, jungen Mann mit schwarzgeränderter Brille und zu großem schmuddeligen Schnauzbart, der mit ergebenem Hundeblick die Reiseschreibmaschine hochnahm und wartete. Zuessy ordnete an, die Spuren am Bootshaus zu sichern, und während dort die ersten Flashlights aufflammten, stapften er und der Protokollführer hinter Tibby her, durch das feuchte Gras den Wiesenhang hoch und auf das Haus zu, an dem außen und innen sämtliche verfügbaren Lichter brannten. Sie betraten die Wohnräume, nachdem Tibby die Panoramascheibe der Terrassentür zur Seite geschoben hatte.

Ihr Eintreten wurde zunächst gar nicht bemerkt. Reichmann stand neben dem Kamin. Er hielt ein Glas in der linken Hand und unterstrich mit der Rechten seine unerschütterliche Ansicht, daß ganz allgemein ein konzentrischer Angriff auf die wirtschaftlichen Führungskräfte im Gange war, mit dem erklärten Ziel, die Elite zu dezimieren. Die Damen Reichmann und Flaschner saßen mit elegant gekreuzten Beinen in tiefen Sesseln und hörten zu. Flaschner, ebenfalls ein Glas zwischen den Fingern, stellte die Frage, ob man wenigstens noch zur Erörterung der Themen käme, deretwegen man eigentlich hierhergereist wäre.

Dax antwortete: »Die Leute von der Polizei müssen jeden Augenblick hier sein, Franz. Wenn es spät wird, könnt ihr alle auch hier nächtigen, das wißt ihr.«

Friedrich Dax hatte um Schulter und Oberarm einen Verband und trug den Arm in einer Schlinge. In seiner hellgrauen Hose und mit dem marineblauen Sporthemd sah er leger und gleichzeitig martialisch aus. Ein Fels im Meer. Er beherrschte die Runde.

Lisa Dax trat mit einem mit gefüllten Saftgläsern beladenen Tablett in den Raum und sah ihre Tochter und die beiden Beamten in der Terrassentür stehen. Sie blickte hinüber, was auch die anderen veranlaßte, ihr Gespräch zu unterbrechen und sich umzuwenden.

»Zuessy«, nannte der eine Beamte seinen Namen. »Kripo Konstanz.«

Friedrich Dax löste sich aus der Gruppe und kam herüber.

»Mann«, sagte er, »wir erwarten Sie schon! Wie sind Sie denn hier hereingekommen? Einfach so?«

Dax begrüßte den Beamten mit Handschlag.

»Ich habe ihn heraufgeführt«, sagte Tibby. »Mindestens drei sind unten am Bootshaus geblieben.«

»Sie machen Fotos«, sagte Zuessy. »Es läßt sich nicht vermeiden.«

»Macht nichts, macht nichts«, antwortete Dax. »Das ist ja schließlich ihre Aufgabe.« Er warf einen Blick auf den jungen Mann mit dem Schreibmaschinenkoffer. »Sie wollen ein Protokoll aufnehmen? Dann gehen wir am besten nach oben in mein Arbeitszimmer. Dort sind wir ungestört. Aber vielleicht sagen Sie erst der Zeitungsmeute ein paar passende Worte.«