Mord im September - Stefan Murr - E-Book

Mord im September E-Book

Stefan Murr

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Beschreibung

Sein Blick fiel auf die Ladung des offenen Wagens, auf dem er sich befand. Sie bestand aus Kohle. Aber halb verschüttet von kegelförmig auseinandergerutschtem Anthrazit bemerkte er etwas, das ihm nicht hierherzugehören schien. Es sah aus wie ein Paket ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Stefan Murr

Mord im September

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Dieser Erzählung liegt eine [...]Mord im September [Teil 1]Mord im September [Teil 1]

Dieser Erzählung liegt eine tatsächliche Begebenheit aus den Akten der französischen Polizieibehörden zugrunde. Die hier handelnden Personen sind frei erfunden, der Handlungsort wurde nach Deutschland verlegt.

Der Verfasser

9. Oktober

An einem nebligen Morgen, gegen Anfang Oktober, kletterte auf dem Verschiebebahnhof Hamburg-Eidelstedt der Rangierer Matthe Sieverts auf Puffern und Bremsertreppen über mehrere abgestellte Güterzüge, um drüben auf dem Westgleis den 7787 nach Neumünster und Flensburg zusammenzustellen.

Es war um diese Jahreszeit vor Sonnenaufgang noch ziemlich kalt, und der Mann war froh um seine schweren Lederfäustlinge, die ihn die glitschige Frostigkeit der eisernen Treppengeländer nicht so fühlen ließen. Seine lederne Schirmmütze war von einer hauchdünnen Schicht gefrorener Feuchtigkeit überzogen, ebenso wie die gewölbten Dächer der geschlossenen Güterwagen, die sich in langen Reihen in der Dunkelheit verloren. Während er auf einem Bremseraufbau, den er überklettern mußte, wartete, bis die mächtige E-Lok auf dem Nachbargleis, langsam und knirschend und mit dem Stromabnehmer blaue Lichtbögen in den Nebel zaubernd, vorbeigefahren war, fiel sein Blick auf die Ladung des offenen Wagens, auf dem er sich befand. Sie bestand aus Kohle. Aber halb verschüttet von kegelförmig auseinandergerutschtem Anthrazit bemerkte er etwas, das ihm nicht hierherzugehören schien. Es sah aus wie ein Paket. Einige Augenblicke zögerte Matthe Sieverts, während er den Gegenstand genauer betrachtete, dann schwang er sich entschlossen über die Wandung des Waggons und stieg über die unter seinen Tritten wegrutschende Ladung bis hinüber, wo sich der Gegenstand befand.

Wäre der Waggon nicht unmittelbar unter einer der großen, hoch hängenden Bogenlampen zum Stehen gekommen, hätte der Mann das Paket im Schlagschatten der Waggonwandung überhaupt nicht bemerkt. Aber so war es deutlich zu sehen, und Matthe Sieverts zerrte es, nicht ohne Mühe, mit beiden Händen unter der nachrutschenden Kohle hervor, ergriff es bei der Verknotung der Schnüre und trug es zurück zur vorderen Wandung, um es hochkant nah draußen auf die Bremserbrücke zu stellen. Dann schwang er sich selbst wieder von der Ladebühne und überlegte, was nach den geltenden Dienstvorschriften mit dem Fund zu geschehen habe.

Er prüfte das Paket im kalten, unpersönlichen Schein des mächtigen Strahlers weit über ihm in der Dunkelheit. Es war ein rechteckiger Karton mit einer Aufschrift, die er für französisch hielt. Kekse, Margarine oder etwas Ähnliches. Das Paket war doppelt so groß wie ein normaler Schuhkarton und sorgfältig mit kräftigem Spagat verschnürt. Eine Adresse, ein Absender oder irgendeine andere Aufschrift außer der aufgedruckten französischen Bezeichnung fand sich nirgends.

Der Mann drehte den Gegenstand zwischen den Händen hin und her. Dann ergriff er wieder die Verschnürung und kletterte von der Bremserbrücke. Bis zum Beginn der Rangierarbeiten am 7787 waren noch zehn Minuten Zeit. Sie reichten aus, um das Paket nach vorne zur Zugabfertigung zu bringen. In der Nebenbaracke war auch der Posten des Bahnfahndungsdienstes untergebracht, denn Hamburg-Eidelstedt war ein bedeutender Rangierbahnhof, von dem aus häufig Unregelmäßigkeiten zu ermitteln oder zurückzuverfolgen waren.

Mürrisch stapfte Matthe Sieverts mit seinem Fund an endlosen Waggonreihen entlang, stieg über Gleise, Schwellen und Weichen, wich heranklirrenden Rangierlokomotiven aus und betrat dann die rauchige, kahle Baracke der Zugabfertigung. Die Männer hatten übernächtigte Gesichter, und der winzige Kanonenofen qualmte.

Auf einem Tisch, zwischen Begleitpapieren für Güterzüge, leeren Bierflaschen und speckigen Spielkarten, öffneten sie das Paket. Sie fanden darin den Unterarm und die linke Hand einer toten Frau.

Sie wußten genau, was sie in einem solchen Fall zu tun hatten, und von diesem Augenblick an bedienten sie sich ihrer ledernen Rangierhandschuhe, wenn sie das Paket berührten, achteten peinlich darauf, daß die noch ungeöffneten Knoten der Verschnürung unangetastet blieben und machten sich Vorwürfe, daß sie den Karton wie eine Geschenkpackung geöffnet hatten, anstatt ihn sorgfältig aufzuschneiden.

Aber wer hätte schon ahnen können, daß Matthe Sieverts an diesem 9. Oktober, morgens um zehn Minuten vor fünf, inmitten Tausender von Güterwagen, einem Verbrechen auf die Spur kam.

Wie immer in solchen Fällen, entschied man sich bei der Leitung des Bahnfahndungsdienstes für die sofortige Einschaltung der ordentlichen Kriminalpolizei mit ihren erfahrenen Ermittlungsbeamten und ihrem perfektionierten technischen Apparat.

Schon kurz nach acht stand der Wagen der Abteilung VUT neben dem Barackenkomplex der Fahrdienstleitung, und Oberkommissar Zimmermann, der sich seit Jahren mit den Vermißten und den unbekannten Toten dieser Abteilung beschäftigte, versenkte sorgfältig das Paket und seinen Inhalt in einen eigens für solche Zwecke konstruierten Zinkblechbehälter.

Es war zunächst ein jede Intuition ausschließender, genau und präzise festgelegter Weg, der in solchen Fällen einzuschlagen war. Deshalb gingen der Karton, das Füllmaterial und die Verschnürung als erstes hinauf in die Labors der KTU, wo Kommissar Röppke und seine Leute aus den winzigsten Kleinigkeiten genau abgewogene Schlüsse zu ziehen gewohnt waren. Alles andere wanderte auf den Seziertisch der Gerichtsmediziner, und Dr. Stöckel, der Chefpathologe, machte sich bereits im Lauf des Vormittags an seine Arbeit.

Gegen Mittag fand Kommissar Zimmermann Zeit, seinen Kollegen von der Mordkommission anzurufen.

»Wo war das?« fragte Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle.

»In Eidelstedt, Ketterle«, sagte Zimmermann.

»Hm«, brummte Ketterle. »Und wo kam der Waggon her?«

»Aus Bous im saarländischen Kohlenrevier.«

»Aha«, sagte Ketterle. »Aus Bous. Ich werde mir doch gelegentlich einen Atlas anschaffen müssen. Ein langer Weg. Saarländisches Kohlenrevier.«

Er schüttelte den Kopf mit den langsam ergrauenden, borstigen Haaren.

»Wann erfahren wir Näheres, Zimmermann?«

»Ich hoffe gegen fünf, halb sechs. Der Chef wollte die Berichte heute noch haben.«

»Na schön«, sagte der Kommissar. »Sollen wir ermitteln?«

»Ich weiß es noch nicht. Es wäre mir recht, wenn Sie heute abend dabei sein könnten.«

»Mal sehen«, sagte Kommissar Gottfried Cäsar Ketterle. »Mal sehen, Zimmermann. Sagen Sie mir auf jeden Fall Bescheid.«

Er legte auf und ließ, wie er es häufig tat, die Hand auf dem Hörer liegen.

»Wo war das mit dem rechten Frauenarm, Hornschuh?«

Hornschuh stand am Fenster und hatte dem Gespräch zugehört.

»Auf dem Verschiebebahnhof Freilassing in Bayern. Ich las es vorgestern im ›Traunsteiner Tageblatt‹. Wenn Sie die Notiz haben wollen? Ich glaube, die Zeitung ist noch da.«

»Natürlich, Hornschuh. Vorgestern. Das war also der 7. Oktober. Es hat doch etwas für sich, im Urlaub Zeitung zu lesen.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte Hornschuh. »Wie ich Sie kenne, wird die Sache jetzt an uns hängenbleiben.«

»Na«, sagte der Kommissar und klappte einen Aktendeckel zu, der aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sie sind doch erst seit einem Tag wieder im Dienst.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Sehen Sie, Hornschuh«, sagte er dann, »da ist eine Frau gestorben. Nach dem, was Zimmermann sagt, eine junge Frau. Irgendwo in Europa. Niemand weiß, wo das war, wer sie ist und wer ihr das angetan hat. Interessiert es Sie tatsächlich gar nicht, was da vorgefallen sein mag?«

In diesem Augenblick ahnten beide noch nicht, daß sie es wirklich herausfinden würden.

 

 

 

24. September

Vorerst zeigten die Bäume draußen in den Anlagen der Rue Bélaincourt einen kaum merklichen gelblichen Schimmer, und man ahnte den Herbst mehr, als daß man ihn sah. Sie hatte diese Bäume den ganzen Tag vor Augen, wenn sie gerade einmal soviel Zeit hatt, den Blick durch die großen Spiegelglasscheiben hinaus auf die Straße schweifen zu lassen. Meist allerdings war sie von Kunden in Anspruch genommen, beugte sich über Buchungslisten, forschte in den Flugplänen nach komplizierten Verbindungen, gab Auskünfte, nahm Sonderwünsche entgegen und zerstreute Besorgnisse wegen Stürmen über dem Atlantik oder Nebelbildung in Frankfurt, Paris oder Zürich. An diesem Septemberabend waren die Türen bereits versperrt, und die Angestellten ordneten beim Schein des weißlichen Neonlichts, das sich mit der letzten Tageshelligkeit vermischte, ihre Arbeitsplätze. Im Büro des Gruppenleiters stand sie neben dem Schreibtisch und ließ sich eine Fernverbindung geben. Sie setzte sich halb auf den Sessel, als sie die Stimme Corinnes im Hörer vernahm.

»Hier Daniéle«, sagte sie. »Hallo, Corinne. Ich habe dir alles geschrieben. Du weißt schon, nicht wahr? Ich wollte nur noch einmal fragen, ob alles in Ordnung ist. Wie? Ja, morgen früh um zehn Uhr dreißig. Es ist die Kursmaschine der ›Swissair‹ von Brüssel über Frankfurt, Genf, Turin nach Rom. Du darfst keine Spielverderberin sein, Corinne. Du kennst doch Papa.«

Erleichtert hörte sie, daß alles in Ordnung war und daß Corinne nicht die Absicht hatte, eine Spielverderberin zu sein.

»Und für wie lange soll das gelten?« fragte Corinne.

»Ich bin vier Wochen dort«, sagte Daniéle. »Schicke die vorausgeschriebenen Karten regelmäßig zweimal die Woche an meine Eltern ab, und du tust mir einen großen Gefallen.«

Sie waren zusammen im Internat gewesen, und man hatte mit jeder von ihnen Pferde stehlen können. Und sie selbst konnten sich noch jetzt ganz aufeinander verlassen.

»Ich rufe dich von dort aus an«, sagte Daniéle. »Frag mich nicht, wo ich hinfahre. Vorerst ist es noch ein Geheimnis.«

»Gut«, sagte Corinne. »Ich wünsche dir schöne Tage, Daniéle. Und mach keine Dummheiten.«

»Nein«, sagte Daniéle. »Die mache ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob es schön wird. Aber es ist notwendig.«

Dann legte sie auf.

Es war der letzte Abend vor ihrem Urlaub. Sie hatte schon am Nachmittag M. Delacombe ihre laufenden Angelegenheiten übergeben und brauchte jetzt nur noch ihre Tasche zusammenzupacken und sich zu verabschieden, wie es sich gehörte. ›Auf Wiedersehen, Mme. Gaillard, auf Wiedersehen, M. Couvet, auf Wiedersehen, Mme. Boulanger, leben Sie wohl, Mlle. St. Cy.‹ Man mochte Daniéle gerne. ›Recht schöne Tage, Mlle. Bontoux‹, hieß es deshalb, ›ich wünsche Ihnen schöne Ferien, und schreiben Sie auf alle Fälle mal eine Karte.‹

Die Glastür klirrte, und der kleine Giunot mit seinem gewagten gemusterten neuen Schlips und der Igelfrisur schloß hinter ihr ab. Er gestattete sich durch die Tür hindurch ein schüchternes Winken, als sie sich noch einmal umdrehte.

Das war eine Schwierigkeit, die sie nicht bedacht hatte. Alle ihre Kollegen erwarteten von ihr eine an die gesamte Niederlassung adressierte Ansichtskarte mit einem prachtvollen Farbfoto des tiefblauen Genfer Sees und der majestätischen Gletscherkette des Mont-Blanc im Hintergrund. Sie würden sie an die Wand hinter dem Schreibtisch Mme. Boulangers heften, wo alle bunten Ansichtskarten aller Angestellten, die sie aus ihrem Urlaub schrieben, ihren Platz hatten.

Daniéle Bontoux zerbrach sich, während ihr Bus durch die abendlich gefüllten Straßen steuerte, den Kopf, wie sie es anstellen könnte, die in sie gesetzten Erwartungen doch noch zu erfüllen. Aber bis zu der Haltestelle, an der sie aussteigen mußte, war ihr noch keine Lösung eingefallen. Nachdenklich verließ sie den Bus. Sie schob die Wochenkarte in ihre Handtasche und bog in die stille, nur spärlich erleuchtete Villenstraße ein, in der sie wohnte.

Mme. Bontoux öffnete die Küchentür, als sie den Hausschlüssel klappern hörte.

»Schön, daß du da bist, mein Liebling«, sagte sie.

Daniéle mußte lächeln. Seit ihren Kindertagen hatte sich nichts an der Begrüßung Mamas geändert, obwohl Daniéle inzwischen achtundzwanzig und eine selbständige junge Frau geworden war.

Daniéle betrat das Arbeitszimmer ihres Vaters. Oberst Bontoux saß, wie immer, an seinem Schreibtisch hinter einem Stoß kriegsgeschichtlicher Werke und arbeitete. Er sah hoch und nahm die Brille ab. Hinter ihm auf dem Bücherbord stand die große, gerahmte Fotografie Pierres in der Uniform der königlichen Infanterie. Er war bei der Verteidigung von Bastogne 1940 gefallen.

Zwei Tage darauf hatte die Division, in der sein Vater ein Regiment kommandierte, vor den Deutschen kapituliert. Seit damals stand der Oberst auf dem Standpunkt, er habe seinen Lebenszweck verfehlt, das Land, dem er diente, mit seinem Blut zu verteidigen, und das Opfer seines Sohnes sei nutzlos und verbrecherisch gewesen. Er verachtete sein Vaterland und haßte die Deutschen bis zur Grausamkeit.

»Es wird still sein, wenn du fort bist, Kind«, sagte er. »Aber ich gönne es dir von Herzen. Es ist nicht leicht für dich, deine schönsten Jahre in einem Haus wie diesem zuzubringen.«

Daniéle war sich des Opfers, das sie brachte, durchaus bewußt, aber sie war der Ansicht, daß das zu den Pflichten ihres Lebens gehörte.

»Du sollst nicht darüber sprechen, Papa«, sagte sie und ließ sich in einem der tiefen Kaminsessel nieder. »Du willst mir immer etwas einreden, was gar nicht so ist. Solange ihr mich nicht am Gängelband nehmt, habe ich mich immer am wohlsten zu Hause gefühlt. Und das weißt du auch ganz genau. Du willst es nur immer wieder hören.«

Der Oberst versuchte es mit einem Lächeln, ein Versuch, der ihm seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr recht geglückt war. Aber die Zärtlichkeit, die er dabei empfand, war echt.

»Schon gut, mein Kind«, sagte er. »Ich weiß Bescheid, und es tut mir wohl.«

Er legte gewissenhaft Markierungszeichen in die Bücher, die er zur Arbeit benutzt hatte, und schloß sie. Dann nahm er die Brille ab, steckte sie zusammengeklappt in die äußere Brusttasche seines Jacketts und schob mechanisch mit beiden Händen den Bücherstoß auf seinem Schreibtisch an den Kanten senkrecht.

»Wie lange hast du Corinne eigentlich nicht mehr gesehen?« fragte er, während er seine gestraffte Haltung etwas lockerte und sich in seinen Sessel zurücklehnte.

Daniéle hob unbehaglich berührt die Schultern.

»Zwei Jahre ungefähr. Seit der Weltausstellung. Genau wie ihr. Warum?«

»Nun, ihre Einladung kam doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

»Findest du etwas daran, Papa? Solche Freundschaften müssen doch nicht unablässig beteuert und betont werden. Sie halten wahrscheinlich länger als andere. Länger, und sie sind echter.«

Sie lächelte. Es war das Lächeln, das ihr Vater an ihr liebte, denn nur dieses ganz bestimmte Lächeln machte sie wirklich schön. Schade war nur, daß sie es wußte. ›Aber, mein Gott, mit achtundzwanzig‹, dachte der Oberst.

»Ihr könnt mir einen großen Gefallen tun, wenn ihr nicht jeden Tag in Vevey anruft«, sagte Daniéle. »Wir werden viel auf dem Wasser sein. Vielleicht auch mal mehrere Tage. Freunde von Corinne haben eine Kajütjacht. Und außerdem wollen sie mit mir ins Gebirge fahren. Chamonix, der neue Tunnel, das wird doch alles sehr interessant. Ich schreibe euch zweimal die Woche, und wenn etwas Besonderes ist, rufe ich an, abgemacht? Verschwendet nicht euer Telefongeld.«

Der Oberst sah Daniéle aufmerksam an. Ob er spürte, daß sie gerade in diesem Moment zum zweitenmal daran dachte, wie sie es ermöglichen konnte, die obligatorische Ansichtskarte an ihr Büro zu senden? Dem Oberst entging ihre kaum merkliche Verlegenheit nicht. Er machte wieder den Ansatz zu einem Lächeln. Aber er sagte nichts, und das war für Daniéle im Augenblick noch schlimmer, als wenn er ihr offen gesagt hätte, daß er ihre Bitte sonderbar fand.

Es traf sich glücklich, daß gerade in diesem Augenblick Daniéles Mutter zum Essen rief. Daniéle und der Oberst gingen durch die behagliche Diele. Beider Augen streiften Daniéles Koffer und die Tasche, die für den Abflug morgen früh gepackt bereitstanden. 25. September, zehn Uhr dreißig, mit der Kursmaschine der ›Swissair‹ von Brüssel über Frankfurt, Genf, Turin nach Rom. Bevor sie zu essen begannen, sprach der Oberst, wie seit fünfunddreißig Jahren bei jeder Mahlzeit, ein Tischgebet.

 

25. September

Daniéle hatte schon gewußt, daß ihr Vater sie zum Flugzeug bringen würde, noch ehe sie ihm ihren Plan überhaupt unterbreitet hatte. In solchen Dingen war er wie ein Kind. Es handelte sich dabei auch nicht einmal so sehr um sie, als um die Flugzeuge, den Betrieb, das ganze weltmännische Getümmel auf einem internationalen Flughafen. Es war auch seine Idee gewesen, daß sie bei der großen Fluggesellschaft anfing, bei der sie nun schon seit fünf Jahren im Kundendienst als Dolmetscherin für Deutsch, Englisch und Schwedisch arbeitete. »Es ist doch etwas wert, und wenn man nur an die verbilligten Karten denkt«, sagte der Oberst und musterte interessiert durch die riesigen Glasscheiben hindurch den Flugsteig, das Rollfeld und die großen Hangars, unter deren Schutz sich vierstrahlige Atlantikklipper ausnahmen wie Kinderspielzeug.

»Ich reise wirklich durch die Verbilligung nicht viel teurer als mit der Eisenbahn«, sagte Daniéle und sah den Oberst von der Seite an. »Ein bißchen Ersatz für die Zurückgezogenheit und die Klausur in der Kriegsgeschichte, nicht wahr?« sagte sie dann.

»Was meinst du damit?«

»Es muß doch einen Grund haben, daß du das alles so besonders liebst.«

Der Oberst musterte Daniéle unter dem steifrandigen Homburg heraus amüsiert.

»Gescheit bist du schon immer gewesen. Es stimmt. Aber es ist unbewußt.«

»Natürlich«, sagte Daniéle. »Das ist es ja gerade.«

Dann fiel ihr Blick auf einen der Verkaufsstände, deren erleuchtete Nischen sich an den Seitenwänden der überdimensionalen Halle entlangzogen.

»Willst du einen Moment auf mich warten, Papa? Ich bin sofort wieder hier.«

Der Oberst machte schon mit dem Stock einen Ansatz, um sie zu begleiten.

»Nein, nein, bemühe dich nicht«, sagte Daniéle schnell. »Es dauert wirklich nur eine Sekunde.« Sie legte ihre Hand im schwarzen Wildlederhandschuh fast beschwörend um seinen Oberarm.

Der Oberst hob mit einer Geste bedauernder Entschuldigung die Schultern und sah ihr nach, wie sie auf den Stand mit Zeitschriften, Büchern, Stadtplänen und Ansichtskarten zuging. Sie hatte sich eingebildet, nicht nur Ansichtskarten der Stadt, sondern auch solche mit Konturen von Bergen und Alpenseen entdeckt zu haben. Ihre Erwartung erfüllte sich, als sie vor dem Verkaufstisch stand.

»Haben Sie auch Ansichtskarten vom Genfer See?« fragte sie den Mann mit der Halbglatze und der Hasenscharte, der sich, auf einen Stock gestützt, über den Tisch beugte.

»Natürlich, Mademoiselle. Was glauben Sie, wie viele Menschen die wichtigsten Grüße aus ihren Ferien einfach vergessen und dann glücklich sind, wenn sie hier die Karten finden. Sehen Sie hier: Lausanne, Montreux, Genève, Vevey …« Er legte die Karten vor ihr zur Ansicht auf den Tisch. »Die von Montreux vielleicht«, sagte er, »mit dem weißen Dampfer im Vordergrund, meinen Sie nicht, Mademoiselle?«

»Nein, die von Vevey. Das ist gerade das, was ich suche.«

Dann suchte sie sich noch eine Modezeitschrift aus. Der Mann reichte ihr das Heft hinüber. Sie rollte es zusammen und klemmte es unter den Arm, nachdem sie die Karte in ihre Handtasche geschoben hatte. Es hätte ihr Unbehagen bereitet, als einzige der zahlreichen Angestellten ihrer Fluggesellschaft keine Urlaubsgrüße zu senden. Denn Daniéle Bontoux war keineswegs eine Außenseiterin.

»Du kannst schon einsteigen«, sagte der Oberst, als sie zu ihm zurückkam. »Sie haben deinen Flug aufgerufen. Du wirst nicht darauf geachtet haben. Da drüben, glaube ich.«

Er zeigte mit seinem Stock durch das Geflimmer der Spiegelglasscheiben und Schwingtüren, hinaus aufs Rollfeld, wo sich auf dem Silber eines Flugzeugrumpfs ein weißes Kreuz im roten Feld abzeichnete.

Sie gingen hinüber. Der Träger mit ihren Koffern war schon da und schob das Gepäck neben ihr her, auf die Stahlblechrampe der Zollabfertigung. Der Beamte warf einen Blick in ihr Gesicht, einen zweiten auf ihren Reisepaß und ließ sie nach einem weiteren Blick in das Gesicht des Obersten passieren. Ihre Koffer verschwanden nach hinten, um zum Flugsteig gebracht zu werden.

Dann war sie hinter der Barriere. Sie ging zu der Stelle, wo ihr Vater stand, um sich von ihm zu verabschieden. Von draußen drang das schrille Pfeifen einer Maschine herein, die an den Flugsteig gebracht wurde. Der langgestreckte blaue Adler der Lufthansa und die schwarz-rot-goldene Gösch am Leitwerk waren deutlich zu erkennen.

»Ein Glück, daß du nicht mit denen fliegst«, schnaufte der Oberst und schwang seinen Stock in Richtung auf das Flugzeug.

»Warum?« fragte Daniéle. »Sie fliegen genauso gut wie andere. Oder hättest du es mir verboten, Papa?«

»Ich kann dir nichts verbieten«, sagte der Oberst rauh. »Aber du weißt genau, was ich von der Tochter eines Soldaten, der bei Hasselt gegen die Deutschen kämpfte, erwarte. Sie sollen ihre Schulden bezahlen, ihre Verbrechen wiedergutmachen und das internationale Auftreten anderen überlassen. Man könnte ja meinen, es sei weiter nichts geschehen, wenn man das sieht.«

Wieder fuchtelte der Stock gefährlich und verbittert in Richtung auf das Flugzeug. Daniéle griff danach und bog ihn nach unten.

»Du weißt, daß ich deine Gefühle verstehe …«, sagte sie. »Aber trotzdem – willst du mir nicht einen Kuß geben? Ich fliege ja mit den Schweizern. Und gegen die hast du nicht gekämpft.«

Sie hielt ihm beide Wangen hin, und er küßte sie. Dann zog er sein Taschentuch und winkte, bis er sie draußen die Gangway hochklettern und im Einstieg des Flugzeugs verschwinden sah. Er warf noch einen verächtlichen Blick auf den Rumpf der deutschen Maschine, wandte sich dann ab und ging, den Stock pedantisch mit jedem Schritt des linken Fußes nach vorne setzend, gerade und hager dem Ausgang zu.

Daniéle hatte einen Sitz am Fenster gebucht. Der Platz zwischen ihrem und dem Mittelkorridor war noch frei. Sie machte es sich bequem und sah zum Fenster hinaus. Wenn sie den Kopf zurückdrehte, konnte sie auch die Gangway sehen und die Passagiere, die nach und nach das Flugzeug bestiegen und dann von einer stereotyp lächelnden, dümmlichen Stewardeß zu ihrem Platz gebracht wurden. Sie merkte nicht einmal, wie der Sessel neben ihrem besetzt wurde und erschrak nur etwas, als sie sich später umwendete, und der Mann, der ihn eingenommen hatte, höflich »Guten Tag« zu ihr sagte. Er lächelte, als er ihren Schreck bemerkte, und deshalb fiel ihr Dank für seinen Gruß mehr als förmlich aus.

Kurz danach wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Start der Maschine gefesselt, während ihr Nachbar sich eine Tasse Mokka servieren ließ. Die Zeit, während der das Flugzeug schwerfällig und holpernd zum Abrollpunkt gesteuert wurde, schien ihr endlos. Schließlich wendete es mit einem stoßartigen Losbrüllen der beiden rechten Stahltriebwerke. Ein Mann schwang draußen eine weiße Fahne mit einem diagonalen roten Kreuz darin, und dann wurde sie nach rückwärts in den Sitz gepreßt, während ihr Nachbar eine Zeitung aus der Rocktasche zog und sich in ihren Inhalt vertiefte. Es interessierte Daniéle nicht sonderlich, daß es sich um eine Fachzeitschrift für Eisenbahnwesen handelte.

Unter Daniéles Fenster verschwamm rasch der Beton der Piste zu einer konturlosen Fläche, und blitzartig wischte, etwas weiter weg, ein Schäfer mit seiner Herde vorbei, ein Auto, das am Straßenrand angehalten hatte, der niedrig plumpe Wasserbehälter auf dem Dach einer Fabrik. Schließlich neigte sich der Horizont nach unten, und die Erde stand schief. Sie stiegen.

Bald schwammen einzelne, flockige Wolkengebilde unter ihnen, und durch ihre Zwischenräume konnte man das gelblichgrüne, von den Schatten der gleichen Wolken gefleckte Land sehen. Nur wenige Minuten blickte Daniéle nach unten, dann lehnte sie sich behaglich zurück und merkte nicht im geringsten, wie aufmerksam der Passagier neben ihr ihr Profil musterte, wenn er sicher war, daß es unbeobachtet geschah.

Daniéle zog aus ihrer Handtasche die prachtvolle Ansichtskarte aus Vevey und ihren Füllhalter hervor und begann sie zu schreiben. Sie mußte eine Weile überlegen, um sich nach Vevey zu versetzen und sich auszumalen, was sie von dort ihren Kollegen in Brüssel mitteilen würde. Während sie noch nachdenklich um sich sah, bemerkte sie, daß der Blick ihres Nachbarn auf der Fotografie ruhte. Aber in diesem Moment fiel ihr ein, was sie schreiben mußte, und sie beugte sich nach vorn. Schließlich versah sie die Karte mit der Adresse ihrer Firma, riß aus ihrem Kalender ein leeres Blatt und beschrieb es mit einer erklärenden Notiz für Corinne. Dann dachte sie daran, daß sie für die Karte keinen Umschlag hatte, beugte sich etwas zur Seite und winkte der Stewardeß.

»Haben Sie zufällig einen Briefumschlag an Bord?«

Das Mädchen nickte, verschwand nach rückwärts und kam mit einem hellblauen Luftpostumschlag wieder, dessen Format für eine Ansichtskarte aus Vevey am Genfer See absolut nicht paßte.

»Oh, das tut mir leid …«, sagte Daniéle und hob bedauernd die Karte, »… aber das wird nicht gehen.«

»Aber wir haben nur diese …«

»Kann ich Ihnen vielleicht aushelfen, Madame?« sagte der Mann, der das Gespräch zwangsläufig mit angehört hatte, und griff nach seiner Aktentasche.

»Aber das wollte ich wirklich nicht«, sagte Daniéle reserviert, und ihre Mundwinkel zeigten, daß sie sich über das hilflose Französisch ihres Nachbarn mokierte. Der Mann öffnete unbekümmert um ihre Reserve seine Mappe und entnahm ihr einen weißen Briefumschlag in dem üblichen Format.

»Embecqué«, sagte er.

Daniéle hob die Klappe und sah das Seidenpapier.

»Doublé«, sagte sie. »Sie meinen gefüttert?«

Der Mann lachte. »Ja, wirklich«, sagte er auf deutsch, wie Daniéle. »Was ist der Unterschied?«

Gegen ihren Willen gefiel es ihr, daß er keine Verlegenheit zeigte. Und jetzt, als sie direkt in sein unregelmäßiges Gesicht mit der knolligen Nase und dem Bürstenhaarschnitt sah, konnte sie sich auch vorstellen, daß man ihn sympathisch fand, aber erst, wenn man zum zweitenmal hinsah.

»Embecquer heißt auf französisch einen Vogel füttern«, sagte sie. »Aber im Deutschen haben Sie für beide Dinge das gleiche Wort.«

»Woher können Sie so gut Deutsch?« fragte der Mann.

Daniéle war damit beschäftigt, den Umschlag zu schließen und ihn mit Corinnes Adresse zu versehen.

»Ich habe es auf einer Dolmetscherschule gelernt«, sagte sie und leckte die Ränder der Umschlagklappe. Dann verschloß sie gewissenhaft den Brief und schrieb als Absender ihre Brüsseler Adresse auf die Rückseite.

»Und woher können Sie so gut Französisch?« fragte sie ernsthaft.

»Ich habe es mir selbst angeeignet«, sagte der Mann. »Ich brauche es hin und wieder.«

»Sind Sie Deutscher oder Schweizer?« fragte Daniéle, während sie die Sendung an Corinne in ihrer Handtasche verwahrte und das Zigarettenetui hervorzog. Der Mann gab ihr Feuer, aber er antwortete nicht.

»Koblenz«, sagte er statt dessen und deutete zum Fenster hinaus.

»Ich weiß«, sagte Daniéle. »Ich bin diese Strecke schon geflogen. Ich habe beruflich mit Flugzeugen zu tun.«

»Und ich mit Eisenbahnen«, sagte der Mann. »Das ist weniger romantisch, nicht wahr?«

Daniéle zuckte mit den Schultern.

»Warum?« sagte sie. »Man kann aus jedem Beruf etwas machen. Das kommt nur auf einen selber an. Ich kenne einen blinden Bürstenverkäufer, dessen größte Freude es ist, wenn er sich nach jedem Umbau, nach jeder Modernisierung der Stadt immer wieder von neuem zurechtfindet. Man möchte es nicht glauben, aber der Mann ist glücklich.«

»Warum nicht? Wahrscheinlich hat er keinen weiteren Ehrgeiz als diesen. Es ist alles nur eine Frage der Erwartungen.«

»Stimmt«, sagte Daniéle und sah den Mann aufmerksamer an. »Das ist sehr wichtig.«

Nachdenklich schwieg sie, während der Mann sich, als er bemerkte, daß sie nicht mehr gestört sein wollte, in seine Zeitschrift vertiefte.

Schon nach kurzer Zeit empfahlen ein aufleuchtendes Transparent und die Stimme der Stewardeß den Passagieren, sich anzuschnallen. Unter ihnen, im dunstigen Kessel der Mainniederung, lag Wiesbaden, und weiter weg konnte man Mainz, die Mainmündung und die Brücken erkennen, die sich über beide Flüsse spannten. Die Maschine verlor spürbar an Höhe, und bald sah man das seelenlose, geometrische Betonkleeblatt des Autobahnkreuzes, das rücksichtslos in eine grüne Landschaft gepreßt war. Die Maschine flog über eine Ackerregion, dann kam Industrie, und schließlich geisterte ihr Schatten niedriger und niedriger über einen ausgedehnten Kiefernwald. Das Ende der Rollbahn mit ihrer kreisförmigen Ringpiste wurde größer. Endlich zeigte ein sanfter, federnder Schlag an, daß das Fahrwerk den Boden berührt hatte. Das Pfeifen der Triebwerke schwoll ab.

»Wir sind da«, sagte der Mann neben Daniéle, löste den Verschluß der Gurte und stemmte sich aus seinem Sessel.

»Das heißt, ich bin da«, fügte er hinzu, während er sich einen Seidenschal um den Hals legte und einen stilisierten Trachtenhut aufsetzte. »Sie werden nach Genf fliegen.«

Dann schlüpfte er in einen knisternden Regenmantel aus bräunlichem Changeant. Daniéle Bontoux sah in sein Gesicht, das jetzt unter der Krempe des Hutes undurchdringlich und verschlossen wirkte, so wie das Gesicht eines Mannes, der entweder viel verbirgt oder viel erlebt hat.

»Warum interessieren Sie sich dafür?« fragte sie, plötzlich beunruhigt. »Nein, ich fliege nicht nach Genf.«

»Wenn Sie hier ausgestiegen wären, hätte ich Sie irgendwohin bringen können, Madame«, sagte der Mann und bückte sich zum Fenster, um festzustellen, wie weit sich die Maschine bereits den Empfangshallen genähert hatte. Daniéle war der Gedanke an eine Begleitung unangenehm.

»Nein«, sagte sie deshalb entschieden. »Nein, vielen Dank. Ich steige auch hier nicht aus. Und außerdem kennen wir uns doch gar nicht.«

»Verzeihen Sie«, sagte der Mann. »Das können wir sehr rasch ändern. Mein Name ist Sperling. Günther Sperling. Aber ich nehme nicht an, daß Sie das veranlaßt, schließlich doch hier auszusteigen.«

Daniéle war nicht in der Stimmung, auf seinen plumpen Scherz einzugehen.

»Nein«, sagte sie deshalb. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sie sind ziemlich aufdringlich, finden Sie nicht?«

Aber dann, als er ihr die Hand hinstreckte, tat ihr ihre Grobheit doch leid.

»Ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise, Madame. Vielleicht begegnen wir uns einmal in Brüssel. Ich bin ab und zu dort.«

Widerstrebend legte sie ihre Hand im schwarzen Wildlederhandschuh in seine und spürte einen überraschend kräftigen Druck.

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich sicher nicht. Das glaube ich ganz sicher nicht.«

»Es könnte vielleicht trotzdem sein«, sagte der Mann, wendete sich um und ging nach rückwärts zum Ausstieg. Daniéle sah ihn mit seiner Dokumentenmappe und seinem weichledernen Vierundzwanzig-Stunden-Koffer die Gangway hinabklettern und wenig später das Flugsteiggatter passieren.

Erst als sie ihn nicht mehr sehen konnte, seufzte sie unbewußt einmal auf und erhob sich dann ebenfalls, um sich ihren Mantel anzuziehen und den Hut aufs Haar zu setzen. Sie verließ das Flugzeug als letzter der Passagiere, die in Frankfurt am Main ausstiegen. Sie ging alleine den Flugsteig entlang zum Gatter der Zollabfertigung und sah Koffer und Tasche bereits im Hintergrund stehen.

Während der Beamte sich mit ihrem Gepäck beschäftigte, blickte Daniéle um sich und unterzog den Teil der Zollabfertigung und der Halle, den sie von hier aus sehen konnte, einer eingehenden Musterung. Der Mann, der sich als Günther Sperling vorgestellt hatte, war nirgends zu sehen. Er bestieg in diesem Augenblick vor dem Haupteingang ein Taxi und sagte dem Chauffeur, daß er ihn zum Hauptbahnhof bringen solle.

Daniéle war erleichtert, daß sie ihn nirgends bemerkte, und schrak zusammen, als sie sah, daß ihr der Beamte bereits ihren Paß hinhielt.

»Vielen Dank«, sagte sie hastig, verwahrte den Paß in ihrer Handtasche und winkte einem Gepäckträger. Sie durchschritt die Halle, die vom Gedröhn von Lautsprechern widerhallte und über deren glatten Estrich zahllose Menschen hasteten. Draußen wartete der Träger neben einem Taxi, das er diensteifrig mit Beschlag belegt hatte, auf sein Geld. Daniéle gab es ihm, ließ sich in die Polster fallen und sagte zu dem Fahrer: »Bringen Sie mich bitte zum Hauptbahnhof.«

Während das Taxi die rechts und links von dichtem Wald gesäumte Straße zur Stadt einschlug, überdachte Daniéle noch einmal ihr Vorhaben. Natürlich hätte sie Edmund schreiben können, daß sie ihre gegenseitige Beziehung als aussichtslos ansah, und den Besuch, um den er sie gebeten hatte, als zwecklos. Aber dazu verband sie zu vieles mit ihm. Manchmal allerdings wollte es ihr nicht gelingen, das, was sie mit ihm verband, klar zu fassen und in ihrem Gehirn vor sich auszubreiten, zu betrachten und zu würdigen. Wahrscheinlich ist es das Wesen der Liebe, daß man gerade das nicht kann, dachte sie dann und schob die Zweifel beiseite.

Seit zwei Jahren ging das nun so. Seit der großen Weltausstellung, wo sie sich in einem Lokal kennengelernt hatten, das sie mit gemeinsamen, flüchtigen Bekannten besuchten. Achtmal war er in der Zwischenzeit in Brüssel gewesen. Sie hatten sich verstohlen getroffen, waren aufs Land gefahren, hatten in verschwiegenen Restaurants gegessen und ihre Beziehungen ihrem Vater strikt verheimlicht. Unzählige Briefe waren gewechselt worden, und jetzt hatte Daniéle ihren Entschluß gefaßt, klare Verhältnisse zu schaffen. Sie konnte nicht warten, bis sie vierzig wurde, um ihren Platz in einem Haus einzunehmen, Kinder zu haben und die ganz gewöhnlichen Pflichten einer Frau und Mutter zu erfüllen. Sie biß sich auf die Lippen, während sie wieder daran dachte, daß er wahrscheinlich nicht im entferntesten ahnte, mit welchen Vorsätzen sie den Besuch vollzog, um den er sie in zahllosen Briefen angefleht hatte.

Das Taxi hatte jetzt die Gegend am Stadion erreicht. Langsam wurde die Bebauung rechts und links der Straße dichter, und dann begannen die häßlichen Straßenzüge von Sachsenhausen. Sie folgten einer Trambahnlinie. Frauen drängten sich in neonerleuchteten Supermärkten, schleppten Taschen, Körbe und Netze und hatten mürrische Gesichter.

Später öffnete sich die Straße zur Auffahrt auf eine breite Brücke. Autos stauten sich, und Daniéle betrachtete den großartigen Anblick der Häuserfronten zum Schaumainkai hin, hinter denen sich in leichtem Dunst die Kuppeln und Türme der Reste der Altstadt und die kubischen Hochhäuser abzeichneten, die nach dem Kriege erbaut worden waren.

Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine Zigarette aus dem ledernen Etui. Sie fand ihr Feuerzeug nicht sofort und dankte, als der Chauffeur ihr den glühenden Anzünder nach hinten reichte. Dann ging es weiter. Ein lebhafter Platz, rechts hinunter der Blick in die benzindurchdunstete Zeil und zur Hauptwache, dann das Theater und schließlich die rußige Bogenwölbung des Hauptbahnhofs, der die Kaiserstraße abschloß. Endlich hielt das Taxi an, und wieder winkte Danéle einem Gepäckträger.

»Bitte bringen Sie die Sachen zur Aufbewahrung für Handgepäck und warten Sie bei den Fahrkartenschaltern auf mich.«

Sie bezahlte das Taxi und betrat die Haupthalle.