Ein Toter stoppt den 6 Uhr 10 - Stefan Murr - E-Book

Ein Toter stoppt den 6 Uhr 10 E-Book

Stefan Murr

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Beschreibung

Friedrich Dürecke stand an diesem Morgen wie immer auf der Fahrerkanzel der Elektrolok und starrte vor sich auf den im dämmrigen Morgenlicht liegenden Schienenstrang. In ein paar Minuten mußte vor ihm das schwarze Maul des Tunnels auftauchen. Jetzt sah er es vor sich, jetzt war es da; ein kurzer Pfiff, vom dröhnenden Mauerwerk schon halb verschlungen. Im Bruchteil einer Sekunde schien ihm das gewohnte Bild anders als sonst. Der schimmernde Strich der Gleise war für eine winzige Strecke verbogen oder verdeckt. Und dann, viel zu spät zum Bremsen, erkannte Dürecke, daß dort etwas lag ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Stefan Murr

Ein Toter stoppt den 6 Uhr 10

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Ein Toter stoppt den 6 Uhr 10 [Teil 1]Ein Toter stoppt den 6 Uhr 10 [Teil 2]

Der Sechs-Uhr-Zehn wurde elektrisch gefahren, und seitdem das so war, hatte auch der Alltag Friedrich Düreckes sein graues Gesicht ein wenig verändert. Um Viertel vor sechs Uhr erst stieg er in dem matt erleuchteten Schuppen in die Kanzel der modernen elektrischen Lokomotive, ließ den Strombügel hochfedern und setzte die Motoren in Gang. Nach fünf Minuten war es im Führerstand warm, nach zehn Minuten ließ er die Maschine langsam und gravitätisch über die Weichenbahnen nach vorn gleiten, hielt mit einem kurzen Pfiff in Höhe der Möbelfabrik an und setzte die Lok dann, rückwärts stoßend, vor die Garnitur, bis sie mit einem sanften, nachfedernden Schlag zum Stehen kam. Dann sah er durch das herabgelassene Fenster nach hinten, wo die Leute einstiegen. Er kannte sie fast alle, die täglich mit ihm reisten, die Arbeiter, die Monteure, die Meister und Bauführer, die jungen Dinger, die zum Tippen, und die älteren Frauen, die zum Putzen fuhren. Auch Angestellte waren dabei und sogar ein Prokurist, der die erste Klasse benützte. Hennigmann, der Zugführer, und Krause oder Binder als Schaffner begrüßte er mit einem kurzen Tipp des Zeigefingers an die Mütze. Hennigmann kam schlendernd nach vorn.

»Na, Fritz«, er sah nach oben. »Wie schaut’s so?«

Dürecke hob die Schultern.

»Ausschlafen möchte man mal. An einem anderen Tag als am Sonntag«, sagte er. Hennigmann nickte. Das wollte er auch schon lange. Und mit diesem Wunsch waren beide nicht allein. »Na ja, denn«, sagte Hennigmann. »’n schönen Tag auch, Fritz.«

»Wird schon«, sagte Dürecke. »Es ist jeden Tag das gleiche. Was soll groß sein?«

Es war wirklich wie jeden Tag in diesen fünf Jahren, und als Dürecke jetzt weiter hinten Meyer mit der roten Mütze über die Gleise stapfen sah und Binder pfiff, drehte sich Dürecke zurück in die Kanzel, um den Fahrstrom einzuschalten. Noch ein kurzer Blick nach draußen. Der Zeiger der Uhr sprang auf sechs Uhr zehn. Meyer hatte die Kelle gehoben. Dürecke schloß das Fenster und schob die Hebel nach vorn. Die wuchtigen Magnettöpfe saugten die Räder in zitternd drehende Bewegung, und von jetzt an brauchte Dürecke nichts mehr zu machen als nach vorn zu schauen und in regelmäßigen Abständen die Sicherheitsfahrschaltung zu betätigen, bis er hinter dem Tunnel den Zug in der nächsten Station zum Halten zu bringen hatte.

In der Feuchtigkeit des Morgens, vor den Scheinwerfern glitzernd, zeichnete sich die Fahrstraße durch das Gewirr der Schienen und Weichen in die Ausfahrt. Wieder die Möbelfabrik, die Straßenbrücke, die sanfte Kurve zum Fluß hinüber und dann schon das grüne Licht vom Block eins. Vierzig nach der donnernden Brücke über den Fluß, fünfzig, und dann die lange Gerade mit siebzig und achtzig. Rhythmisch schlugen die Schienenstöcke an die Räder. Die matte Instrumentenbeleuchtung war wohltuend und beruhigend. Wenn er nachher dieselbe Strecke zurückfuhr, war es schon hell. Sanft überhöht zog die Lokomotive den Zug in langer Biegung quer über das Tal, in dem etwas Nebel lagerte. Gespannt blickte Friedrich Dürecke nach vorn, wo sich in ein paar Sekunden das schwarze, von altmodischem Mauerwerk umgebene Maul des Tunnels öffnen mußte, in dessen Röhre die Strecke achthundert Meter lang den Höhenrücken durchstieß. Jetzt sah er es vor sich, jetzt war es da, ein kurzer Pfiff, vom dröhnenden Mauerwerk schon halb verschluckt. Rhythmisch ratternd und dröhnend füllte das Fahrgeräusch alles um ihn her aus. Schwach zerrten die Scheinwerfer eine kurze Strecke der feuchtglänzenden Quader der Tunnelwandung, die beiden Fäden der Gleise und dahinter die Dunkelheit an sich heran. Friedrich Dürecke war dieses Bild seit fünf Jahren gewohnt.

Aber jetzt, in diesem Bruchteil einer Sekunde, schien es ihm um eine Nuance anders als sonst. Der eine schimmernde Strich der Gleise schien ihm für eine winzige Strecke verbogen oder verdeckt. Es war wie ein Schatten, ein Sack oder sonst etwas Unbestimmtes, das auf der blinkenden Schiene mit einer Geschwindigkeit von achtzig Kilometern die Stunde auf ihn zugetragen wurde.

Und dann, viel zu spät zum Bremsen, erkannte Dürecke, daß dort jemand lag. Mit der Schnelligkeit einer fotografischen Belichtung sah er im matten Licht der Scheinwerfer eine sonderbar hochgebäumte Hand, die unter dem Rand seines Frontfensters verschwand. Dürecke war wie gelähmt. Aber es war genau die Sekunde, in der er den hartnäckig hupenden Sifa-Knopf hätte drücken müssen, und die automatische Bremse nahm ihm den Entschluß ab. Als halte ein Riese von vorne die Hand gegen die Lok, verminderte sich die Fahrt kreischend, stoßend und nach heißem Metall riechend. Dürecke wurde nach vorn geschleudert, klammerte sich fest und wartete, bis nach Jahrzehnten, wie es ihm schien, der Zug mit einem letzten harten Ruck zum Stehen kam. Er riß die Tür auf, sprang hinaus, stoperte und rannte am Zug entlang nach hinten. Auch in den Waggons öffneten sich Fenster und Türen. Binder hatte seine Vorschriften im Kopf. »Ein Haltsignal«, rief er, »nur ein Haltsignal. Kein Grund zur Aufregung.« Die Fenster schlossen sich, und die Leute machten sich daran, ihre Zeitungen zu Ende zu lesen.

»Es ist einer auf der Strecke gelegen«, keuchte Dürecke Hennigmann zu, der ihm mit der Karbidlampe entgegenkam. »Ich habe es genau gesehen. In dem Moment ging die Automatische los. Komm mit, es kann nicht weit sein.«

Das Licht der Karbidlampe war noch schwächer als das der Lok. Das Bündel lag etwa sechzig Meter hinter dem letzten Waggon des Zuges, dessen rote Rückleuchten sicher und vertrauenerweckend strahlten. Die drei Männer sahen etwas, von dem sie sich zeit ihres Eisenbahnerlebens gewünscht hatten, es niemals sehen zu müssen.

»Herrgott im Himmel«, sagte Hennigmann, und Binder schlug ein Kreuz.

»Ich habe ihn nicht totgefahren«, sagte Dürecke mit fliegender Stimme. »Das kann ich beschwören. Er war schon tot, wie er da lag. Das weiß ich genau.«

Schotter knirschte unter ihren Stiefeln.

»Was das wohl für einer ist?« sagte Binder und wußte nicht, daß es einer war, den die gesamte Polizei des Landes seit gestern fieberhaft suchte, und daß die Geschichte vor einem Dreivierteljahr damit angefangen hatte, daß in Hamburg ein Mann vom Hauptbahnhof in Richtung der Markthallen ging.

Für die drei Männer war das im Augenblick auch gar nicht so wichtig. Für sie war es wichtiger, Hilfe heranzuholen und einen Vorgesetzten. Die Nische mit dem Streckentelefon war nicht weit entfernt. Hennigmann nahm den klobigen Hörer aus dem Blechkasten. Er wußte, daß er keine Verbindung bekommen würde, kaum daß er ihn am Ohr hatte. Hennigmann leuchtete mit der Karbidlampe. Und er brauchte nicht lange zu suchen. Das Kabel der Streckenleitung war dicht bei seinem Austritt aus dem grauen Metallkasten durchschnitten.

 

Der Mann kam vom Bahnhof, und er ging zu Fuß. Er hatte kein weiteres Gepäck als einen kleinen Koffer, der in seiner rechten Hand baumelte, trug einen schäbigen Mantel mit hochgestelltem Kragen und einen schäbigen Hut mit heruntergebogener Krempe. Da es regnete, fiel das nicht weiter auf. Der Mann fiel überhaupt nicht weiter auf, und darauf kam es ihm an. Er hatte aus diesem Grund kein Taxi genommen, ja nicht einmal eine Straßenbahn bestiegen, und es war ihm recht, daß es die Stunde zwischen sechs und sieben war, zu der Hunderttausende andere ebenfalls mit hochgeschlagenen Kragen und heruntergebogenen Hutkrempen durch den penetranten Nieselregen nach Hause eilten.

Wahrscheinlich war er allerdings der einzige von ihnen, der vor etwa sechsunddreißig Stunden auf dem in der ersten Frühjahrshitze kochenden Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Athen in den direkten Urlauberzug gestiegen war, der achthundert braunhäutige, dunkelhaarige und temperamentvolle Männer wie ihn zurück nach Deutschland an ihre Arbeitsplätze brachte. Auch unter ihnen war er nicht weiter aufgefallen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und ihm bestand nur darin, daß er neben der Fahrkarte in seiner Brieftasche noch eine zweite Fahrkarte bei sich trug, die für die gleiche Fahrt und den gleichen Zug galt, nur genau sieben Tage später, am Donnerstag der kommenden Woche. Aber das wußte außer ihm selber niemand.

Der Mann sah sich nicht einmal um. Er brauchte sich auch gar nicht umzusehen, denn es gab für niemanden in dieser Stadt eine Veranlassung, auf ihn zu achten. Zielbewußt und mit stetigen Schritten bog er um Ecken und überquerte Straßen, folgte Häuserwänden. Schließlich, in einer der schachtartigen Gassen, wo esschon zu den Markthallen hinunterging, bog er in die Torfahrt eines unauffälligen Hauses zwischen einer Briefmarkenhandlung und einer winzigen Schiffahrtsagentur ein, durchschritt einen Hof, eine zweite Durchfahrt und noch einen Hof und tauchte in ein Treppenhaus, dessen Stufen knarrten, als er nach oben stieg.

Der Mann war in dieser Gegend und in diesem Haus noch niemals in seinem Leben gewesen. Aber Zlamitzer hatte ihm alles in seinem Brief mit solcher Gewissenhaftigkeit geschildert und aufgezeichnet, daß es ihm möglich gewesen war, sich jede Einzelheit einzuprägen und sich jetzt so zu bewegen, als sei er hier zu Hause, ohne zu fragen, ohne zu zögern, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, dem die Einzelheiten seiner täglichen Umgebung in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Den Brief hatte er vernichtet, aber seinen Inhalt hatte er im Kopf. Die Tür war im fünften Stock. Sie hatte einen stumpf gewordenen Messingknauf in der Mitte. Rechts war das Fenster, wo es auf das flache Blechdach ging, und richtig, direkt zur Linken die eisenbeschlagene Tür, die zum Boden führte. Wieder lachte der Mann lautlos vor sich hin, denn er hatte sich die Tür genauso vorgestellt, wie sie wirklich aussah. Sein Blick schweifte nach oben. Da war die ausgebrochene Ecke Mauerwerk über dem rechten Teil des Eisenrahmens, wo sich der Schlüssel befinden sollte und in die man provisorisch ein Stück Ziegel gesteckt hatte. Der Mann stellte den Koffer zu Boden, griff nach oben und zog es heraus. Seine Finger tasteten in die Höhlung. Sie spürten Zement, Mörtelbrocken, Staub. Aber sie spürten kein Metall. Er tastete noch mal und wieder. Schließlich zerdrückte er einen Fluch zwischen Zunge und Gaumen. Aber das, was er hatte sagen wollen, schluckte er hinunter, als er plötzlich nur im Augenwinkel bemerkte, daß zwischen dem Rahmen und dem Flügel der Tür mit dem matten Messingknauf ein schmaler dunkler Spalt klaffte. Einige Zehntelsekunden blieb er regungslos stehen und hörte die Geräusche weiter unten im Haus. Dazwischen pulste der Schlag seines eigenen Herzens. Mechanisch schob er den Ziegel wieder an seine Stelle, ließ die Hand sinken und drehte fast unmerklich den Kopf.

»Komm schon rein«, hörte er ihre Stimme. »Hat dich jemand gesehn?«

Er hob den Koffer hoch und trat durch die Tür.

»Niemand«, sagte er. »Dich hoffentlich auch nicht.«

Sie drückte die Tür hinter ihm zu und drehte den Riegel.

»Nein«, sagte die Frau. »Und wennschon? Ich habe ja hier gemietet. Also hat alles geklappt? Den Brief hast du bekommen? Mach kein Licht«, fügte sie rasch hinzu, als er nach dem Schalter tastete, »man kann hereinsehen.«

Er zog den Mantel aus, warf ihn über ein Möbelstück und legte den Hut darauf.

»Ich habe Hunger«, sagte er und versuchte sie in der Dunkelheit zu erkennen.

»Du kannst essen. Es gibt sogar einen Kühlschrank hier. Setz dich doch.«

Er hörte, wie sie den Kühlschrank öffnete, und holte sein Feuerzeug und die Zigaretten aus der Tasche. In der aufleuchtenden Flamme sah er ein einfach möbliertes Zimmer mit einer Couch, ein paar Sesseln und einem flachen Tisch. In einer Ecke befanden sich Waschbecken und Kühlschrank.

Lenora Zlamitzer brachte Brot, Butter und eine Büchse Sardinen. Er setzte sich auf die Couch und beobachtete, nachdem sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das von draußen hereinfiel, wie sie einen Teller auf den Tisch stellte und das Besteck daneben legte. Sie hatte an alles gedacht.

»Wann ist es soweit?« fragte er, während sie ihm Brot abschnitt.

»Morgen«, hörte er sie antworten. »Es verläuft alles planmäßig. Du wirst Rod nicht mehr sehen. Erst dort. Du weißt ja Bescheid.«

Aristide wußte Bescheid. Es war alles mit Rod seit Monaten abgesprochen. Der Plan war ausgearbeitet bis in die letzten Einzelheiten. Rod Zlamitzer und er kannten ihn auswendig wie eine Dienstanweisung. Nur der genaue Tag mußte noch in das Räderwerk eingesetzt werden, dann begann es zu laufen. Und dieser Tag war morgen.

»Hast du vorgesorgt?« fragte Lenora.

»Natürlich«, sagte Aristide, legte seine Zigarette in einen Aschenbecher, den sie ihm gebracht hatte, und versuchte die Lasche der Sardinendose in die Öse des Öffners zu schieben. »Ein Freund von mir liegt mit Verdacht auf Magengeschwüre für einige Tage im Krankenhaus in Nikosia. Das Krankenhaus wird später nur noch anhand der Krankenblätter eine Auskunft geben können.«

»Du lieber Gott«, sagte Lenora.

»Unter meinem Namen natürlich. Du kennst die Hospitäler in Nikosia und ihre Krankenblätter nicht«, sagte Aristide, »sonst hättest du keine Bedenken.«

Er lachte und rollte den Deckel der Fischdose zurück. Sie wunderte sich, wie schon so oft, über sein fehlerfreies Deutsch. Dieses Talent machte alles wesentlich leichter.

»Und Rod?« fragte Aristide.

»Wir sind über das Wochenende bei mir zu Hause in Dänemark«, sagte Lenora. »Rod würde von der Fährdampferkarte bis zur Hotelrechnung lückenlos alles vorlegen können.«

»Ist es nicht komisch, wenn wir alle diesen Tag über im Ausland sind?«

»Es gibt kein besseres Alibi als eines im Ausland«, sagte Lenora. »Und außerdem wird es so weit gar nicht kommen.« Aristide konnte sie jetzt deutlicher sehen. Vor allem ihr helles Haar, das manchmal mattschimmernd im Dunkeln aufleuchtete, wenn sie den Kopf bewegte. Aristide hielt das angebissene Sardinenbrot eine kleine Weile in der halberhobenen Hand und starrte auf dieses Haar.

»Was würde Rod eigentlich sagen, wenn er wüßte, daß du jetzt hier bist?« sagte er dann.

»Er weiß es«, sagte Lenora. »Er hat mich hergeschickt. Rod ist doch kein Kind.«

Aristide schob den Rest des Brotes in den Mund und rieb die Hände aneinander sauber. Dann stand er auf.

»Ich auch nicht«, sagte er und ging hinüber zum Fenster.

Nach unten verlor sich hinter dem schmalen Blechdach der Hof in eine konturlose Dunkelheit. Die anderen Fenster waren nicht erleuchtet, denn sie gehörten zu Kontoren, Lagerräumen und Büros. Weiter oben zeichneten bizarre Firste und Schornsteine eine aufregende Kulisse vor den wolkigen Himmel, den der Dunst der Großstadt rötlich von unten her überhauchte. Es hatte etwas von einer faszinierenden Hölle. »Was überlegst du?« hörte er Lenora fragen und spürte, daß sie ihn ansah.

»Ich überlege, wie gefährlich es ist, so etwas mit einer Frau zu machen«, sagte er. Lenora schwieg ein paar Sekunden und stand dann auf.

»Und besonders mit so einer wie mir, nicht wahr?«

»Mit jeder«, sagte Aristide. »Ich wollte, wir hätten es ohne Frauen gemacht.«

»Hör mal zu«, sagte Lenora und stellte sich schräg hinter Aristide an das Fenster, »ich bin auch kein Kind.«

Aristide lachte. Aber sein Lachen klang so nachsichtig, als lache er wirklich über ein Kind.

»Alle Frauen sind Kinder«, sagte er. »Für euch ist die Liebe das Wichtigste. Aber das stimmt nicht. Das Leben ist hart.«

»Eben«, murmelte Lenora. »Deswegen bin ich hier. Wir haben eine ganze Nacht Zeit, Aristide. Ich muß mit dir über etwas Wichtiges sprechen.«

 

In einem anderen Teil der Stadt, einem hübschen Vorort mit Villen, Gärten und Parks, schob zur gleichen Zeit eine andere Frau das Kipptor der Garage nach unten, zog den Schlüssel aus dem Schloß, drückte noch einmal prüfend den Griff und ging auf den teuren Natursteinplatten hinüber zur Haustür. Wenn man abends zurückkam, das Haus sah, den gepflegten Garten und das feste zuverlässige Holz der schweren Tür, schien eigentlich alles in Ordnung zu sein. Sie lebten gut. Aber diese Existenz hatten sie hart erarbeiten müssen. Der Sicherheitsschlüssel schob sich ins Schloß. Alles war einbruchsicher, doppelt und dreifach mit raffinierten Tricks abgeschirmt. Das war Eberhards Spezialgebiet und gleichzeitig ein Hobby. Schon wenn jemand versuchen würde, das Garagentor unbefugt zu öffnen, würden strahlend helle Scheinwerfer ihn beleuchten und jeden weiteren Versuch, einen Wagen zu stehlen, unmöglich machen.

Einen der beiden Wagen … Doris Morissey seufzte, als sie daran dachte. Der andere Wagen stand ohnehin nur selten in der Garage. Auch jetzt stand er nicht dort. Sie hatte es festgestellt und die Tatsache dann weggeschoben, wie sie es seit fast einem Jahr jeden Abend tat. Jeden Abend tat sie dann, wenn sie das Haus betreten und in der Diele Licht gemacht hatte, noch etwas anderes. Sie blieb nämlich vor dem Spiegel stehen und sah hinein. Sie sah darin eine hübsche, nicht mehr ganz junge Frau, mit guter sportlicher Figur und einem leichten Anhauch von sehnsüchtiger Mütterlichkeit, der vielleicht gerade daher kam, daß sie keine Kinder hatte. Sie sah aber auch den entschlossenen Zug einer Frau, die daran gewöhnt war, sachlich zu arbeiten und dabei gut zu verdienen. Außer in der Diele war es im ganzen Haus dunkel und still. Was mag es nur sein, das zwischen uns steht, dachte Doris und zog den Mantel aus. Sie bewunderte sich nicht gerne selber. Aber daß sie nicht mehr attraktiv genug für Eberhard war, das konnte es nicht sein. Sie hatte bisher nicht den Mut gehabt, durch ein Detektivbüro feststellen zu lassen, wo Eberhard an den Abenden und in den Nächten war, in denen das Telefon in seinem Büro nicht abgenommen wurde. Es wäre ihr entwürdigend vorgekommen. Sie ahnte, daß es mit einer Frau zu tun hatte oder auch mit mehreren, aber es zu wissen, dazu fehlte ihr der Mut. Erst in der letzten Zeit hatte sich in ihrem Bewußtsein die Erkenntnis durchgesetzt, daß es so nicht bleiben könnte. Und jeden Tag rückte der Augenblick näher, da sie spürte, daß sie würde handeln müssen.

Davon wußte Eberhard Morissey nichts, und er dachte auch nicht daran, als er jetzt in der Rothenbaumchaussee in der Nähe der Hallerstraße den Wagen verschloß, den Doris in der Garage vermißt hatte. Es war nicht leicht, um diese Zeit in dieser Gegend einen Platz für einen Wagen zu finden. Er stand auch nicht unmittelbar vor dem Haus, zu dem er wollte. Aber das hatte den Vorteil, daß er deutlich die erleuchteten Fenster sehen konnte. Aufatmend steckte er die Wagenschlüssel zu sich und wartete am Fahrdamm. Eine nicht endenwollende Kette von Autos schob sich an ihm vorbei und daneben eine zweite in entgegengesetzter Richtung. Dazwischen steckten Omnibusse wie stumpfe Dinosaurier, und Straßenbahnen klingelten hektisch.

Ein feiner Nieselregen sprühte. Eberhard war froh, als er den Hausflur betrat. Der Aufzug summte und bot Geborgenheit. Die anonyme Geborgenheit eines Hauses, in dem fünfzig und mehr Parteien wohnten und in dem jemand, der wissen wollte, wohin er sich begab, schon mit ihm im Aufzug fahren und ihm unmittelbar folgen mußte. Aber das war bisher noch niemals vorgekommen. Mit einem federnden Ruck hielt die Kabine an. Eberhard betrat den Treppenflur und schritt an den abweisenden, dunkelbraunen Türen entlang. Er brauchte nicht zu läuten, denn in dem Augenblick, da er vor derjenigen stand, zu der er wollte, wurde sie geöffnet.

Bayar war im Morgenrock, den sie sich eng um die Schultern zog.

»Du bist schon wieder so spät dran«, sagte sie und ließ Eberhard in die Wohnung treten. »Wir haben so wenig Zeit.«

»Ich habe lange zu tun gehabt«, sagte Eberhard. »Mußt du schon wieder weg? Aber für eine Tasse Tee wird es doch reichen?«

Sie sah, daß er den Mantel ausziehen wollte.

»Er ist fertig«, sagte sie. »Schon seit halb sechs. Hast du den Schmuck vergessen?«

Eberhard griff sich mit der flachen Hand an die Stirn.

»Nein«, sagte er und schlüpfte wieder in den Mantelärmel, aus dem er schon herausgefahren war. »Ich habe ihn im Wagen. Ich hole ihn rauf.«

»Im Wagen …« Bayar lachte. »Ein kleines Vermögen vergißt du im Wagen.«

»Es wird schon nicht gerade jetzt jemand darauf kommen, daß gerade in diesem Wagen wertvoller Schmuck liegt.«

Eberhard war gereizt. Er brachte ihr den Schmuck gerne. Aber manchmal, wenn er ihn ihr brachte, kam er sich vor wie ein Briefträger. Dann schien es ihm, als liege ihr an ihrem kostbaren Schmuck mehr als an seiner Anwesenheit. Bayar spürte diese Aufwallung sicher und sofort.

»Nicht böse sein, Eberhard …«, ihre Wange an seiner war fest und weich, »… er ist so ziemlich das einzige, was ich habe.«

Eberhard nahm sich zusammen.

»Es war dumm von mir, Bayar, entschuldige. Ich bin gleich wieder hier. Mach schon den Tee zurecht.« Er ging hinaus in den Flur. Dort drehte er sich noch einmal um. »»Und ein paar Brötchen mit Gervais.«

Wieder summte der Aufzug, kühl, unpersönlich und sachlich. Als er aus dem Haus trat, sah er die Straße nach rechts und links hinunter. Der Verkehr hatte nachgelassen, aber der Regen war stärker geworden. Bis zu dem Wagen hatte er immerhin eine oder zwei Minuten zu gehen.

Er hatte schon manchmal über das Sonderbare ihrer Situation nachgedacht. Bayar besaß einen Schmuck, der den durchschnittlichen Wert auch eines nennenswerten Familienschmuckes bei weitem überstieg. Das Appartement, in dem sie wohnte, war hübsch, aber nicht luxuriös. Die Möbel gehörten dazu und waren nicht ihr Eigentum. Das hatte sie ihm in ihrer manchmal etwas entwaffnend anmutenden Offenheit gesagt. Wagen besaß sie keinen. Aber sie zog regelmäßig ein Taxi der Untergrund- oder der S-Bahn vor. Sie hatte ihm eine Geschichte erzählt, nach der sie aus Syrien stamme. Jüdisch-syrischer Adel oder so. Eltern umgekommen. Er hatte sie bedauert, aber sich für diese Dinge nicht sehr interessiert, nicht mehr jedenfalls als für die Geschichte jeder anderen Frau, die man nicht heiraten konnte. Er hatte sich manchmal gefragt, ob er es denn wollte, selbst wenn er gekonnt hätte. Damals, als er sie kennengelernt hatte, hatte sie ihm Wärme entgegengebracht, Teilnahme und Bewunderung. Alles, was Doris seit ein paar Jahren nicht mehr tat, seitdem sie ihre frühere Tätigkeit wiederaufgenommen hatte und mehr mit dem Institut verheiratet war als mit ihm. Dann hatte auch Bayar angefangen zu arbeiten, und die Behaglichkeit und Geborgenheit, die er in den ersten Wochen mit ihr genossen hatte, waren zu Ende. Es war eine Beziehung von Liebe und Nähe, die er selbst blind hätschelte.

Zum Teufel, schimpfte er innerlich vor sich hin, als er jetzt achtlos in eine boshaft glänzende Pfütze trat, sich die Hosenbeine ausschüttelte und dann an der Reihe der geparkten Wagen entlangblickte, wie weit es noch bis zu seinem war. Das »zum Teufel« kam jetzt deutlicher aus seinem Mund, als er dort auf dem Bürgersteig einen Mann stehen sah, der sich bemühte, mit einem im Wind immer wieder verlöschenden Feuerzeug durch die regennassen Scheiben ins Innere zu blicken. Eberhard beschleunigte seine Schritte.

»He, Sie …«, rief er schon aus großer Entfernung den Mann an. »He, Sie, was wollen Sie da, warten Sie … bleiben Sie stehen …«

Einige Passanten wendeten sich um und starrten Eberhard entgegen, der jetzt zu laufen begonnen hatte und auf seinen Wagen deutete. Aber in diesen wenigen Sekunden hatte der Mann mit dem Feuerzeug schnell reagiert, war auf die Fahrbahn gesprungen und in gewagtem Lauf quer durch den flutenden Verkehr auf die andere Seite der Straße gelangt, wo er in dem Gewühl der Menschen verschwand.

Heftig atmend erreichte Eberhard den Wagen. Hastig schloß er die Tür auf, ließ sich in den Sitz fallen und tastete nach rückwärts. Na also, da war ja der Koffer, kühl, glatt und hart wie immer. Eberhard zog ihn nach vorn. Der Koffer war unversehrt, die Verschlüsse waren in Ordnung. Gewissenhaft untersuchte Eberhard sämtliche Fenster und Türen des Wagens. Sie waren alle geschlossen und unversehrt. Aufatmend nahm er den Koffer an seinem Griff, versperrte den Wagen und ging denselben Weg zurück zu Bayars Wohnung. Er hätte es sich nie verziehen, wenn er durch seine Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit Bayar um ihre einzige Sicherheit gebracht hätte. Was war nur mit ihm los?

Während des Gehens blickte er sich um. Aber nirgends war eine Spur von dem Mann zu sehen, von dem er nur bemerkt hatte, daß er einen hellen kurzen Mantel und einen kleinen Hut mit schmaler Krempe getragen hatte. Nachdem er sich beruhigt hatte, begann Eberhard nachzudenken. Es gab in der Tat nicht einen einzigen Menschen, der wissen konnte, daß er, Eberhard Morissey, einen Koffer mit kostbarem Schmuck, den seine Besitzerin ihm heute morgen aus dem Stahlfach der Handels- und Kreditbank in sein Büro gebracht hatte, jetzt in seinem Wagen zur Rothenbaumchaussee mitgenommen hatte, wenn er von dem einen oder anderen seiner Angestellten absah, der ihn vielleicht gesehen haben konnte. Aber keiner von ihnen würde sich einfallen lassen, mit einem Feuerzeug in seinen Wagen zu leuchten. Dafür konnte er die Hand ins Feuer legen.

An Zufall jedoch konnte er ebensowenig glauben. Aber schließlich hing der Koffer ja unversehrt in seiner Hand, und niemand war weit und breit zu sehen, der auch nur im entferntesten den Eindruck erweckte, als beobachte er, wohin Eberhard mit diesem Koffer ging.

Er sah sich noch mal um, ehe er Bayars Haus betrat, und spürte in diesem Augenblick bedrückend, daß die Rolle, die er als erfolgreicher Mann in angesehener Position, in einer zumindest nach außen harmonischen Ehe lebend und mit einem Kreis kultivierter und angesehener Freunde, spielte, zu allen diesen Dingen nicht im geringsten paßte. Einen Augenblick lang dachte er an Doris, die jetzt vielleicht alleine, ihren Magentee trinkend, vor dem Fernseher saß. Ob sie sich endlich wehrt und mir einen Schnüffler nachschickt, fuhr es ihm im Aufzug flüchtig durch den Kopf. Natürlich, das war die einzige Erklärung. Und sie berechtigte ihn, das zu tun, was er auch ohnedies getan hätte, nämlich Bayar diesen Vorfall zu verschweigen.

Sie war schon angezogen, als sie ihm die Wohnungstür zum zweiten Mal öffnete.

»Alles in Ordnung«, sagte Eberhard. »Hier ist er.« Er gab ihr den Koffer, den sie in ihr Zimmer trug. Eberhard zog den Mantel aus und versuchte jene Stimmung befriedigter Entspannung wiederzufinden, die er so oft gespürt hatte, wenn er diese Wohnung betrat. Aber es gelang ihm nicht. Mißmutig ging er in das Zimmer und setzte sich. Tee und Gervaisbrötchen waren fertig. Mechanisch nahm er eines der Brötchen hoch und biß hinein. Dann lehnte er sich zurück und starrte kauend vor sich hin. »So kann es nicht weitergehen, nicht wahr?« Bayar setzte sich ihm gegenüber und goß ihm Tee ein. Er sah sie an. Sie war für den Abend gekleidet und trug zwei oder drei Schmuckstücke, die er ihr eben gebracht hatte.

»Woher weißt du, daß ich daran denke?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es liegt in der Luft. Ist es nicht so?«

»Doch«, sagte Eberhad. »Es ist so.«

»Weiß sie es denn jetzt?« fragte Bayar.

»Nein«, murmelte er. »Sie hat keine Ahnung.«

Sie sah ihn mit einem Blick an, wie er ihn schon manchmal an ihr beobachtet hatte. In diesen Blicken war eine Mischung aus Kalkül und Verachtung.

»Je mehr Zivilisation, desto weniger Mut«, sagte sie. Eberhard richtete sich hoch und rückte an die Kante der Couch.

«Das verstehst du nicht«, sagte er.

»Sie kann dir doch nichts geben«, sagte Bayar. »Sie ist zehn Stunden am Tag im Institut, und abends ist sie abgespannt. Ihr habt euch auseinandergelebt. Aus. Das habe ich alles schon ein dutzendmal gehört. Aber dir habe ich es geglaubt. Du kannst lieben. Also muß es an ihr liegen, dachte ich.«

Eberhard schwieg.

»Haus, zwei Autos, Stellung und Vermögen«, sagte Bayar. »Aber keinen Mut. Bei unseren Männern ist das genau umgekehrt.«

»Wenn du nur nicht jeden Abend fort wärst«, sagte Eberhard. »Dann wäre es wenigstens zwischen uns besser.«

»Ich muß aber das Geld verdienen, um hier leben zu können.«

»Von mir willst du ja nichts.«

»Dich macht ja schon das Seelische fertig«, sagte Bayar. »Wenn das andere auch noch dazukäme …?«

Eberhard spürte dumpf, wie recht sie hatte.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie und stand auf. Durch die offengebliebene Tür sah er zu, wie sie draußen in dem kleinen Flur einen Mantel überzog und ihr Haar ordnete. Danach kam sie wieder ins Zimmer und beugte sich zu ihm herunter.

»Ich bringe dich hin«, sagte er.

»Nein, du bringst mich nicht hin. Ebensowenig wie sonst.«

Sie nahm für den Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht zwischen die Hände.

»Morgen habe ich eine ganze Nacht für dich Zeit, Eberhard. Dann werden wir uns wieder so gut verstehen wie früher.«

Er stand auf, zog sie an sich und küßte sie.

»Ich freue mich darauf«, sagte er und spürte, daß es nicht stimmte.

»Komm früh«, sagte sie. »Jetzt kannst du noch hierbleiben, wenn du willst. Nach Hause möchtest du ja doch nicht.«

Er ging mit ihr hinaus in den Flur.

»Bevor ich es vergesse«, sagte er, als sie den Türgriff schon in der Hand hatte, »wenn du am Montag den Schmuck zurückbringst, komme mittags. Am hellichten Tag. Und nimm dir ein Taxi.«

»Warum?« sagte Bayar. »Ist irgend etwas los?«

»Nichts Bestimmtes. Es ist nur sicherer.«

Sie sah ihn ein paar Sekunden an.

»Wenn du meinst«, sagte sie dann. »Also bis morgen.«

»Bis morgen«, sagte Eberhard und starrte von innen auf die Tür, die sie hinter sich zugezogen hatte.

Er atmete einmal tief durch und wendete sich um, um in die Küche zu gehen. Im Kühlschrank standen Flaschen. Eberhard zog eine davon heraus. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Die Flasche in der Hand, noch halb nach vorn gebeugt, wartete Eberhard auf das zweite Klingeln, das mit automatisch präziser Pünktlichkeit kam. Er stellte die Flasche weg und ging hinüber in Bayars Wohnzimmer. Einige Sekunden lang starrte er den regelmäßig klingenden Apparat an, ehe er den Hörer aus der Gabel hob.

»Ja bitte?«

Aus dem Hörer kam keine Antwort.

»Hallo! Ist jemand dort?«

Es kam wieder keine Antwort aus der Muschel. Aber Eberhard wußte, daß jemand am anderen Ende der Leitung war. Er glaubte sogar, das Atmen des Betreffenden hören zu können, und manchmal übertrug die Leitung schwachen Verkehrslärm. Der Anrufer mußte sich in einer Zelle befinden.

»Hallo, melden Sie sich doch«, sagte Eberhard. »Wer sind Sie denn? Was wollen Sie?«

Höhnisch und beunruhigend kam nur das schwache, regelmäßige Atmen durch die Muschel. Also betrog sie ihn bereits.

»Hören Sie«, sagte Eberhard, »Sie haben kein Recht, hier anzurufen und zu schweigen. Sie haben überhaupt kein Recht, hier anzurufen, verstehen Sie. Sie sind an der falschen Adresse bei mir. Ich werde den Anruf zurückverfolgen lassen, wenn Sie jetzt nicht Ihren Namen nennen …«

Zu seinem Erstaunen merkte Eberhard, daß die Verbindung von seinem Gesprächspartner nüchtern und sachlich bereits unterbrochen worden war, noch während er sich in Zorn geredet hatte. Langsam ließ er den Hörer zurück in die Gabel gleiten und überlegte.

Ging es um Bayars wertvollen Schmuck oder ging es um ihn? War der Anrufer jemand, der wissen wollte, ob die Wohnung leer war? Jemand, der eine Bestätigung dafür suchte, daß er, Eberhard Morissey, sich an diesem Donnerstagabend gegen acht in Bayars Wohnung aufgehalten hatte? Waren seine hektisch herausgestoßenen Sätze von dem Anrufer auf ein Band geschnitten worden? War es nur ein Freund Bayars oder war es ein Schnüffler oder war es gar Doris selbst gewesen, deren Atmen er am anderen Ende der Leitung wahrgenommen hatte?

Für einen Mann in einer so komplizierten Lebenssituation gab es Dutzende von Möglichkeiten. Von ihnen schied nur eine einzige aus, nämlich, daß es ganz harmlos eine Bekannte oder Freundin Bayars gewesen war. Denn wenn es so gewesen wäre, hätte sie nicht geschwiegen. Eberhard schlug nervös und rhythmisch die linke Faust in die feuchte Fläche der rechten Hand und ging zurück in die Küche. Er brauchte einen Whisky. Nacheinander zog er die Flaschen aus dem Kühlschrank. Aber bis auf einen kleinen Rest in einer Rotweinflasche waren sie alle leer. Wütend stellte er die Flaschen in das Kühlfach zurück, daß sie klirrten, und schlug die Tür zu. Er brauchte einen Whisky. Und wenn hier keiner war, mußte er einen trinken gehen.

Es ist weit mit mir gekommen, dachte er, während er in seinen Mantel fuhr. Ein Mann, der Whisky braucht, wenn ihm die Schwierigkeiten über den Kopf wachsen, die er sich selbst eingetunkt hatte. Einen Augenblick lang erwog er, die Beziehung zu Bayar abzubrechen. Jetzt, sofort. Unmittelbar nachdem er die Wohnungstür hinter sich zugezogen haben würde. Aber dann siegte die Eigenliebe. So würde er sich nicht abhalftern lassen. Er war kein Mann, der es nötig hatte, sich abhalftern zu lassen. Morgen würde er sie zur Rede stellen. Und vielleicht würde sich alles aufklären lassen. Er riß einen Zettel von Bayars Telefonblock und schrieb: »Bis morgen. Gruß Eberhard.« Den Zettel schob er in den Rahmen des Garderobenspiegels. Dann verließ er die Wohnung, um seinen Whisky trinken zu gehen. Es war weit mit ihm gekommen. Und an diesem Abend ahnte Eberhard Morissey noch nicht einmal, daß das alles erst der Anfang war.

 

»Es ist Zeit«, sagte Rod, blies das Streichholz aus und ließ es in die blecherne Tabaksschachtel fallen, in der er und Aristide alle ihre Zigarettenkippen, Asche und Streichhölzer sorgfältig verwahrt hatten. Aus der Dunkelheit kam Aristides Frage:

»Wie spät?«

Seine Stimme klang dumpf und hallend von den Betonwandungen des leeren Löschwasserbehältnisses zurück, in dem sie hockten.

»Sprich doch leise. Vier Minuten vor neun. Hast du die Maske auf?«

»Natürlich«, murmelte Aristide. »Ich kriege kaum Luft. Man muß sich daran gewöhnen. Sind die Schlüssel klar?«

»Sind sie«, sagte Rod Zlamitzer. »Ich geh’ rauf, und du gibst mir den Koffer. Dann leuchtest du noch mal rum, ob nichts liegengeblieben ist, und ich zieh’ dich hoch. Los jetzt. Halt mir die Hände.«