Kork aus Tanger - Stefan Murr - E-Book

Kork aus Tanger E-Book

Stefan Murr

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Beschreibung

Stefan Murr, Pseudonym eines promovierten Juristen, schrieb mehrere TATORT-Krimis und Kriminalromane. Seine Bücher zeichnen sich durch sorgfältig recherchierte Details aus und haben als Kern ein tatsächlich geschehenes Verbrechen.

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Stefan Murr

Kork aus Tanger

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Kork aus Tanger [Teil 1]Kork aus Tanger [Teil 2]

»Das Rif«, sagte Rossigk. »Ceuta dort. Sie könnten es sehen, wenn der Dunst nicht wäre. Bei Dunkelheit könnten Sie die Lichter sehen. Eine Stunde weiter ins Innere liegt Tetuan.«

In einer violett marmorierten Abenddämmerung tauchte das Gebirge vor ihnen auf. Aus der Ferne war es anzusehen wie der gezackte Rückenkamm eines urweltlichen Dinosauriers, schwarz und abweisend, trotz der sanften Melancholie des Herbstabends. Die Küste darunter war verschleiert von türkisfarbenem Dunst, mit dem das Meer in unmerklichem Übergang verschwamm.

»Und Tanger?« fragte sie.

Rossigk stach mit der Pfeifenspitze in den Dunst, der das Meer voraus bedeckte.

»Noch eine Stunde. Da vorne. Sehen Sie die perlgraue Nebelbank? Das ist die Meerenge. Rechts drüben könnte man Gibraltar sehen. Und Algeciras.«

»Woher kommt dieser Nebel?« wollte das Mädchen wissen.

»Im Herbst ist das hier oft so. Der Atlantik hat kaltes Wasser und das Mittelmeer warmes. Es gibt nicht nur Nebel, sondern auch Strömungen. Die Meerenge ist gefährlich. Das wußten schon die Phönizier und die Griechen. Und die Römer auch. Der Atlantik hat Gezeiten von zwei bis drei Metern Tidenhub, das Mittelmeer keine. Da sehen Sie.«

Sie betrachtete interessiert das blaue, perlgrau getönte Wasser unterhalb der hellgrauen Bordwand, das plötzlich bizarre Schaumstreifen bildete und in graziösen Wirbeln am Rumpf der ›Ägäis‹ vorübertrieb. Halb verschluckt von zartem Dunst lief ein riesiger Tanker vor ihnen her nach Westen. Er lag bis zur Lademarke im Wasser, und ein breiter, gerader Schaumstreifen quirlte unter seinem dicken Rumpf hervor nach achtern.

Sie standen auf dem Bootsdeck, und wenn sie sich etwas vorbeugte, konnte sie den gewölbten Rücken des Chemikers sehen, den jadegrünen Pullover, die Steuermannsmütze und die verschränkten Hände, die über dem vorüberschießenden Schaum der Bugwelle schwebten. Auch der Chemiker sah zu dem Tanker hinüber, der jetzt seinen Kurs geändert zu haben schien. Aber es war nur die ›Ägäis‹ selbst, die unmerklich manövriert und ihre Fahrt wenige Strich backbord versetzt hatte. Der Abstand zu dem Tanker wuchs.

Rossigk kannte diese Kursänderung der ›Ägäis‹ querab Ceuta. Es war auf jeder Reise genau die gleiche, und er fuhr den Marokko-Trip mit der ›Ägäis‹ seit drei Jahren. Er hätte das Schiff mit dem linken kleinen Finger in den Hafen von Tanger bringen können, aber es gab eine Reihe von Vorschriften, die das unmöglich machten.

»Ich muß rauf«, sagte er. »Hafenkarte, Lotse und so. Wollen Sie heute noch von Bord, Fräulein Meyerhof?«

»Natürlich«, sagte sie. »Tanger bei Nacht. Ich bin wahnsinnig gespannt.«

Rossigk klopfte seine Pfeife aus, schob sie in die Brusttasche des Khakihemdes und sah auf die Uhr. Sein Unterarm war haarig und sehr männlich.

»Bis neun können wir mit den Formalitäten fertig sein.«

Er schwieg eine Weile.

»Tanger bei Nacht«, sagte er dann. »Versprechen Sie sich nicht zu viel Aufregendes. Das meiste davon ist vorbei. Heute haben auch die Schieber Steuersorgen. Es gibt eine Polizeistunde und eine Sittenbehörde. Marokko ist ein geordnetes Staatswesen. Bis auf die sozialen Verhältnisse. Aber da nützt auch die Ordnung nichts.«

Rossigk rieb die schweißnassen Hände gegeneinander, dann griff er nach den Geländerenden der Brückentreppe und schwang sich hinauf. Auf halber Höhe blieb er noch einmal stehen und drehte sich um.

»Wenn Sie etwas echt Marokkanisches sehen wollen, dann gehen Sie ins Café ›Maure‹ oben in der Kasbah. Von dort aus hat man einen schönen Blick über Stadt und Hafen. Sie machen landesübliche Musik. Das typisch arabische Gezimbel und Gedudel. Sie können da auch gut alleine hingehen.«

Dann verschwand Rossigk nach oben, und sie hörte abgerissene Wortfetzen, als er sich mit dem Ersten Offizier oder dem Kapitän über irgend etwas verständigte. Sie glaubte, daß es sich um das Radargerät handelte. Wegen des Nebels, der jetzt in immer dichter werdenden Schwaden die ›Ägäis‹ umgab.

›Sie können da auch gut alleine hingehen.‹ Das war eine Absage. In Marseille und in Algier hatte Rossigk sie abends an Land begleitet, und sie war ziemlich stolz gewesen, sich in ihren eigens für diese Reise erworbenen Sachen mit dem gut aussehenden, verschlossenen Schiffsoffizier zeigen zu können. Sie wußte nicht, daß es zur Tradition der ›Ägäis‹ gehörte, daß ihre Offiziere, wenn das Schiff in Tanger lag, in den intimen Spielsalons der Stadt ihr Glück versuchten. Damen wollten sie dabei keine.

Carola Meyerhof grübelte darüber nach, womit sie den Zweiten verletzt haben könnte. Über ihr blähte sich das verblichene Sonnensegel in dem kaum wahrnehmbaren Schlingern des Schiffes. Es roch nach Dieselöl und nach Meer. Auf dem Gangbord unter sich hörte sie den Chemiker schlurfen. Sie starrte hinüber auf die Konturen der nordafrikanischen Küste.

Doch ein Blödsinn, daß ich alleine gefahren bin, dachte sie mürrisch. Dieser Kasten mit seinen zwölf Passagieren ist einfach zu klein, um Anschluß zu finden. Die Offiziere haben schließlich auf jeder Reise andere Damen an Bord. Aber für mich ist dies die einzige Reise. Lange gespart, dachte sie. Ich hätte vielleicht doch eine kürzere Reise auf einem größeren Schiff machen sollen. Dann dachte sie bitter an ihren Chef, der ihr diesen Trip empfohlen und ihr noch Urlaub extra dazugegeben hatte.

›Sie können da auch alleine hingehen.‹ Plötzlich kam es ihr so vor, als habe Rossigk die Betonung auf das ›Sie‹ gelegt. Sie könne alleine ins Café ›Maure‹ gehen, dachte er wahrscheinlich, weil sie häßlich war und weil ohnehin keiner etwas von ihr wollte. Am besten wäre ich zu Haus geblieben, dachte sie, und hätte mir für das Geld etwas anderes gekauft, einen Pelzmantel vielleicht oder einen alten Wagen oder eine Phonotruhe. Einen Augenblick lang verurteilte sie sich selbst hart wegen ihrer Torheit, während sie nach vorne ging, um sich für das Abendessen umzuziehen.

Bevor sie den Kajütflur betrat, sah sie den Doktor, halb verborgen hinter einem der Boote, auf seinem Deckstuhl liegen und zur Küste hinüberschauen. Er nickte freundlich, aber doch nicht mehr als konventionell. Sybil, dachte Carola Meyerhof. Schon seit er in Marseille an Bord gekommen war, hatte sich der Doktor mit Sybil angefreundet. Kein Wunder, so wie Sybil aussah. Es war auch kaum möglich, daß zwei Mädchen, von denen das eine hübsch, spritzig und interessant war und das andere, wie sie von sich selbst dachte, häßlich, farblos und fad, eine zufällige Reisebekanntschaft durchhielten, ohne daß das hübschere anfing zu flirten. Carola wußte nicht, zum wievielten Mal dieses Gefühl des Ichwerd’s-euch-schon-Zeigens in ihr hochstieg, als sie sich in ihre Kabine einschloß und mechanisch den Vorhang am Fenster zum Bootsdeck zuzog.

Sie streifte die Kleider ab, die Hose, den weiten Pullover mit dem Rollkragen und die Wäsche. Sie stellte die Brause an und duschte. Zuerst heiß und dann so kalt, wie das brackige Salzwasser, das aus der Leitung kam, lief.

In der Kabine nebenan hustete der pensionierte Nord-Ost-seekanal-Lotse und sprach dann mit seiner Frau. Danach husteten beide. Sie sprechen wieder über mich, dachte Carola schmerzlich und suchte zornig denjenigen ihrer Pullover heraus, der ihre Formen am besten zur Geltung brachte. Ein knappes Jäckchen darüber, ein malvenfarbener Rock, malvenfarbene Pumps. Ich-werd’s-euch-schon-zeigen. Lippenstift, Kamm. Immerhin, die Frisur ist großartig. Die hat der schmierige Friseur in Genua wunderbar hingekriegt. Sie war ja auch Sybils Idee und nicht meine eigene. Aber für meine Beine kann Sybil nichts. Die sind hübscher als ihre. Zeigen, Mädchen, zeigen, pflegte ihr Chef zu sagen, und Carola befolgte seinen Rat. Sie beugte sich vor und streckte sich selbst im Spiegel dreimal hintereinander die Zunge heraus, bevor sie das Licht löschte und die Kabinentür hinter sich schloß.

Die ›Ägäis‹ hatte die Nebelfelder passiert und lief mit verminderter Fahrt auf den Molenkopf des Hafens von Tanger zu. Carola spürte nur das etwas veränderte Zittern der Maschine, als sie an Sybils Kabine klopfte, um sie zum Essen abzuholen. Sie war schüchtern und haßte es, alleine die Messe zu betreten. Zu ihrer Überraschung war Sybil bereits fertig und öffnete die Tür eben, als sie eintreten wollte.

»All right, Carola. Gespannt auf Tanger? Man muß es schon sehen können. Los, schauen wir noch rasch nach vorne. Es ist ohnehin noch nicht ganz Essenszeit.«

Sie zog Carola durch den Kajütflur. Sie stiegen über das Süll nach draußen, gerade in dem Augenblick, da der Doktor seinen Deckstuhl zusammenklappte.

»Wunderbar, nicht wahr?« sagte er und deutete nach vorne.

Vor dem letzten hellen Streifen des Tageslichts zeichnete sich die Silhouette von Tanger ab. Rechts der langgestreckte Walrücken, der die Araberstadt trug, trotzig und geheimnisvoll, nach links hin abfallend die Hochhäuser und Gebäudereihen der Europäerstadt, der weiße Strand davor und dahinter, wie eine Ahnung, die karstig baumlose, biblische Landschaft Nordmarokkos. In der Bucht des Hafens spiegelten sich Tausende von Lichtern.

»Wunderbar«, wiederholte der Doktor.

»So schön habe ich es mir nicht vorgestellt«, murmelte Carola ergriffen.

»Die Moslems sind dreckig«, sagte der Doktor. »Dreckig und verschlagen. Tanger ist eine merkwürdige Mischung aus moslemischem Fatalismus und europäischer Betriebsamkeit.«

»Sie waren schon einmal in Tanger?« fragte Carola, nur um etwas zu sagen.

Der Doktor zögerte einen Moment. Dann wandte er ihr sein unter der teigigen Blässe doch scharfgezeichnetes Gesicht zu, das Gesicht eines Mannes, der viel gesehen hat.

»Ja«, sagte er liebenswürdig. »Ich wohne hier. Warum?«

»Ich meine nur so«, murmelte Carola.

Sie hätte ihn gern gebeten, ihr einiges von Tanger zu zeigen, aber sie war sicher, daß er lieber mit Sybil ausgehen würde. Ihr Takt war ihr überall im Wege. Er würde es schon sagen, wenn er wünschte, daß sie ihn begleitete, oder wenn er wenigstens nichts dagegen hatte. Oder Sybil würde es sagen. Aber Sybil schwieg.

»Wir sehen uns später«, sagte der Doktor. »Es ist gleich Zeit zum Dinner.«

Die beiden Mädchen betraten den Kajütaufbau und stiegen nach oben zum Kapitänsdeck, wo sich die Messe und in der Backbordecke die abgetrennte, kleine Miniaturbar befanden. Das Lotsenehepaar saß schon am Tisch und wartete auf die Horsd’œuvres. Durch die Steuerbordschwingtür betraten gleichzeitig die beiden grauhaarigen Studienrätinnen die Messe und der Lektor schob seinen Kopf durch die Tapetentür der Bar, nach allen Seiten kurzsichtig und gewissenhaft nickend.

Die Mädchen nahmen ihre Plätze ein. Quase, der Erste, saß schon am Kapitänstisch und aß. Ein blonder Riese, schön und harmlos. Der Ingenieur redete auf ihn ein, und Quase grinste in das Blecken einer aufgeschnittenen Grapefruit.

»Nee«, hörte man ihn sagen. »So was?«

Raschkes aus Hannover hatten ihren Tisch in der Steuerbordecke. Sogar Brigitte Raschke fand es so kalt, daß sie ihre viel zu kurzen Shorts, die Rossigk bei jeder Mahlzeit unüberhörbar glossierte, gegen eine lange weiße Hose ausgetauscht hatte. Reineking, der Chemiker, kam zu spät und entschuldigte sich murmelnd. Kurz darauf wurde die Pastete aufgetragen, und etwas später erschien auch der Doktor. Er hatte sich umgekleidet und trug einen elfenbeinfarbenen Tropical. Darunter hatte er einen weißen Sweater gezogen.

»Du lieber Himmel«, stöhnte Carola, als sie es sah.

»Gehen Sie mal hinaus, Gnädigste«, sagte der Doktor. »Die Nächte in Tanger sind kalt.«

»Heiß, dachte ich.«

Sybil lachte.

»Märchen«, sagte der Doktor und stach in seine Pastete. »Langweilig wie alles. Wie das meiste …«, verbesserte er sich und sah Sybil an. Danach pflichtschuldig auch Carola. Sie notierte es, wie sie alles notierte, was sie von morgens bis abends unablässig kränkte. Daß die beiden zusammen nach Tanger gingen, schien ihr selbstverständlich. Sie mußte sich alleine behelfen.

Während des Essens näherte sich die ›Ägäis‹ langsam und zentimeterweise der Pier. Die Kaianlagen waren schon erleuchtet. Vor den Backbordfenstern schob sich etwas vorüber. Zuerst hielt Carola es für ein Gebirge, aber dann sah sie, daß es sepiabraune Ballen waren, eckig gebündelt, rissig, brüchig und haushoch aufeinandergetürmt.

»Kork«, sagte der Chemiker und deutete zwanglos mit der Gabel. Dann wischte er sich den Mund. »Kork, unsere Fracht für Hamburg.«

»Kork wächst hier«, sagte der Doktor erklärend, und die Mädchen nickten.

Er ahnte in diesem Augenblick noch nicht, daß es nicht, wie er eigentlich annahm, das letzte Dinner zusammen mit den beiden Mädchen an Bord der ›Ägäis‹ war, sondern daß ihn ein Brief erwartete, der seine Entschlüsse für die nächste Zukunft völlig ändern würde. Den Brief erhielt er am nächsten Morgen. Er veranlaßte ihn, noch am gleichen Tag seine Reise mit der ›Ägäis‹ nach Hamburg fortzusetzen.

Vorerst allerdings dachte er an nichts anderes als an das Vergnügen, der aparten Journalistin die Reize eines Tanger zu zeigen, das, seitdem es keine internationale Zone mehr war, seine Geheimnisse verloren hatte.

Das war die Lage in dem Augenblick, da die dunkelhäutigen, zerlumpten Schauerleute in den trotz des Schmutzes leuchtenden Turbanen draußen die Trossen der ›Ägäis‹ um die eisernen Pollen der Pier schlangen.

 

Die marokkanischen Zoll- und Polizeibeamten hatten mit unbewegten Bronzegesichtern unter eleganten Tellermützen die ›Ägäis‹ wieder verlassen. Kapitän Friedrich Wilhelm Müller hatte den Passagieren ihre Pässe aushändigen lassen und die Landgenehmigungen unterschrieben. Es war Punkt neun. Rossigk hatte recht behalten.

Die Passagiere waren sich noch nicht einig, was sie unternehmen wollten. Den Lehrerinnen war es zu kalt, und der Lotse hatte zu viel gegessen, um an Land gehen zu wollen. Sybil hatte wider Erwarten dem Doktor einen Korb gegeben und wollte sich schlafen legen. Der Doktor selbst war nirgends zu sehen. Carola glaubte, daß der Chemiker in die Stadt gehen wolle, um sich alleine zu amüsieren, und um den Lektor hatte sich ohnehin noch nie jemand recht gekümmert. Er äußerte bescheiden, er wolle sich heute abend in Tanger ein Andenken kaufen. Er würde morgen bei Tageslicht gewissenhaft die Sehenswürdigkeiten absolvieren und in seinem Reiseführer abhaken.

Carola stand noch unschlüssig an der Reling und starrte auf die Korkgebirge und das bizarre Gitterwerk des Getreidehebers dahinter, als Rossigk sie vom Bootsdeck aus anrief. »Wenn Sie wollen, können Sie uns den Kai hinunter begleiten, Fräulein Meyerhof. Vorn können Sie sich ein Taxi nehmen. Auf die Fahrer kann man sich im allgemeinen verlassen. Lassen Sie sich das Café ›Paris‹ zeigen, den Gouverneurspalast, den Kürbismarkt, den Wollmarkt, und vergessen Sie nicht das Café ›Maure‹.«

Wenige Minuten später ging Carola Meyerhof zwischen vier lachenden und polternden Schiffsoffizieren den matt erleuchteten Kai entlang in Richtung auf die Stadt. Hier und dort kauerten zusammengesunkene Gestalten in schäbigweißen Kutten und mit bunten oder ebenfalls schäbigweißen Turbanen auf dem Bordstein und glotzten stumpf mit braunen Tieraugen zu ihnen hoch, wenn sie vorübergingen.

Weiter vorne, wo die Schuppen begannen und obskure Leichter Bord an Bord im Innenhafen lagen, saß ein schläfriger Soldat unter einer grellen, kahlen Glühbirne und hielt Wache. Er winkte müde mit der Hand. Niemand schmuggelte in Tanger bei Dunkelheit. Geschmuggelt wurde am hellen Tag mit tadelsfreien Papieren, chromblitzenden Limousinen, den beschwörenden oder selbstsicheren Gesten eleganter Herren mit Perlen im Schlips. Nylonstrümpfe, Transistorradios, Zigaretten, Kaffee, Feuerzeuge, niemand schmuggelte so etwas in der Hosentasche. Man schmuggelte es tonnenweise unter den Augen der Zollbehörde, die ohnehin machtlos war.

Der Soldat konnte aus langer Praxis Touristen und Schiffsleute von Professionellen unterscheiden. Er winkte, ohne sich auch nur zu erheben, müde mit der Hand.

Kurz danach machte die Ladestraße einen Knick. Rossigk brüllte vor Lachen, als er eine große, schwarze Katze sah, die mit hochgerecktem Schwanz an einer der grell beleuchteten Lagerhallen entlangschlich und Anstalten traf, die Straße zu überqueren.

»Nein«, schrie Quase. »Nein, das Vieh ist wirklich zu dick. Und zu schwarz.«

Seine Stimme hallte zwischen den weißgetünchten Wänden mit den arabischen Schriftzeichen wider. Sein Schatten vollführte eine groteske Pantomime, als er beschwörend versuchte, die Katze in die Flucht zu schlagen. Das Tier machte einen Buckel, starrte sie mit grünlich funkelnden Augen an und wich Schritt für Schritt zurück, bis es plötzlich, verzweifelt den Schwanz streckend, wie ein Pfeil zwischen Quase und den anderen hindurchschoß und im Dunklen verschwand.

»Sie gewinnen bestimmt, Quase«, schrie Rossigk aufgeräumt. »Und wir anderen fassen am besten erst gar keine Karten an.«

Daß außer den vier Offizieren auch Carola Meyerhof von dem Omen betroffen war, kam niemand in den Sinn. Am wenigsten ihr selbst.

Sie hatte die Katze schon längst vergessen, während sie entgegen Rossigks Rat auf steilen, glitschigen Treppen in dem unbeschreiblichen Gewühl und Gestank der Altstadt untertauchte. Irgendwo mußten diese Straßen oben an der Avenue münden, an der das Café ›Paris‹ lag. Afrika umschloß sie hier mit der ganzen lebendigen Szenerie von Tausendundeiner Nacht, wie ihr schien. Es gab Gassen und Winkel, durch die sich kaum ein Körper zwängen konnte und die dennoch belebt waren wie am hellen Tag. Türkischer Honig wurde gehandelt, Omelettes gebraten, Bananen wechselten den Besitzer, ein kahlköpfiger Armenier sott Kaldaunen in einem riesigen schwarzen Kessel und bot sie Carola an. Von Zigaretten über Nylons bis zu charmanter Gesellschaft und einem nächtlichen Kamelritt wurde ihr flüsternd, lächelnd und geheimnisvoll alles angetragen, was Tanger zu bieten hatte.

Wenn sie hochblickte, zeichneten sich romantische Spitzbögen, graziles Gitterwerk oder die quaderförmigen buntverzierten Minarette, geheimnisvoll angestrahlt, in den schwarzen marokkanischen Nachthimmel.

Vor einem kunstvollen Gitter blieb sie stehen und starrte in einen märchenhaften kleinen Garten mit einem Springbrunnen in marmornem Becken. Plötzlich bemerkte sie eine braune Kutte, weiße Zähne bleckten und ein Riese machte einladende Handbewegungen und übergoß sie mit einer Flut ihr unverständlicher Lobpreisungen. Carola schüttelte den Kopf und ging weiter. Als sie sich umblickte, hob der Riese bedauernd die Schultern. Hatte sie etwas versäumt? Oder war es gut, vorsichtig zu sein? Noch einmal blickte sie sich um. Der schwarzbärtige Riese lächelte, rollte die Augen und hob die Rechte mit souveräner Würde an die Stelle, wo sich sein Herz befand, während die Linke nach rückwärts in die Tiefen des Gartens zeigte.

Ein braunhäutiger Junge schlängelte sich an sie heran. »Nix da, ’moiselle. Nix gutt da, ’moiselle. Ich Geleggenheit. Geleggenheit. Schmuck, Bijouterie, ekter Gold …? Oder Gesellschaft? Gesellschaft?«

Sie ging weiter. Schließlich ließ der Junge grinsend von ihr ab und verschwand im Schatten einer Querstraße.

Carola bewunderte das lautstarke Treiben auf dem nächtlichen Kürbismarkt, blieb vor dem ungeheuer vornehmen Eingang des berühmtesten Hotels der Stadt ein paar Sekunden stehen und bestellte sich dann im Café ›Paris‹ aufatmend ein doppeltes Eis. Hier oben flanierte ein sonderbar verändertes Europa an ihr vorüber. Typen, wie man sie in Genua, Marseille oder Paris sehen konnte, aber niemals zu Hause in Hamburg.

Für einen Augenblick glaubte sie, auf der anderen Straßenseite Sybil und Porada, den Lektor, vor einer Auslage mit Lederarbeiten stehen zu sehen, aber sie achtete nicht weiter darauf, als sich flanierende Menschen dazwischenschoben. Sicherlich hatte sie sich auch getäuscht, denn noch niemals hatte sich Sybil um den trockenen Lektor gekümmert, und außerdem hatte sie mit einer an ihr ungewohnten Bestimmtheit zu erkennen gegeben, daß sie sich schlafen legen wollte.

Die erleuchtete Uhr über dem Portal eines Amtsgebäudes zeigte kurz vor zehn. Sie zahlte und ging hinüber zu einem der Taxis, die auf der anderen Straßenseite in langer Reihe warteten. Der Fahrer des ersten glitt aus dem Wagen.

»›Maure‹«, versuchte Carola ihm begreiflich zu machen, während er den Wagenschlag öffnete. Sie buchstabierte: »M-a-u-r-e«.

»Qui ’moiselle. La Maison ›Maure‹?« fragte der Mann, und es schien ihr so, als sei er mißtrauisch und verwundert. »Pas trompée? La Maison ›Maure‹? Kasbah?«

»Oui, oui«, nickte Carola. Sie stieg in den Fond. »Ganz recht. Maison ›Maure‹. Kasbah. Schöner Blick über Stadt und Hafen.« Sie machte eine erklärende Handbewegung. Der Mann lächelte undurchdringlich, zuckte mit den Schultern und ließ den Motor an.

Das Taxi verließ die Geschäftsviertel der Stadt mit ihren betriebsamen, hell erleuchteten Straßen und fuhr auf sanft geschwungenen, asphaltierten Highways durch verschwiegene Gärten und Villenpartien an flachen Hängen empor. Später wurde die Straße steiler und kopfsteingepflastert. Geduckte Arabergebäude schliefen auf beiden Seiten. Geheimnisvoll abweisend stand plötzlich ein monumentales Rundbogentor kalkig über dem Wagendach, und dahinter öffnete sich eine schmale, dunkle, völlig leblose Straße.

»Kasbah«, erklärte der Fahrer. »Araberstadt.«

Wo war das pulsende, beruhigende Leben der Altstadt, der Kürbismarkt, die Geschäftsviertel mit ihren Läden, die bis spät in die Nacht offengehalten wurden? Manchmal zog eine schwarz vermummte Frau im grellen Scheinwerferlicht den Schleier dichter vor die Augen, und schlurfend verdrückten sich einzelne Männer in geheimnisvolle Winkel. Es war, als führen sie durch eine Leprakolonie. Das Taxi wand sich um Ecken, von denen man annahm, es könne sie niemals bewältigen, und gerade in dem Augenblick, da es den Anschein hatte, als ginge es hier auf keinen Fall weiter, hielt der Fahrer an und öffnete ihr die Tür.

»La Maison ›Maure‹, ’moiselle.«

Er zeigte auf ein Haus, dessen vier oder fünf Stockwerke die eine Seite eines beängstigenden Straßenschachts bildeten, der sich vor ihr in undurchdringlichem Dunkel verlor. In keinem der Häuser war ein Licht zu sehen. Carola zahlte, und rückwärtsstoßend ließen die Scheinwerfer des Taxis sie allein.

Sie tastete nach der morschen, trockenen Tür des Hauses, das der Fahrer ihr bezeichnet hatte, und stieß sie auf. Sie biß sich vor Zorn, daß sie nicht mit dem Taxi zurückgefahren war, auf die Lippen. Einen Augenblick lang fühlte sie das Bedürfnis, zu Fuß wieder in die Europäerstadt zurückzukehren. Aber was würde Rossigk morgen denken, wenn sie ihm gestand, daß sie Furcht gehabt habe, das Café ›Maure‹ zu besuchen? Sie tastete sich weiter, aber sie fand nirgends einen Lichtschalter. Über sich ahnte sie die gähnende Öde eines überraschend geräumigen Treppenhauses, in dem noch schwer und dumpf die Hitze des Tages lastete. Blick über Stadt und Hafen, dachte sie, also mußte das Café oben sein. Vielleicht im Dachgeschoß.

Zögernd begann sie eine breite, ausgetretene Treppe emporzusteigen, und unangenehm knarrten ihre Schritte in der konturlosen Dunkelheit. Höhnisch tropfte irgendwo Wasser. Das zweite Stockwerk, das dritte, Himmel, es mußte doch irgendwo ein Licht geben?

Sie tastete wieder suchend umher, geriet an eine Nische und spürte plötzlich, vor Schreck erstarrend, einen Körper, einen Arm, ein Jackett, eine Männerbrust. Als Carola schrie, stieß der Arm sie weg und faßte sie dann unter.

»Fort. Hinunter. So rasch wie möglich. Schnell, los.«

Heißer Atem mit etwas Whiskydunst.

»Vorsicht, Vorsicht, schnell. So machen Sie schon.«

Der Mann schleifte sie die Stiegenläufe abwärts. Sie stolperte, schwankte, empfand Schwindelgefühl. Einer ihrer dünnen Absätze splitterte. Aber der Mann hielt sie fest und zerrte sie mit sich. Sie waren bereits im ersten Stock, als oben Licht anging. Leute sahen herunter in den Treppenschacht, eine Männerstimme schrie etwas Unverständliches, eine andere antwortete. Als der Mann die Schatten sah, die sich über das Treppengeländer beugten, zog er Carola so gewaltsam mit sich, daß sie ins Schwanken kam.

Sie drohte den Halt zu verlieren, tastete nach einer Stütze und geriet an der bröckelnden Wand gegen die morsche Verankerung des Flaschenzuges, der den riesigen marokkanischen Messinglüster hoch oben in der Wölbung des Treppenhauses bewegte. Wie ein großer, goldener Krake hing er in dem halben Licht, das aus der geöffneten Tür fiel.

Der Unbekannte hatte die unverständlichen Rufe begriffen. Entsetzt nach oben blickend, sah Carola eine ruckartige Bewegung des Lüsters, die fingerdicke Schnur, an der sie sich hielt, glitt brennend heiß durch ihre Hand. Dann spürte sie einen rücksichtslosen Stoß, sank an der Tür zusammen und kollerte ins Freie. Der Mann stürzte über sie.

Ein pfeifendes Sausen und mit einem Geräusch, als ob ein Güterzug entgleise, zermalmte drinnen der riesige Lüster die brüchigen Luftziegel des Bodenbelages. Geruch von Staub schwelte aus dem Gewirr verbogenen Metalls, und ein schwacher Luftzug ließ die Tür leise knirschen. Dann war es still, als ob nichts geschehen wäre.

Carola Meyerhof weinte vor Schreck. Der Mann zerrte sie hoch und stieß sie heftig vorwärts, als sie ihre Kleider abklopfen wollte.

»Sind Sie verrückt, Miss?« keuchte er. »Sie wissen nicht, worum es geht.«

Ihre Schritte klapperten laut hallend in dem menschenleeren Straßenschacht, und beklommen machte sich Carola klar, daß der entsetzliche Lärm nicht die geringste Aufregung in der Gasse hervorgerufen hatte. Es war, als befänden sie sich in einer unwirklichen Welt. Sie sah, daß manche der Häuser nicht einmal Fenster nach dieser Seite heraus besaßen.

Eine Querstraße, wieder eine, dann stieß der Mann sie in eine kaum sichtbare Lücke zwischen den Mauern. Sie kamen auf eine steile, schmale, glitschige Treppe, die direkt neben einer schlüpfrigen, stinkenden Gosse abwärts führte. Hier blieb der Mann stehen und lauschte zurück. Carolas Herz klopfte wie ein Schiffsdiesel. Von fern glaubten sie einmal näherkommende Schritte zu vernehmen, aber sie entfernten sich zu Carolas Erleichterung in eine andere Richtung.

Der Mann, den sie jetzt zum ersten Mal mit Bewußtsein sah, lächelte, als ob er wisse, daß niemand auf die Idee kommen würde, ihnen durch die Gassen, die sie jetzt benützten, zu folgen. Er mußte diese Stadt kennen wie sein eigenes Schlafzimmer.

Carola zog die Schuhe aus, und durch schmale, wie Rinnsale abwärtsführende Straßen gelangten sie wieder in die Unterstadt. Der Mann zog sie in die dampfende Höhle einer verborgenen Pfannkuchenbraterei, nahm seine Brille ab und sah sie an, als sie sich gesetzt hatten.

»Sie sind ziemlich rüde. Was wollen Sie eigentlich von mir?« Carola versuchte etwas Ordnung in ihr Haar und ihr Gesicht zu bekommen.

»Später«, sagte der Mann. »Wir unterhalten uns später. Stören Sie mich jetzt nicht, Miss.«

Er sah sich suchend um und winkte einem zerlumpten Jungen, der in einer Ecke kauerte und sich mit einem Klappmesser die Fußnägel kürzte. Er hörte damit auf, erhob sich und kam mit dem deutlichen Bestreben, seinen verschlagenen Gesichtsausdruck ergeben erscheinen zu lassen, an den Tisch. Der Mann redete arabisch auf ihn ein, und der Junge nickte immer wieder mit dem Kopf. Schließlich wiederholte er, was der Mann ihm gesagt hatte, in gutturalen Tönen. Der Mann hob sein Bein, als wolle er dem Jungen einen Tritt geben, und der Bursche verschwand.

»Sie lägen wohl lieber zermanscht unter dem Lüster«, sagte er dann zu Carola gewendet. »Haben Sie ihn losgerissen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe mich an irgend etwas festgehalten, das dazugehörte. Ich weiß nicht, ob ich ihn losgerissen habe.«

»Wie kommen Sie überhaupt ins ›Maure‹? Sie passen nicht ins ›Maure‹, so wie Sie aussehen. Aber im Dunkeln konnte ich nicht wissen, ob Sie nicht dazugehören.«

»Zu was gehören?«

»Zu den Leuten da oben. Wenn Sie im geringsten gezögert oder Anstalten gemacht hätten, mich zu behindern, hätte ich Sie über das Geländer geworfen.«

Carola starrte den Mann an, der aussah wie ein heruntergekommener Gelehrter und absolut nichts Brutales an sich hatte. Sie wollte gerade eine Frage stellen, als der Junge grinsend wieder in den Raum kam und mit seinen schmutzigen Händen einen Luftpostumschlag und einen bläulichen Briefbogen vor den Mann auf den Tisch legte. Aus seiner unergründlichen Hosentasche förderte er eine Marke zutage und legte sie auf das Briefpapier. Wieder sagte der Mann etwas auf arabisch zu ihm, und der Junge kauerte sich wartend auf seinen alten Platz.

Der Mann zog aus der Innentasche seines Jacketts einen Kugelschreiber hervor und ließ ihn schnappen.

»Sie müssen mich ein paar Minuten entschuldigen, Miss«, sagte er mit einem Anflug von Galanterie. »Nur ein paar Zeilen, aber sie sind wichtig.«

Er beugte sich über das Papier und begann es mit einer sehr kleinen und verworrenen Handschrift zu beschreiben. Der Brief war nur kurz. Carola, der noch immer der Schreck in den Gliedern saß, machte keinen Versuch, das, was er schrieb, zu entziffern. Sie durchdachte noch einmal die Ereignisse der letzten halben Stunde und glaubte für kurze Zeit den Schauder wieder zu empfinden, den ihr der herabstürzende Lüster eingejagt hatte. Der Mann schrieb jetzt den Umschlag, schob den Brief hinein und verschloß ihn. Nachdem er ihn mit der Marke versehen hatte, winkte er wieder dem Jungen, gab ihm ein Geldstück und schickte ihn mit dem Brief fort. Dann sah er Carola an.

»Warum wollten Sie mich über das Geländer werfen?« sagte sie. »Ich habe Ihnen doch nichts getan. Ich wollte ins Café. Schöner Blick über Stadt und Hafen.«

Ein schmieriger Moslem mit intelligenten Augen brachte die Pfannkuchen.

»Ins Café? Daß ich nicht lache, Miss. Da oben gibt’s kein Café.«

»Aber Rossigk hat es mir doch empfohlen.«

»Wer ist Rossigk?«

»Unser Zweiter Offizier.«

»Offizier? Sind Sie mit einem Schiff gekommen?«

»Ja. Mit der ›Ägäis‹ aus Bremen. Ich habe Urlaub.«

»Urlaub. Wie schön. Daß es so etwas noch gibt. Menschen mit Urlaub. Menschen, die morgens um acht anfangen, um fünf aufhören, ihren freien Samstag haben und im Herbst in Urlaub gehen.«

Der Mann lächelte jetzt. Verkniffen, aber nicht ohne Wohlwollen. »Sie wollten natürlich ins Café ›Maure‹. Jetzt verstehe ich. Fremdenattraktion. Sie wären beinahe in eine üble Geschichte hineingeraten.«

»Beinahe ist gut.«

Carola konnte wieder scherzen, als sie begriff, daß der Mann nichts Böses von ihr wollte.

»Beinahe ist gut. Den verfluchten Lüster werde ich nie vergessen, und wenn ich achtzig werde.«

»Sie waren aber nicht im Café ›Maure‹, sondern im Maison ›Maure‹, ein Stundenmiethaus mit arabischen Genüssen. Auch die illegalen Damen der Weißenviertel bevorzugen es. Außerdem ist es ein Treffpunkt für Leute, die Schweinereien zu besprechen haben. Und davon gibt es in dieser Stadt eine ganze Menge.«

Carola zerkleinerte ihren Pfannkuchen. Dann gab sie sich einen Ruck.

»Aber wie kommen Sie in dieses … dieses Maison ›Maure‹, Herr …?«

»Herr? Ich bin kein Herr. Ich war einmal ein Herr. Aber das ist lange her. Jetzt bin ich ein Wrack. Warum wollen Sie wissen, was ich dort zu suchen hatte? Der Lüster galt mir. Wenn es kein Zufall war, daß er herunterfiel. Sie sind verdammt rücksichtslos, diese Schweine …«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wie alle Leute, die genau wissen, was sie wollen.«

»Warum haben sie es auf Ihr Leben abgesehen? Warum verständigen Sie nicht die Polizei? Man müßte das Haus durchsuchen.«

Wieder lächelte der Mann undurchsichtig, und Carola spürte, daß er ganz bestimmte Gründe dafür haben mußte, die Polizei nicht zu verständigen.

»Wenn Sie es versuchen wollen …?« sagte er. »Morgen früh. Nicht vor morgen früh. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, was dann passiert. Der Besitzer des Maison ›Maure‹ ist ein angesehener marokkanischer Staatsbürger. Ein Armenier im Ölgeschäft. Er heißt Yousseff el Sahladi und hat drüben in Rgaia eine Villa mit Schwimmbad und Marmorhalle. Wenn die Polizei sich an den wendet, hebt er die Schultern, weiß von gar nichts und droht, seine Wohltätigkeiten einzustellen. Es ist völlig zwecklos. Wollen Sie übrigens jetzt noch ins Café ›Maure‹? Ich könnte Sie hinführen.«

»Ist das auch da oben in diesen dunklen Gassen?«

»Ja.«

»Nein«, sagte Carola Meyerhof. »Davon habe ich genug. Vielen Dank. Begleiten Sie mich lieber aufs Schiff, wenn Sie schon Zeit haben.«

»Verständlich«, sagte der Mann, legte einen Geldschein auf den schmierigen Tisch, schloß den Knopf seines Jacketts und stand auf.

»Kommen Sie«, sagte er. »Ich gehe mit Ihnen hinunter zum Hafen. Ich versäume nichts. Mein Quartier ist sehr einfach, verstehen Sie? Wann fährt Ihr Schiff?«

Sie traten hinaus auf die Gasse. Die Stadt war jetzt nicht mehr so belebt, und sie konnten verhältnismäßig rasch gehen. Ein kalter Nordwind fegte über die flachen Dächer und ließ Papier und allerlei Unrat wirbeln.

»Wieso geht es um Ihr Leben?« fragte Carola noch einmal, als sie durch das gedrungene, düstere Rundbogentor in Richtung auf den Hafen einbogen. Die Lichter waren jetzt zum größten Teil erloschen, und die Altstadt hatte in der frühen Herbstkälte etwas Feindliches.

»Wann fährt Ihr Schiff?« fragte der Mann an Stelle einer Antwort.

»Rossigk sagt, morgen abend. Warum?«

»Und Sie fahren zurück nach Bremen?«

»Nach Hamburg, ja. Warum?«

»Hat Ihr Dampfer noch eine Kabine?«

»Ich weiß nicht. Sie müssen Quase fragen. Der hat das unter sich. Wollen Sie buchen?«

»Hören Sie, Miss«, sagte der Mann. »Ich habe ein Jahr lang für eine Überfahrt nach Hamburg gespart. Sie haben recht. Es geht um mein Leben. Aber in einer ganz anderen Art, als Sie denken. Deshalb stand ich heute abend da oben im Maison ›Maure‹, verstehen Sie? Nein? Das können Sie auch nicht. Ich verstehe es manchmal selber nicht.«

Er faßte sie unter, denn es ging jetzt wieder durch einen düsteren Torbogen, in dem es nach Urin roch, und dann eine steile Treppe nach unten.

»Vielleicht erzähle ich Ihnen das morgen. Wollen Sie um elf Uhr im Café ›Paris‹ sein? Ich werde auf Sie warten. Ja …«, sagte er dann, sich plötzlich an seinem Gedanken ereifernd, »… ja, ich werde es Ihnen erzählen. Sie können dann tun, was Sie wollen. Vorausgesetzt, daß ich nicht bis zum dreizehnten Oktober selbst in Hamburg bin. Dann können Sie tun, was Sie wollen. Rufe ich Sie am Dreizehnten in Hamburg an, dann vergessen Sie diesen Abend und unser ganzes Gespräch. Abgemacht? Sie verdanken mir Ihr Leben, Miss, nicht wahr? Nun, Sie können diesen Dank abtragen. Entweder so oder so. Stichtag ist der vierzehnte Oktober.«