Auf der Fährte des Höhlenlöwen - F.H. Achermann - E-Book

Auf der Fährte des Höhlenlöwen E-Book

F.H. Achermann

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Beschreibung

Die Nachricht verbreitet sich rasch unter den Stämmen: Der Höhlenlöwe, der grosse Schrecken der Eiszeit, ist in der Gegend aufgetaucht. Er ist nicht nur eine direkte Gefahr für die Menschen, sondern seine blosse Anwesenheit wird auch die Tiere in die Flucht schlagen, von denen sich die Menschen ernähren. Doch nicht nur der Höhlenlöwe stellt eine Gefahr für den Frieden dar. Auch die Rachsucht des alten Rahu bildet eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben. Wird es Harrar von Hador gelingen, den Stämmen Frieden zu bringen und das Überleben zu sichern?

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Auf der Fährte des Höhlenlöwen

Auf der Fährte des HöhlenlöwenVorwort des HerausgebersDurch die TundraJäger und KünstlerDie MammutjagdÜber Nacht ergraut!ErledigtDie Sprache des TotenKerben der RacheDer jagende TodImpressum

Roman aus den Wildnissen der Eiszeit

von

F. H. Achermann

Neu herausgegeben von Carl Stoll, 2019

Vorwort des Herausgebers

«Auf der Fährte des Höhlenlöwen» gehört zu jenen Büchern des Schweizer Autors Franz Heinrich Achermann, die ihm den Ruf einbrachten, der «schweizerische Karl May» zu sein. Eine ganze Generation junger Männer verschlang regelrecht seine Werke und machte ihn zu einem Bestsellerautor der Zwischenkriegszeit, dessen Werke in keinem Jugendzimmer, aber auch in den Bibliotheken vieler Erwachsener nicht fehlen durften.

Inzwischen ist viel Zeit verstrichen und viele der weniger bekannten Werke Achermanns sind nur noch zu horrenden Summen antiquarisch greifbar. Ihre Lektüre scheitert oft an ihrem Druck in Fraktur-Schrift, welche immer weniger Menschen zu lesen verstehen.

Um die Werke, welche schon mein Vater und seine Freunde mit viel Freude gelesen haben, auch der heutigen Generation einfach zugänglich zu machen, habe ich mich entschlossen, eine Neuausgabe zu wagen. Dabei war es mir wichtig, nicht nur die alte Fraktur-Schrift zu modernisieren, sondern auch Grammatik und Orthographie sanft an heutige Schreibweisen anzupassen, ohne dabei die Sprache des Autors zu sehr zu verändern. Hier schrieb ein helvetischer Autor und so sind manche verwendeten Ausdrücke auch typische Helvetismen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dies wurde weitgehend so belassen.

Nun wünsche ich Ihnen viel Spass bei der neuen Ausgabe von «Auf der Fährte des Höhlenlöwen»! 

Der Herausgeber

Carl Stoll

Durch die Tundra

Vor Jahrtausenden — kein Gelehrter hat auch nur annähernd die Zeit bestimmt — da war das Gebiet unserer Heimat unter einer mächtigen Eiskruste begraben. Wo heute Flüsse und Bäche durch blühende Täler rauschen, da zwängten sich unter Ächzen und Krachen die urgewaltigen Eisströme durch, deren Tiefen nicht selten 2000 Meter übertrafen. Einer der gewaltigsten dieser Titanen war der Rhonegletscher.

Wie ein stöhnender Drache war er aus seinen himmelanstarrenden Felsentoren zu Tale gekrochen, hatte seinen linken Flügel über das Gebiet der heutigen Südwestschweiz bis nach Lyon ausgestreckt, und als sich der wilde Jura seinem Vordringen trotzig entgegenstellte, überrannte er ihn mit eisharter Stirne, paarte sich mit dem jungen Drachen vom Oberaarhorn, dem Aaregletscher, und drang mit ihm über das schweizerische Mittelland vor bis ins heutige Baselland hinein. Da machten der Neuß- und Linthgletscher mit ihnen gemeinsame Sache, und zugleich stieg der alte Drache vom Rheinwaldhorn nieder, stieß mit Berggewalt bis ins Gebiet des heutigen Bodensees vor und streckte seine Zunge fächerförmig bis gegen Sigmaringen und Ehingen hinaus. Sein Schweif reichte immer noch zurück bis in die Lochmulden und Klüfte des Paradiesgletschers im Gebiete des Rheinwaldhorns. Sein Panzerleib schrammte felsige Talsohlen auf, hobelte Bergwände und schliff ganze Felsmassive, die sich ihm entgegenstellten, bis auf glattpolierte Rundhöcker ab. Wo er solche Höcker und Abhänge überwand, da sträubte sich sein gewaltiges Schuppenkleid wie in namenloser Wut, um sich nachher wieder schlangenglatt zu schließen.

Viermal stießen sie vor, die eisgepanzerten Drachen des Diluviums (Eiszeit). Unter ihrem Hauch erstarrte die Blume des Tales wie die Alpenrose an hoher Felsenwand — die Region des ewigen Schnees war bis ins Flachland vorgedrungen!

Beim vierten Vorstoß war ihre Titanenkraft gebrochen. Der Rhonegletscher z. B. brachte es diesmal nur noch bis in die Gegend des heutigen Solothurn. Da legte sich der lebensmüde Drache zum Verenden nieder, d. h. er schmolz unter steigender Durchschnittstemperatur stetig ein und trat den Rückzug an.

Versetzen wir uns in diese Zeit!

Wir steigen auf den kalten Nacken des sterbenden Titanen, aber mit sorglicher Vorsicht; er ist immer noch ein tückischer Geselle; in seinen Runzeln und Falten lauert der Tod: Die Längs- und Querspalten eines eiszeitlichen Gletschers, auch in seiner Rückzugsphase, führen immer noch in eine unheimliche Tiefe. — Wie aus weiter Ferne hören wir dort unten ein heimliches Gurgeln und Zischen: Die Schmelzwasser fallen nieder, rieseln und sprudeln und plätschern, reißen Blöcke und Schottermassen mit und rösten sie in den bauch- und schraubenförmig ausgeschliffenen Töpfen und Gletschermühlen. Das faucht und gähnt und rülpst wie im Innern eines sterbenden, wassersüchtigen Riesen. Durch seinen aufgesperrten Rachen, das Gletschertor, ergießt dieser verendende Niesendrache sein gelbliches Leichenwasser.

Wenn eine Leiche verwest, so bleibt das Gerippe zurück. Auch der sterbende Gletscherdrache hinterlässt ein Beingerüst, ein Skelett von solcher Furchtbarkeit, dass noch kommende Jahrtausende vor ihm schaudern. Hoch droben in den Alpen waren schwere Felstrümmer auf seinen Leib gefallen; diese hat er eingebettet und – weil sie infolge ihres schwereren Gewichtes immer tiefer sanken – als Grundmoräne verfrachtet; zu beiden Seiten fielen Blöcke und Schutt auf seine Flanken, und er nahm sie als Seitenmoränen mit ins offene Land. Wo zwei Gletscher zusammenfließen, bilden ihre inneren Seitenmoränen zusammen die Mittelmoräne. Sein ganzes Knochengerüst hat das sterbende Untier bei seinem Zurückschmelzen liegen gelassen.       

Eine sternenklare Nacht leuchtet auf den Vorlandgletscher nieder; er liegt so still wie ein in Hochflut erstarrtes Meer; nur in seinem Innern ist geheimnisvolles Knistern und Gurgeln.

Leise erhebt sich im Osten der junge Tag. Da fangen die erstarrten Wogen zu glühen an, und wie der steigende Sonnenball das Firmament entzündet, leuchten sie wild auf, als hofften sie von dort Erlösung aus ihrer Starrheit. Ein Blick nach Norden: Dort liegt das „Knochengerüst" des zurückweichenden Gletschers. Langgezogene Seitenmoränen, hügelige Endmoränen und dazwischen ungeheure Schotterfelder, trostlos und leer, eine Wüste des Todes. Nur die Rentierflechte wagt sich spärlich bis an den Saum der Gletscherzunge heran.

Doch halt! Ist dort nicht…?

Wahrhaftig! Dort hinter dem Vorsprunge des Gletschertores kauert ein Mensch!

Erst in allernächster Nähe fällt er dem Auge auf; die graugelbe Farbe seines enganliegenden Rumpfkleides aus dem Felle der Saiga-Antilope vermischt sich mit dem Grau des Trümmerfeldes; sein Überwurf aus Rentierfell erscheint aus einiger Entfernung wie ein Flechtenteppich, und selbst das mit Rot-Ocker bemalte Gesicht und die tätowierten Arme unterscheiden sich kaum von der Farbe seiner Umgebung. Sein scharf geschnittenes, schönes Gesichtsprofil verrät hohe Intelligenz und Energie. Und sein Auge         !

Solche Augen haben nur Menschen, deren Blick an weite Fernen gewohnt ist, und dieser Fernblick gibt dem Auge, aus der Nähe betrachtet, etwas Träumerisches, Rätselhaftes.

Wie starr blickt es auch jetzt in die Ferne. Wohin? —

Ah ...!

Dort, über die ferne Gletscherzunge bewegen sich dunkle Punkte, fünf, sechs, sieben, acht… Rentiere!

In einiger Entfernung hinter ihnen tauchen fünf andere Punkte auf.

Erst scheinen es ebenfalls Tiere zu sein!

Sie verschwinden hinter einer Eiskante — kommen wieder zum Vorschein – es sind gebückt schleichende Menschen!

Vor ihnen her trotten die Rentiere, mehr von ihrem Instinkt als von den Verfolgern gejagt.

Kein Zweifel: Die Menschen treiben die Herde unserem Jäger zu! Dieser wickelt bedächtig die Lasso-Schlinge von den Lenden, fasst den mit Wildpferden gravierten Griff mit der Linken und nimmt die kunstvoll aufgewickelte Lederschlinge in die Rechte.

So wartet er!

Seine sehnigen Oberarmwülste zucken wie verhaltene Spannkraft. Der Mann kann seine Neugierde beherrschen: Nicht ein einziges Mal späht er um die Kante. Es geht noch lange, bis sich von jenseits ein kaum hörbares Schnauben vernehmen lässt: Sie kommen!

Lautlos, wie eine gespannte Feder, nimmt der Jäger Wurfstellung ein. Ein nahes Knistern des Schotters, ein leises Plätschern; jetzt muss das Leittier um die Kante des Gletschertores biegen, jetzt – jetzt!

Kaum zeigt sich das Geweih des Ren – ssst – fliegt der Lasso! Das erschreckte Tier prallt mit einem Hochsprung zurück, aber die Schlinge hat sich kunstgerecht um seine linke Geweihstange verfangen. Dann zappelt es verzweifelt, wie ein Fisch an der Angel, indes die erschreckte Herde in eleganten Hochsprüngen ausreißt und im nächsten Augenblicke hinter den Schutthalden und Eistrümmern verschwunden ist.

Das vor Todesangst rasende Tier reißt den Jäger ein Stück mit sich fort; der hält wie eine in sein Opfer verbissene Wildkatze.

„Halloh-hoh! — Heil! Heil, Harrar!"

Die Jäger sind da, schon hebt der Vorderste seinen Wurfspeer mit der hellglänzenden Spitze aus Elfenbein: Zischend fährt er dem armen Tier in die Flanke; ein Zweiter folgt nach. Da verdreht das Wild rollend die Augen, legt den Kopf noch einmal zurück, wie zu einem letzten Sprunge ansetzend, und — knickt mit einem tiefen Atemzug zusammen. Seine Hinterläufe arbeiten noch, aber aus dem Maule hängt die blutige Zunge.

„Ihr habt sie weit hergebracht, Ruwo?", fragt unser mit Harrar angeredete Jäger.

„Ja, Bruder", entgegnet der Angeredete, „und wir hatten große Mühe, die Tiere in diese Richtung zu treiben!"

„Weshalb? Der Morgenwind war doch mit euch!"

„Gewiss, Harrar! Aber ich hatte das Gefühl, als ob das Ren diese Richtung scheute. Wir hatten große Mühe, es am Ausbrechen nach Norden zu verhindern."

„Unbegreiflich! Seit Jahren haben die Tiere doch diesen Wechsel!"

„Ja, Harrar. Mein Bruder steige auf jene Gletscherzinne und schaue, ob er im weitesten Umkreis irgendein Wild bemerken kann!"

„Pah! Sie sind jetzt vergrämt! — An die Arbeit!"

Harrar zieht den feingeschnitzten Elfenbeindolch aus dem Gürtel und kauert vor dem leise zuckenden Tier nieder; mit einem gewandten Stoßschnitt öffnet er ihm die Halsader und verhält die Wunde so, dass das Blut in die bereitgehaltenen Lederbecher abströmen kann.

Dieses Blut wird von den Jägern mit Hochgenuss getrunken; es enthält die Seele des Tieres und gibt Schnelligkeit und Ausdauer.

Die vom Blute geröteten Lippen der Jäger machen den Eindruck, als seien diese Menschen selber am Verbluten.

Im Winter wird das Blut gefroren von der Jagd nach Hause getragen und dort monatelang aufbewahrt, wie das Fleisch auch. Schon der Magdalenienjäger kannte also das Gefrierfleisch. —

Jetzt ist es Hochsommer; deshalb wird der Lebensstrom des Tieres an Ort und Stelle getrunken. Dazu werden kalte Bratenstücke von Bison und Wildpferd von den Jägern unter frohen Reden verzehrt.

Nach diesem blutigen Frühstück werden vier Wurfspeere zu zweien mit Sehnen, Darmsaiten und Schnüren (aus Wildpferdhaar) zusammengebunden und die Wurfstangen aus Rentierhorn als Querhölzer benutzt. Ihrer vier tragen das erlegte Wild.

Harrar und ein Alter gehen voraus, um den Weg zu prüfen, und dies ist keine Überflüssigkeit; es geht durch die Tundra!

Als eine Wüste von unendlicher Trostlosigkeit liegt sie vor dem Auge der Rentierjäger, die Tundra der letzten Nacheiszeit. Wie ein fahles Leichengesicht zeigt sie ein die Seele bedrückendes Bild der überstandenen Agonie, wie gebrochene Augen starren ihre Tümpel und Seen zum Himmel empor und unter dem dünnen Laut von Flechten und Moosen scheint sich mit grauenhafter Deutlichkeit das Moränenskelett des alten Gletschers wie unter einem Leichentuche hinzurecken.

In der Tieftundra herrschen die von Insekten wimmelnden Moore, in der Hochtundra krüppeln vereinzelte Zwergbirken ihr greisenhaftes Leben dahin; einige Lärchen und Föhren suchen in besonders günstiger Lage ihre Daseinsberechtigung darzutun; der rasende Lösssturm hat sie gestriegelt, dass sie aussehen, als ob eine Riesenfaust sie zehnmal um ihre eigene Achse gewickelt hätte.

Sengend brennt die Sonne wie ein glühendes Auge auf die stille Unendlichkeit der Tundra.

Gegen Nachmittag scheint die Vegetation reicher zu werden, aber die Gefahr der Tundra ist noch nicht vorüber: Nicht immer strömen ihre Wasser zu einem Moortümpel oder See zusammen; oft durchsickern sie den Boden und schaffen unter dem trügerischen Moos- und Flechtenteppich einen Hohlraum oder Morast, der nur vom breithufigen Ren gefahrlos betreten werden darf. Hundertmal sich windende Flüsse ohne wahrnehmbares Gefälle sperren des Öfteren die Landschaften und lagern feine Sandbänke ab, die vom Lösssturm aufgewirbelt und mit den dürren und losen Produkten der Steppe an den Anhöhen als Dünen abgelagert werden.

Auf den Dünenhügeln erhebt sich die Lärche zum stattlichen Baume und wird hie und da im Vereine mit Weiden- und Zwergerlenbüschen zum Schmucke der Landschaft. Im Schutze der Lärche siedeln sich auch andere hochstämmige Pflanzen an, spitzblätterige Weiden, Ebereschen, Geißblattgebüsche, Faulbäume und Zwergfichten. Hatten wir bisher nur spärliche Tundrenflora wie Rentierflechte, Wassermoos, Riedgras und Wollweiden, so kennzeichnen Rosmarinheide, Nießwurz und Thymian, Nelke und Glockenblume, Vogelwicke und Schnittlauch, Alpenerbse, Hahnenfuß und Immortelle den Übergang zur solideren — Steppe!

Die Steppe mit ihren wandernden Wildherden!

Während Mammut und Nashorn, Eisfuchs und Lemming die Tundra vorziehen, durchrasen Heere von Urstieren und Bisons, von Wildpferden, Elchen, Hirschen und Antilopen die leicht bestandene, grasreiche Prärie.

Was der abgehärtete Jäger der Eiszeit leisten und ertragen kann, das zeigt sich hier: Die sechs Jäger haben auf ihrem beschwerlichen Marsche noch nie gerastet!

Nun hebt der rüstig voranschreitende Alte die Hand:

„Halt! Wir haben den halben Weg — nieder mit der Last!"

Zwischen Erlenbüschen, im Schatten einer stattlichen Birke, lassen sich die Jäger nieder und greifen nach ihren Mundvorräten: Bratfleisch mit Fisch, kleinen Waldfrüchten und Zwiebeln.

An die Birke gelehnt, schaut der Alte sinnend in die Ferne.

Von Zeit zu Zeit schiebt er ein Stück Fleisch zwischen seine elfenbeinernen Zähne. Keiner spricht ein Wort; denn der Alte hat noch nicht gesprochen; er ist das Oberhaupt der Höhlensiedlung von Hador.

Hoch in den Lüften zieht ein Falkenpaar nach der Tundra.

Der Alte verfolgt die Vögel mit seinen kristallenen Augen, bis sie als kleine Pünktlein im blauen Äther aufgehen.

„Dank dem Allmächtigen, dass wir Vorrat haben!", spricht er,„das Wildrind fängt zu wandern an, die Steppenhengste nüstern der Sonne entgegen und der Lemming rüstet sich zur Todesfahrt!"

„Glaubt mein Vater, dass das bald geschieht?", fragt Harrar, sein Ältester.

„Ehe der Mond sein Geweih aufsetzt, wird der Lösssturm über die Steppe rasen!"

„Ziehen wir gegen Westen, Vater?"

„Nein! Wir bleiben diesen Winter in der Höhle von Hador; unter den Jägern des Westens frisst die Rache und der Speer der Vergeltung!"

„Anthors Sohn soll auf der Jagd getötet worden sein!"

„Aus Eifersucht! Sie ist der Wurm des Friedens!"

„Wer wird siegen, Vater?"

„Das Recht und die Ehrlichkeit!"

„Wenn der Hass und die Tücke triumphieren, Vater —?"

„Greift die Gottheit ein mit Hunger und Seuche! Glaube mir, Harrar, jedes Anrecht wird im Laufe der Jahre, früher oder später – horch! Was war das?"

„Was hast du, Ahar?", fragt einer der Jäger.

Der Alte — der Vater Harrars und Ruwos – steht in horchender Stellung, die hohle Hand am Ohr.

„Der Wind hat mir einen fernen Ton gebracht, aber ich kann nicht entscheiden, ob es das Brüllen eines Urstiers oder das Wiehern eines Hengstes war – still!"

Man würde einen Halm fallen hören, so still ist es geworden: Keine Hand bewegt sich mehr, kein Atemzug ist wahrnehmbar. Die Gruppe ist wie erstarrt; das ist Jägerdisziplin!

„Ich höre nichts mehr!", unterbricht der Alte die Stille.

„Vielleicht ein Windzug!", meint Harrar.

„Möglich!", sagt Ahar gedankenlos, legt sich nieder und drückt das Ohr auf die Erde. Lange verharrt er so; endlich steht er auf und schaut wie sinnend vor sich hin.

„Ich vermute eine nahende Bisonherde oder einen wandernden Pferdetrupp — gehen wir auf die offene Steppe! Hier können wir nichts sehen!"

Die sechs Jäger ergreifen ihre Waffen und pirschen sich lautlos durchs Gebüsch auf die offene Steppe gegen Osten. Hier eröffnet sich ein Fernblick bis an den grauen Horizont; zur Rechten zieht sich ein wildzerklüfteter Kalkfelsen gegen Sonnenaufgang, zur Linken schleppt sich ein halbtoter Fluss mit ermüdender Trägheit von Osten her bis nahe an die Erlenbüsche und in unzähligen Windungen mit Inseln und Untiefen nach Norden.

Rechts flieht eine Hyäne ins Gebüsch der Felsentrümmer.

Der alte Ahar schaut ihr lange nach. Ruwo, sein Jüngster, kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Sein Vater sieht es, und zwischen seinen Brauen bildet sich eine strenge Falte.

„Ruwo! Du glaubst, ich hätte vorhin das Gelächter dieses Leichenwolfes gehört?"

„Ja, Vater!", gesteht der Junge ehrlich.

„Es war nicht die Hyäne, auch nicht ein Hengst und noch weniger ein Stier!", erklärt der Alte in einem Tone, aus dem die innerste Überzeugung herausklingt.

„Wir stehen vor der Zeit der Wildfahrten!", wagt Harrar einzuwenden, nur, um den Vater zum Sprechen zu veranlassen; Ahar gilt als der erfahrenste Jäger der ‘Löss-Steppe‘, wie man die Gegend zwischen den zwei ‘Großen Flüssen‘ nennt.

Ahar streckt seine Hand aus:

„Schau dort gegen Aufgang, Harrar! Siehst du ein Großwild?"

„Nein, Vater!"

„Dein Auge reicht hier weiter als der Ton deines Rufes. Der Ostwind hat jenen Ton gebracht, und doch sehen wir eine wildleere Steppe!"

„Was mag es sein, Vater?"

„Ich weiß es nicht!", entgegnet der Alte nachdenklich. „Ich hörte ihn schon, diesen Ton; aber damals war es – kommt, wir wollen gehen — halt! Schlingen vor! Er kann uns nicht entrinnen!"

Im Röhricht des Flusses taucht das Schaufelgeweih eines Elches auf!

Er ist fern, hat aber genau Richtung auf unsere Jäger. Diese verteilen sich blitzschnell in Abständen hinter die Erlenbüsche und rüsten ihre Wurfschlingen. Gemächlich im Halbtrab trottet er heran, der langnasige ‘Bruder des Sumpfes‘. Plötzlich stutzt er! Seine Ohren legen sich nach vorn und seine Nase windet wie ein Rüssel nach dem Felsgrate hin. Da, wie von einem Speer getroffen, schnellt er hoch und stürzt sich jäh ins aufzischende Wasser des Flusses. Er schwimmt nicht; er rast wie im Sprunge hinüber und verschwindet.

Enttäuscht winden die Jäger ihre Schlingen wieder auf und sammeln sich um Ahar.

„Der alte Schnüffler hat uns gerochen — oder war einer nicht in Deckung?", knurrt der enttäuschte und heißblütige Ruwo.

„Er hat uns nicht gerochen, und keiner hat einen Fehler gemacht! Der Elch hat nach dem Felsen gewindet!", entscheidet der Alte und schaut mit einem langen Atemzug nach dem felsigen Höhenzuge.

„Hat er die Hyäne…“

„Kommt! Aber leise!", befiehlt der Alte mit unterdrückter, eindringlicher Stimme. Hastig geht er voran.

Die vier nehmen ihr Wild auf und der Alte macht den Führer. Hinter ihm geht Ruwo. Noch einmal wendet sich Ahar zurück.

„Der erwachsene Elch flieht nicht vor der Höhlenhyäne. — Diese geht nur nachts auf Beute!", belehrt er den Jüngsten und geht stumm voran. Unruhig mustert er die Umgebung bis zum Horizont; meist hält er den Kopf gesenkt, als suche er nach Wildspuren.

„Hallt", ruft er plötzlich mit erhobener Land. Alles steht still. — „Ruwo! Komm her! ... Was ist das hier?"

„Meint mein Vater diese Fährte? Hm, hier ist wohl die Hyäne gestern Nacht durchgekommen!"

„Harrar! Komm du und sage dem Kleinen, was du siehst!"

Der ‘Kleine‘ mochte seine 20 Jahre hinter sich haben und war so groß wie sein Vater!

Harrar betrachtet die Spur bedächtig und verfolgt sie ein Stück weit. Bald kommt er zurück. Seine Lippen sind blass geworden. „Vater, du hast es gewusst!" sagt er, und in seiner Stimme klingt ein leises Beben.

„Nicht gewusst, aber, gefühlt!", entgegnet sein Vater, nicht ohne eine gewisse Genugtuung, wenn auch mit verhaltenem Ernst.

„Was ist's?", fragt der ‘Kleine‘ ungeduldig.

Ein anderer Jäger kommt heran, Watu, der gewandte Speerwerfer. Kaum hat er sich über die Fährte gekauert, so schnellt er wieder auf:

„Ahour, der Satan der Steppe!"

Lange stehen die Männer rat- und wortlos da; tiefer Ernst liegt auf ihren Gesichtern; der Höhlenlöwe ist das furchtbarste Raubtier der Steppe, das nicht nur das Wild in weitem Umkreise vernichtet und verscheucht, sondern auch, getrieben von seiner nie befriedigten Blutgier, den Menschen anschleicht und nicht selten Ansiedelungen auf seinen nächtlichen Jagdzügen überfällt.[1]

Harrar schaut mit einem langen, fast sehnsüchtigen Blick gegen Westen; dort, jenseits der gewaltigen Eiszunge auf einem Kalksteingrate liegt die Höhlensiedlung Chohor. Das Vorlandeis bildet hier eine Bucht von zwei Tagreisen.

„Ob sie's wohl wissen in Chohor, dass Ahour im Lande ist?", fragt er zaghaft.

„Wohl kaum", erwidert der Alte, „der Blutteufel ist jedenfalls mit den wandernden Herden gekommen!"

„Ob man sie nicht warnen sollte?"

„Was meinst du, Harrar! Eigentlich ist es unsere Menschenpflicht — aber ... hüte dich vor dem alten Rahu!"

„Unser weiser Vater hat uns oft vor Rahu gewarnt, wenn wir unter uns waren; er ist ja ein wilder Geselle, aber schlecht...?"

„Kommt auf jene Anhöhe, damit wir von dem dort hinten" — Ahar deutet nach dem Felsen — „nicht bemerkt werden!"

Der Alte geht voran. Unter einem kleinen Felsenschuh bleibt er stehen und zeigt gegen Westen:

„Siehst du die glühende Eiszunge, welche sich in die Steppe hinein erstreckt? Sie heißt die 'Zunge des bösen Weibes'."

„Warum, Vater?", erkundigt sich der neugierige Ruwo.

Ein heiterer Schimmer geht über das Gesicht des Alten:

„Du sollst es wissen, Ruwo! Nimm dir eine Lehre davon! Sie hat den schönen Namen aus drei Gründen. Erstens: Weil sie sich nie zurückzieht. Zweitens: Weil sie alles wieder ans Licht bringt, was man ihr vor Jahrhunderten im Gebirge anvertraut hat. Drittens: Weil sie mit ihrem trüben Geifer alles beschmutzt, was in ihrem Bereich liegt!"

„Und viertens", fährt ein Jäger grimmig fort, „weil sie's auf die Männer abgesehen hat!"

„Wieso das?", wundert sich der 'Kleine'.

„Du musst wissen", fährt Ahar fort, „dass diese Vorlandzunge den Renjäger oft zu einem großen Umweg zwingt. Wenn er diesen abkürzen will, so muss er sie übersteigen, und dies ist nur möglich über den Lauerweg, so genannt, weil in den fürchterlichen Gletscherspalten der grüne Tod lauert. Der Name hat noch einen anderen Grund: Ihr kennt den alten Howe von der Arah-Höhle?"

„Sein Sohn Owinar ist mein bester Freund!", bekräftigt Harrar mit leuchtenden Augen. „Er ist der berühmteste Bildkünstler der Steppe und der Tundra!"

„Das war sein Vater auch und wird es noch sein! Im Steppenwalde jenseits der 'Zunge des bösen Weibes' hatte er in seiner Jugend ein Mädchen kennengelernt, schlank wie die Gazelle der Steppe und rein wie der Himmel der Tundra. Auch Rahu traf sie einst nach einem Jagdzuge auf das Mammut und brachte ihr des öftern Jagdbeute, Schmucksteine und Flimmermuscheln. Howe schnitzte ihre Gestalt in Elfenbein und verzierte ihre Geräte  aus Renhorn mit den Tiergestalten der Steppe. Eines Tages sagte die schöne Rah zu ihm: ,Howe, ich folge dir!' Da wurde Rahus Wange leer und seine Augen traten tief in ihre Höhlen zurück, um auf Taten der Rache zu sinnen. Auf dem 'Lauerweg' der 'bösen Zunge' lauerte Rahu eines Nachts dem heimkehrenden Howe auf. Rahu war ein Riese an Größe und Kraft, Howe ein schlanker JüngIing von mittlerer Größe, mit geschärften Sinnen: plötzlich fühlte er sich verfolgt und stand still, um den Verfolger anzurufen. Zugleich fasste er nach seinem Speer. Der falsche Rahu gab sich ihm zu erkennen, bot ihm die Hand zum Gruße und — packte ihn! Die sternenhelle Nacht sah einen furchtbaren Kampf zwischen den fürchterlichen Gletscherspalten. Rahu wollte seinen Gegner mit Stierenkraft in die Schründe schleudern; Howes Gewandtheit war der Kraft Rahus ebenbürtig; in seiner blinden Wut glitt der Riese aus und Howe ist mit gezücktem Elfendolche über ihm; er will seine Hand durchstechen, trifft im Ringen Rahus Auge. Der Riese gibt mit Brüllen den Kampf verloren; in der Nähe liegt der gurgelnde Rachen des Gletschers. Howe verachtet den tückischen Meuchler und lässt ihn liegen. Seit jener Nacht träumt Rahu von Rache und Vergeltung."

Harrar erhebt sich:

„Der Gletscher leuchtet der Tundra zum Schlafe! Wir müssen uns trennen — oder soll ich bleiben, Vater? Wenn mein Vater meint?"

„Nein, geh', Harrar! Die aus Chohor tragen keine Kerben der Rache gegen uns auf ihren Waffen. Sie werden uns danken, wenn wir sie warnen. Lass auch dich warnen, Harrar!"

„Vor dem — Löwen?"

„Ja – auch!"

„Glück mit euch!"

„Das Heil der Gottheit!"

Harrar schreitet rüstig aus, ohne sich nochmals umzublicken. Seine Gedanken richten sich auf Chohor. Er ist froh, dass er einen wichtigen Grund hat, dorthin zu gehen; sonst ist er immer verlegen und befangen, der starke Jäger der Tundra und Steppe. — Ob sie wohl alle daheim sein werden, der alte Rahu unddie Seinen? Wird wohl Raha, seine Tochter, ihm einen Imbiß darreichen? Ja, Rahu ist immer noch ein wilder Geselle; der wird kein Wort der Liebe zum Fremden sprechen; aber Raha, seine Jüngste, sein Liebling, ist lieblich wie der Thymian der Tundra; ihre Wangen glühen wie der Gletscher im Morgenrot, ihr Gesang lockt wie die Stimme des Singschwans und ihr Auge spiegelt den Frühlingshimmel der Steppe ...

Harrar betritt das Eis der 'Zunge des bösen Weibes'.

Weil der Gletscher hier über felsige Höcker des Untergrundes geht, sind seine Schründe gähnend geöffnet.  Wie lechzende Ungeheuer gähnen sie nach ihren Opfern; hundert Mann tief liegen hier verschlungene Menschen unverwest begraben. Erst an der Endmoräne wird sie der Drache unverdaut ausspeien, wo sie schnell in Verwesung übergehen.

Des öftern sind solche halbverwesten Gletscher- und menschliche Knochen gefunden worden.

Harrar schreitet unbekümmert der Gefahr über Tod und Grab; er ist den „Lauerweg" oft gegangen, auch schon bei heller Nacht.

Er hat die Höhe der Wölbung hinter sich, steht stiII und beschattet seine Augen gegen die untergehende Sonne: dort aus jenem Felsengrate jenseits der schmalen Tundra steigt Rauch auf: Chohor!

Wie er wieder den „festen" Boden der Tundra betritt, leuchtet ihm der Abendstern und nach zwei Stunden nächtlicher Wanderung[2] steht er am Felsen von Chohor.

[1]          Der „Höhlenlöwe" war wohl, nach dem Nasalfortsatze seines Oberkiefers zu urteilen, ein Mittelding zwischen Tiger und Löwe — der eigentliche Löwe ist nur in tropischen Gegenden zu finden, während z. B. der bengalische Tiger bis nach Sibirien angetroffen wird! — Man wird sich fragen, warum diese gewaltige Katzenart der Eiszeit, die ihre heutigen Blutsverwandten, sogar den Senegal-Löwen, an Größe und Kraft weit übertraf, am Ende des Quartärs (Eiszeit, Diluvium) ausstarb; der Zoologe weiß, dass Tiere, die sich durch Größe und Angriffslust auszeichnen, der menschlichen Waffe schneller zum Opfer fallen als solche, die klein sind oder fliehen. Der Verfasser.

[2]          Wir kennen das damalige Zeitmaß nicht, darum müssen wir uns des Stundenbegriffes bedienen.

Jäger und Künstler

Bevor sich Harrar der Löhle nähert, lässt er seinen Jagdruf ertönen:

„Wiuuuh!", d. h. so viel wie etwa: Achtung! Aufgepasst!

Sich ohne Anruf nächtlicherweile einer Jägersiedlung zu nähern, könnte gefährlich werden, weil dort meist eine Wache steht oder herumschleicht. Harrar ist gar nicht überrascht, dass er aus der Nähe angesprochen wird.

„Rehoooh! — Wer?"

„Harrar von Hador!", entgegnet der Ankömmling.

„Gruß! Geh hinein!", ruft der Wächter. „Komm mit!"

„Warum?"

„Du wirst es sogleich hören!"

Aus den Föhrenknüppeln löst sich eine dunkle Gestalt und bietet dem späten Gast die Hand:

„Was gibt's, Harrar von Hador?"

„Kennt mein Bruder von Chohor seine neueste Nachbarschaft?"

„Nein! — Wer ist angekommen?"

„Ahour ...!"

Harrar fühlt instinktiv, wie der andere zusammenfährt; jener bleibt unwillkürlich einen Moment zurück und sieht sich scheu um, als ob ihm etwas folgte. Sogleich kommt er mit einer gewissen Hast nach und fasst den Arm Harrars:

„Hat Harrar ihn — ihn — gesehen, den … den Satan?"

„Nein! — Aber seine Fährte!"

Sie sind an der Felsenhöhle. Mit Stämmchen und Fellen ist am Eingang eine Art Vorhalle oder Windschutz errichtet, durch dessen Lücken und Spalten der flackernde Schein eines Feuers dringt. Dieser „Vorbau" ist bei gutem Wetter viel trockener und gesünder als der Aufenthalt im feuchten Felseninnern. Der Wächter zieht ein Fell zur Seite und sie treten ein:

Um das Feuer ist eine ganze Familienverwandtschaft versammelt: Alte, Junge, Frauen, Mädchen und Kinder. Über dem Feuer dreht ein wilder Geselle den Schenkel eines Bisons; ein junges, bildhübsches Mädchen lässt aus einer Muschelschale heißes Fett darauf niederträufeln.

„Gruß für Chohor von Hador!", spricht Harrar.

„Willkommen!", antwortet der Chor halblaut und mit neugierigen Blicken.

„Was will Harrar?", fragt der Älteste, kurz und hart.

„Rast für heute! — Das heißt: Wenn der Gast willkommen ist?"

Die grelle Frage hat den abgehärteten Jäger getroffen. Er will sehen, ob er auch ohne wichtige Kunde willkommen wäre.

Der Alte antwortet nicht!

An seiner Stelle spricht das Mädchen am Feuer: „Jeder Gast von Hador ist willkommen! Harrar wird mit uns essen und ein gutes Lager finden!"

Harrar dankt und betrachtet eine Zeitlang den alten Wildgesellen; auf einem fellbedeckten Stein sitzt er und schabt an einer Lanzenspitze aus Mammutzahn.

Es ist der alte Rahu!

Seine riesige Knochengestalt ist gebeugt, sein sehniger Nacken verbrannt, und wie Eichenknorren dringen seine Knie unter dem Fellkleid hervor. Lange halbgraue Strähne fallen ihm auf die Schultern und über das Gesicht, sein linkes Auge verdeckend. Das hat er sich so angewöhnt; dieses Auge ist ja ausgelaufen; dafür sprüht das andere zwischen den Strähnen hervor wie das Leuchten des Wanderfalken, wenn er sich auf den Lemming stürzt.

Wie eine Harpune richtet es sich auf den Wächter:

„Warum hast du deinen Posten verlassen?"

„Um euch den Gast zu bringen und — und —"

„Dann geh' wieder!"

„Vater Ahour ist im Land!"

Wie jähes Erschrecken fährt es durch die Gruppe. Große, starre Augen richten sich auf den Sprecher. Die Weiber fangen zu heulen an und die Kinder fallen in ihr Wehklagen ein. Da erhebt sich der alte Rahu in seiner ganzen Größe und geht auf Harrar zu.

„Still!", gebietet er mit seiner unheimlichen Höhlenstimme und still ist's!

„Jäger von Hador, hast du die Nachricht gebracht?", fragt der Riese seinen Gast.

„Ja, Vater Rahu! Deshalb bin ich gekommen!" Er fängt dabei einen Blick der schönen Raha auf und wird rot wie ein Mädchen über seine halbe Lüge.

„Harrar hat ihn gesehen, den großen Fresser?"

„Nein, aber seine Fährte!"

„Harrar allein?"

„Nein! Mein Vater Ahar und vier Brüder waren dabei."

„Dann gibt es keinen Zweifel mehr! Ahar ist der zweitgrößte Jäger der Tundra. — Wo vermutet er ihn?"

„In den Felsgängen des Weißgrates!"

Der Alte fährt auf, dass sein hohles Auge einen Augenblick sichtbar wird. Da fasst er Harrar am Arme:

„Harrar! Das ist nicht weit von Howes Nest in Arah! Weiß Howe, der Schuft, von Ahours Anwesenheit?"

„Ich glaube nicht!"

„Harrar hat ihm nichts gesagt?"

„Nein!"

„Harrar! Du bleibst einige Tage bei uns! Raha! Zerschneide das Fleisch und lege dem Gaste vor! Er bleibt bei uns, bis — bis —"

„Bis ihm die Zeit zu lang wird!", vollendet Raha mit einem Schelmenblick auf Harrar, der wieder bis an die Ohren errötet und sich verlegen über die schön gewellten Locken fährt.

Raha verfügt, wie es scheint, über ein rasches Mundwerk und schreckt nicht einmal vor einem Wortwechsel mit Vater Rahu zurück, der sein Töchterchen gründlich verzogen zu haben scheint. Nun zerlegt sie gewandt den saftigen Bisonschenkel und legt erst dem Gaste ein gewaltiges Stück und dann dem Alten doppelt soviel vor. Dann nimmt sie für sich und gibt die Fleischmasse einfach weiter.

Nun fängt's in der Höhle zu schmatzen und zu knacken an.