Im Banne der ewigen Gletscher - F.H. Achermann - E-Book

Im Banne der ewigen Gletscher E-Book

F.H. Achermann

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Beschreibung

Raph Jurt, Wucherer und Schieber aus Zürich, reist auf die Gandialp, um sich dort selbst zu töten. "Anständig" aus dem Leben gehen will er, auf einer Hochtour wie von ungefähr verunglücken und dann spurlos - verschollen sein. Auf der Alp lernt er ein ganz anderes Leben kennen. Ausgerechnet "der Nant", ein Wilderer, hilft ihm dabei, den Wert und Sinn des Lebens zu erkennen.

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Morgenlicht flammt über den Trawinagletscher. Kalt und still trotzen die grauen Zacken des Karn-Massivs aus seinen grünlich schimmernden Eiswellen zum blauen Himmel empor wie Felsenrisse eines im Orkan erstarrten Ozeans. Hoch droben am Himmel kreisen zwei winzige Pünktlein. Suchen sie wohl ihr Glücklichsein in den wunderbaren Lichtfluten oder wittern sie etwas drunten in der tiefen Gletscherspalte? Vergebliche Hoffnung! Dort im Eisgeklüft lauert der weiße Tod, und der hält seine Opfer der Tiefe gebannt, bis der wandernde Eisstrom sie nach Jahrhunderten durchs Gletschertor wieder zum Lichte bringt.

Vom Tal her wandert ein müdes Menschenkind gegen die Gandialp hinauf. Raph Jurt, der Fabrikant und Kaufmann, Raph Jurt, der Wucherer und Schieber aus Zürich. Was will denn der dort oben in der Weiheluft einer unberührten Paradieswelt?

Den Tod…!

„Anständig" aus dem Leben gehen will er, auf einer Hochtour wie von ungefähr verunglücken und dann spurlos — verschollen sein!

Müde starrt er zu den Zacken des wilden Karngrates empor, ohne indessen etwas anderes zu sehen als die Distanz, die ihn noch von dem Tode trennt. Niemand soll seine Leiche finden, identifizieren, sezieren und die Todesursache feststellen. Deshalb muss er da hinauf!

Schwerfällig lässt er sich auf eine Gneisplatte nieder, nicht ohne vorher nach alter Gründlichkeit ein Nastuch darüber gebreitet zu haben, um seinen neuen Touristenanzug nach Möglichkeit zu schonen. Zitternd fährt seine weichliche Damenhand, jetzt von Hitze und Anstrengung aufgedunsen, über die schweißige Stirne, wo blonde Locken kleben. Wie die Kiemen eines Fisches arbeiten die Flügel seiner feingeschwungenen Römernase, die mit dem energisch vorspringenden Kinn seinem blassen, verweichlichten Gesicht noch eine letzte Spur von untergegangenem Cäsarentum gerettet hat.

Mechanisch greift er in eine Seitentasche und zieht ein hermetisch verschlossenes Reagenzröhrchen hervor, welches komprimiertes Stickoxydul enthält, ein sogenanntes Lust- oder Lachgas. Sorgfältig hält er es gegen das Licht: Dieses feine Röhrchen mit dem farblosen Inhalt soll ihm den Todeskampf erleichtern, zu einem letzten Genuss gestalten.

Da fliegt ein Marienkäferchen auf seine Hand. Lange betrachtet er den kleinen Gast, wie er in frischer Lebenslust die Flügel hebt und senkt! —

„Puuh! Fort! Das Leben ist eine Krankheit, von der man nur im Tod genest!"

Noch eine Weile sieht er den Ameisen zu, die schon über die Schuhe krabbeln, dann steht er auf, stemmt sich schwer auf seinen Eispickel und stolpert mühsam aufwärts.

Nach etwa zwei Stunden öffnet er das Gatter der Gandialp. Schon von weitem hört er Hundegebell, dann sieht er leichten Rauch aufsteigen, hört das Gegacker der Hühner und endlich das heimelige Grunzen der Schweine. Tausende von Fuss-, Klauen- und Pfotenstapfen sind rings um die primitive Hütte in die tiefe Erde gegraben, förmlich eingegraben. Auf den Schuhspitzen überschreitet der Tourist wie eine zimperliche Näherin diese pontinischen Sümpfe und erreicht glücklich und wohlbehalten die Steinstufen des Eingangs. Doch da, unter dem Loch, steht sichtend ein Ferkeljüngling mit hocherhobener Wählscheibe, um den Ankömmling mit klugen Äuglein und schnuppernder Nase auf die Zugehörigkeit seiner Art zu prüfen.

„Kaspar, pack dich fort", krächzt eine Stimme aus dem Dunkeln, und der „Jüngling" springt mit kurzem Protestgrunzen an ihm vorüber in sein Element.

Wie Raph eingetreten ist und seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hat, sieht er sich einem Alten gegenüber, den jedenfalls der Sensenmann an diesem weltverlorenen Posten vergessen oder nicht gefunden hat. Der Urwald seines Gesichtes hängt ungeregelt wie Tannenbart nieder, und sein kaum ergrautes Haupthaar gleicht einem vom wilden Sturm zerzausten Wald von Wettertannen. Hemd und Hose sind seine einzige Bekleidung, wenn man das so nennen darf; denn das zerrissene Hemd lässt den ledernen Nacken frei, und an den Hosen spielen die Knöpfe überhaupt keine Rolle mehr. Die sehnigen Füsse sind frei und haben die Schutzfärbung des Bodens angenommen. Sich stumm im Barte kratzend, betrachtet er den Fremden wie ein Meteor, der aus fernen Welten in die Erdatmosphäre geraten ist. Ob er aus angeborener Schüchternheit oder aus Naturstolz nichts sagen will, weiß er wohl selber nicht. Endlich dreht er aber seinen hageren, gekrümmten Rücken langsam dem Gaste zu und ruft nach dem Milchkeller hin:

„Rosi! 'S ist einer da!"

Damit geht er nach dem Herdkessel, um dort im Feuer zu wühlen.

Unter dem Eingang zum Milchkeller erscheint ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, hübsch und sauber, die Füße abgerechnet! Ihre Hände an der Joppe abtrocknend — eine Schürze trägt man hier nur am Sonntag —, blickt sie weder frech noch schüchtern, aber frisch und frei, nicht ohne geschäftsmäßige Freude auf den wohl sehr vornehmen Gast.

„Grüß Gott, Herr! Was wäre gefällig?"

„Wollen Sie mir heißes Wasser bereiten — zu einem Kaffee."

„Gern!"

Und schon ist sie bei der Arbeit.

„Unterdessen trinke ich eine Tasse Milch."

„Aehni, hol Milch!", kommandiert sie wie selbstverständlich. Der Alte schlurft sofort in den Milchkeller und kehrt mit einem Krug zurück, der zwar keinen Schnabel mehr hat, sich aber dafür mangels eines Henkels bequem mit beiden Händen fassen lässt. Wie Herd und Tisch im Betriebe sind, rücken auch die Gäste des Hauses an: ein „getigerter" Kater streicht ihm schnurrend zwischen Rücken und Stuhllehne durch, bis er eine Wursthaut erhält, der Hund legt das Kinn vertraulich auf seinen Schoß, die Hühner jagen einander um den Tisch herum und dort guckt auch der „Kaspar" wieder zur Türe herein.

Die Rosi sieht die Not des Gastes und fährt unter das Gesindel wie ein Uhu unter die Spatzen.

„Prinz! Leg dich! — Doggeli, du Lauser, fahr ab! — Tschuh, Hühner! Fort mit dem Gesindel! Huggeli, schäm dich! — Prrh! — Wart, Kaspar, ich will dir!"

Da duckt sich der Hund; Doggeli, der Kater, aber geht vorläufig nur auf eine andere Bank, und die Hühner machen vor der Türe schon wieder Front. Im Vorbeigehen streichelt die schlanke Maid dem Heldenjüngling Kaspar die Schnauze. Da fängt der Hund zu bellen an; denn er ist eifersüchtig!

Plötzlich aber geht sein Bellen in einen anderen Ton über: er steht auf und spitzt die schlanken Ohren. Vor der Hütte nahen schmatzende Schritte, und herein tritt ein stämmiger Mensch von etwa dreißig Jahren. Auf seinen gedrungenen Schultern sitzt ein sonnenverbrannter Kopf mit wilden, braunschwarzen Kraushaaren und einem sechswöchigen Barte. Der Mann wäre wohl schön zu nennen, wenn er mehr auf sich halten würde; aber außer seinem Naturstock und den abgetretenen Sandalen hat er nicht mehr aufzuweisen als der Alte, nur dass seine Stücke ganz sind. Aber alle diese Mängel der Toilette treten zurück vor der Kühnheit eines Blickes, wie er nur im Hochgebirge — und auf dem weiten Meer sich bildet!

Merkwürdig!

Die Rosi wird rot, aber kein Gruß bietet dem neuen Gast das Willkommen und der Alte drückt sich stumm in den Milchkeller.

„Rosi, einen Enzian!", sagt er kurz, und sie schenkt ihm ein. Wie er den ersten Schluck hinuntergestürzt hat, füllt sie ihm schnell nochmals auf und stellt die Flasche wieder weg. Während einer langen Pause zeichnet er wie abwesend Figuren in den Lehmboden und steht dann auf:

„Wenn jemand nach mir fragt: Ich bin über den Trawina nach Altingen!"

Damit geht er, zwar ohne Gruß, aber Raph hat das Gefühl, als ob die Augen der zwei ganz eigentümlich aufgeleuchtet hätten.

„Wer war das?", kann sich Raph nicht enthalten zu fragen.

„Das war der Nant!", erfolgt Rosis prompte Antwort.

So, jetzt weiß Raph Jurt ganz genau — dasselbe wie vorher! Aber dieser „Nant" bringt ihn doch auf eine Idee:

„Wenn jemand nach mir fragen sollte, Fräulein Rosa -."

„Ujeh!— Das Fräulein! Sagt nur Rosi!"

„Also: Wenn jemand nach mir fragen sollte, Rosi, so sagt ihr ebenfalls, dass ich hinüber sei — über den Trawinagletscher."

„Wenn man nach euch fragt? Aber Herr — Herr — wie soll ich wissen, dass man euch meint, da ich ja euren Namen nicht kenne?"

Da fährt es ihm blitzschnell durchs Gehirn: Wenn ich gründlich verschwinden will, so darf ich meinen Namen hier unter keinen Umständen angeben!

„Mein Name ist— Hans Joller!"

Raph wählt absichtlich einen einheimischen Namen, um möglichst wenig aufzufallen.

„Dann seid ihr wohl ein Unterwaldner?", wundert sich richtig die Rosi.

„Hm!— Ursprünglich vielleicht!"

Da hat sie auch etwas für ihren geheimnisvollen „Nant"!

Seit dieser verschwunden ist, streicht der Alte wieder in der Küche herum. Vielleicht hat ihn der Rum angezogen, den der Gast dem duftenden Kaffee beimischt. So ein Schnäpschen ist ja für steinalte Leute oft das letzte Band, das sie noch mit dem irdischen Jammertal verknüpft.

Recht früh geht Raph Jurt im Nebenstadel ins Heu zur Nachtruhe.

Heute Nacht ist er allein. Unter sich hört er das Atmen und Riegeln einer Kuh, die wohl krank ist; denn die anderen Kühe nächtigen auf freier Weide. Aus der Ferne dringt das hohle Rauschen eines Wasserfalles, und durch eine Spalte des von der diesjährigen Hitze stark verzogenen Holzes sicht Raph einen letzten Ausläufer des Trawinagletschers mit seiner eigentümlichen, geheimnisvollen Helle.

Es muss draußen eine wunderbare Hochsommernacht sein!

Raph Jurt aber starrt vor sich in die leere Dunkelheit. Bilder aus den Tagen seiner Jugend schweben heran: Er sieht seinen Vater am Schreibtisch, wie er rechnet und spekuliert; denn der Mammon war sein höchster Gott, sein Zweiter der Ernst des Lebens! Auch zu den Kindern redete er nur in Zahlen: Wie viel hast du in der Sparbüchse? Was wirst du einst verdienen als Kaufmann, als Ingenieur? Er liebte seine Kinder aufrichtig und innig, der ernste Mann mit seinem düsteren Furchengesicht, und wollte sie alle glücklich machen; aber dieses Glück war für ihn der Mammon und nur der Mammon!

Und dann kam die Matura mit ihrer Entscheidung für den Lebensberuf: er wählte den Ingenieur, um die Fabrik seines Vaters führen zu können.

Und er fand den Weg zum „Glück"! Den Weg des rücksichtslosen Kampfes und einer jedes Mittel ausnützenden Konkurrenz.

Und dann die erste Katastrophe: der Verlust eines Vermögens durch Valutaspekulationen.

Endlich das Schlimmste: mit der Titanenkraft eines Wahnsinnigen wollte er den Verlust wieder einbringen, und es gelang ihm; der Krieg bot ihm Gelegenheit zur Fabrikation von Kriegsmaterial, zu Wuchereien und Schiebermanipulationen, an denen er Unsummen verdiente. —

Er hatte wieder „Glück". Aber der Weg dazu führte über Leichen, über Ruinentrümmer von Menschenglück, über Särge ausgemergelter Arbeiter und über seine eigene zertretene Ehre ... Anständige Leute traten vor ihm zurück.

Und dann . . . und dann...!

Wie im Wahne des Fiebers schießt er hoch, reißt einen Brief aus der Brusttasche und lässt die Taschenlaterne aufleuchten. Einige Sätze ihres letzten Schreibens muss er immer und immer wieder lesen:

Lieber Raph!

... nur Gott weiß, wie ich dich geliebt habe! Einsame Stunden schlafloser Nächte könnten davon erzählen . . . aber ein menschliches Herz und kaltes Metall passen schlecht zusammen . . .

. . . Oh, ich könnte sie noch übersehen. Deine Spekulationen und die ... Unternehmungen, von denen man spricht . . . Aber die Entlassung krank gearbeiteter Menschen . . . Dein kaltes Lächeln für die Not der Mansarden. Warum konntest du mir — mir zuliebe — den alten Markwalder nicht behalten? Raph, das war mehr . . . mehr als Wucher! . . . und nun weiß ich, dass das alles nicht nur Laune und Leidenschaft war, sondern Grundsatz, Weltanschauung! . . .

... An jenem Abend bei Göldlins, als der Schaumwein euch Männern der Zahlen, euch Eidgenossen von heute die Zunge löste und die eisernen Tresore eurer Herzen aufsprengte, da rollte es heraus, das goldene Gepräge mit eurem wirklichen Bilde: Ja, wenn es nichts Höheres gibt als Obligationen. Aktien, Devisen und Geldrollen, dann seid ihr konsequent im Recht: Dann ist der Nächste nur ein Mittel, dann ist die Rücksichtslosigkeit höchste Tugend, dann sind die Heilstätten der Unheilbaren wirklich „überflüssig", die Versorgung Altersschwacher und Umnachteter wirklich ein „unbegreiflicher Luxus des modernen Staates", da man solche „Kreaturen" ja mit geringeren Kosten schmerzlos aus der Welt „befördern" kann; dann hat der „lachende Löwe" allein Existenzberechtigung, aber — aber, lieber Raph, Du wirst mir ebenso konsequent recht geben müssen, wenn ich nicht Lust habe, mit einem solch königlichen Raubtier den Zwinger, oder sagen wir, den Salon zu teilen . . .

Ich will ja glauben, dass Deine „große Liebe" imstande wäre, mir diese modernen Grundsätze zum Opfer zu bringen, aber Bekehrungen vor der Hochzeit sind selten nachhaltig, und Weltanschauungen kann man nicht wie Kleider wechseln; das wäre ja die höchste Grundsatzlosigkeit . . .

Lieber Raph — ich leide wohl mehr als Du ... Aber es ist besser so . . . Zürne mir nicht, wenn ich Dich bitte, mir nicht mehr zu schreiben; ich brächte es nicht über das Herz, nochmals in den Trümmern meines Lebensglückes nach Scherben zu suchen, nochmals in meiner eigenen Todeswunde zu wühlen . . .

Sei glücklich - - -

Mitis Stützi.

Das also war das Ende!

Raph drückte das Licht seiner Taschenlampe ab und starrte wieder in die Finsternis; aber auch wenn Tageshelle herrschen würde, könnte er jetzt nichts sehen; denn seine Augen sind nach innen gekehrt und schauen nur ferne Bilder der Vergangenheit. Warum musste er Mitis so wahnsinnig lieben, dass das Leben ohne sie für ihn keinen Wert mehr hatte? Gewss, sie war schön, aber er hatte schon manch bestechenderes Weib geliebt und lachenden Herzens wieder aufgegeben.

Der Grund musste tiefer liegen. —

Ist es ein Geheimnis der Natur, ihre Seelenrichtung oder eine Veranlagung seinerseits? Was er auch immer sinnen und deuteln mag, eines ist Tatsache: Mitis war der letzte Stern, der ihm noch die dunklen Pfade seines Lebens beleuchtete!

Seine Arbeiter hassten ihn, den schroffen, rücksichtslosen Brot-Tyrannen mit dem brutal aufgedrehten Schnurrbart. Noch sitzt einer im Zürcher Zuchthaus, der ihm mit einem Pfriem an den Kragen wollte.

Mit dem Gesetz war er eigentlich nie in Konflikt gekommen, war also nach modernen Begriffen ein Ehrenmann geblieben, vom Scheitel bis zur Sohle, wie man sagt. Aber viele Familien und einstige Freunde, die früher den hochbegabten Menschen, den intelligenten Gesellschafter und den loyalen Fabrikanten hoch eingeschätzt und öfters zu sich geladen hatten, rückten allmählich und unmerklich vom Spekulanten, Schieber und rücksichtslosen Konkurrenzmenschen ab.

Und nun hatte auch das einzige Lebewesen auf Erden, das ihn noch liebte, und das er liebte mit der ganzen Leidenschaft seines rücksichtslosen Herzens, ihn verlassen, von allen zuletzt, aber doch verlassen, die liebe, liebe Mitis!

Dachte sie jetzt wohl auch an ihn? Wenn sie wüsste, was er vorhat! Würde sie ihn wohl zurückhalten? Oder lässt ihre Schreibweise nicht vielmehr die Deutung zu, dass sie ihn verachtet? Er hatte ihr an jenem verhängnisvollen Abend bei Göldlins imponieren wollen und — das Gegenteil erreicht!

Ein unendliches Weh hält ihn umfangen: von aller Welt verlassen, namenlos sterben, als ein Verfluchter der Menschheit! Wie hatte ihm dieser Brief die Augen geöffnet, ihn zur schauerlichen Wirklichkeit erwachen lassen!

Auch sein Herz war einmal weich und gut gewesen; aber die Erziehung hatte es mit einer künstlichen Panzerplatte umgeben und mit Beton armiert ...

Draußen muss der Mond scheinen; denn der Gletscher leuchtet heller als vorhin, so unheimlich still und rein, und die Schatten der Karnspitzen sind schärfer, kantiger geworden.

Sein Auge bleibt trocken und wach. —

Kurz nach zwölf Uhr steht er auf, trinkt die schon am Abend zurechtgestellte Milch, rüstet sich und verlässt lautlos die Gandihütte. Ja, die Nacht ist wunderbar, grausig schön wie eine Szenerie aus Dantes Inferno: Kein Laut stört die Stille als sein eigener Schritt. Vor sich auf dem holperigen Wege hat er seinen eigenen Schatten, auf den er fortwährend treten muss. Bald weht ihm der nasse Nebelstaub des Kanzelfalles ins Gesicht.

Hart zur Rechten, in fast greifbarer Nähe, starren ihn die ersten Höcker des Trawinagletschers an.

Im Osten leuchtet es geheimnisvoll!

In überirdischer Macht heben sich die Titanenhäupter der Alpenwelt gegen das flammende Morgenlicht, und jetzt — dort zuckt der erste Glühstrahl über die morgenstillen Firnen. Licht flutet durch das Universum, und in einem einzigen Aufleuchten ist der Dom des Karnmassivs mit Herrlichkeit übergossen. Raph Jurt kann nicht anders: Auch er atmet auf, als hätte dieser Alpenmorgen seinem elenden Leben Erlösung gebracht.

Und das Morgenleuchten glitzert auch in der Träne seiner Wange. Fester stemmt er sich auf seinen Eispickel, beißt die Zähne zusammen und schreitet weiter als einsamer Wanderer im erstarrten Meere des Trawina — leb wohl, du schöne Welt! —

Dort vor ihm starrt die Karnspitze wie ein gotischer Riesendom, aus dem Gletscher wild auffahrend, ins Morgenlicht. Hinter ihr, zum Teil noch verdeckt, beginnt der Aufstieg zum berüchtigten Karngrat. An seiner Nordseite fällt der Gletscher jäh ab und bildet die gefürchteten Karnspalten, die gefährlichste Stelle bei Überschreitung des Gletschers von und nach Altingen.

Dies ist sein Ziel. Mehrmals muss er Stufen hauen.

An der Stelle angekommen, zieht er die Uhr: zehn Minuten nach fünf Uhr!

Ringsum Totenstille!

Wenige Meter unter ihm gähnen grünlich-dunkel, erschreckend schön, die grausigen Gletscherspalten, von der Morgensonne feenhaft beleuchtet, wie versunkene Eispaläste. Zu einem dieser gewaltigen Haifischrachen des Hochgebirges haut er Stufen. Vorsichtig beugt er sich über den Rand; der Schrund erweitert sich höhlenartig nach unten, und aus dem grünlich schimmernden Dunkel gähnt ihm eine schauerliche Winternacht entgegen, die Nacht des Grauens.

Plötzlich beschattet er die Augen und starrt durchdringend nach einer in flimmerndes Halbdunkel gehüllten Stelle hin. Seine Lippen sind so blass geworden wie seine Wangen.

Was ist das dort? Ist's ein Spiel seiner Phantasie, ein Naturspiel der Gletscherbildung, oder — ist das dort wirklich ein Totenkopf, was ihn so unheimlich anstarrt? Ist das der weiße Tod, der dort seine Opfer bewacht — im Banne der ewigen Gletscher?

Hier — nein, hier will er nicht hinunter!

Wie von einem inneren Feuer getrieben, hastet er wieder aufwärts bis an die schwarze Felswand des Karngrates. Hier hat die Sonne während des heißen Sommers die Felswand so erhitzt, dass der Gletscher hier entlang geschmolzen und oft zwei Meter von Gestein zurückgetreten ist, Rieselspalten bildend, bis in unheimliche Tiefen reichend.

Hier soll die Endstation seines bewegten Lebens sein; mit dem Eispickel haut er an der abschüssigen Gletscherspalte ein Plätzchen aus, um in Ruhe seine letzten Vorbereitungen treffen zu können.

Er entledigt sich des Rucksackes, entnimmt ihm ein reiches Frühstück mit viel Alkohol — zuletzt ein Pülverchen und das Reagenzgläschen mit dem komprimierten Stickoxydul. Beides liegt griffbereit neben ihm; dann zieht er den Rucksack wieder an — nichts soll von ihm an der Oberfläche bleiben, nichts darf die Stelle markieren, wo Raph Jurt, der Schinder und Schieber, Raph Jurt, der Ingenieur, der verlassene, unglückselige Mensch geendet hat. ----

Aus der Tiefe herauf dringt ein hohles Rieseln an sein Ohr wie die Totenuhr des Sensenmannes. Und rings um ihn ein Panorama, wie es keine Menschenphantasie erfassen kann. Ehrfurchtgebietend starren die kristallklaren Titanenzähne des wilden Karngrates zum blauen Himmel empor; in unberührter Jungfräulichkeit strahlen die stillen Eisfelder des Trawinagletschers, das Menschenauge blendend, in den rosaglühenden Himmel hinaus. Und Raph Jurt muss sterben!

Er hat seinen Standort so gewählt, dass er unter der Wirkung der narkotischen Ingredienzien in die Spalte fallen muss.

Mit blutunterlaufenen Augen schaut er noch einmal wie im erwachenden Irrsinn um sich; aschfahl ist seine Wange, und seine Finger zittern in nervöser Aufregung: Sterben ist doch das Furchtbarste, das Allerletzte. Und doch: Wie viele brave Menschen haben wohl unter den Splittern seiner Granatenhülsen zuckend und stöhnend in tagelangen Qualen langsam ausgerungen.

Mitis!

Er zieht ihr Bild hervor: Wenn er sie noch einmal sehen könnte! Wenn er noch einmal in ihre Augen schauen, noch einmal — nicht ihre blutfrischen Kinderlippen, nur ihre Hand, ihre reine Kinderhand küssen, ihr noch sagen dürfte: Leb wohl, Mitis, sei glücklich!

Weinend hat er ihren Namen hinausgerufen in die Morgenstille! Da fällt von der Felswand ein Steinchen herunter, ein winziges Körnchen von der Größe eines Nadelkopfes, dem Ohre kaum vernehmbar.

Er blickt empor: Ist eine Gemse über den Grat gewechselt? Er sieht nichts.

Unwillkürlich tritt er einen Schritt zurück, um noch weiter hinaufsehen zu können, beschattet seine Augen vor dem blendenden Lichte des Himmels. — Ah! Dort oben klettert ein Mensch!

Auf schwindelndem Felsbande greift er weiter, Ruck um Ruck, Griff für Griff, fast senkrecht über der hell beschienenen Karnwand. Wie es scheint, ist er barfuß, nur in Hemd und Hose; aber um seine Schultern hängt ein Stutzen.

Kein Zweifel! Das ist ein Gemsjäger, und zwar ein Wilderer, denn hier ist Schongebiet; das weiß Raph von der Rosi.

Der Anblick fasziniert ihn. Ah, wie der Jäger lautlos, mit souveräner Todesverachtung dort um die Kante turnt: Das ist einmal ein Richtiger! Nicht so einer mit Monokel und Visierglas auf sicherem Baumansitz, wie der Herr Baron Schwenke bei seiner Revierjagd.

Der Mann scheint ein sicheres Ziel im Auge zu haben; denn immer äugt er vorsichtig um jeden Vorsprung, bevor er ihn nimmt.

Raph Jurt, ebenfalls ein leidenschaftlicher Jäger, lässt alles liegen, Rucksack, Pickel, Feldflasche und das Gift — für sein Vorhaben ist es noch jederzeit früh genug — und umgeht östlicherseits den Fuß der Karnwand, nach einem leichten Aufstieg suchend; das will er noch erleben: diesen Wilderer bei seinem todgefährlichen Weidwerk!