Die Tote von Scotland Yard - F.H. Achermann - E-Book

Die Tote von Scotland Yard E-Book

F.H. Achermann

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Beschreibung

Lord Artingham ermordet! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft uns die Nachricht, dass Lord Simon Artingham gestern Abend um 9 Uhr in seinem Wochenend-Chalet tot aufgefunden wurde. Nach fachmännischer Diagnose handelt es sich einwandfrei um Mord, der zwischen fünf und sieben Uhr angesetzt werden muss. Dem Mörder ist dabei das fatale Missgeschick passiert, dass er dem Toten - wohl um einen Selbstmord vorzutäuschen - den Revolver in die rechte Hand drückte, obwohl der Einschlag des Geschosses auf der linken Schläfe festgestellt wurde. Ob das ein Hinweis auf die Fährte des ruchlosen Mörders sein kann, wird erst die weltbekannte Facharbeit von Scotland Yard erweisen. Kurz darauf wird Lady Van Duys, die von Unbekannten erpresst wurde, in den Räumen von Scotland Yard ermordet aufgefunden. Die Beamten von Scotland Yard bieten alle Kräfte auf, um die Kriminalfälle zu lösen, doch erst zwei Schweizer Freunden gelingt es nach und nach, Licht ins Dunkle zu bringen. Werden sie es schaffen, einen weiteren Mord zu verhindern?

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Die Tote von Scotland Yard

Die Tote von Scotland Yard - TitelVorwort des HerausgebersDer Tote von Scotland YardImpressum

Die Tote von Scotland Yard - Titel

Die Tote von Scotland Yard

Kriminal-Roman

F.H. Achermann

Neu herausgegeben von

Carl Stoll

Copyright © 2019, Carl Stoll

All rights reserved

Vorwort des Herausgebers

Franz Heinrich Achermann, vor allem als F.H. Achermann bekannt, war Zeit seines Lebens ein Schweizer Bestseller-Autor. Er, der Geistliche aus dem Kanton Luzern, verstand es wie kaum ein anderer, die Jugend und junggebliebene –  meist männliche – Erwachsene zu begeistern. Insbesondere seine Romane aus der Prähistorie der Schweiz trugen ihm den Ruf ein, ein Schweizer Karl May zu sein. Auch seine Studenten-Romane müssen sich neben jenen mancher Autoren aus «dem grossen Kanton1» nicht verstecken.

Wenig Anerkennung erhielt der Autor für seine gesellschaftskritischeren Schriften und auch seine Kriminalgeschichten wurden nur wenig wahrgenommen. In beiden Fällen überrascht dies aus heutiger Sicht.

«Die Tote von Scotland Yard» ist ein kleines Meisterwerk der Kriminalliteratur, das sich durch Spannung und einen klaren Handlungsbogen auszeichnet, der aber immer wieder Überraschungen bereithält.

In dieser neuen Ausgabe des Werkes habe ich den Text sowohl sprachlich wie auch in Bezug auf die Grammatik sanft angepasst, ohne ihm die für ihn so charakteristischen Helvetismen zu nehmen.

Viel Spass bei der Lektüre

Der Herausgeber

Der Tote von Scotland Yard

„Ich kenne den Mörder!"

Scharf, mit verhaltenem Hass, zischen die Worte von den schönen Lippen des Filmstars Lenis Yardo.

Inspektor Wells lehnt sich in seinem Sorgenstuhl weit zurück und schaut mit ironischem Erstaunen auf die einmalige Erscheinung: Ihr knappes Kleid in Narzissenweiß ist so auffallend einfach, so restlos ohne jede Garnitur, dass nichts, aber auch gar nichts von den Schönheitslinien ihrer rehschlanken Gestalt ablenken kann; nur der kostbare Polarluchs, den sie mit zwei beringten Fingern am Kinn zusammenhält, fasst die Schönheit ihres Hauptes wie der Samt eines Schmuckkästchens ein.

„Wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, Frau Lenis Yardo, wenn Sie uns den Namen dieses Mörders nennen könnten!"

„Er heißt — Jer Wells!"

„Wells? — Jer Wells? — Sie meinen doch nicht etwa meinen Neffen gleichen Namens?"

„Ich meine Jer Wells, den Neffen des Inspektors Thomas Wells von Scotland Yard!"

„Verzeihung, Frau Yardo, aber" — Wells zückt ein abgerissenes Notizbuch - „Lord Artingham wurde nachgewiesenermaßen gestern, am Mittwoch, den 24. April, nachmittags zwischen fünf und sieben Uhr ermordet. Um die gleiche Zeit war Jer Wells mit mir beim Forellenfang in den Gloucefter Hills — und das sind reichliche hundertfünfzig Kilometer von London!"

„Was heißt das schon! — Dann hat er eben einen Killer aus der Unterwelt gemietet!"

„Gnädige Frau! Sie mögen damit rechnen, dass ich Sie nicht vor den Richter bringe, aber ich möchte Ihnen doch den wohlgemeinten Rat erteilen, mit Ihren haltlosen Behauptungen etwas vorsichtiger umzuspringen!"

„Haltlos? — Ich allein weiß, welch infernalen Hass er auf Artingham hatte!"

„Menschlich begreiflich: Mein Neffe war unsterblich in Sie verliebt. Ihr hattet Euch insgeheim verlobt — stimmt das?"

„Nehmen wir an, es sei so!"

„Und plötzlich wenden Sie sich von ihm ab — zu Lord Artingham..."

„Er war stärker an Charakter."

„Und wohl auch an Finanzen! Übrigens: Charakter ist gut!"

„Sie dürfen spotten! — Ich aber werde mich einem Detektiv-Institut verschreiben, das mir Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und — die Intelligenz der hohen Polizei ersetzen soll!"

Damit saust sie hinaus.

Wells zieht die Uhr: Halb acht; Zeit, um in den Yard zu gehen. Mit einem Ruck erhebt er sich, greift sinnend nach seinem Schlapphut, betrachtet ihn von allen Seiten: Warum ist sie wohl so früh gekommen, dazu in seine Privatwohnung? Wollte sie Aufsehen vermeiden — oder, war es für sie erst spät? Wer weiß! Bei einem Filmstar ist alles möglich und das Unmöglichste Wirklichkeit — diese Idee! Sein Neffe! Auch ohne dieses stichfeste Alibi wäre diese Richtung der Spur eine glatte Niete! - Zwei Menschenleben vernichten - das seinige mit inbegriffen! — wegen eines aufgedonnerten Paradiesvogels, der aus Beruf und aus Sensation mit Menschenleben spielt! — Aber ein verfluchter Fall ist es doch: Keine Spur, kein greifbarer Anhaltspunkt! — Rache? — Blödsinn! — Ja, wenn sie sich an dieser herzlosen Schaufensterpuppe ausgewirkt hätte! - Aber an einem unbekannten, schuldlosen Menschen! Jer hat ihm doch gestanden, dass er erst nach dem Tode Artinghams von der Verlobung mit Lenis Yardo gehört habe. Und das musste doch so gewesen sein: Wie hatte der gute Junge noch während des Forellenfange geschwärmt und frohlockt - trotz väterlicher Mahnung zur Vorsicht!

Auf dem Wege zum Yard kauft Wells eine Morgenzeitung. Ohne suchen zu müssen springt ihn der lapidare Titel an:

Lord Artingham ermordet!

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft uns die Nachricht, dass Lord Simon Artingham gestern abends um 9 Uhr in seinem Wochenend-Chalet tot aufgefunden wurde. Nach fachmännischer Diagnose handelt es sich einwandfrei um Mord, der zwischen fünf und sieben Uhr angesetzt werden muss. Dem Mörder ist dabei — wohl aus seiner psychischen Verfassung heraus — das fatale Missgeschick passiert, dass er dem Toten, wohl um einen Selbstmord vorzutäuschen, den Revolver in die rechte Hand drückte, obwohl der Einschlag des Geschosses an der linken Schläfe festgestellt wurde. Ob das ein Hinweis auf die Fährte des ruchlosen Mörders sein kann, wird erst die weltbekannte Facharbeit von Scotland Yard erweisen.

Lord Simon Artingham war ein feiner, gebildeter Mensch, Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, ein Anwärter für die Parlamentswahlen.

Inspektor Wells liest nicht mehr weiter; denn er ist inzwischen am Portal des Yards angekommen, und alles was da steht, weiß er schon längst. Aber eine gewisse Hast scheint in ihm aufgefahren zu sein: Zwei Stufen auf einmal nehmend gelangt er auf den Korridor, wo sein Büro eingeschaltet ist.

„Ob das wohl etwas besagen will, dass der Tote den Revolver in der rechten Hand hielt?", knurrt er vor sich hin.

Er steht vor seiner Tür, Zimmer Nr. 137, und zieht seinen Schlüsselbund.

„Von Fingerabdrücken an der Pistole keine Spur - natürlich, unter diesen Umständen!" Der Schlüssel quietscht, das Schloss knackt auf.

„Vielleicht — ja, vielleicht war diese plumpe Verwechslung sogar gewollt — zur Trübung der Tatsachen!", sinnt er weiter.

Er legt wie gedankenlos die Hand auf die Klinke, drückt sie mechanisch nieder - gibt der Tür einen ungewollten Stoß...

„Jedenfalls bin ich überzeugt, dass …

Wovon Inspektor Wells überzeugt war, hat die Welt nie erfahren: Wie ein Schlafwandler starrt er in sein Zimmer:

Dort auf dem Boden liegt eine Gestalt! - Anscheinend eine Dame der bessern Gesellschaft! Er kreist in großem Abstand um sie herum, wie ein Jäger, der nicht ganz sicher ist, ob der Löwe noch lebt. Dann kniet er nieder, schaut ihr ins Gesicht, das auf der Stirnkante liegt, dann ein stöhnender Atemzug:

„Barmherziger!... Lady Van Duys!"

Der alte, erfahrene Kriminalist schluckt wie ein Erstklässler, dem der Griffel zerbrochen ist:

„Hier... hier! — Ausgerechnet hier in meinem Büro! — Im Herzen von Scotland Yard... eine Tote!"

Zaudernd zittert seine Hand nach den Tasten - spielt in plötzlicher Hast eine Alarmsymphonie und dann steht er da wie ein armer Sünder, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Beidseitig streicht er seinen gewaltigen Schnurrbart aus, der — nicht mehr vorhanden ist; denn vor den Ferien hat er ihn aus hygienischen und ästhetischen Motiven abrasieren lassen, und nur die Gewohnheit ist noch geblieben.

Zuerst fährt Kommissar Hunter heran; er heißt zwar nicht so, aber seine erfolgreichen Jagdzüge in der Unterwelt haben ihm diesen Namen eingetragen; denn Hunter heißt Jäger. Die Türe aufstoßen und herein brüllen: „Was indes drei Teu ..."

Auch seine Sonate bleibt unvollendet: Wie ein witternder Bluthund blickt er von der Toten zum Inspektor, vom Inspektor zur Toten — resultatlos. Endlich scheint ihn der einzig mögliche Gedanke zu packen:

„Wells! - Wells! - War das ...? Hast du - in der Notwehr - ?"

„Setz dich! Da kommt der Al… der Präsident."

Ein hoher, hagerer Mann mit einem ausdruckslosen Gesicht, so wie eine ausgegrabene Leiche, tritt anscheinend teilnahmslos herein; aber diese ausdruckslose Teilnahmslosigkeit macht ihn gefährlich und gefürchtet: Auch der gewiefteste Kriminalist vermag aus seinem nie vorhandenen Mienenspiel nicht die Ahnung seiner Gedanken herauszufühlen; auch jetzt würdigt er die Tote keines Blickes:

„Wells, Sie haben mich alarmiert!"

„Ja, Herr Präsident!", keucht der Inspektor.

„Ohne mir den Grund zu nennen!"

„Ich war zu — zu benommen, Herr Präsident! Der Grund liegt — hier!"

Und damit deutet er hilflos auf die Tote.

„Ist sie tot?"

„Sicher, Herr Präsident!"

„Wo ist der Doktor?"

„Ich habe ihn alarmiert, Herr..."

„Ich glaube, da kommt er!", unterbricht Kommissar Hunter.

„Doktor!", ruft der Präsident, noch ehe jener unter der Türe steht: „An was ist sie gestorben?"

Wie du mir, so ich dir, denkt der Arzt und lässt sich bei der Toten nieder. Präsident Oxbone hat ihn nicht gegrüßt, und — na also, gut! Man hat schließlich nicht zwanzig Jahre lang auf den Schulbänken Hosen zerrissen, um vor jedem Bonzen die tiefe Kniebeuge zu machen!

„General Ochsenbein", wie man insgeheim den „Alten" benennt — denn Oxbone heißt tatsächlich Ochsenbein —, verrät niemals seine menschlichen Gefühle, falls solche vorhanden sein sollten, offenbart auch nie seine persönlichen Vermutungen an seine untergebenen Organe, er spricht weder Anerkennung noch Tadel aus — er versah sich nur mit Tatsachen, und diese scheinbar so mechanische Geistesverfassung macht ihn nichts weniger als beliebt; denn auf Grund dieser Tatsachenmentalität kann ein untergeordneter Beamter über Nacht befördert oder abgesägt werden.

„Seit wann ist sie tot?", fragt er plötzlich in die Pause hinein.

„Seit ungefähr zwei Stunden", entscheidet der Arzt, ohne „Herr Präsident" beizufügen.

„An was gestorben?"

„Ihr Hinterhaupt weist den Einschlag einer Kugel auf."

„Keine Waffe gefunden?"

„Offenbar nicht! - Übrigens gehört diese Frage bereits in den Bereich der kriminellen Untersuchung!"

Damit packt er seine Mordinstrumente zusammen und entfernt sich mit dem freundlichen Gruße: „Good bye, Herr Wells, — ich empfehle mich Ihrem geneigten Wohlwollen, Herr Hunter!"

So was nennt man eine akademische Ohrfeige! Der „Alte" aber rückt nur seine Brille zurecht; für Empfindlichkeiten scheint der nicht einmal eine Achillesferse zu haben:

„Wie heißt die Person!", fragt er den Kommissar an seiner Seite.

„Doktor Werner, Herr Präsident."

„Ich meine die Tote!", berichtigt der Gewaltige, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Die Tote ist Lady Van Duys!", antwortet Wells an Stelle des Kommissars.

„Adresse?"

„Kings Road 217 C."

„Verheiratet?"

„Ja, Herr Präsident. Ihr Mann heißt Jan Van Duys."

„Schon benachrichtigt?"

„Nein, Herr Präs... ich dachte..."

„Sofort benachrichtigen! Hunter, besorgen Sie das! — Wells, was wissen Sie?"

„Die Frau war vorher schon zweimal hier. Man wollte sie erpressen."

„War sie kompromittiert?"

„Nein, Herr Präsident, die Frau ist in Ordnung! — Man hat ihr einfach gedroht, ihr Kind zu entführen, falls sie nicht gewillt sei, nach bestimmten Anweisungen zehntausend Pfund zu bezahlen — und mit dem Tode, wenn sie sich an die Polizei wenden sollte!"

„Wer ist dieser 'Man'? — Unterwelt, Gangster, Erpresser?"

„Keine Ahnung, Herr Präsident . . .!"

„Wann sind Sie heute Morgen aufs Büro gekommen, Wells?"

Der Inspektor, glutrot vor verhaltener Wut und Scham, versucht sich zu beherrschen und seinen Worten die berufliche Ruhe abzuringen:

„Wie gewöhnlich — zur Amtszeit — um acht Uhr, Herr Präsident...!"

„War die Türe verschlossen?"

„Merkwürdigerweise, ja!"

„Schloss unverletzt?"

„Total intakt."

„Wer hat die Person herbestellt, und für welche Zeit?"

„Ich!", meldet Wells. — „Sie rief gestern Morgen um halb zehn Uhr an, und ich bestellte sie für heute vormittags neun Uhr!"

„Mündlich?"

„… und schriftlich! — Ich schickte ihr noch ein Formular mit der Bestätigung des Telefongespräches und Zeitbestimmung für die Unterredung von heute — Gott sei Dank!"

„Gut! Führen Sie sofort die Personalkontrolle durch! — Und Sie, Hunter, übernehmen den Fall 'Van Duys'! — Keine Nachricht an die Presse! — Rapport heute Abend sechs Uhr! — Bis nachher!"

Grußlos, selbst ohne die geringste Verneigung seines würdigen Hauptes feiert General Ochsenbein seinen Abgang; aber die Hinterlassenen scheinen aufzuatmen...

„Mein Gott!", stöhnt Wells nochmals auf — „Im Herzen von Scotland Yard, auf einem Inspektor-Büro der berühmtesten Polizeizentrale aller Länder! — Und ausgerechnet auf meinem — meinem persönlichen Büro ...! Kein Kriminalschriftsteller könnte so eine Farce erfinden..."

Hunter ist praktischer als sein Kollege mit dem verlorenen Kopf: Er greift zum Hörer des Haustelefons, bestellt den Portier mit der Liste, den Photographen und die Detektivin Francis Lester; dann schaut er starr auf seinen Kollegen:

„Wells! - Was ist das?"

„Ein unerhörter Skandal! — Eine himmelblaue Blamage für Scotland Yard — und das Ende von Inspektor Wells!"

Hunter legt ihm die Hand auf die Schulter:

„Wells! — Kopf hoch! — Wir halten zusammen wie die Teufel und ihre Stellvertreter auf Erden! — Ich kenne dich, Wells — Du kennst mich, und der Dritte soll uns kennenlernen!  Ich meine das Raubtier, das hier eingeschlichen ist, um diese schöne Frau zu reißen! Und wenn ich dieses Scheusal der Menschheit nicht fange, Wells, dann schicke mir nur einen billigen Kranz! Wells! Ich freue mich wie ein Narr auf diese wilde Jagd — das ist der spannendste Roman, der je in Scotland Yard gespielt hat, Wells!"

„Woher — willst du das wissen?"

„Stelle dir einmal die Hauptpersonen vor: Eine junge Schönheit aus der englischen Hoch- Aristokratie, ein geheimnisvoller Mörderer, seine berüchtigten Jäger, den Schauplatz: Scotland Yard! — Und dazu noch der Preis!"

„Der Preis?"

„Die Ehre meines Freundes!"

Dem guten Wells kommen die Augen ins Glitzern:

„Hunter! — Ich habe dir noch nie gedankt...! Jetzt ... in der schwersten Stunde meines Lebens ..."

„Still! Da kommt jemand!"

„Lass ihn eine Minute warten! Darauf kommt's jetzt nicht mehr an: Die Tote hier wird nicht mehr lebendig, und ich muss dir etwas Wichtiges sagen!"

„Wirklich? - Dienstlich?"

„Vielleicht! — Ich bin nämlich von zwei Seiten bedroht, Hunter!"

„Von zwei —ich verstehe dich nicht!"

„Einmal dieser unheimliche Fall hier! — Und dann hat mir vor einer Stunde Frau Lenis Yardo, der Filmstar, die Anklage an den Kopf geworfen, mein Neffe Jer Wells hätte ihren Bräutigam, Lord Artingham, in seinem Wochenendhäuschen ermordet!"

„Ein verrücktes Huhn, Wells!"

„Hunter, unter uns gesagt: Ein Motiv wäre ja immerhin vorhanden; mein Neffe ist der vorige Liebhaber dieser Yardo, und er ist auch nicht mehr der Gleiche, seit er sich in Hinterindien herumgetrieben hat; aber zum Glück hat er ein stichhaltiges Alibi: Er war zur Stunde des Mordes mit mir beim Forellenfang."

„Gott sei Dank! - Und wenn auch dein Neffe nicht saubere Hände haben würde - was könntest du dafür? - Mein Bruder war im Zuchthaus, und ich bin wohlbestallter Kommissar von Scotland Yard! Jeder geht mit seiner Haut in die Gerberei! - Oder bringst du vielleicht den Mord an Artingham mit diesem Fall da in Verbindung?"

„Ausgeschlossen!"

„Ausgeschlossen", hatte Wells mit besonderem Nachdruck betont. Hunter aber schaut sinnend vor sich hin; dann ruft er: „Herein!" Der Portier tritt ein.

Hunter geht auf ihn zu:

„Sie, Karring, wer hat vor acht Uhr den Yard betreten? - Haben Sie die Liste mitgebracht?"

„Hier!"

Während Hunter die Lifte durchgeht, kommt der Yardphotograph und nimmt die Tote in ihrer Ausgangsposition von allen Seiten auf. Sobald er sich verabschiedet hat, überreicht Hunter seinem Freunde Wells die Präsenzliste:

„Wenn du vielleicht nachkontrollieren willst."

Wells greift mechanisch nach dem Dokument:

„Lady Van Duys ist die einzige nichtamtliche Person, welche den Yard vor acht Uhr betreten hat, nicht wahr, Karring?"

„Jawohl, Herr Inspektor!"

„Und Jer Wells, mein Neffe, ist überhaupt nicht auf der Präsenzliste, natürlich!"

„Er hat meines Wissens einen speziellen Fall zu bearbeiten und drei Tage Urlaub genommen."

„Ich weiß, ich weiß! — Er hat den Fall Artingham zu seiner Ehrensache gemacht, wenn er ihn auch nicht allein durchführt. Aber, hm, ich sehe hier, dass Lady Van Duys schon um halb sieben Uhr den Yard betreten hat: Hat sie sich ausgewiesen?"

„Sie hat eine Vorladung gezeigt."

„Eine Vorladung? — Für halb sieben Uhr?"

„Das weiß ich nicht mehr so genau — wird schon stimmen!"

„Nein! — Gerade da stimmt etwas nicht! — Wer war denn um diese Zeit schon hier?"

„Ich glaube — niemand, der in Betracht käme! — Das Büro hier muss ja geschlossen gewesen sein?"

„Sicher, Karring; und doch muss sie hier ermordet worden sein. — Hunter, wir können die Leiche endlich untersuchen — wenigstens nach Anhaltspunkten ..."

Hunter beugt sich nieder und greift sachte nach ihrem Handtäschchen, das in Brusthöhe halb unter ihr begraben liegt. Es ist — nach neuester Mode — mit einem Kettchen ans linke Handgelenk angeschlossen, wohl gegen die Gefahr des Liegenlassens oder noch böseren Möglichkeiten. Der Kommissar kann es aber mit leichter Hand öffnen, ohne den Kettchenverschluss aufzuschließen. Das Erste, was ihm in die Augen springt, ist — natürlich die Vorladung. Kaum hat er sie entfaltet, als er sie mit einem halb entsetzten Blick dem Inspektor Wells hinhält:

„Wells! — Erschrick nicht!"

Wells greift nach der Vorladung:

„Richtig: Auf sechs Uhr dreißig bestellt! - Dazu ein richtiges Formular vom Yard, und — Barmherziger! — Das kann doch nicht sein…!"

„Deine eigene Unterschrift!"

„Meine eigene… Hunter!"

„Ja?"

„Ich — ich könnte die Unterschrift selber nicht genauer machen! — Felix Hunter!"

„Bitte?"

„Das Raben-Aas muss im Yard selber angestellt und in den intimsten Betrieb eingeweiht sein!"

„Das ist gar nicht gesagt: Das Formular kann auch ganz gut gestohlen und anderswo ausgefertigt sein! — Aber wir werden diese Maschinenschrift mit sämtlichen Typen des Yards vergleichen: Jede Maschinenschrift zeigt ihre mikroskopischen Merkmale, die keine andere Maschine der Welt aufweist!"

„Der Schreiber dieser Vorladung hat also Lady Van Duys auf diese Frühzeit bestellt, um sie in diesen leeren Räumen in aller Ruhe abtun zu können — und den Verdacht ausgerechnet auf mich zu lenken - aber…

„Was?"

„Der Knall?"

„Schalldämpfer! - Polstertüren - und dieses Kleinkaliber hat nicht lauter geknallt, als wenn der 'Alte' mit besonderer Nachsicht die Türe schließt oder in die Hände klatscht… "

Sie suchen weiter: Außer den gewöhnlichen Gebrauchsrequisiten einer vornehmen Dame befindet sich nur noch ein offener, ziemlich mitgenommener Brief; Hunter liest ihn vor:

„Lady Van Duys, geb. Starford, Palace Starford, Kings Road, 217 C."

Richtig!", unterbricht ihn Wells - „Lady Van Duys ist eine verwitwete Starford! — Lord Starford ist an Nierenschrumpfung gestorben — weiter!"

Hunter liest:

„Teilen Sie uns in der 'Sonntagspost' umgehend mit, ob Sie gewillt sind, bis ersten Mai nachts zwölf Uhr zehntausend Pfund zu zahlen, wenn wir Sie fernerhin im Besitze Ihres Kindes belassen! Die Zusage soll durch ein Inserat des Inhalts: Firma C. G., Handel abgeschlossen', kundgetan werden. Die Art der Anweisung werden wir Ihnen ebenfalls umgehend zur Kenntnis bringen. Letzte Warnung!

Die Firma C. G. - G. M. B. H. zur Ausgleichung menschlicher Güter.

N. B. Falls Sie sich entschließen sollten, die Polizei zu avisieren, spielen Sie auch mit dem eigenen Leben!"

„Das sind ja wahre Hölleninsassen!", knirscht Wells.

„Du hast um diese Erpressungsversuche gewusst?"

„Seit gestern Morgen. Sie hat mich um eine Unterredung ersucht und ich hab sie auf heute neun Uhr herbestellt."

„Telefonisch?"

„Ja. Leider hat sie gleich mit den ersten Worten von der Erpressung gesprochen, sodass meine Warnung zu spät kam, und nun scheint sie das Opfer ihrer Unvorsichtigkeit geworden zu sein."

„Hat die Bande vielleicht einen Gehilfen in der nächsten Umgebung der Lady?"

„Möglich, sogar wahrscheinlich. Jedenfalls werden wir diesem Telefonanruf nachforschen müssen. - Richtig: Ihr Mann ist auch noch nicht verständigt!"

Damit greift Wells nach dem Fernsprecher.

Inzwischen ist auch die Detektivin eingetreten.

„Einen Augenblick, Fräulein Lester!" — winkt Wells ab. - „Ja, hier Scotland Yard, Inspektor Wells! — Ich muss Herrn Van Duys sprechen — Wie? - Was haben Sie gesagt?"

Langsam, sinnend legt Wells den Hörer nieder:

„Hunter, Mijnheer Van Duys liegt seit gestern in der Klinik von Prof. Dr. Morgenthau!"

„Was fehlt ihm?"

„Keine Ahnung! — Aber da ist wieder so ein verfluchtes, vermauertes, hieb- und stichfestes Alibi!"

„Du sprichst von Alibis! - Hast Du vielleicht einen Verdacht gehabt?"

„Das gerade nicht; aber ein Motiv könnte hier vielleicht vorhanden sein - unter uns gesagt, Hunter!"

„Schwatz kein Blech! — Worin besteht das Motiv? — Wir müssen uns an jeden Strohhalm halten!"

„Das Motiv könnte Folgendes sein: Lady und Mijnheer Van Duys lebten in Gütertrennung; sie war beneidenswert reich, und — nehmen wir einmal den Fall an, Hunter, dass Mijnheer auf ihr Testament spekuliert oder z. B. nach der Verwaltung dieses Vermögens trachtet, weil er doch sicher mit ihrem Tode gesetzlicher Vormund des kleinen Stiefsohnes wird!"

„Aah, sie hat das Kind in die Ehe gebracht?"

„Ein Knäblein von etwa vier Jahren, seine Lordschaft David Starford."

„Donnerwetter, ja, das wäre doch ein zügiges Motiv! — Und nun liegt ausgerechnet der Mann mit dem schönen Motiv in der Klinik! — Ich kenne Morgenthau persönlich: Reich mir dort den Hörer!"

Hunter stellt ein:

„Hier Scotland Yard, Kommissar Hunter. Professor Morgenthau zu sprechen? — Ich warte:

God save you, Mister Professor! — All right!

Ist Mijnheer Van Duys vernehmbar? — Danke! — Ja, eine sehr, sehr wichtige Nachricht!

Sie würden mich zum Danke verpflichten, Herr Professor! — Ich warte! — Wells! Van Duys kommt selber ans Telefon!"

„Ahnt er etwas?"

„Nein! — Ich werde ihm auch am Fernsprecher keine Andeutung machen."

„Fein! — Du willst sein Mienenspiel beobachten?"

„Und — soweit möglich — den Mann überhaupt einschätzen — still! Da kommt er! - Herr Van Duys? — Hier Hunter von Scotland Yard! — Ja, es handelt sich um die Erpressungsversuche; Sie werden darum wissen? — Sehr verbunden; das vereinfacht die Sache ganz bedeutend!"

Hunter legt auf:

„Wells! — Van Duys kommt hierher! In einer Viertelstunde will er da sein."

„Desto bester! — Fräulein Lester, Sie müssen uns noch einen Augenblick entschuldigen!  Ich werde Sie dann rufen lassen!"

Die Detektivin verneigt sich verständnisvoll und zieht sich lautlos zurück.

„Wells, ich mache einen Vorschlag!"

„Bitte?"

„Wir können ihn nicht direkt hierherführen; der Mann ist immerhin Patient. Du kennst ihn besser als ich: Willst Du ihn an der Pforte empfangen und ihn in großen Zügen vorbereiten? — Ich bleibe hier und will ihn nur unmittelbar beim Anblicke der Toten beobachten!"

Wells entfernt sich. Hunter verbindet sich augenblicklich mit Fräulein Lester:

„Hier Hunter. Fräulein Lester, Mijnheer Van Duys kommt in ein paar Minuten hierher. Wollen Sie es so einrichten, dass Sie ihm im Korridor begegnen! Ja, Frauen haben oft schärfere Augen als die gerissensten Polizisten! Sie reden ihn einfach an und stellen sich ihm zur Verfügung z. B. für delikatere Sachen im Erpressungsfalle —, gut, ausgezeichnet, danke!"

Hunter hängt an und starrt auf die Tote nieder: „Gott, wenn sie sprechen könnte! — Welchem Teufel stand sie im letzten Augenblicke gegenüber?

Eins scheint mir ohne weiteres klar zu sein: Der Mann, der eine so schöne Frau in der Blüte der Jahre, die Mutter eines herzigen Kindes, eine Frau, die dem Scheusal wohl nie etwas zu leide getan, so hinterlistig und wohl vorbedacht erschießen konnte - der hat nicht zum ersten Mal gemordet...!"

Ferne Schritte nahen durch den Korridor, gedämpfte Stimmen begleiten sie, werden vor der angelehnten Türe zum Geflüster:

„Bitte, Mijnheer", spricht Fräulein Lester und stößt vor ihm die Türe auf:

Auf der Schwelle steht ein Urbild schöner Männlichkeit, Mijnheer Van Duys, braungebrannt, mit nordischen Augen, schlank wie eine Fichte Skandinaviens, aber nun gebeugt vom Sturme des Schmerzes, der die Züge seines blutleeren Gesichtes zu einer leblosen Maske verzerrt. Mit krampfhaft eingerissenem Mundwinkel schaut er auf die Tote:

„Maria! - - Maria, Maria, ich — ich habe dich getötet! — Meine Herren, das ist mein Werk...!"

Wie vom Schlafe erwachend starren die drei auf den seltsamen Mann:

„Mijnheer! — Mijnheer Van Duys" — schluckt Kommissar Hunter - „das ist ein schreckliches Wort! — Wie kann das sein?"

„Ich — ich habe sie an die Polizei gewiesen — und damit dem Tode überliefert!"

Ein Aufatmen der Erlösung geht durch den Raum — oder ist es ein Aufatmen der Enttäuschung? Bei Fräulein Lester sicher nicht!

„Meine Herren! — Für die Ermittlung des Täters — dieses menschlichen Orang, steht jede Summe zur Verfügung!"

„Wir danken", ächzt selbst der harte Menschenjäger Hunter. „Mijnheer können überzeugt sein, dass wir auch noch unser bisschen Leben in die Waagschale werfen werden. Wenn Sie uns gestatten, Mijnheer..."

Das Telefon schrillt. Mit einem unterdrückten Fluche greift Wells nach dem Hörer:

„Scotland Yard, Inspektor Wells. — Ja, Herr Professor! — Mijnheer Van Duys hat gegen das Unfassbare tapfer angekämpft — nein, es ist kein Anfall eingetreten — nein, das ist kein Salondandy, Herr Professor. — Ja, ja, Herr Professor, ich danke!" Er legt den Hörer nieder. — „Mijnheer, der Herr Professor wünscht, dass Sie sich entschließen sollen, so bald als möglich in die beruhigende Therapie zu kommen!"

„Warum nicht! — Hatte seit einiger Zeit chronische Schwindelanfälle — vielleicht von zu starkem Rauchen — Inhalieren, Sie verstehen! — Was tut das noch!"

Damit kniet er an der Toten nieder und ergreift ihre weiße Hand: „Maria! —" und sonst nichts mehr. Langsam, wie ein gebrochener Mann steht er auf, geht stumm nach der Tür und kehrt sich um:

„Was wollten Sie noch sagen, Herr Kommissar?"

„Wir wollten Sie bitten, in Ihrem Hause die Untersuchung mit dem Vernehmen des Personals beginnen zu dürfen."

„Ich bitte darum. Ich vertraue zwar allen, aber — man kann nie wissen — meinen Dank!"

„Unser herzliches Beileid!"

„Ich danke Ihnen, meine Herren!"

Damit geht er. Alle drei schauen einander an. Fräulein Lesser, die mit allen Wassern gewaschene Kriminalistin, hat Tränen in den Augen.

Plötzlich springt Hunter nach der Tür und in den Korridor hinaus. Nach einer Minute kommt er wieder:

„Wie konnten wir nur diese Hauptsache vergessen!"

„Haupt — sache?"

„Mijnheer ist einverstanden, den Mord so lange wie möglich geheim zu halten ..."

„Teufel, ja! — Schon wegen des Rufes von Scotland Yard!"

„Pah — die liebe Presse wird Geheul und Hohn reichlich nachholen, aber, hm, Wells: Wenn wir diesen Fall nach außen hermetisch abschließen können, und wenn alsdann trotzdem von irgendwoher der wahre Sachverhalt auftauchte...?"

„Mensch! — Dann könnten wir die Katze beim Schwanz fassen! — Aber was liefern wir an die Presse?"

„Mijnheer ist mit der Angabe eines Hirnschlages einverstanden."

„Stimmt auch — in gewissem Sinne!"

„Gehen wir gleich ins Palais Starford, Wells – Fräulein Lesser, Sie nehmen den Leichnam in sorgliche Untersuchung und veranlassen die Obduktion — und dürfte ich Sie noch bitten, den Al.… den Herrn General Ochsenbein zu überfallen und ihm unseren Wunsch nach Geheimhaltung mitzuteilen — oder haben Sie Angst?"

„Angst?", kichert der dreimal um sich selbst gewundene Strolch. — „Könnte sein, dass er mich anbellt wie ein eifersüchtiger Seehund, aber zur Unterstreichung seiner väterlichen Mahnworte nimmt er mich gewöhnlich sehr nachdrücklich bei der Hand und zählt die Tatsachen an meinen Fingern auf, statt an seinen eigenen!"

„Die Katze ist ein Haustier — Punkt! Sie fängt auch Mäuse, Komma, und im Balge hat sie zwei Löcher, wo sie hinausschauen kann — Punkt mit Ausruf und Ausrufezeichen!" — höhnt der Spitzbubenjäger und reißt seinen Freund aus der Gefahrenzone.

Zehn Minuten später sitzen die beiden Kriminalisten im Dienstauto, um dem Palais Starford einen Besuch abzustatten.

„Was geben wir der Presse frei?", erkundigt sich Wells, der in seinem düsteren Hinbrüten wohl die verschiedenen Möglichkeiten eines Skandals in Verbindung mit seinem Namen erwägt.

„Vorläufig nur die Erpressungsversuche und den natürlichen Tod der Lady Van Duys! — Deshalb dürfen wir bei den Nichteingeweihten unter keinen Umständen auf den Mord Bezug nehmen und müssen unsere Ermittlungen sauber auf die Erpressungen abstellen. Es wird nicht ganz so einfach sein, kein Misstrauen zu erwecken!"

„Versprichst du dir etwas von der Geheimhaltung des Mordes?"

„Vielleicht, wenn es uns gelingt, den Kreis der Eingeweihten hermetisch verschlossen zu halten, aber ich fürchte..."

„Was?"

„Dass die Nachricht insgeheim von Räumen unserer Zentrale aus an die Öffentlichkeit verdunsten wird!"

„Du denkst an - Fräulein Lesser?"

„Nein, an den — Mörder!"

Das Haus Starford, Kings Road 217 C, liegt von der Straße abgerückt in einem Park, dessen alte Platanen ihre Riesenarme wie herausfordernde Athleten zum Himmel recken. Die Gartenwege sind mit Granitplatten der Dartmoor-Formation belegt, die auch als Freitreppe zum gewaltigen Barockportal emporsteigen. Hunter setzt den bronzenen Türklopfer in Bewegung und knöpft sich sehr unternehmungslustig den Kittel zu!

Die unvermeidliche Pause, dann das Nahen von Geisterschritten — die Tür geht auf, langsam und feierlich: An der Tür steht ein alter Mann mit weißem Backenbart, weißrasiertem Gesicht und einer Glatze wie eine Billardkugel. Tote, graue Augen blicken ausdruckslos auf die beiden Herren, ohne ein Wort zu sagen, und doch ist seine ganze Erscheinung eine gemessene Frage — der Butler, das Urmodell alter Tradition für einen Künstler.

„Wir sind von der Polizei — vom Yard", erkühnt sich der Mutigere von beiden zu erklären — „Kommissar Hunter — Inspektor Wells!"

Der Butler verneigt sich so gemessen und steif, als ob er eben einen Geigenbogen verschluckt hätte, und sagt immer noch kein Wort.

„Wir möchten uns erlauben, einige Fragen an Sie zu richten — im Einverständnis mit Herrn Van Duys!"

„Mijnheer Van Duys hatte die Gewogenheit, mich telefonisch informieren zu lassen."

„Sind Sie vielleicht in der Lage, uns in der Erpressungsangelegenheit irgendwelche Aufschlüsse oder Anhaltspunkte zu vermitteln?"

Eher würde sich dieses Vollblut von einem Butler totschießen lassen, als an der Tür eine Konversation zu führen!

„Darf ich die Herren bitten!", ist die Antwort auf die Frage Hunters.

Er führt die beiden in einen Empfangssaal von verhaltener Vornehmheit und weist schweigend auf zwei Rokoko-Sessel hin. Der Butler bleibt stehen und schaut sie etwas gnädiger an. Hunter ergreift sofort das Wort:

„Wussten Sie, Herr Butler, dass Lady Van Duys Erpressungsbriefe bekommen hat?"

„Lady Van Duys hatte die Gewogenheit, vor meiner Wenigkeit keine Geheimnisse zu haben!"

„Dann sind Sie wohl schon längere Zeit hier im Amte?"

„Schon mein Vater selig diente seit 1874 dem Hause Starford."

„Und Sie, bitte?"

„Seit dem 27. September 1892."

„Danke. Lady Van Duys hat gestern Vormittag 9 Uhr 15 mit dem Yard telefoniert. Wo waren Sie um diese Zeit?"

„Einen Augenblick! - Um diese Zeit war ich mit Mijnheer Van Duys in der Klinik von Prof. Morgenthau."

„Wussten Sie, dass Lady Van Duys an den Yard berichten wollte?"

„Ja, meine Herren!"

„Und wer noch?"

„Außer Mijnheer Van Duys meines Wissens kein Mensch."

Da holt Hunter zum Schlage aus:

„Ich muss Ihnen leider die betrübliche Mitteilung machen, Herr Butler, dass Lady Van Duys nicht mehr unter den Lebenden weilt!"

Des Butlers Augen weiten sich, seine dünnen Lippen zucken, als ob er sprechen wollte und nicht könnte, seine beiden Hände tasten nach einem Sessel, und wie er ihn gefunden hat, führt er zwei Finger an die Lippen, aber er spricht kein Wort.

„Bei uns, in Scotland Yard, ist sie gestorben!", ergänzt Hunter.

Endlich, wie nach vergeblichen Anstrengungen rafft er sich auf:

„... Lady Maria! Doch - doch - nicht etwa — im Zusammenhang mit dem Erpressungs-Versuch ...?"

„Wohl möglich! Der Arzt spricht von einem Bluterguss im Gehirn," weicht Hunter aus.

„Lady Maria ..." haucht der Alte vor sich hin — „Es ist unfassbar!"

„Sie werden nun verstehen, Herr Butler, dass die Vernehmung des gesamten Hauspersonals eine absolute Notwendigkeit ist!"

„Unbedingt, Herr Kommissar!"

„Wollen Sie mir gleich die Liste des Hauspersonals diktieren!"

„Gern, Herr Kommissar!"

Hunter schreibt; es sind neun Personen.

„Schön! Rufen Sie mir gleich Nummer Eins: das Zimmermädchen Sofie!"

Der Butler geht.

„Den sollte man fürs britische Museum ausstopfen können!", knurrt Wells. — „Versprichst du dir etwas von der Einvernahme?"

„Nichts Gewisses weiß man nicht — sagt der Österreicher! — Irgendwo werden wir einen Strohhalm fassen müssen. Aber mir ahnt..."

„Was?"

„Eben nichts! — Still, da kommen sie!"

Der Schablonen-Mensch bringt die Kammerzofe, ein junges, hübsches Ding, das sich anscheinend überglücklich fühlt, dass das Pulver schon erfunden ist. Hunter stellt sich sofort in Positur:

„Fräulein, Sie machen mir einen sehr intelligenten Eindruck: Können Sie sich erinnern, wo Sie gestern so nach neun Uhr waren?"

„Um diese Zeit bis elf Uhr bringe ich doch die Zimmer in Ordnung!"

„Ich hab's doch gewusst, dass Sie ein unverdorbenes — Gedächtnis haben und gestern war es auch so?"

„Ganz sicher!"

„Waren Sie nicht in der Nähe des Telefons?"

„Das ist doch in der Halle eingebaut!"