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Stephan Lucas steht auf der Seite des Bösen – denn er ist Strafverteidiger. Seine Fälle zeigen, wie nah das Böse manchmal ist: Da entwickelt sich ein harmloser Streit zum Gewaltverbrechen und ein unbescholtener Familienvater zum Totschläger; eine Mutter wird wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, weil sie ein Kind überfahren hat; ein Junge wird mit intimen Fotos erpresst, die er einer Internet-Freundin geschickt hat. In diesen und vielen anderen Fällen streitet der Münchner Strafverteidiger für das Recht der Angeklagten. Und weiß um sein Risiko: "Ich muss damit leben, dass ich möglicherweise dazu beitrage, dass ein skrupelloser Vergewaltiger nach wie vor frei herumläuft."
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2012
Stephan Lucas
Auf der Seite des Bösen
Meine spektakulärsten Fälle als Strafverteidiger
Knaur e-books
Die in diesem Buch geschilderten Fälle spiegeln die Erfahrungen und Erlebnisse des Autors wider. Jedoch wurden Namen und Ortsangaben geändert und Sachverhalte und Dialoge verfremdet, insbesondere um der anwaltlichen Schweigepflicht Rechnung zu tragen. Mag sich also die eine oder andere Begebenheit tatsächlich anders zugetragen haben, so sind doch alle Schilderungen, Vorkommnisse und Dialoge im Buch an die Wirklichkeit angelehnt oder hätten sich so zutragen können.
Meiner Mutter
Renate Rummel-Lucas
(1950–1986)
Kathleen wurde nur 16 Jahre alt.
Sie war hübsch, hatte lange blonde Haare und ein bezauberndes Lächeln. Kathleen wollte viel erleben und war anderen gegenüber sehr aufgeschlossen. Und da war es auch völlig egal, ob sie es nun mit einem coolen Draufgänger oder einem schüchternen Außenseiter zu tun hatte. Interessant konnte jeder irgendwie sein.
Kathleen freundete sich mit Kai an. Kai war 17 und ging in dieselbe Klasse. Er war ein stiller und zurückhaltender Typ. Bei seinen Mitschülern war er nicht sonderlich beliebt, oder vielleicht schlimmer noch: Er war den meisten ganz einfach egal. Aber das spielte für Kathleen keine Rolle, denn mit Kai verband sie eine gemeinsame Leidenschaft: ihre Liebe zu Katzen. Und Kais Katze Lissy hatte gerade Junge bekommen. Sechs kleine Kätzchen tollten bei ihm zu Hause herum und stellten alles auf den Kopf. Das konnte Kathleen sich auf keinen Fall entgehen lassen.
An jenem 22. Juni 1994 hatte Kathleen sich mit Kai für 16 Uhr verabredet. Pünktlich stand sie bei ihm vor der Haustür. Er war an diesem Nachmittag allein zu Hause.
»Na, wo sind denn die kleinen Racker?«, fragte Kathleen lächelnd, als Kai ihr öffnete.
»Überall und nirgends«, sagte er grinsend. »Vom Vorhang bis zum Wäschekorb ist vor den kleinen Mäuschen nichts sicher.«
Dass er die Katzenbabys Mäuschen nannte, fand Kathleen putzig. Sie folgte Kai erwartungsfroh ins Wohnzimmer, wo die Katzenjungen wild herumtobten und nicht zu bremsen waren. Kathleen und Kai hatten jede Menge Spaß, und die Zeit verging wie im Flug.
Wie kann es auf einmal schon halb sieben sein?, dachte Kathleen bei sich, als sie das erste Mal wieder auf die Uhr schaute. Sie hatte heute noch überhaupt nichts für die Schule getan, und für morgen standen noch Matheaufgaben an. Kurz entschlossen fragte sie Kai, ob er ihr nicht dabei helfen könne. In Mathematik war er sehr gut, das wusste sie.
Wenige Minuten später saßen beide in Kais Zimmer auf der Bettcouch, um sich herum die Mathebücher und -hefte ausgebreitet. Sinus, Cosinus, Tangens – Kai erklärte Kathleen alles mit viel Geduld. Er war richtig nett.
Plötzlich jedoch zuckte Kathleen erschrocken zurück. Aus heiterem Himmel hatte Kai nach ihrer Hand gegriffen und sie gestreichelt. Sie machte sich los und fuhr ihn entgeistert an: »Sag mal spinnst du jetzt total? Nimm sofort die Pfoten weg!«
Da wurde Kai sehr ernst: »Sag mir gefälligst nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe!« Und mit ruhiger Stimme fuhr er fort: »Du hörst mir jetzt ganz genau zu. Ich will, dass du dich für mich ausziehst.«
Kathleen spürte, wie Panik in ihr aufkam. Was war bloß auf einmal in ihn gefahren? Kein Zweifel, Kai meinte es ernst. Sie versuchte aufzustehen, doch Kai ließ das nicht zu. Er packte Kathleen an beiden Handgelenken, warf sie zurück auf die Couch und kniete sich über sie. Dann schob er ihren Pulli hoch und versuchte, den BH zu öffnen. Das wollte nicht so recht gelingen, weil Kathleen die ganze Zeit wild um sich schlug. Dabei schrie sie immer lauter um Hilfe. Und das konnte Kai nicht lange ertragen.
Tausende Gedanken kreisten in seinem Kopf herum: Warum wehrte sich Kathleen bloß so? Hatte sie denn gar keine Lust auf ihn? Warum musste sie ihn nur so derartig demütigen? Kai hielt Kathleens Zurückweisung nicht mehr aus. Plötzlich empfand er ihr gegenüber nicht mehr Lust und Leidenschaft, sondern nichts anderes als puren Hass. Er griff mit beiden Händen an ihren Hals und drückte Kathleen so lange die Kehle zu, bis sie aufhörte zu atmen.
Noch im selben Jahr verurteilte die Jugendkammer des Landgerichts Stuttgart Kai wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von neun Jahren.
Gut fünf Jahre später sollte ich Kai persönlich kennenlernen. Seit zwei Wochen durfte ich mich Rechtsanwalt nennen. Drei Tage war es her, dass ich meine Heimatstadt Frankfurt verlassen und in einer Heidelberger Strafrechtskanzlei meinen ersten Arbeitstag begonnen hatte.
Mein Kollege, der Kai damals in dem Mordverfahren verteidigt hatte, legte mir Kais Akte auf den Schreibtisch: »Lesen Sie sich das mal eben durch. Morgen besuchen Sie den Jungen im Jugendknast. Der will nun langsam mal raus.«
Nachdem der Kollege den Fall grob umrissen hatte, war ich auf die Akte gespannt. Und ich war gespannt auf meinen ersten Besuch als Verteidiger in einer Justizvollzugsanstalt. Endlich ging es los.
Ich lehnte mich zurück und fing an, Kais Akte zu lesen. Doch je mehr ich erfuhr, desto unwohler fühlte ich mich.
Schon ziemlich am Anfang der Verfahrensakte stieß ich auf Kais Beschuldigtenvernehmung. Kai war noch am Tattag festgenommen worden und hatte bei der Polizei ausgesagt. Man hatte ihn belehrt, dass er als Beschuldigter eines Mordes das Recht hatte zu schweigen; aber das hatte ihn nicht interessiert. Er hatte auch nicht nach einem Anwalt verlangt. Er gab sofort zu, Kathleen getötet zu haben.
Was dann jedoch folgte, war ein Rattenschwanz an Erklärungen, wieso, weshalb, warum es denn überhaupt zu der Tat hatte kommen können. In einer Tour folgten Rechtfertigungen über Rechtfertigungen. Die Polizei solle auch mal seine Seite verstehen. Das Ganze sei im Affekt passiert. Und so musste man beinahe den Eindruck bekommen, Kathleen trage an ihrem Schicksal eine nicht ganz unerhebliche Mitschuld. So jedenfalls klang es, wenn man Kais Worte für bare Münze nehmen wollte.
Auch Kathleens Eltern kamen in der Akte zu Wort. Sie berichteten bei der Polizei von der tiefen Trauer, die sie empfanden. Es muss schrecklich sein, wenn Eltern von ihrem Kind für immer Abschied nehmen müssen. Ich konnte ihre Verzweiflung und die Hilflosigkeit beim Lesen kaum ertragen. Sie waren so unendlich traurig. Sie beschrieben anschaulich, was für ein lebensfrohes und hilfsbereites Mädchen Kathleen gewesen war, wie interessiert und offen sie sich den Dingen zugewandt hatte. Kathleen habe ihnen an diesem Nachmittag gesagt, dass sie ihren Mitschüler Kai besuchen werde. Sie hätten sich nichts dabei gedacht, obwohl sie Kai gar nicht gekannt hatten. Aber ihre Tochter Kathleen habe immer so nett von ihm gesprochen. Und sie habe sich so sehr auf die kleinen Katzen gefreut.
Einige Seiten weiter stieß ich in der Akte auf ein Passbild von Kathleen, das sie als strahlende 15-Jährige zeigte. Ich blätterte weiter. Was folgte, waren Fotos von Kathleens Leiche, eine ganze Fotostrecke mit Aufnahmen des toten Mädchens am Tatort und vielen Bildern von der anschließenden Obduktion.
Ich hatte irgendwann nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf: »Wenn ich morgen auf Kai treffe, dann werde ich ihm zur Begrüßung wohl die Hand schütteln müssen. Die Hand, mit der er Kathleen erwürgt hat.« Ich stellte mir abwechselnd vor, wie Kai mir seine Hand gibt, und dann wieder, wie Kai mit derselben Hand Kathleen die Kehle zudrückte.
Am nächsten Tag düste ich in meiner alten Studentenkarre über die Autobahn in Richtung JVA Hohenasperg. Das alte Auto, ein bordeauxroter Kleinwagen mit großem Stoffschiebedach, hatte mir in meiner Studentenzeit viele Jahre treue Dienste geleistet. Ich hatte es immer liebevoll als »Cabrio für Einsteiger« bezeichnet. Und so fühlte ich mich auf meiner Fahrt zum Knast eigentlich nicht anders als zu Studentenzeiten. Auch mein Anzug vermochte an diesem Gefühl nichts zu ändern, denn der stammte ebenfalls noch aus meiner Zeit an der Uni. In ihm hatte ich meine mündliche Examensprüfung bestanden.
Und doch war irgendetwas anders. Studentenauto hin, Examensanzug her, ich war nicht mehr Student. Ich war jetzt Anwalt – Strafverteidiger. Ich arbeitete von nun an nicht mehr für einen Ausbilder. Ich arbeitete in Eigenregie, und das ausschließlich für den Mandanten.
»Rechtsanwalt Lucas. Ich hätte gerne meinen Mandanten gesprochen.« Das war das »Sesam, öffne dich!«, um auf die andere Seite der Gefängnismauern zu gelangen. In einem kahlen Besucherraum ohne Fenster durfte ich warten, bis Kai aus der Zelle vorgeführt wurde. Und dann stand er vor mir. Er sah sehr freundlich aus, ein sympathischer Typ. Er lächelte mich an, sagte »Guten Tag« und – gab mir seine Hand.
Noch morgens beim Frühstück hatte ich mir nicht vorstellen können, dass mir das Gespräch mit Kai so leichtfallen würde und dass mir auch sein späterer Auftrag so wenig Sorge bereiten sollte. Kai wollte raus, und das so schnell wie möglich. Und ohne mit der Wimper zu zucken, versprach ich ihm, dem Mörder von Kathleen, dass ich alles in meiner Macht Stehende dafür tun würde.
Wahrscheinlich hatte ich da bereits kapiert: Es ging nicht darum, Kais abscheuliche Straftat auch nur annähernd gutzuheißen oder irgendwie zu verharmlosen. Sondern es ging einzig und alleine darum, ihn in seiner Strafsache optimal zu verteidigen. Und als Verteidiger habe ich schlicht und ergreifend die Verpflichtung, für die Wahrung der Rechte des Mandanten zu sorgen und mich für diese Rechte entschieden und nachhaltig einzusetzen. Das gilt selbstverständlich auch für einen Mandanten wie Kai, der einen widerlichen, grausamen Mord begangen hatte. Denn auch ein Mörder hat Rechte, und zwar die gleichen wie ein Dieb, ein Betrüger oder ein Steuerhinterzieher.
Kai durfte ernsthaft darauf hoffen, bald freizukommen, obwohl er von der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von neun Jahren demnächst erst zwei Drittel verbüßt hatte.
Weil Kai, als er die Tat beging, erst 17 Jahre alt gewesen war, galt für ihn das Jugendstrafrecht. Er hatte deshalb von vornherein eine Jugendstrafe von höchstens zehn Jahren zu erwarten gehabt. Wäre er bei der Tat bereits erwachsen gewesen, hätte er selbstverständlich mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen müssen.
Auch wenn sich in der Bevölkerung hartnäckig der Irrglaube hält, dass mit »lebenslänglich« eine Haftstrafe von 15 Jahren gemeint ist: »Lebenslang« heißt – wie das Wort schon sagt – tatsächlich nichts anderes als lebenslang. Da das Strafgesetzbuch aber bei allen anderen zeitigen Freiheitsstrafen die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung vorsieht, meist nach zwei Dritteln der Haft, musste der Gesetzgeber beim Mord ein wenig tricksen. Denn schließlich kann niemand voraussehen, wann ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter zwei Drittel seines Lebens hinter sich hat. Deshalb hat der Gesetzgeber bei Erwachsenen festgelegt, dass bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe eine Haftentlassung immer frühestens nach verbüßten 15 Jahren in Betracht kommen kann – aber eben nicht muss.
Da Kai mit seinen damals 17 Jahren also nicht zu einer lebenslangen, sondern »nur« zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden war, bestand jetzt, nach bald sechs Jahren Haft, für ihn die realistische Möglichkeit, in die Freiheit entlassen zu werden. Denn Kai saß das erste Mal im Gefängnis und war damit – wie es so schön heißt – besonders haftempfindlich. Die Karten standen also gut für Kai.
»Wie kannst du wollen, dass ein Mörder früher rauskommt? Das ist skrupellos und unverantwortlich.« Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir diesen Vorwurf von Bekannten schon habe anhören müssen. Aber mittlerweile verweise ich die empörten Fragesteller auf unsere Gesetze, an die ich mich ja streng halte. Die Gesetze haben unsere Politiker beschlossen. Und die Politiker wiederum haben wir zuvor gewählt.
Als Kai mich damals beauftragte, ihn vorzeitig aus der Haft zu holen, war sein Wunsch also nicht nur menschlich allzu gut nachvollziehbar, er war vor allem auch sein gutes Recht.
Eine vorzeitige Entlassung, wie sie sich Kai wünschte, ist aber nun keine Selbstverständlichkeit, in deren Genuss ein Verurteilter einfach so kommt. Der Häftling muss auf die Freiheit gut vorbereitet sein. In der Haft und auch bei den zunächst beaufsichtigten Ausgängen muss er sich einwandfrei benehmen und sich streng an die Regeln halten. Und vor allem muss er sich schuldeinsichtig zeigen und seine Straftat engagiert aufarbeiten: Wer hartnäckig daran festhält, es sei doch alles halb so schlimm gewesen und eigentlich sei er doch unschuldig, hat schlechte Chancen. Wichtig ist auch, dass draußen geordnete Verhältnisse auf ihn warten: Familie und Freunde, Wohnung, möglichst auch eine Arbeitsstelle.
Bei der Entscheidung über die Entlassung haben viele ein Wörtchen mitzureden, zunächst natürlich die Haftanstalt, die genau darüber Auskunft geben kann, wie sich der Gefangene geführt hat. Wer zum Beispiel im Gefängnis keine rechte Lust zum Arbeiten oder ständig Stunk mit seinen Zellennachbarn hatte, bekommt dafür nun die Quittung. Auch die Staatsanwaltschaft wird angehört. Und am Ende entscheidet ein Gericht, ob eine Entlassung wirklich verantwortet werden kann.
Bei allen Hürden, die ein Gefangener auf dem Weg in die Freiheit nehmen muss, hat er es stets mit ausgebildeten Juristen zu tun – mal in Gestalt eines Richters, mal in Gestalt eines Staatsanwalts und mal in Gestalt eines Inspektors in der Justizvollzugsanstalt. Und deshalb ist es das gute Recht eines jeden Häftlings, sich selbst besseres Gehör zu verschaffen, indem er sich ebenfalls eines Volljuristen bedient, nämlich eines Verteidigers.
Natürlich wusste ich das in der Theorie längst. Alle diese Fragen hatte ich mir schließlich während meines Studiums immer wieder gestellt. Und doch war es in der Praxis noch einmal etwas anderes. Es half mir, dass ich mir all das noch einmal vorbetete: Das, was ich da für Kai tat, war völlig in Ordnung. An dem Einsatz für den Mandanten, an der Wahrung seiner Rechte ist nichts Ehrenrühriges oder Unmoralisches, mag es einem als Anwalt auch immer wieder mal vorgeworfen werden.
Aber das alles war leider noch keine Antwort auf eine ganz andere wesentliche Frage: Wollte ich persönlich denn wirklich verteidigen? Anders gefragt: Wollte ich mich für jemanden starkmachen, der möglicherweise eine Straftat, vielleicht sogar ein Kapitalverbrechen begangen hat?
Was ich ursprünglich als Berufsziel einmal im Sinn gehabt hatte, war PR-Arbeit – Public Relations –, am liebsten eine Lobbytätigkeit. Welches Studienfach mich darauf am besten vorbereiten würde, war mir nicht ganz klar. So ließ ich mich von Ossi, einem alten Freund meiner Eltern, beraten, der sich mit Öffentlichkeitsarbeit auskannte.
Ossi empfahl mir, BWL zu studieren. Dies würde mich perfekt auf eine Tätigkeit in einem Unternehmen vorbereiten. Um PR zu machen, müsste ich mich dann nur noch entsprechend spezialisieren. Das war im Grunde genommen kein schlechter Rat, nur: Mit meinen kläglichen Mathekenntnissen würde ich spätestens beim Makro-Mikro-Schein mit Pauken und Trompeten untergehen. Also kamen wir auf Jura – die Allzweckwaffe!
Wer hätte denn ahnen können, dass ich bereits nach dem ersten Semester die PR-Idee verwerfen würde, weil sich für mich alles nur noch um meine neue Leidenschaft, das Strafrecht, drehen sollte? Vorlesungen, freiwillige Seminare, Tutorentätigkeiten an verschiedenen Strafrechtslehrstühlen. Ich war schnell beim Strafrecht angekommen. Zivilrecht, öffentliches Recht – das alles war lästiges Beiwerk.
So viele Fragen beschäftigten mich auf einmal im Studium, und sie beschäftigen mich heute noch genauso: Warum straft der Staat? Welchen Zweck verfolgt er mit den Strafen? – Sühne? Abschreckung? Wiedereingliederung? Wieso wird jemand überhaupt zum Straftäter? Und immer wieder auch die Diskussion: Todesstrafe, ja oder nein?
Mit solchen und vielen anderen Themen habe ich mich das ganze Studium und Referendariat über voller Leidenschaft beschäftigt. Und es gibt sie im Strafrecht einfach nicht: Die »richtige« Antwort auf alle diese Fragen. Natürlich, manchmal würde man es sich wünschen, dass die Entscheidung einfach und glasklar auf der Hand liegt: »Ja, so ist es genau richtig, so ist die Sache für alle Beteiligten zufriedenstellend erledigt.« Aber so ist das Recht nicht, denn es ist von und für Menschen gemacht. Und Menschen und ihre Taten sind nun einmal verschieden. Nachdem ich das begriffen und akzeptiert hatte, war ich sogar froh darüber, dass es keine vorgefertigten Antworten gab. Genau das ist die Stärke unseres Gesetzes.
Aber natürlich muss man erst einmal auch lernen, damit umzugehen, dass es im Strafrecht letztlich keine vollends befriedigenden Lösungen gibt. Die kann es gar nicht geben, denn immerhin geht es hier um Straftaten, und am besten wäre es wohl, die jeweilige Straftat wäre erst gar nicht begangen worden. Trotzdem: Mein Anliegen ist es, meinen Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Und immer wieder nach der besten Lösung zu suchen. Genau darin liegt für mich der besondere Reiz meines Berufs.
So verwundert es eigentlich nicht, dass ich weder Richter noch Staatsanwalt geworden bin, sondern Rechtsanwalt – und dass ich in dieser Rolle vom ersten Tag an ausschließlich Strafverteidigungen übernommen habe. Heute glaube ich, dass man entweder Strafverteidiger ist – oder man ist es eben nicht. Das wurde mir allerdings erst nach einem einschneidenden Erlebnis bewusst.
Im Rahmen meines zweijährigen Referendariats wurde ich auch drei Monate lang bei der Staatsanwaltschaft ausgebildet. Irgendwann stand für mich endlich der erste Tag als Sitzungsvertreter für die Staatsanwaltschaft an. Um nämlich die ganze Theorie endlich einmal in der Praxis erleben zu können, dürfen die Referendare an einigen Tagen in die Rolle des Staatsanwalts schlüpfen. In einer übergeworfenen Leih-Robe sollte ich als Staatsanwalt vor Gericht die Anklage gegen zwei junge Männer vertreten, die in einer Videothek mit dem Besitzer in Streit geraten waren. Dazu gehörte auch, dass ich am Ende in meinem Plädoyer beantragen sollte, ob und wie die beiden zu verurteilen waren.
Die Geschichte an sich war eher banal: Die beiden Angeklagten hatten diverse entliehene Pornofilmchen nicht wieder zurückgegeben. Darüber waren sie mit dem Besitzer der Videothek so sehr in Streit geraten, dass das Ganze in einer handfesten Schlägerei endete.
Meine Ausbilderin hatte noch am Vortag zu mir gesagt: »Herr Lucas, tun Sie in der Sitzung nur Dinge, die Sie persönlich vertreten können.« Ein folgenschwerer Fehler, wie sich im Nachhinein erwies.
Denn genau das tat ich dann auch. Wie ferngesteuert suchte ich bei meiner Vorbereitung auf den Sitzungstag die Akte von vorne bis hinten nur nach Unstimmigkeiten und Fehlern ab, die dem sachbearbeitenden Staatsanwalt unterlaufen sein könnten. Richtig wäre es natürlich gewesen, hier nicht einseitig nach entlastenden Punkten für die Angeklagten zu suchen, sondern in alle Richtungen offen an die Sache heranzugehen. Voller Überzeugung beantragte ich als Vertreter der Staatsanwaltschaft in meinem Schlussplädoyer am nächsten Tag einen Freispruch für die beiden Angeklagten!
Der Schuss musste nach hinten losgehen. Mein Plädoyer war geradezu ein Angriff auf den sachbearbeitenden Staatsanwalt, der die Details des Falles untersucht und herausgearbeitet hatte. Der Richter sah hierin jedenfalls einen Affront und schimpfte in der Urteilsbegründung sehr über mich. Und meine Ausbilderin war auch nicht sonderlich beglückt über mein angeklagtenfreundliches Verhalten vor Gericht, bei dem ich eher wie ein Verteidiger aufgetreten war.
Ich fand die Schelte nicht ganz in Ordnung: Irgendwie wurde mir dabei ein bisschen zu sehr außer Acht gelassen, dass der eine der beiden Angeklagten am Ende tatsächlich freigesprochen wurde – so wie ich es beantragt hatte. Mein Antrag hatte also der tatsächlichen Beweislage entsprochen und war damit »richtig« gewesen. Trotzdem hätten andere Staatsanwälte in meiner Situation, nicht zuletzt der Verfasser der Anklageschrift selbst, in der Verhandlung vor Gericht bis zum Schluss alles darangesetzt, eine Verurteilung beider Angeklagten zu erreichen. Diese Vorstellung fand ich sehr beklemmend. Auch was die Schöffen, also die beiden beteiligten Laienrichter, in der Sitzungspause untereinander tuschelten, desillusionierte mich: »Na ja, wer solche perversen Filmchen ausleiht, dem ist doch alles zuzutrauen.«
Ich spürte während meiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft, dass ich die Rolle des Anklägers nicht übernehmen wollte, schon gar nicht auf Geheiß eines Vorgesetzten. Ich möchte auch nicht ausgeschimpft werden, wenn ich von der Schuld eines Angeklagten nicht überzeugt bin, wenn mir die Beweise nicht ausreichen und ich deshalb auf Freispruch plädiere. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass ich generell nicht im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen möchte.
Die anschließende viermonatige Referendariatsstation bei dem leider früh verstorbenen Vollblut-Strafverteidiger Alfred Schumacher in Frankfurt ließ den Knoten dann endgültig platzen. Bald schon wusste ich es: »Ich möchte verteidigen – ich BIN Verteidiger.«
Das war auch im Fall von Kai so.
Ich hatte Kai die Hand gegeben. Ich hatte akzeptiert, dass er Rechte hat. Es war mir auch erstaunlich leichtgefallen, seinen Auftrag anzunehmen. Ich fragte mich nur: War ich denn auch persönlich bereit dazu?
In der Verhandlung gegen Kai hatte ein rechtsmedizinischer Gutachter festgestellt, Kai müsse Kathleens Hals fast zwei Minuten lang zugedrückt haben. Anschaulich hatte der Gutachter beschrieben, was Kathleen in ihren letzten Lebensminuten Schreckliches durchgemacht haben musste.
Kai hatte in seiner Verhandlung genau wie zuvor bei der Polizei keine Einsicht gezeigt, dass er schwere Schuld auf sich geladen hatte. Er hatte Kathleen getötet, das gab er zu. Aber er bestand darauf: »Kathleen wollte mich fertigmachen. Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Sie hat mich den ganzen Nachmittag über gereizt, und dann, als es endlich ernst wurde, hat sie plötzlich einen Rückzieher gemacht. Ich wollte Kathleen so gerne anfassen, an sie herankommen. Aber sie hat mich einfach zurückgewiesen. Wie es mir dabei ging, war ihr scheißegal. Was danach passiert ist, bekomme ich nur noch schemenhaft zusammen. Ich hatte nie geplant, Kathleen umzubringen. Das müssen Sie mir glauben! Es ist einfach passiert. Verstehen Sie? Einfach so passiert. Ich wollte das nicht!«
Kai hatte konsequent die große Mitleidsnummer abgezogen. Aber waren die von der Staatsanwaltschaft angenommenen »niedrigen Beweggründe«, aus denen er Kathleen angeblich getötet haben sollte – und die aus einer Tötung erst einen Mord machen –, denn wirklich völlig aus der Luft gegriffen?
Auf Antrag der Verteidigung waren damals viele Klassenkameraden als Zeugen gehört worden. Sie hatten das Verhältnis, in dem Kathleen und Kai zueinander gestanden hatten, als nicht einmal besonders freundschaftlich beschrieben. Kai war von seinen Mitschülern eher als Außenseiter wahrgenommen worden.
Ich hatte mich mit meinem Kanzleikollegen, der Kai vor gut fünf Jahren vor Gericht verteidigt hatte, lange unterhalten. Es muss für ihn als Verteidiger ein schwieriger Prozess gewesen sein. Aber außer Kai und der getöteten Kathleen war bei der Tat nun einmal niemand dabei gewesen, es gab also keine Zeugen, über die man hätte herausfinden können, was tatsächlich passiert war. Und den Behauptungen von Kai, er habe im Affekt gehandelt, musste selbstverständlich nachgegangen werden. Denn hätte das Gericht eine Affekthandlung festgestellt, wäre Kai wohl lediglich wegen Totschlags und nicht wegen Mordes zu einer deutlich niedrigeren Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Aber das Gericht hatte das anders gesehen und ging von »niedrigen Beweggründen« aus. Es kam zu der Überzeugung, dass Kai das junge Mädchen aus einer rein egoistischen Motivation heraus umgebracht hatte.
»Sie waren in Ihrer Eitelkeit tief gekränkt und konnten die Zurückweisung Ihrer Klassenkameradin einfach nicht akzeptieren.« Der Vorsitzende Richter hatte in der mündlichen Urteilsbegründung für Kai deutliche Worte gefunden. Von einer verminderten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit konnte keine Rede sein. Der psychologische Gutachter war zu dem Ergebnis gekommen, dass Kai zwar massive persönliche Probleme hatte, diese jedoch nicht zu einer mangelnden Unrechtseinsicht geführt hatten.
Im Nachhinein betrachtet wäre es für alle Beteiligten besser gewesen, Kai hätte die Schuld ohne Ausflüchte auf sich und damit Kathleen aus der Schusslinie genommen. Ein klares Geständnis, ohne Kathleen irgendeine Art von »Mitschuld« zuzuschieben, wäre gerade auch für die Eltern des Mädchens wichtig gewesen. Wie muss das für die Mutter und den Vater gewesen sein, dem Mörder ihrer Tochter nicht nur in die Augen zu schauen, sondern auch anhören zu müssen, wie er Kathleen mit Schuldzuweisungen geradezu bombardierte? Dass bei so wenig Einsicht am Ende nicht viel Raum für eine Strafmilderung blieb, ist verständlich. Die Höchststrafe in diesem Fall beträgt zehn Jahre Jugendstrafe. Immerhin gab das Gericht noch ein ganzes Jahr Abschlag, weil Kai die Tat als solche ja eingeräumt hatte.
In der Zwischenzeit war viel passiert. Mein persönlicher Eindruck bei den Besuchen war, dass Kai im Laufe der Jahre dazugelernt hatte. Natürlich, er war älter geworden, aber auch reifer, erwachsener, einsichtiger. Seine Führung in der Haft war einwandfrei, nie hatte er Grund zu Beanstandungen gegeben. Bei den Insassen von Jugendgefängnissen ist das zwar keine Selbstverständlichkeit, aber von einem ruhigen und eher angepassten Typ wie Kai hätte ich auch nichts anderes erwartet.
Und er hatte noch wesentlich mehr getan: Er hatte die Haftzeit genutzt, um eine auf ihn abgestimmte Psychotherapie zu machen. Dass ein so verschlossener Mensch sich dazu durchrang, sich zu öffnen und sein Inneres gegenüber einem anderen zu offenbaren, war beachtlich und für ihn sicherlich nicht leicht gewesen. Eine Therapie ist immer harte Arbeit, aber für Kai hatte sich der Einsatz gelohnt. Sein Therapeut konnte ihm eine wirklich gute Beurteilung geben.
Außerdem hatte er es geschafft, sich aus dem Gefängnis heraus »draußen« eine Ausbildungsstelle zu beschaffen. Zu seinen Eltern und seiner Schwester bestand während der gesamten Haftzeit ein sehr enger Kontakt. Bei ihnen würde er nach seiner Entlassung auch zunächst wohnen dürfen. Zudem war er zum ersten Mal in seinem Leben im Gefängnis. Alles positive Umstände, die dafür sprachen, dass Kai künftig auch in Freiheit nie mehr straffällig werden würde. Es würde doch wohl möglich sein, davon auch das Gericht zu überzeugen.
Als ich mich bei meinem ersten Besuch mit Kai unterhielt, ließ ich die grausame Tat und sein Verhalten im Prozess an mich als Mensch nicht heran. Das alles war für mich so unglaublich, es schien so gar nicht real. Ich wusste zwar, was man Kai vorgeworfen hatte. Ich wusste auch im Detail, wie sich Kai zum Tatvorwurf geäußert hatte. Aber dass dieser junge Mann, der da vor mir saß, ebenjener Kai sein sollte, der ein junges Mädchen auf abscheuliche Weise getötet hatte und der den Eltern der Getöteten im Prozess keinen Frieden geschenkt hatte, das konnte ich mir beim besten Willen nicht bewusst machen.
»Herr Lucas, wissen Sie, ich habe in den letzten Jahren unglaublich viel dazugelernt. Das Gefängnis hat einen anderen Menschen aus mir gemacht. Im positiven Sinne, meine ich. Das soll jetzt bloß nicht so klingen, als wäre ich froh, dass alles so gekommen ist. Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an Kathleen denken muss.«
Kai erzählte mir von seinem Alltag im Gefängnis, dass er leidenschaftlich gerne am Fußballtraining der JVA teilnahm. Auch von seiner Therapie, die er ganz unabhängig von irgendwelchen taktischen Erwägungen unbedingt gewollt hatte, sprach er ausführlich und ohne jede Scheu. Er empfand sie fast wie eine Befreiung: »Am Anfang habe ich mich schwergetan, aber dann ist irgendwann der Knoten geplatzt. Mit meinem Therapeuten habe ich unglaublich viele negative Erfahrungen aus der Kindheit aufgearbeitet. Das war kein Spaziergang. Wir haben wirklich alles hervorgekramt. Manchmal wäre ich am liebsten vor mir selbst weggelaufen. Immer wieder habe ich mir selbst den Spiegel vorhalten müssen. Anfangs habe ich mein Spiegelbild gehasst.«
Kai berichtete, dass er bis zu seiner Festnahme häufig körperliche Züchtigungen durch seinen Vater erdulden musste: »Die ganze Woche über haben meine Eltern Plus- und Minuspunkte gesammelt. Das wurde alles genau registriert – und am Samstag bekam ich die Quittung. Das Schlimme war, dass ich meist gar nicht verstanden habe, was ich schon wieder falsch gemacht hatte. Ich habe es immer und immer wieder aufs Neue versucht, aber ich konnte es meinen Eltern einfach nie recht machen. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Druck ist, wenn man ständig kontrolliert und beurteilt wird? Und kein Mensch weit und breit, mit dem man reden kann.«
Dass er unter diesen Umständen permanente Versagensängste entwickelt hatte, die immer stärker geworden waren, wunderte mich nicht. Kai war seine gesamte Kindheit und Jugend über der festen Überzeugung gewesen, für niemanden auf der Welt gut genug zu sein. Er hatte sich für völlig wertlos gehalten. Und dann war Kathleen gekommen: »Bei ihr hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass mich jemand als Mensch ernst nimmt. Die meisten haben mich doch nicht einmal wahrgenommen.« Und sie hatte er getötet. »Ich bereue zutiefst, was ich getan habe. Die Schuld, die ich auf mich geladen habe, quält mich, und das wird auch nie aufhören. Das soll auch nicht aufhören, das ist jetzt Teil meines Lebens. Was ich empfinde, lässt sich gar nicht richtig in Worte fassen.«
Das war nicht mehr der junge Mann aus dem Prozess, der sich ungerecht behandelt gefühlt und Kathleen die Schuld an der Tat gegeben hatte. »Ich schäme mich für meinen Auftritt damals. Ich habe damals nicht sehen wollen oder sehen können, dass ich der Schuldige war und niemand sonst. Da hat auch mein Anwalt gegen eine Wand geredet. Ich dachte nur, nicht mal der versteht dich.«
Das Gespräch mit Kai berührte mich als Mensch sehr und aus Verteidigersicht verlief es ganz im Sinne meines Auftrags. Diese Informationen waren wichtig für die Frage der frühzeitigen Haftentlassung, die mir nach meinem Besuch bei Kai durchaus realistisch erschien.
Aber noch immer konnte ich nicht wirklich begreifen, dass Kai für das verantwortlich war, was sich an jenem 22. Juni 1994 in seinem Zimmer abgespielt hatte. Schon während des Gesprächs spürte ich, dass ich den ernsten jungen Mann vor mir und den Jungen, der seine Mitschülerin umgebracht hatte, im Kopf einfach nicht übereinander brachte. Es war ja genau genommen auch gar nicht notwendig, wenn ich Kai einfach nur bei seinem Ziel, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden, unterstützen wollte. Das Gerichtsverfahren, in dem er verurteilt worden war, war längst Vergangenheit. Jetzt befanden wir uns im Vollstreckungsverfahren.
Vielleicht, so sagte ich mir, war es auch ganz gut, dass ich nicht in der Lage war, mich in die damalige Situation hineinzuversetzen. So würde es leichter sein, nüchtern alle Gesichtspunkte für die vorzeitige Entlassung zusammenzutragen. Trotzdem – richtig zufrieden war ich mit dieser Lösung nicht.
Was meine Rolle als Verteidiger anging, so mündeten die Gespräche mit Kai in einem vollgepackten Schriftsatz. Es folgten ein Sachverständigengutachten, ein Telefonat mit dem Vollstreckungsstaatsanwalt, ein Anhörungstermin beim zuständigen Richter und abschließend ein aus Verteidigersicht gutes Ergebnis: acht Monate, nachdem Kai mir das erste Mal die Hand gegeben hatte, wurde er aus der Haft entlassen – drei Jahre früher, als im Urteil ausgesprochen. Mein Mandant war überglücklich: »Herr Lucas, ich bin Ihnen so dankbar! Sie werden sehen, jetzt mach ich was aus meinem Leben.«
Das war er also gewesen, mein erster Mörder. Nicht ganz so spektakulär, wie ich – motiviert, wie ich war – es mir vielleicht gewünscht hatte. Und trotzdem dauerte es eine Weile, bis ich den Fall auch im übertragenen Sinne zu den Akten legen konnte. Denn für mich als Berufsanfänger war Kais Fall durchaus eine Herausforderung gewesen und in gewisser Weise auch spektakulär. Dass er juristisch alles andere als schwierig gewesen war, stand außer Frage. Auch von unverhofften Zwischenfällen oder aufsehenerregenden Wendungen konnte keine Rede sein. Und trotzdem ist mir Kais Verfahren heute noch so präsent wie damals. Vermutlich weil es meine erste Konfrontation mit dem »Bösen« war. Was hatte ich bis dahin schon mit Straftätern zu tun gehabt? Nichts. Kai war »mein« erster Mörder gewesen.
Klar, als frischgebackener Anwalt hätte ich mein Prüfungswissen über den Tatbestand des Mordes und die damit zusammenhängenden Vollstreckungsfragen locker abspulen können; auf die Begegnung mit einem realen Menschen, der gemordet hatte, war der Anwalt jedoch so wenig vorbereitet wie der Mensch Stephan Lucas. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Ich wusste nicht, wie ich gegenüber einem Menschen, der einem anderen Menschen das Leben genommen hatte, empfinden würde. Natürlich trat ich als Anwalt in der festen Überzeugung an, dass jeder, egal, was er getan hat, das Recht auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren hat. Theoretisch war ich sattelfest. Aber konnte ich sicher sein, dass sich nicht in der Praxis auf einmal eine Stimme in mir regen würde: »So ein Schwein, will ich dem wirklich helfen?«
Die erste Begegnung mit einem Mörder war daher für mich eine Art Nagelprobe, der ich mit Beklommenheit entgegengesehen hatte. Um dann mit einer gewissen Erleichterung festzustellen, dass im Fall von Kai alles ganz einfach war.
Ich hatte in Kai einen Menschen kennengelernt, ja sogar sympathisch gefunden, der etwas sehr Schreckliches getan hatte. Aber wahrscheinlich, so dachte ich mir, ist gerade das das Spannende am Strafrecht. Man hat es teilweise mit Extremsituationen zu tun, die man nicht einfach so wegsteckt. Manches treibt einen noch Monate, nachdem die Sache abgeschlossen ist, um. Ich nahm mir vor, dies auch als Chance zu betrachten. Denn in Zukunft würde ich immer wieder Mandate haben, die mich zu intensiver Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen auffordern würden. Würden da der Anwalt und der Mensch Stephan Lucas immer einer Meinung sein?
Obwohl ich mich auf Strafrecht spezialisiert und damit das Rüstzeug habe, Mörder vor Gericht zu verteidigen, bin ich in erster Linie immer noch ein Mensch. Wie alle anderen Menschen empfinde ich angesichts schwerster Verbrechen Gefühle wie Ekel, Hass, Scham oder Rache. Gerade deshalb ist es notwendig, mein Gewissen vor jedem Mandat, das an mich herangetragen wird, genauestens zu prüfen. Kann ich es vor mir persönlich verantworten, diesen Mörder, Vergewaltiger, Terroristen oder Drogenhändler zu verteidigen?
Wie gehe ich mit einem Mörder um, gegen den die Beweislage sehr dünn ist und der deshalb auf einen Freispruch hoffen kann – wenn er mir ins Gesicht sagt, dass er die Bluttat begangen hat? Was ist mit einem Mörder, der einfach nur voller Reue eine Lebensbeichte ablegen will und sich dadurch wenigstens günstige Haftbedingungen erhofft? Was ist, wenn ich von der Schuld eines Mandanten fest überzeugt bin, er mich aber trotzdem bittet, für ihn um einen Freispruch zu kämpfen? Soll ich in diesen Fällen das Mandat überhaupt annehmen?
Mittlerweile fallen mir solche Entscheidungen natürlich leichter als am Anfang meines Berufslebens. Wenn die Schuld eines Mandanten klar ist, aber die Akte aufgrund schlampiger polizeilicher Ermittlungsarbeit zum Himmel schreit und einen Freispruch möglich macht, dann kann ich auch ein solches Mandat gut vertreten. Denn es wäre für mich unerträglich, wenn dieser Mandant – mag er die Tat in Wirklichkeit auch begangen haben – verurteilt würde, obwohl die Beweise gegen ihn nicht ausreichen.
Ohne eindeutige Beweislage muss selbst der schlimmste Mörder freigesprochen werden. Ansonsten müsste im Umkehrschluss jeder Unschuldige in Angst und Schrecken leben. Sonst könnte er der Nächste sein, der aufgrund einer falschen Bezichtigung oder bei unklarer Beweislage verurteilt werden könnte. Und sich als Angeklagter in einem Strafverfahren wiederzufinden, das kann leider schneller gehen, als man sich vorstellt. Im Zweifel für den Angeklagten – das ist ein wichtiger Grundsatz unserer Strafrechtsordnung, an dem nicht gerüttelt werden darf.
Normalerweise lese ich beim Frühstück nie Zeitung. Ich finde es mühsam, das Ausbreiten und Umblättern der Seiten mit dem Bestreichen einer Semmel zu koordinieren. Und irgendwie drücke ich mich morgens auch ganz gerne noch ein wenig vor all den unerfreulichen Themen des Tages.
Aber es gibt eben immer Ausnahmen. Und so las ich eines sonnigen Morgens im Sommer 2003 von einem ganz abscheulichen Vorfall. Öffentliche Hinrichtung mit 5 Kopfschüssen lautete die Schlagzeile. Und weiter stand im Text: Sieben Mal drückte Hasan I. auf dem Bahnhofsvorplatz vor den Augen entsetzter Passanten ab. Tödlich getroffen brach das Opfer Mustafa A. zusammen. Der Täter wartete seelenruhig, bis die Polizei eintraf. Die Staatsanwaltschaft schließt nicht aus, dass es sich um einen Ehrenmord handelt.
Was im Einzelnen hinter dieser brutalen Bluttat steckte und wie die Staatsanwaltschaft zu der Vermutung kam, dass es sich hier um einen Ehrenmord handeln könnte, wurde mit keinem Wort erwähnt. Wieder einmal schien ohne den geringsten Zweifel das Böse gesiegt zu haben. Aber so einfach, wie es in der Zeitung steht, ist es meistens nicht, dachte ich und blätterte weiter.
Was ich beim Frühstück noch nicht ahnte: Ich sollte Hasan I., die angebliche Personifikation des Bösen, noch am selben Tag persönlich kennenlernen. Kaum hatte ich die Kanzlei betreten, kam mir meine Sekretärin schon eilig entgegen: »Herr Lucas, die Polizei hat eben angerufen. Da wurde ein Mann wegen Mordverdachts festgenommen, der nach Ihnen verlangt hat. Er soll heute noch dem Haftrichter vorgeführt werden.«
Nun war Eile geboten. Denn ganz gleich, was dieser neue Mandant möglicherweise getan haben mochte, jetzt ging es für mich einzig und alleine um ihn. Es spielt keine Rolle, ob nun jemand wegen Mordverdachts oder wegen des Verdachts eines mittelgroßen Diebstahls festgenommen wird: Die meisten Menschen sind in so einer Situation verständlicherweise erst einmal völlig überfordert. Plötzlich steht eine Haftstrafe im Raum, schlimmstenfalls sogar Lebenslänglich. Die Polizei will sofort mit der Vernehmung beginnen.
Natürlich wissen die meisten Menschen, dass sie sich als Beschuldigte erst einmal gar nicht äußern müssten. Aber viele haben den Drang, sich so schnell, wie es nur irgend geht, zu erklären. Ich habe es auch schon so manches Mal erlebt, dass ein mutmaßlicher Mörder sofort innerlich zusammengebrochen ist und sich die Tat beim Verhör von der Seele reden wollte.
Dabei wäre es, wenn man festgenommen wird, das Beste, zunächst einmal gar nichts zu sagen. Hat man erst einmal eine Aussage gemacht, kommt man davon oft nur schwer wieder runter. Und ob der Moment der Festnahme wirklich ein guter Zeitpunkt ist, um ohne Rücksprache mit einem Anwalt, ohne Aktenkenntnis und ohne Überblick über die Beweislage mit einer Aussage die Weichen in einem Strafverfahren zu stellen, darf guten Gewissens verneint werden. Aber den Vernehmungsversuchen der Polizei zu trotzen und einfach nur zu schweigen ist leichter gesagt als getan. Für mich als Anwalt hat es daher höchste Priorität, den Mandanten vor gravierenden Fehlern zu bewahren und ihm außerdem in der extrem belastenden Haftsituation beizustehen.
An diesem Sommermorgen 2003 setzte ich mich also gar nicht erst an meinen Schreibtisch; kaum hatte ich die Kanzlei betreten, war ich auch schon wieder weg und fuhr auf der A9 in Richtung Norden. Ich arbeitete schon eine ganze Weile nicht mehr in der Heidelberger Kanzlei, wo ich Kai vertreten hatte, sondern war zwei Jahre zuvor nach München gezogen.
Natürlich hatte es mir auch in Heidelberg gefallen, es ist ja ein schönes Städtchen. Aber mir als Großstadtkind war es mit der Zeit einfach zu klein und eng geworden. Ich hatte den Eindruck gehabt, als rückten die Berge, die den Neckar umgeben, jeden Tag näher. Und so war ich damals gerne dem Ruf der Münchner Anwaltskanzlei Wächtler und Kollegen gefolgt, einer der ältesten Strafrechtskanzleien der Stadt. Hartmut Wächtler hatte mich schon 1994 bei einem Anwaltspraktikum in München unter seine Fittiche genommen und sich – welch ein Glück – nach sieben Jahren noch an mich erinnert.
Auf der Fahrt gab es an diesem Morgen noch so manches zu organisieren: Meine auf zehn und elf Uhr gelegten Besprechungen mit Mandanten mussten verschoben werden. Das Mittagessen mit einem Kollegen konnte nicht stattfinden. Und einer für diesen Vormittag geplanten schriftlichen Stellungnahme in einem Revisionsverfahren würde ich mich nun wohl erst am Abend widmen können. Also mal wieder eine Nachtschicht – eben das ganz normale Leben eines Strafverteidigers.
Der Rhythmus, in dem Haftprüfungen, Gefängnisbesuche oder Gerichtstermine anfallen, lässt sich leider nur schwer beeinflussen, geschweige denn im Voraus planen. Und so gehört es eigentlich schon zur Tagesordnung, dass meistens gleich fünf Sachen auf einmal anfallen. Manchmal empfinde ich diesen ständigen Termindruck und die vielen Terminkollisionen als das Anstrengendste in meinem Job. Ohne eine fähige Sekretärin endet das leicht im Chaos.
Um kurz vor zehn kam ich am Polizeipräsidium an. Hasan Imrol war nach seiner Festnahme zunächst hierher gebracht worden. Ein Polizeibeamter bat mich in eine kleine Zelle und führte meinen neuen Mandanten kurz danach vor, so dass wir beide in aller Ruhe ein Gespräch unter vier Augen führen konnten.
Hasan Imrol war 62