Auf Sand gebaut − Filz - Stefan Heym - E-Book

Auf Sand gebaut − Filz E-Book

Stefan Heym

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Beschreibung

Geschichten über die deutsche Wiedervereinigung und ihre Folgen - brillant und boshaft.

»Auf Sand gebaut« war die erste literarische Reaktion auf die Ereignisse, die als »deutsche Revolution«, als »Wende«, und schließlich als »Wiedervereinigung« in die Geschichte eingegangen sind. Jenseits aller nationalen Euphorie richtet Stefan Heym in seinen Geschichten einen illusionslosen Blick auf diese deutschen Zustände, auf die um sich greifende Korruption des Denken und Handelns, auf den Opportunismus und die Wendefreudigkeit ehemaliger Apparatschicks, auf die kritiklose Übernahme westlicher Werte.

Mit »Filz. Gedanken über das neuste Deutschland« knüpft Heym thematisch an »Auf Sand gebaut« an. Die Illusionen sind verflogen. Die paradoxe Situation, daß die Kluft zwischen den geeinten Teilen Deutschlands sich zu vergrößern scheint, die vielberufene nationale Identität sich nur schwer herstellen will, ist Ausgangspunkt der Betrachtungen von Stefan Heym.

Stefan Heyms messerscharfe Erzählungen über die deutsche Wiedervereinigung, erstmals erschienen bei C. Bertelsmann 1990/1992, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

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Zum Buch:

»Auf Sand gebaut« war die erste literarische Reaktion auf die Ereignisse, die als »deutsche Revolution«, als »Wende«, und schließlich als »Wiedervereinigung« in die Geschichte eingegangen sind. Jenseits aller nationalen Euphorie richtet Stefan Heym in seinen Geschichten einen illusionslosen Blick auf diese deutschen Zustände, auf die um sich greifende Korruption des Denken und Handelns, auf den Opportunismus und die Wendefreudigkeit ehemaliger Apparatschicks, auf die kritiklose Übernahme westlicher Werte.

Mit »Filz. Gedanken über das neuste Deutschland« knüpft Heym thematisch an »Auf Sand gebaut« an. Die Illusionen sind verflogen. Die paradoxe Situation, daß die Kluft zwischen den geeinten Teilen Deutschlands sich zu vergrößern scheint, die vielberufene nationale Identität sich nur schwer herstellen will, ist Ausgangspunkt der Betrachtungen von Stefan Heym.

Stefan Heyms messerscharfe Erzählungen über die deutsche Wiedervereinigung, erstmals erschienen bei C. Bertelsmann 1990/1992, endlich wiederveröffentlicht in der digitalen Werkausgabe.

»Ein polternder Candide.« Süddeutsche Zeitung

»Heyms Lebensleistung: Er ist ein Zeuge des Jahrhunderts, der sich nie auf die Zuschauerrolle beschränkt hat.« Hamburger Abendblatt

Zum Autor:

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Stefan Heym

Auf Sand gebaut

Filz

Erzählungen

Die Originalausgabe erschien 1996 bei btb in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © für “Auf Sand gebaut” 1990, für „Filz“ 1992 by Inge Heym

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1992 by C. Bertelsmann Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © Jeff Allyn Szwast / Shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN978-3-641-27832-8V002

www.cbertelsmann.de

Auf Sand gebaut

Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit

FÜRINGE

Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie, den vergleiche ich einem klugen Mann, der sein Haus auf einen Felsen baute.

Da nun ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam und wehten die Winde und stießen an das Haus, fiel es doch nicht; denn es war auf einen Felsen gegründet.

Darum, wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand baute.

Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.

Matthäus 7, 24–27

Der Zuverlässigsten einer

Wo sie nur alle wieder hin sind?

Vergangene Woche Freitag, jawohl, Freitag Nachmittag, da war auch schon mal diese plötzliche Stille. Sonst sind immer irgendwelche Geräusche, Schritte, oder es hustet einer draußen im Gang, aber wenn so überhaupt nichts ist, legt es sich wie ein Gewicht auf den Schädel und man kriegt so ein Flattern im Bauch, jedenfalls bin ich hinübergegangen zum Genossen Tolkening ins Zimmer, doch dort war auch keine Seele, nur auf dem Tisch lag ein Haufen Papiere, was sonst gar nicht die Art ist vom Genossen Tolkening, selbst wenn der auf fünf Minuten mal weggeht, schließt er alles ein, und beim Genossen Kallweit war auch keiner, so daß ich gedacht hab, was ist denn nur los, wenn es eine Sitzung wäre, der Genosse Kallweit hätte mich doch gerufen, aber in der letzten Zeit ist auch auf nichts mehr Verlaß und auf niemanden, zwar wird verlautbart, jawohl, Genossen, der Betrieb geht weiter, die Firma kriegt einen andern Namen, aber was sind Namen, die Hauptsache ist, wir bleiben auf Posten, und ich klopf an beim Genossen Stösselmaier, der früh als erster kommt und abends als letzter geht, aber sein Dienstzimmer ist auch leer, sie können doch nicht sämtlich beim Kaffeetrinken sein oder dienstlich unterwegs, und dann ist mir eingefallen, was der Genosse Kuhnt gesagt hat bei der Abteilungsbesprechung, der Genosse Alfred Kuhnt ist ja nicht irgendwer, der Genosse Kuhnt also hat mit dem Finger auf meine Person gewiesen, deutlich und unmißverständlich, und gesagt, der Genosse Bobrich ist der Zuverlässigsten einer, unser Arno, jawohl, und wenn es einmal hart auf hart kommen sollte, der Genosse Bobrich hält den Laden, und außerdem hat er auch so ein Wesen, das beruhigend wirkt auf die Menschen, dem wird also kaum einer was tun.

Ich hab das Martha erzählt, was der Genosse Kuhnt über mein Wesen gesagt hat, und Martha hat gesagt, das stimmt, der Genosse Kuhnt ist ein Menschenkenner, aber trotzdem macht man sich seine Gedanken, besonders wenn die Zeiten so unruhig sind wie jetzt und alles drunter- und drübergeht und sogar ein Mann wie der Chef, vor dem das ganze Volk gezittert hat, jawohl, richtiggehend gezittert, hat aufstehen müssen in aller Öffentlichkeit und sich rechtfertigen vor Leuten, die sonst gekrochen wären vor ihm, rechtfertigen für was, möchte ich wissen, der Mann hat seine Pflicht getan wie wir alle und sonst nichts, und dann haben sie ihn noch verhaftet. Und, hat der Genosse Kuhnt weiter zu uns gesagt, wenn es dahin kommen sollte, was er allerdings nicht erwarte, hat er gesagt, daß wir zeitweilig retirieren müßten, retirieren war sein Ausdruck, tatsächlich, dann können wir unsrem Genossen Bobrich vertrauen, daß er das Nötige tut, denn der Genosse Bobrich weiß ja, daß das, was bei uns in der Abteilung liegt, nicht in unberufene Hände gehört.

Das war vergangene Woche. Und jetzt ist wieder diese Stille. Trotzdem, so eilig hätten sie doch nicht zu retirieren brauchen, wenigstens einer hätte den Kopf noch zur Tür hineinstecken und sagen können, Arno, hätte er sagen können, es ist ja nur zeitweilig, aber nicht einmal das hat einer von ihnen gesagt, und dabei wird von mir erwartet, daß ich meine Pflicht tue und den Laden halte, denn was hier in der Abteilung steht, ist höchste Vertrauenssache, und wie ich Martha gesagt hab seinerzeit, daß sie mich hierher gestellt haben, mitten ins Nervenzentrum vom Ganzen, Nervenzentrum, das war mein Ausdruck, da hat sie gesagt, das laß lieber, warum mußt du dich ins Nervenzentrum stellen lassen, war denn das, was du bisher gemacht hast, nicht schwierig genug, Arno, ich hab nie gewußt, wie du das schon in eins bringst mit deiner unsterblichen Seele, aber das jetzt, mitten im Nervenzentrum vom Ganzen, es wird dir kein Glück bringen, Arno. Und wie ich dem Genossen Tolkening erzählt hab, was die Martha gesagt hat zu meiner neuen Stellung mitten im Nervenzentrum, was doch eine große Anerkennung darstellt seitens der Genossen, hat er gelacht und gesagt, mach dir nichts draus, Arno, was wissen die Frauen von Pflicht und von den Notwendigkeiten des Dienstes. Aber was der Junge gesagt hat, wie er dann nach Haus gekommen ist und Martha ihm erzählt hat von meiner neuen Stellung im Nervenzentrum des Ganzen, das hab ich dem Genossen Tolkening nicht gesagt, so etwas kann man einem Genossen gar nicht sagen, der würde denken, eine Schlange hat der Genosse Bobrich großgezogen an seinem Busen, eine richtiggehende Schlange, und wie zuverlässig kann der Genosse Bobrich wohl sein, mit solchem Schlangengezücht im eigenen Hause. Dabei würde ich nie daran denken, auch nur einen von den Ordnern dort im Nervenzentrum des Ganzen anzurühren, die da stehen mit ihren gelben und grünen und purpurfarbenen und orangenen Aufklebern, je nach Kategorie und in sich wieder alphabetisch gruppiert, auch wenn ich schon manchmal hinaufgeblickt hab zu dem zweiten Regal von oben, viertes Fach rechts, Bat bis Bur, aber da bin ich ja sowieso nicht drin, die Mitarbeiter werden separat geführt, bei den Mitarbeitern hat nur der Genosse Kuhnt Zutritt und keiner sonst.

Dabei ist der Junge ja kein schlechter Mensch und im eigentlichen Sinne auch nicht mißraten, aber er geniert sich, sagt er, wegen seinem Vater. Was hat ein Sohn, frage ich, sich zu genieren wegen einem Vater, der nur seine Pflicht tut, seine Klassenpflicht und seine Dienstpflicht und seine Vaterpflicht. Das sagt dann Martha auch, aber der Junge zuckt nur mit den Schultern, wenn sie ihm das sagt, und zu mir sagt er, wenn ich’s bisher noch nicht gewußt hab, für wen ich mein dickes Gesäß wundgescheuert hab all die Jahre, dann müßt ich’s jetzt doch wenigstens kapiert haben, wo der Chef hat aufstehen müssen in aller Öffentlichkeit und sich rechtfertigen, und dann lacht er auf diese Art, daß es mir quer durch die Brust schneidet und ich auf ihn losgehen möchte, aber Martha fällt mir jedesmal in den Arm und sagt, wir haben’s doch schwer genug auch ohne solche Streitereien!

Wie lange waren sie weggewesen am vergangenen Freitag? Zwanzig Minuten vielleicht oder dreißig, mehr nicht, dann sind sie zurückgeschlichen gekommen und taten irgendwie verlegen, und nur der Genosse Kallweit hat etwas gesagt, falscher Alarm, hat er gesagt, sie sind vorbeigezogen draußen, sie haben Schiß gehabt, sie könnten eins auf den Deckel bekommen. Ich kann den Genossen Kallweit verstehen, der Genosse Kallweit war immer ein Draufgänger, und nun haben sie ihm seine Pistole weggenommen, er hat noch eine zuhause, sagt er, zur Reserve, aber hier hat er jetzt keine mehr, und er fühlt sich wie kastriert, sagt er, Kallweit ist überhaupt sehr menschlich und auch persönlich interessiert, immer hat er sich erkundigt nach Martha und nach dem Jungen. Martha, hab ich dem Genossen Kallweit gesagt, macht mir Sorgen, Martha hat ihre Zweifel, warum gehen die Leute weg, fragt sie, es können doch nicht nur die paar Plünnen sein und die Bananen, es gibt doch noch andere Werte, und warum können wir den Leuten das nicht begreiflich machen, oder glaubt ihr wirklich, der Druck, den ihr macht, überzeugt irgend jemanden? Worauf der Genosse Kallweit den Kopf geschüttelt und mir seine Hand um die Schulter gelegt und geseufzt hat, hast’s auch nicht leicht, Arno. Hab ich auch nicht, Tatsache.

Aber jetzt sind sie schon länger weg als zwanzig Minuten oder dreißig, viel länger. Sie werden mich doch nicht, so ganz allein hier, und ohne einen zur Hilfe, der eine Pistole hat, mir haben sie ja nie eine gegeben zum immer bei mir Tragen, du zitterst immer so mit den Händen, Arno, hat der Genosse Stösselmaier gesagt, der verantwortlich ist für die Bewaffnung, da kann so ein Ding losgehen zur unrechten Zeit, beim Reinigen zum Beispiel am Küchentisch, und dann hast du deine Martha getroffen, ganz ohne es zu wollen, und wie stehst du dann da. Das hat mir Martha auch gesagt, habe ich dem Genossen Stösselmaier gesagt, Arno, hat sie gesagt, ich bin froh, daß du so was nicht mit dir rumtragen mußt, der Staat ist eines, aber ein Menschenleben ist ein anderes, und kein Staat auf Erden, auch unserer nicht, ist wert, daß man ein Leben dafür opfert. Und der Genosse Stösselmaier hat die Arme hinterm Kopf verschränkt und gegähnt, und dann hat er gesagt, was die Frauen nicht alles sagen, erstaunlich. Und jetzt ist auch der Genosse Stösselmaier nicht da, obwohl ich ganz gern ein Wort gehört hätte sogar von dem, die Stille legt sich wie ein Gewicht auf den Schädel, diese lautlose Stille, und sie macht, daß man so ein Flattern im Bauch kriegt und laut herausschreien möchte, Genossen! – aber die Genossen sind weg und haben den Genossen Bobrich alleingelassen im Nervenzentrum des Ganzen, der Zuverlässigsten einer, wie der Genosse Kuhnt gesagt hat.

Aber wenn dann die Stille auf einmal aufhört und es kommt ein Krach und ein Gepolter, oder ein plötzliches Geschrei, das ist dann fast noch schlimmer als die Stille vorher. Ich geh hinüber zum Zimmer des Genossen Tolkening, und wieder liegt sein Tisch voller Papiere, obwohl er doch sonst alles wegschließt bevor er auch nur für fünf Minuten weggeht, und dann geh ich bei Kallweit vorbei und bei Stösselmaier, und auch bei denen ist alles ein Durcheinander, nur bei mir nicht, das macht, weil ich ein ruhiges Wesen habe und einen Vorgang erledige, bevor ich mir den nächsten vornehme, auch in Zeiten, wo alles sonst drunter- und drübergeht und sogar ein Mann wie der Chef, vor dem alle richtiggehend gezittert haben, sich hat rechtfertigen müssen, obwohl er nur seine Pflicht getan hat. Und der Lärm kommt näher, und es ist wie viele hundert Stiefel, die alle gleichzeitig scharren und trappeln auf Treppen und Fluren, und das Geschrei und Geruf, »Hierher!« und »Nein, hier!« und »Nach rechts!« und »Hier hinauf!« und »Da um die Ecke!«, und es ist, als wären da einer oder mehrere, die wissen, wo sie hinwollen und die die andern anführen, nämlich mitten ins Nervenzentrum des Ganzen, und dann, mit einem Knall, birst die Tür zu meinem Zimmer auf, wo ich an meinem Tisch sitze, der tadellos aufgeräumt ist, Lineal und Stifte und Eingangs- und Ausgangskorb, alles an seinem Ort, und ich erhebe mich und zieh mir die Jacke zurecht und sage, laut, aber nicht überlaut, und deutlich, »Raus, allesamt!« Und zu dem Jungen, »Los, scher dich zu deiner Mutter!«

»Reg dich nicht auf, Alterchen«, sagt doch da eine zu mir, so eine Fahle, Strohige mit blaßblauen Augen und dünnem Munde, »wir sind das Volk«, und geht hinüber zu den Regalen und fängt an, die Ordner herauszuzerren, die mit den gelben Aufklebern zuerst und dann die mit den purpurfarbenen, und von A bis Atz, und Aub bis Bas, und so weiter, und all das streut sie über den Fußboden und die Bänke und die Fensterbretter, und es fällt alles auseinander und löst sich auf, und es ist ein Geflatter da und Gefetz, und die Leute treten darauf herum mit ihren schmierigen Sohlen, und ich fang an zu brüllen, »Halt! Halt!« und lauf herum wie ein Verrückter und bück mich und versuch aufzuheben und einzusammeln was immer ich greifen kann, und der Junge steht da und lacht und lacht, bis ich nicht mehr an mich halten kann und die Ordner, die ich unterm Arm trag, und die Papiere, die ich aufgesammelt hab, wieder fallen lasse und ihn bei seinem Anorak pack und ihn schüttle, daß sein strähniges Haar nur so hin- und herfliegt, und rufe, »Schlangengezücht! Schlangengezücht!« und dann weiß ich nicht mehr, was passiert ist mit mir, denn wie ich wieder zu mir gekommen bin, hab ich auf dem Fußboden gesessen in meinem Zimmer und die Tür stand sperrangelweit offen und um mich herum die zertretenen Ordner und die zerrissenen Papiere und die Farbflecken von den Aufklebern, gelb und grün und purpurfarben und orange, und draußen eine Stimme, »Keine Gewalt, bitte! Keine Gewalt!« und ich denke, die Stimme kennst du doch, und dann weiß ich, es ist die Stimme von dem Jungen, und ich spüre, wie es mich in der Kehle würgt, und im Innern von meinem Schädel hör ich die Worte des Genossen Kuhnt, Der Zuverlässigsten einer, aber wo waren sie alle, wie es hart auf hart gekommen ist und der Junge vor mir gestanden ist und gelacht hat und gelacht.

Und dann seh ich den Ordner mit der Bezeichnung Bat bis Bur auf orangenem Aufkleber, und der Ordner liegt da, mit der offenen Seite nach unten und jemand ist darübergelaufen, und der Ordner tut mir irgendwie leid, weil ja zwischen Bat und Bur Boh ist, Boh wie Bobrich, und obwohl meine Akte nicht in dem Ordner sein kann, denn die Mitarbeiter liegen anderswo, wo nur der Genosse Kuhnt Zutritt hat und nicht ich, greif ich mir den Ordner und öffne Boh wie Bobrich, und natürlich ist da kein Bobrich, Arno, aber Bobrich, Martha, und da kriege ich’s doch mit dem Schlucken in der Kehle, selbst nach so einem Tage, wo man glauben möchte, daß man alles schon erlebt hat und über nichts mehr sich aufregen kann: die Martha auch, die Martha haben sie observiert, die eigene Frau von ihrem eigenen Mitarbeiter, und mir kein Wort gesagt davon, aber sie durften ja auch nicht, Konspiration ist Konspiration, aber wen, möchte ich doch wissen, haben sie angesetzt auf Martha, und wer hat sie observiert und über sie berichtet, und wieso hab ich nichts bemerkt davon, der Zuverlässigsten einer, wie der Genosse Kuhnt immer sagt?

Und da steht es auch aufgeschrieben, alles schön der Reihe nach, Römisch I, wie du das in eins bringen kannst mit deiner unsterblichen Seele, steht da, und es wird dir kein Glück bringen, Arno, und daneben, unter Besondere Vermerke, Tolkening, also von Tolkening ist das gekommen. Und dann steht da, Römisch II, Subjekt hat Ehemann gegenüber erklärt, sie hätte ihre Zweifel und wollte wissen, wieso die Leute weggingen, es könnten doch nicht nur die paar Plünnen sein und die Bananen, und es müßte da doch noch andere Werte geben, und warum können wir es den Leuten nicht begreiflich machen, und unter Besondere Vermerke, Kallweit. Und unter Römisch III, Subjekt äußerte sich, sie wäre froh, daß ihr Mann nicht so was (Dienstwaffe) mit sich herumtragen muß, und der Staat wäre eines aber ein Menschenleben ein anderes, und kein Staat auf Erden wäre wert, daß man ein Leben dafür opferte, auch unserer nicht. Besondere Vermerke, Stösselmaier. Und zum Abschluß, gezeichnet, Kuhnt, Alfred: Trotzdem ist meines Erachtens der Genosse Bobrich, Arno, des Glaubens, daß wir des Glaubens sind, er wäre der Zuverlässigsten einer.

Und ich sitze da auf dem Fußboden, um mich herum das ganze Papier mit den gelben und grünen und purpurfarbenen und orangenen Aufklebern, und in der Hand den leeren Aktendeckel, und ich seh, daß das Papier voller Flecke ist, Schweißflecke, so sehr hab ich an den Händen geschwitzt, und ich weiß auf einmal, es sind gar nicht die Genossen Tolkening und Kallweit und Stösselmaier, die im Fall Bobrich, Martha observiert und berichtet haben, sondern ich, der Genosse Bobrich, Arno, der Zuverlässigsten einer, und dann hör ich jemanden lachen auf diese Art, die mir quer durch die Brust schneidet, und ich merke, der Lacher bin ich ebenfalls selber, denn der Junge, der vor mir steht, lacht nicht, sondern er beugt sich hinab zu mir und legt mir seine Hand auf die Schulter, ganz leicht und so, als wollte er mich schonen, und sagt, »Komm, Vater, wir können jetzt gehen.«

Außenstelle

Der Bunker ist, obwohl sorgfältig eingezäunt mit Maschendraht, kein auffälliges Bauwerk; allerlei Gesträuch umgibt ihn, und welke Äste, totes Laub und Haufen von braunen Kiefernnadeln liegen dicht an dicht in seiner Nähe und bedecken ihn zu etwa zwei Dritteln; die Leute, die in der Gegend wohnen, wissen nichts darüber zu sagen, wann er gebaut wurde und ob er nicht etwa noch aus den Tagen des Krieges stamme, wogegen der erwähnte Zaun mit der schmalen Tür darin spräche, und ob noch überhaupt einer kommt, der den Schlüssel zu dem verrosteten Hängeschloß bei sich hat und vielleicht sogar den schweren, zementverkleideten Deckel der Einsteigeöffnung dicht über der Erde gelegentlich anhebt, um drinnen nach dem Rechten zu sehen. Spuren eines solchen Pförtners oder Wachmanns sind aber nirgends zu finden; das Erdreich im unmittelbaren Umkreis des Bunkers mit allem, was darauf liegt an halb Verfaultem, scheint unberührt.

Man gehe vom Bahnhof aus etwa Südsüdwest quer durch den Wald, einen wenig gepflegten Mischwald, der dieser Landschaft eigentümlich, in Richtung Charlottenhof und Seeufer; plötzlich wird zwischen zwei auseinanderstrebenden weiß leuchtenden Birkenstämmen der Bunker auftauchen, nur um sofort wieder zwischen den verschiedenen Schattierungen von Grün zu verschwinden: wer beachtet so etwas. Mir fiel der graue Klotz erst auf, als ich neulich daherkam und, auf dem Weg zu diesem Bunker, so schien es mir, einen Mann mittleren Wuchses sah, gekleidet in einen lodenartigen Stoff, über der verschwitzten roten Stirn eine Art Förstermütze: dieser zog einen zweirädrigen, gummibereiften Karren hinter sich her, an dessen stählerner Deichsel sich eine Kupplung befand, wie sie etwa zu einem Trabant passen mochte. Er bemerkte mich, blieb stehen, zündete sich eine Pfeife an und wartete, bis ich ihn passiert haben würde. Aber auch ich hielt an, grüßte ihn, »Wohin bei dem schönen Wetter?«, zugleich einen Blick in den offenen Ladeteil des Karrens werfend; der war leer; irgend etwas sollte also abgeholt werden, aus dem Bunker wahrscheinlich.

Da der mutmaßliche Förster mit der Antwort zögerte, sagte ich zu ihm, der Teufel muß mich geritten haben, »Es gibt eine Menge Leute, die sich für das Ding da interessieren.«

»Wieso das?« sagt er mit allen Anzeichen von Bestürzung.

Jetzt konnte ich nun nicht mehr zurück, ohne mich zu blamieren. »Erst vorgestern waren welche da«, lüge ich. »Zwei Männer und eine Frau. Vom Bürgerkomitee, würde ich meinen. Die schnüffeln ja überall herum neuerdings. Das kommt mit der Demokratie.«

Er blickt mich an, zweifelnd zunächst, doch bald auch erleichtert; er wittert wohl einen Sympathisanten in mir. »Ja, ja«, sagt er, »die Verhältnisse haben sich geändert. Aber es gibt noch Menschen, die wissen, was not tut.«

»Da«, sage ich, »denken wir ähnlich.«

Doch sein Vertrauen geht nicht soweit, daß er mir auch nur andeutungsweise mitteilt, was er hier will; er saugt an seiner Pfeife und rückt nicht von der Stelle mit seinem Karren, denn rührte er sich, so würde sein Vorhaben sich ja offenbaren; nur sein sauber getrimmtes Schnurrbärtchen verzieht sich ein wenig, als wollte er mir sagen, Zeit habe er gleich viel wie ich, und nach einer kleinen Weile wird mir das Spiel zu dumm, ich hebe grüßend zwei Finger und entferne mich.

Ein paar Tage später kam ich, purer Zufall, noch einmal desselben Weges, und da war er wieder; aber diesmal steht der Karren vor der Tür in dem Drahtzaun, und diese ist geöffnet, und mein Mann, der anscheinend soeben den Zementblock vor der Einsteigeöffnung beiseite geschoben hat und sich die Stirn wischt, zuckt zusammen, als er mich sieht.

»Da sind Sie ja wieder!« rufe ich erfreut. Ich freute mich wirklich: Meine erste Begegnung mit ihm hatte mich doch betroffen gemacht; nun ließ sich die Sache klären. Und ich frage ihn, betont freundlich: »Was machen Sie eigentlich hier?«

Nun hätte er mich anraunzen können, was mich das anginge. Aber so sicher war er seiner denn doch nicht. »Ich muß da etwas prüfen«, sagt er.

»Was befindet sich denn dort unten?« erkundige ich mich.

Er besinnt sich: wer ist er, und wer bin ich. »Ich bin hier dienstlich«, sagt er endlich, »und ich habe Ihnen schon zuviel gesagt.«

»Welche Dienststelle?« bohre ich weiter.

Er bleibt stumm. Sein Gesicht trägt jetzt einen gehetzten Ausdruck. Dann entscheidet er offenbar, daß Geheimnistuerei seinerseits, oder gar Schweigen, meinen Verdacht nur vergrößern würden, und sagt mürrisch, »Post.«

»Post?«, sage ich, »und seit wann sitzt die Post in Bunkern? Im übrigen sehen Sie gar nicht aus wie einer von der Post.« Und da er immer noch stumm bleibt, mit einem verbockten Zug unter dem Schnurrbärtchen, »Sie haben doch einen Dienstausweis, oder?«

Seine Hand hebt sich, Gewohnheitsbewegung, zur Brusttasche. Aber dann zieht er sie hastig zurück.

»Von welcher Behörde ist der Ausweis nun wirklich?« frage ich. »Von der kürzlich aufgelösten?«

Warum sagt er mir nicht, scheren Sie sich zum Teufel? Folglich hat er Angst: die Behörde, für die er gearbeitet hat, besitzt die Macht nicht mehr, die sie einst hatte; er muß lavieren.

»Ich bin nämlich«, sage ich, und das ist jetzt die Wahrheit, »im örtlichen Bürgerkomitee, und wir interessieren uns.«

»Für was?«

»Für alles«, sage ich.

Dabei ist mir nicht ganz wohl. Wieviel Autorität hat so ein Bürgerkomitee; wer hat die Mitglieder, sämtlich politische Dilettanten, gewählt und ernannt. Und natürlich sitzt in mir noch der alte Instinkt: nur denen nicht auffallen, sie können dir die größten Schwierigkeiten machen im Betrieb, und nicht nur im Betrieb, und du willst doch, daß dein Junge studiert. Aber Anfang November des Vorjahrs, auf dem Alexanderplatz zu Berlin, ist, wie der alte Hegel es ausdrückte und wie es uns beigebracht wurde in den alljährlichen Lehrgängen, Quantität umgesprungen in eine neue Qualität, deutlich erkennbar, und der Forstmensch weiß es ebensogut wie ich. Und so blicke ich ihm bedeutungsvoll ins Auge und wiederhole, »Wir interessieren uns für alles.«

Er zuckt die Achseln. Er sieht angeschlagen aus auf einmal.

»Also was ist nun da unten?« frage ich zum zweiten Mal.

»Eine Anlage.«

»Elektronisch?«

»Teils.«

»Kabel?«

»Auch.«

»Die wohin führen?«

»Mehrerenorts.«

»Zum Beispiel?«

»Das darf ich wirklich nicht sagen«, weigert er sich, zieht aber sofort den Kopf ein, da ich Atem hole, als wollte ich ihn anbrüllen. »Und außerdem«, fügt er hinzu, »ist das alles längst stillgelegt.«

»Und warum sind Sie dann hier?«

Er sucht nach einer plausiblen Antwort. Schließlich zeige ich Zeichen von Ungeduld. »Soll ich«, so frage ich, »mit Ihnen hinunterkriechen?« und bete zu Gott, daß ich’s nicht tun muß, ich habe meinen neuen hellen Mantel an und noch dazu fürchte ich mich: ein rascher Messerstich, unter der Erde, und bis mich dann einer findet …

»Es führen da Kabel zum Zentrum.«

»Und weiter wohin?«

»Nach Plockau.«

In Plockau, das weiß hier jedermann, haben sie eine große Zweigstelle. »Und?«

»Zu unsrer Außenstelle.«

»An der Uferstraße? Der weißen Villa?«

Das Kinn klappt ihm herunter.

»Von dort aus«, sage ich lächelnd, »bin ich überwacht worden. Ein blauer Lada und ein weißer Wartburg.«

»Dann sind wir ja Freunde«, sagt er.

Die weiße Villa, ein Jugendstilbau mit schön geschwungenen Erkern und Fensterbögen, gehörte bis etwa 1936 einem Herrn Leopold, der im Textilgeschäft tätig war und, wie die älteren Anwohner zu berichten wissen, nach Australien emigrierte. Dann zog ein höherer Parteigenosse dort ein, man munkelte etwas von Geheimdienst; er hatte eine etwas üppige Frau, die in großer Eile zusammen mit ihm entschwand, als die Russen sich der Stadt näherten; sie soll, so erzählen wiederum die älteren Anwohner, ihnen jedoch auf dem Treck nach Westen in die Hände gefallen sein. Die Villa wurde von den Sowjets beschlagnahmt, und mehrere Offiziersfamilien hausten sukzessive darin, bis im Verlauf der Umgruppierungen diese Einheit der Roten Armee anderswohin verlegt wurde und eine Unterabteilung einer Behörde der neugegründeten Deutschen Demokratischen Republik in den immer noch stattlichen, wenn auch ziemlich verschandelten Räumen Obdach fand. Wer oder was diese Behörde war, blieb der örtlichen Bevölkerung nicht verborgen; nicht gerade daß die Leute einen Schritt zulegten, wenn sie an dem prächtigen, leider lange schon angerosteten schmiedeeisernen Gartenzaun vorbeigingen; wer aber genauer hinsah, bemerkte doch, wie die Köpfe sich duckten.

Nach den vom Volke mit einem Schuß Ironie als Wende bezeichneten Ereignissen des Oktober und November erwartete man eigentlich, daß die weiße Villa zur allgemeinen Benutzung freigegeben werden würde; man sprach von der Einrichtung eines Caféhauses mit Sommergarten, da das Grundstück ans Seeufer grenzte, von anderen zivilen Plänen und Projekten; aber die Stadtbezirksoberen, die wie eh und je selbständige Entscheidungen scheuten, stellten sich taub. Da aber nun von Anwohnern festgestellt wurde, daß neuerdings des Nachts sich hinter den Gardinen ein geheimnisvolles Leben entwickelte und in den frühen Morgenstunden dunkle Gestalten ganze Kleinlastwagen, die vorm Hause vorfuhren, mit vernagelten Kisten und mit Geräten verschiedenster Art beluden, wurde Verdacht geschöpft; der revolutionäre Eifer wogte auf und, am Ende einer Sitzung des Bürgerkomitees, als alle bereits müde waren des Debattierens und zum Schluß kommen wollten, schlug eine schon ältere Bürgerin, Frau Schulz-Lattich, den Mitgliedern vor, einen Ausschuß zu bilden, bestehend aus drei oder vier beherzten Personen, die Eintritt in die weiße Villa verlangen sollten und erkunden, was hinter ihren Mauern vorgehe; danach werde das Komitee beschließen, was zu tun sei, um das Besitztum öffentlich einzuklagen.