Lassalle - Stefan Heym - E-Book

Lassalle E-Book

Stefan Heym

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Beschreibung

»Ein brillant geschriebenes Porträt.« Washington Post

Wer war Ferdinand Lassalle? Der jüdische Kaufmannsohn Lassel aus Breslau hatte Rechtswissenschaften studiert und später unter dem Namen Lassalle als Politiker, brillanter Redner und Organisator der jungen Arbeiterbewegung von sich reden gemacht. Aber man kannte ihn auch als charmanten Plauderer auf Empfängen und Bällen der feinen Gesellschaft. Seine Frauengeschichten füllten die Klatschspalten der Zeitungen und nährten die Salongespräche. Stefan Heyms biographischem Roman schildert ein Jahr im Leben Lassalles, das Jahr vor seinem Tod. In Rückblenden und Reflexionen, in der Auseinandersetzung mit seiner Welt kommen Lassalles Stärken zum Vorschein – und seine Grenzen.

Stefan Heyms faszinierende Romanbiografie über den Gründungsvater der SPD, auf Deutsch 1968 erstmals bei Bechtle, München und Esslingen, erschienen, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

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Zum Buch:

Wer war Ferdinand Lassalle? Der jüdische Kaufmannsohn Lassel aus Breslau hatte Rechtswissenschaften studiert und später unter dem Namen Lassalle als Politiker, brillanter Redner und Organisator der jungen Arbeiterbewegung von sich reden gemacht. Aber man kannte ihn auch als charmanten Plauderer auf Empfängen und Bällen der feinen Gesellschaft. Seine Frauengeschichten füllten die Klatschspalten der Zeitungen und nährten die Salongespräche. Stefan Heyms biographischem Roman schildert ein Jahr im Leben Lassalles, das Jahr vor seinem Tod. In Rückblenden und Reflexionen, in der Auseinandersetzung mit seiner Welt kommen Lassalles Stärken zum Vorschein – und seine Grenzen.

Stefan Heyms faszinierende Romanbiografie über den Gründungsvater der SPD, auf Deutsch 1968 erstmals bei Bechtle, München und Esslingen, erschienen, nun Teil der digitalen Werkausgabe.

»(...) weit mehr als ein historischer Roman. Es dürfte kaum einen Leser geben, der nicht von der widerspruchsvollen und doch so genialen Persönlichkeit Lassalles gefesselt würde.« Neue Zürcher Zeitung

»Ein brillant geschriebenes Porträt.« Washington Post

Zum Autor:

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Stefan Heym

Lassalle

Roman

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Titel der Originalausgabe: Uncertain Friend

Zweite vom Autor besorgte Fassung, erschienen erstmals 1968 beim Bechtle Verlag, München und Esslingen

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © 1968 für Original und Übersetzung by Inge Heym

Copyright © 2005 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München nach einem Entwurf von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Abd Aibling

ISBN978-3-641-27837-3V002

www.cbertelsmann.de

Sickingen:

… Der Plan war gut, alles genau berechnet …

Balthasar:

… so war’s Euch besser, Ihr

Erlaubt Euch offen gegen Kaiser Karl,

Schriebt Umformung der Kirche und des Reichs

Mit großen Zügen lesbar auf Eu’r Banner,

Ja besser selbst, Ihr rieft kraft solcher Titel

Und solchen Rechts Euch kühn zum Kaiser aus, …

Als dies Versteckens mit dem Freund zu spielen …

– Genau berechnet, sagt Ihr! Ja, das eben,

Das eben ist’s! Durch Eure Klugheit stürzt Ihr …

Oh, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht

Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten,

In großen Dingen schlau zu sein. Verkleidung

Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht …

Ferdinand Lassalle

Franz von Sickingen

V. Akt, 2. Szene

Erstes Kapitel

Sie liebte Grandmaman.

Grandmaman lag in ihrem Bett, riesige Kissen unter dem Kopf; die Nase, scharf wie ein Schnabel, schimmerte gelblich im Lampenlicht. Grandmaman hatte sie hierhergebracht aus Nizza, aus dem Wirbel der Bälle, Empfänge, Regatten, Blumenkorsos mitten in das steife, enge, winterliche Berlin. Bei euch wird ihr noch völlig der Kopf verdreht, hatte sie zu Papa gesagt; Zeit, daß das Mädchen in feste Hände kommt. Und Papa, stets froh, wenn man ihm Verantwortung abnahm, hatte zugestimmt.

»Hélène«, sagte Grandmaman, »komm her.«

Helen trat gehorsam ans Bett. Sie spürte den prüfenden durchdringenden Blick; Grandmaman, eine gebürtige Wolff, hatte wiederum einen Wolff, einen entfernten Cousin, geheiratet; die Wolffs betrachteten die Welt und die Menschen mit nüchternen Augen, die stets sofort den eignen Vorteil erkannten. Sonderbar, dachte Helen, daß mein Blut zur Hälfte ihres sein soll. Ich sehe nicht aus wie sie. Ich ähnle ganz Papa.

»Raff das hoch.« Grandmaman wies auf eine Spitzenrüsche. »Man erkennt auch so genug von deinem Busen.«

Helen tat ihr den Gefallen. Grandmaman vergaß gerne, daß die junge Dame, deren Tugend sie da bewachte, schon mit dreizehn Jahren einem vierzigjährigen sardinischen General anverlobt gewesen war. Der General hatte sich in eine Miniatur von ihr verliebt. Auf den behaarten säbelbeinigen Kriegshelden war bald ein in Villafranca stationierter russischer Seeoffizier gefolgt; und auf diesen ihr jetziger Verehrer, ihr walachischer Mohr, ihr Yanko von Racowitza.

Grandmaman lachte in sich hinein. »Schöne Unruhe wirst du da stiften.« Ein Wink mit dem Finger. »Küß mich.«

Helen drückte einen Kuß auf die dünnen, trockenen Lippen, die über dem Zahnfleisch nach innen fielen; Grandmaman nahm zur Nacht ihr Gebiß heraus. »Bleib nicht auf meinetwegen«, bat Helen.

»Du weißt, daß ich nicht einschlafe, bis du zu Haus bist. Spätestens um Mitternacht kommst du zurück!«

»Grandmaman« – Helen wandte sich von ihr, daß die Röcke wirbelten – »ich bin großjährig.«

Grandmaman rief: »Ein Narr bist du. Dein Herz wirst du dir noch brechen – und den Hals dazu.«

Schwer atmend lehnte sie sich in die Kissen. Mitunter war ihr, als hätte sie zuviel auf sich genommen; aber dann wieder hoffte sie, daß die Vernunft, die das Mädchen von der Wolffschen Seite der Familie ererbt haben mußte, die allerschlimmsten Torheiten verhüten würde.

Alles war in Bewegung geraten.

Der irre König, unter dem die Zeit stillgestanden hatte, war tot, und sein Bruder, der Prinzregent, trug nun die Krone. Eine neue Ära, hieß es. König Wilhelms Gedanken mochten nicht weiter reichen als die eines fähigen Kompaniefeldwebels, aber er war wenigstens geistig normal. Die Industrie, die das Herzgebiet Preußens erst so spät erreicht hatte, erwartete eine Blütezeit, und der solide Geschäftsmann reckte die Schultern und begann, von Freiheit zu reden.

Äußerlich hatte sich wenig geändert – bis man durchs Oranienburger Tor nach Norden gelangte, in die Vorstädte. Dort wuchsen die neuen Werkstätten und Maschinenfabriken aus den kahlen Feldern, und der Rauch und Ruß ihrer Schornsteine verpestete die Luft; dort, inmitten fahler, überarbeiteter Männer und Frauen, gingen die Agitatoren um und säten Mißtrauen, Aufsässigkeit und Aufruhr – der übelste unter ihnen der elegante Dr. Lassalle. Im eigentlichen Berlin jedoch lagen die Straßen still wie immer; die neuen Gaslaternen warfen grellweiße Lichtkreise auf den kehrichtbedeckten Schnee und auf die müden Gäule, die gelegentlich eine Mietsdroschke vorbeizogen.

Im Hause Bonseri fand eine jener Soireen statt, wo Aristokraten und Künstler, Staatsbeamte und Journalisten, Militärs und Großkaufleute zwanglos zusammentrafen und wo von gewöhnlicher Kuppelei bis zur hohen Politik einige der gewagtesten Geschäfte der preußischen Hauptstadt geplant und abgeschlossen wurden.

Geheimrat Bonseri hielt sich bei den Spieltischen auf; allgemein glaubte man, daß er an solchen Abenden zwei- oder dreimal soviel gewann, wie ihn Speisen, Wein und Bedienung kosteten. Madame Bonseri, ein ältlicher Schmetterling, flatterte von Gruppe zu Gruppe, sorgte sich um die Wünsche ihrer Gäste, hielt Feinde getrennt und brachte die Konversation in Gang, wo sie steckenzubleiben drohte. Ein Streichtrio, welches der berühmte Dirigent Hans von Bülow freundlicherweise beschafft hatte, spielte diskrete Weisen; später würden, besonders für die jüngeren Gäste, die Walzer und Mazurken, die Lanciers und die Schottischen folgen.

Helen kannte die Wirkung ihres Auftritts: die Blicke der Männer, das Stocken der Unterhaltung. »Ma chère M’selle Dönniges!« zwitscherte Madame Bonseri. »Darf ich Ihnen vorstellen« – Namen, Titel, Gesichter; goldne Tressen, schwarze Krawatten, weiße Spitzen; Hacken schlugen zusammen, Lippen berührten ihre Finger – unter dem leisen Gezisch der Gaskandelaber verschmolz das zu einer Art Glanz. Natürlich war es nicht Nizza oder Turin; ein paar der Herren erschienen ihr wie mit Sägemehl ausgestopft; auch ihr selbst fehlte der Glorienschein, den sie im Gefolge des Königlich Bayrischen Gesandten am Turiner Hofe und als dessen Tochter besessen hatte. Alles war mehr hausbacken hier; sogar die Dichter und Maler standen auf einer Gehaltsliste und sahen wie Handwerksmeister aus.

Sie war sofort von bewundernden jüngeren Herren umringt. Wann war sie nach Berlin gekommen, was hatte sie für Pläne, was hielt sie von Ausflügen im Pferdeschlitten, und war ihr Meyerbeer nicht lieber als Wagner? Sie antwortete ruhig und überlegen: Sie war nicht zu ihrem Vergnügen in Berlin. Sie hörte Kollegs an der Königlichen Universität, soweit Damen zugelassen waren. Sie studierte Malen und Bildhauerei. Ja, sie ging auch zu Konzerten. Das Theater besuchte sie leidenschaftlich – oh, da drüben war ja Madame Formes, war sie nicht herrlich gewesen als Lady Macbeth? – ich muß unbedingt mit ihr sprechen, Sie entschuldigen mich bitte …

Augusta Formes saß dahingegossen auf einem Kanapee, neben ihr, weltmüde, Hans von Bülows exzentrische Gattin Cosima. Cosimas Fächer klappte zusammen, wies in bestimmte Richtung. »Und wer wäre das?«

Darauf Helens überschwengliches: »Augusta!«

»Ach, Helen.« Außerhalb der Bühne gab sich Augusta Formes untheatralisch und trug die frühen Fältchen mit scheinbarer Gleichgültigkeit. »Cosima«, stellte sie vor, »hier haben wir Helen von Dönniges.«

Cosima betrachtete Helen und dachte an das eigne unschöne, viel zu lange Gesicht und die Spuren, die die Leidenschaft darauf zu hinterlassen begann. Widerwillig rückte sie zur Seite. »Sie sind auch Schauspielerin?«

»Ich wünschte, ich wäre.« Helen lächelte süß. Cosima von Bülow, flüsterte man sich zu, hatte sich bereits durch die halbe deutsche Musikwelt hindurchgeliebt und würde nicht ruhen, bis sie auch die andere Hälfte beglückte.

»Ein kluges Mädchen, unsre Helen.« Augusta Formes betonte klug. »Und sie wird es noch weit bringen, mit dem rechten Mann zur Seite …«

»Wie liebenswürdig Sie sind, Augusta.« Helen erwog jedes Wort. »Vielleicht habe ich ein bißchen zu leichtsinnig gelebt bisher.«

»So hübsch und so einsichtig« – Cosima berührte ihr Kinn mit der Spitze ihres Fächers – »und mit einer solchen Figur!«

Ein Dragoneroffizier kam vorbei.

»Ah, Korff!« Die Formes winkte ihn heran. »Rittmeister Korff!«

Der Rittmeister, schwarzes Schnurrbärtchen, schwarzes, sorgfältig frisiertes Haar, hochmütige, etwas verderbte Augen, wandte sich ihr zu.

»Korff«, sagte die Schauspielerin, »Sie müssen dies Wunderwesen kennenlernen, das da unter uns gefallen ist. Baron von Korff – Fräulein von Dönniges. Korff hat eine Tochter von Meyerbeer geheiratet; die Judenmädchen haben einen zivilisierenden Einfluß auf die preußische Armee, meinen Sie nicht auch, Baron?«

»Die Liebe«, der Rittmeister verbeugte sich leicht, »setzt sich über alle religiösen Grenzen hinweg. In meinem Fall hab’ ich dadurch eine charmante Gattin – heute leider indisponiert – gewonnen sowie die Erfahrung, daß es in der Musik nicht nur die Töne gibt, die mein Schwadronstrompeter bläst.« Wie auf Stichwort begann das Trio mit einem Walzer. Korff stand da, als zählte er den Takt.

»Dieser stammt nicht von Ihrem Schwiegervater«, bemerkte Cosima.

Korffs Schnurrbartenden stiegen in die Höhe; er grinste. »Aber tanzen läßt er sich. Mademoiselle von Dönniges – wenn Sie möchten …?«

Er war kein schlechter Tänzer. Helen schloß die Augen; seine Orden klirrten leise, seine Sporen lauter. Jemand sagte: »Immer der Korff – greift sich das Beste –, wer ist sie eigentlich …?« Dann entfernte sich die Stimme.

»Mademoiselle –«

Sie sah zu ihm auf mit großen Augen – ein Blick, den manche Leute für einstudiert hielten.

»Mademoiselle, etwas höchst Unsinniges kam mir in den Kopf, als ich Sie da sitzen sah, eine Knospe zwischen zwei – sagen wir – voll erblühten Rosen: so taufrisch, so – wie soll ich’s ausdrücken …?«

Ein Antrag, dachte Helen. Bis nach dem Champagner wenigstens hätte er warten können.

»… so außergewöhnlich. Welch teuflisch vollkommene Kombination von Seele und Geist und Leib, sagte ich mir …« Er hörte auf zu tanzen, führte sie zur Seite. »Hier läßt sich nicht sprechen. Im blauen Salon wird es nicht so voll sein.«

Wieder hielt sie ihn mit ihrem Blick. »Ich glaube wirklich nicht, Herr Baron …«

Seine Hand auf ihrem Ellbogen. Sie war doch ein wenig neugierig. Er sah eindrucksvoll genug aus, gereift; ein Mann jedenfalls; keiner von den Jünglingen, die sie bestaunt und begafft hatten. Gesichter glitten vorbei; Madame Bonseri, besorgte Miene.

Im blauen Salon bot ein livrierter Diener Wein an. Korff hob sein Glas: »Und als ich Sie so sah, Mademoiselle, sagte ich mir – Korff, sagte ich, das ist nichts für dich.«

Die Wendung war überraschend. Helen ließ ihr Glas sinken. Oder war es eine neuartige Annäherungsmethode, spécialité du M. le Baron Korff? »Herr Baron, wenn Sie Ihr Geständnis beendet haben …«

Er ließ sie nicht aussprechen. »Schöne Helen«, sagte er, »kennen Sie Lassalle?«

Wer kannte Lassalle nicht?

Berlin war das Zentrum alles preußischen Klatsches; Helen wußte also längst von einer Vielzahl von Damen, die Eheszenen, gesellschaftliche Unannehmlichkeiten, auch persönliches Leid um heimlicher Freuden mit dem großen Volksredner willen auf sich nahmen oder genommen hatten. Agnes Street, née Klindworth, Tochter eines der berüchtigtsten Geheimagenten Europas und selbst mehrmals als Agentin tätig, die Lassalle aus Franz Liszts Bett in seines gelockt hatte; Ludmilla Assing, Nichte des bekannten Schriftstellers Varnhagen; Lina Duncker, Frau seines eignen Verlegers, Förderers und Freundes; Hedwig Dohm und Fanny Lehwald, beide aus besten Kreisen, gebildet, intelligent, die er mit seinen unberechenbaren Launen quälte; es hieß sogar, daß eine echte russische Fürstin, Tochter eines Gouverneurs einer ganzen Provinz, ihn in Aachen beinahe geheiratet hätte, wo er zur Kur weilte gegen die ihn periodisch heimsuchenden Schmerzen. Dazu kamen Liebschaften mit anonymen Näherinnen, Fabrikarbeiterinnen, Ladenmädchen aus den Armenvierteln.

Und in Permanenz die alternde Gräfin Hatzfeldt! … Helen rümpfte die Nase. Papa, zu der Zeit als junger Geschichtsdozent an der Universität Berlin, hatte die Affäre Hatzfeldt von den Anfängen an verfolgt. Selbst heute, so viele Jahre später, räumte er ein, daß Lassalle bei der Übernahme der Verteidigung Sophie Hatzfeldts aus untadeligen Motiven gehandelt haben mochte. Aber man betrachte ihn jetzt: wie er sich von der alten Frau aushalten und sich nicht nur für geleistete Anwaltshilfe zahlen ließ, sondern für Leistungen anderer Art, die man am besten nicht näher beschrieb. Es gab da eine Karikatur, die Helen im Gedächtnis geblieben war – darauf die Gräfin, überlang und grobknochig, mit deutlichem Bartanflug auf der Oberlippe und einer Zigarre zwischen den Zähnen; ihr zur Rechten Graf Paul, ihr Lieblingssohn, spinnenbeinig und grinsend; und auf der anderen Seite ein dunkelhäutiges Wesen mit Hakennase und hervorstehenden Hauern, einen Zylinderhut schief auf dem Hinterkopf. Diese Schreckgestalt trug die Bezeichnung Lassalle …

»Schönste Helen«, erklärte Korff, »als Ihr unwürdiger Bewunderer lassen Sie mich Ihnen sagen: Sie sind die erste Frau, der ich je begegnet bin, die ich mir als Madame Lassalle vorstellen könnte.«

Ihre vollen, feuchtglänzenden Lippen verzogen sich. »Werden Sie da nicht beleidigend, Herr Rittmeister?«

»Aber M’selle Hélène …« Einen Moment lang blieben seine Augen ohne Ausdruck. »Dann kennen Sie ihn nicht.«

»Ich weiß genug von ihm.«

»Kennten Sie ihn wirklich, Helen, dann würden Sie wissen, was für ein großartiges Paar Sie beide abgäben.« Korffs Selbstsicherheit schwand. Einmal alle Jubeljahre handelt man altruistisch, dachte er, und das hat man davon. »Er wird verleumdet, M’selle, dauernd. Daß er die Kassette der Baronesse Meyendorf gestohlen hätte; daß er ständig nur mit knapper Mühe dem Staatsanwalt entgeht; daß er die Monarchie und überhaupt alle öffentliche Ordnung abschaffen will – aber wenn Sie ihn nur ein einziges Mal sprechen hörten, würden auch Sie erkennen, daß er einer der edelsten Geister in Deutschland ist, und auch Sie würden ihm einen Lorbeerkranz auf die Stirn drücken, wie ich es kürzlich tat nach seinem Plädoyer im Berliner Kriminalgericht.«

Sie stellte sich den hakennasigen Gnom aus der Karikatur vor, einen Lorbeerkranz auf dem Kopf, zusätzlich zu seinem Zylinderhut. Wenn das der edelste Geist in Deutschland war, dann hatte der liebe Gott, der Schöpfer aller Dinge, diesen in einen recht absonderlichen Leib fahren lassen. »Ich befürchte, Baron Korff«, sagte sie, »Sie bemühen sich umsonst. Führen Sie mich lieber zu meinen Freundinnen zurück …«

Korff gehorchte. »Mademoiselle von Dönniges«, sagte er den Damen lächelnd, »will leider nicht an meine Prophezeiungen glauben.«

Und entfernte sich.

»Prophezeiungen!« spöttelte La Formes. Und zu Helen: »Das heißt, Sie haben Korff abblitzen lassen.«

»Nein – Lassalle.«

»Lassalle?« Cosima von Bülow hielt die vorbeiflatternde Madame Bonseri an. »Ist denn Lassalle hier, Chérie, und warum haben Sie uns nichts gesagt?«

»Hier? – Nein.« Madame Bonseris Gesicht schrumpfte wie ein alter Apfel. »Eingeladen ist er, aber –! Arbeit, behauptet er. Vielleicht würde er kommen, aber erst spät … Wieso wollen Sie wissen, Chérie? Haben Sie einen Anschlag auf ihn vor?«

Cosima richtete sich auf. Ihr langer Hals war das Schönste an ihr. »Doch wohl kaum!«

Helen berichtete von Korffs verschrobenem Einfall. Jetzt, im Rückblick, erschien der Affront geringer; es ließ sich darüber lachen. Doch die drei Damen schienen den Gedanken interessant zu finden. Cosima besprach die verschiedenen Möglichkeiten, erwog einerseits den Charme von Helens Jugend, andrerseits den Anflug von Dekadenz, den Lassalle offensichtlich bei Frauen schätzte. Und konnte Lassalle, der sich zwanzig Jahre lang nicht an die Kette legen ließ, von jemandem wie Helen gebändigt und zum Altar geführt werden?

»Altar?« bezweifelte Madame Bonseri. »Benutzt man bei denen nicht eine Art Baldachin? Das glückliche Paar unter einem Himmel aus Tuchwaren – sehr hübsch, sehr symbolisch. Aber davon müssen Sie ja mehr verstehen, Hélène, Chérie. Ist Ihre liebe Mutter nicht auch eine von denen?«

»Man kann sich die Szene vor der Synagoge ausmalen«, sagte Cosima maliziös, »die Prozession der trauernden Witwen, an der Spitze die Gräfin, und dann das Wehklagen, während die Braut ihr Jawort haucht. Es würde ein größeres Spektakel werden als die Thronbesteigung unsres Wilhelm, Gott segne sein königliches Haupt und bewahre es vor geistiger Umnachtung.«

Die Formes lachte. »Lassalle heiratet nie. Er sieht sich beständig kurz vor irgendeinem Martyrium und sagt, er möchte vermeiden, daß die geliebte Frau es mit ihm teilen muß – eine edle Ausrede. Trotzdem wird er sich auf Sie stürzen, Helen; Sie sind sein Typ. Es käme auf Ihr Verhalten ihm gegenüber an.«

»Ich bin ihm noch nicht einmal begegnet«, widersprach Helen. »Und schon wollen Sie mich verkuppeln.«

»Na, na«, warnte die Schauspielerin. »Gestehen Sie doch zu, daß Sie interessiert sind. Lassalle ist einer der faszinierendsten Männer unserer Zeit; und er weiß, was eine Frau sich wünscht – in jeder Beziehung.«

»Augusta!« Madame Bonseri verbarg das Gesicht hinter ihrem Fächer, und Cosima von Bülow erkundigte sich: »Sie sprechen aus Erfahrung, Verehrte?«

»Das nicht«, entgegnete die Formes, »aber ich kenne diese Art Mann, und Lina Duncker hat sich lange genug bei mir ausgeweint, nachdem er sie fallenließ, weil es, behauptete er, Zeit für ihn war, mit der Bourgeoisie zu brechen, und wie konnte er mit der Bourgeoisie brechen, ohne mit Duncker zu brechen, und wer würde es ihm glauben, solange er sich jeden Montag- und Donnerstagnachmittag mit Lina traf? Und jetzt werden wir ein wenig soupieren.«

Madame Bonseri stieß kurze, vogelartige Laute aus und ging voran zur Tafel.

Kurz vor Mitternacht wurde das Eis endlich serviert. Helen gedachte Grandmamans, die sicher noch wach saß im Bett und nervös den neuesten Roman durchblätterte.

Warum nicht wirklich nach Hause gehen? Sie hatte ein wenig gespielt und mehr verloren, als Grandmaman ihr ersetzen würde; sie hatte getanzt, dabei aber Korff gemieden und ihre andren Partner reizlos gefunden; und weitere Gespräche mit Cosima oder der Formes schienen wenig verlockend. Sie schob den Silberbecher mit den Eisresten, die sich in gelbe Sauce verwandelt hatten, zur Seite und wanderte ziellos durch mehrere ineinanderführende Räume; die Leute lächelten ihr zu, sie lächelte zurück; schließlich kam sie zu einer schmalen, mit Goldleisten verzierten Tür, die ihrem Druck nachgab. Ein Arbeitszimmer, sicher Geheimrat Bonseris: Schreibtisch, Bücher, Papiere; Bücherregale, die eine Art Nische bildeten. Hier war wohl der Lieblingsplatz des Geheimrats; ein abgenutzter Ledersessel stand da, eine Leselampe. Sie nahm ein Buch zur Hand, ließ sich in den Sessel sinken und fragte sich plötzlich, ob sie etwa auf Lassalle warte, sogar hoffe, er käme, und schlug sich den Gedanken aus dem Kopf.

Als dann auf einmal Stimmen laut wurden im Zimmer, war es zu spät, sich bemerkbar zu machen. Die eine, unbekümmerte Stimme war die Korffs; in Korffs Gesellschaft, wie sie aus ihrer Nische heraus feststellen konnte, befanden sich zwei Herren; der eine untersetzt, olivfarben, glatzköpfig, hatte die dicke Nase, die dicken Lippen, die dicke Brille der Karikatur; der andere war etwa so groß wie sie selbst, eher etwas größer, und trug sich in Haltung und Gesichtsausdruck wie ein römischer Cäsar.

Der Cäsar ließ sich mit wohltemperierter Stimme über einen Roman aus. Er sprach von den Frauen in dem Buch und kritisierte die niedrigen, unedlen Charakterzüge, die der Autor ihnen verliehen hatte.

Der Olivfarbene lachte. »Aber so sind die Weiber nun mal. Zugleich herrschsüchtig und unterwürfig – die Kombination muß dem Manne das Leben ruinieren.«

Korff meinte, es gäbe Ausnahmen.

Der Cäsar unterbrach ihn. Ob die Frauen Engel oder Huren wären, sei unwichtig. »Leben ist nicht Literatur, Literatur nicht Leben!« Dann: »Alles muß doch erhöht dargestellt werden in der Literatur. Man will ja schließlich den Menschen Ideale geben. Wenn man ihnen nur einen Spiegel vorhält und sie zwingt, sich selber zu betrachten, treibt man sie zu Suff und Verzweiflung …«

Helen rätselte nicht mehr, wer nun Lassalle war und wer nicht. Der Cäsar reizte sie zum Widerspruch. Seine Hand, mit imperialer Geste, beschrieb einen großen Kreis. »Nehmen Sie zum Beispiel die Adrienne Cardoville aus Eugène Sues ›Ewigem Juden‹ …«

Sie stand auf.

Er hörte das Rascheln des Satins hinter den Regalen und entdeckte die Nische. »Mein Gott«, seine Augen weiteten sich, »Adrienne Cardoville, wie sie leibt und lebt. Nun – da Sie gehört haben müssen, was ich sagte – habe ich recht?«

»Ich befürchte, nein …«

»Ein Nein ist also das erste, was ich von Ihnen zu hören bekomme?« Ohne sie direkt zu berühren, führte er sie aus der Nische heraus. »So also sieht man aus … Das sind Sie …? So hab’ ich’s mir auch gedacht …«

Sein Lächeln machte sie unsicher.

»Sie wissen, wer ich bin.«

Er legte die Fingerspitzen auf ihren Arm. »Und Sie sind – Sie sind der Goldfuchs, von dem Korff mir berichtet hat – mit einem Wort: Helena!«

Sie versuchte zu lachen; den Eindruck auszugleichen, den er auf sie machte. Dann gab sie sich dem Gefühl der Erleichterung hin, daß dies er war – ein Adler, die Züge geprägt vom Flug seiner Gedanken, nicht der grauenhafte bucklige Gnom der Karikatur. Korff und der andere hatten sich entfernt, sie wußte nicht, wann: Im Grunde war sie mit Lassalle allein gewesen seit dem Moment, da sie seine Stimme hörte.

Ich bin fast vierzig, dachte Lassalle; dazu krank, überarbeitet, meine Nerven brauchen eine Kur; ich bin dabei, eine Kampagne zu beginnen, deren Ausmaß, Dauer, Folgen keiner abschätzen kann – und hier ist dieses heißblütige Wesen von neunzehn, höchstens zwanzig Jahren: Auf was lass’ ich mich da ein? Korff ist ein Idiot – heiraten! Hätte ich heiraten wollen, dann hätte ich Natascha Solntzeff in Aachen haben können, mit ihren dunklen russischen Augen und ihrem weichen russischen Akzent und ihrer grenzenlosen Sinnlichkeit. Ein verheirateter Mann, ein Familienvater wird nie die Massen begeistern können; unbewußt sucht die Masse, und besonders ihr weiblicher Teil, stets nach einem Symbol, einer Gestalt von heroischen Ausmaßen: man stelle sich einen Ulrich von Hutten, einen Robespierre als Ehemann vor, mit Kinderchen, die ihm die Knie umspielen; darum konnte ja Marx, bei aller Gescheitheit, sich nie über den ekelhaften Dunst der in seiner Küche dampfenden Windeln erheben, der Arme.

Das Mädchen an seiner Seite besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Natascha. Das Licht der geheimrätlichen Schreibtischlampe, diskret abgeschirmt, betonte die üppigen Linien von Hals, Schultern, Brust und gab ihrem Haar einen besonderen Schimmer.

»Die Gräfin«, sagte er. »Alle Frauen stellen mir Fragen wegen der Gräfin. Warum Sie nicht?«

Sie sah ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und schwieg.

»Ich nehme an, die meisten Schauergeschichten sind Ihnen bekannt.« Er führte ihre Hand zu den Lippen. Und während er die Fingerspitzen eine nach der andern küßte, dachte er: Besser, ich sag’ es ihr jetzt; früher oder später kommen sie alle zu dem Punkt, wo sie sich mit der Existenz der Gräfin auseinandersetzen müssen.

Helen entzog ihm behutsam die Hand. »Das will nicht zueinander passen – was man über Sie spricht, und der Eindruck, den Sie auf mich machen.«

»Was da so behauptet wird!« Er nickte betrübt. »Ich hätte meine Beweismittel gestohlen, meine Zeugen bestochen, nur um mein Pfund Fleisch aus der Brust des Grafen Hatzfeldt, zugestandenermaßen einer der größten Grundbesitzer des Landes, zu schneiden. Wissen Sie – ich war damals noch nicht dreiundzwanzig, meinem Vater ging es gut, ich hatte keine Sorgen, stand am Beginn einer schönen Laufbahn als Geschichtsphilosoph; warum sollte ich das alles in die Winde werfen, Jahre meines Lebens investieren, Dutzende von Prozessen bei allen möglichen preußischen Gerichten führen, mein eignes Geld auslegen für die Gräfin, die arm war wie eine Kirchenmaus, von ihrem Mann verfolgt, von ihrer Familie verbannt? Ich war nicht mal Jurist, damals; einem Juristen wäre der Fall hoffnungslos erschienen – wo also lag das große Geschäft, das ich hätte machen können?«

Er stand auf, begab sich an Geheimrat Bonseris Schreibtisch. Sein Drang, dieses Mädchen zu überzeugen, beunruhigte ihn.

»Also hieß es: ein Liebesverhältnis; die Gräfin belohnte mich in der Münze, die auch der ärmsten Frau zur Verfügung steht. Das allerdings ließ sich für die bösesten Anspielungen verwerten – der Judenjunge aus der Provinz, im Bett mit einer älteren Frau, und dazu einer aus angesehenster preußischer Adelsfamilie, Mutter mehrerer Söhne und Töchter …«

Wieder schwieg er. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt.

»Ich weiß«, fuhr er schließlich fort, »die Gräfin hat heute etwas Groteskes an sich. Aber damals nicht. Damals war sie eine sehr eindrucksvolle Frau.«

Er schloß die Augen. Er sah die Geschworenenbank vor sich in dem Kölner Gerichtssaal von einst, die heiße Augustsonne, die durch die staubblinden Fenster drang, den Fliegenschmutz auf der hölzernen Barriere und sich selbst, wie er den zwölf guten Kölner Bürgern im Revolutionsjahr 1848 erschienen sein mußte, da er sich gegen die Anklage der Verleitung zum Kassettendiebstahl verteidigte. Er hatte seit je um den Einfluß des Wortes gewußt; doch an diesem Tage entdeckte er die dem Wort inneliegende Wucht unmittelbarer Wirkung. In der Erinnerung verschwamm sein Plädoyer und das diffuse Licht und die Menschenmenge im Gericht mit dem allgemeinen Getöse der Revolution; und er war Teil dieser Revolution gewesen, Rächer für dreiunddreißig Jahre preußisch-bürokratischer Despotie über ein Land, das einmal den befreienden Hauch des Code Napoléon verspürt hatte; und so sahen es auch die Geschworenen. Dabei war der ganze Diebstahl sinnlos gewesen – die Schenkungsurkunde, durch die der Graf den Besitz seiner Frau seiner Mätresse, der Baronesse Meyendorf, übermachte, lag nicht in der Kassette …

»Nein, meine Liebe« – er schüttelte den Kopf; im Lampenschein zeigten sich Glanzlichter auf seinem Haar, das, wenn auch kürzer geschnitten, noch immer voll war wie einst –, »nein, Sie wären nicht die erste, die so etwas vermutet hätte. Mir durchaus wohlwollende, angesehene Männer haben mir offen ihre Überzeugung ausgesprochen, ich müsse schlechterdings eine Liaison mit der Gräfin haben –wie sonst ließe sich eine so große Aufopferung für eine fremde Sache erklären? Aber die Herren übersahen eines: meine Jugend, meine Begeisterungsfähigkeit. Ich brauchte eine große Sache, für die es sich lohnte, sich einzusetzen; wäre ich Sophie nicht begegnet, ich hätte sie erfinden müssen.«

Er streckte Helen beide Hände entgegen und half ihr aufzustehen.

»Ich habe es auch den Geschworenen erklärt, damals im Kassettenprozeß« – die körperliche Nähe des Mädchens, vereint mit den glorreichen Erinnerungen, verlieh seinen Worten neues Feuer –, »die Verteidigung der Gräfin war für mich nicht eine persönliche Angelegenheit, sondern eine Frage der Menschenrechte. Alle sprachen sie 1848, mit dem Donner der Revolution im Ohr, von Menschenrechten; und alle waren sie dafür; ich hatte mir nur erlaubt, diese Menschenrechte zwei Jahre früher zu entdecken und zu praktizieren.«

Helen schien überzeugt. Zwar hegte er den Verdacht, sie möchte sich genauso hingerissen zeigen, hätte er über den Mann im Mond gesprochen; doch ließ ihn das gleichgültig. Er hatte ja keinerlei Pläne gehabt, kein Ziel; ganz zufällig war er dieser jungen Person begegnet, die ihm die Sinne erregte und die Gedanken beschwingte; und schließlich hatte er sich ein wenig Entspannung verdient, nachdem er den ganzen Tag mit dem Problem gerungen hatte, wie man die zähflüssige Masse, preußisches Proletariat geheißen, in Bewegung brachte. Dennoch blieb die Frage: War es. Liebe, die ihn die Jahre über an die Gräfin gebunden hatte? Unauslöschlich das Bild der enormen, gierigen Schenkel, die ihn empfangen hatten in jener Nacht in Düsseldorf, nachdem die Prozesse sämtlich gewonnen waren und der Graf, ein geschlagener Mann, geschlagen von dem Judenjungen aus der Provinz, ihr das Ihrige für alle Zeiten und in aller Form überschrieben hatte. Unvergeßlich ihr Aufstöhnen und die kurzen, spitzen Schreie und die Hängebrüste, leergesaugt von vier Kindern, die alle damals schon erwachsen waren, und wie sie ihn mein Junge, mein wunderbarer Junge, mein eines einziges Kind nannte, und sein tiefes Erschrecken daraufhin. Sie war fast so alt gewesen wie seine Mutter; nur hatte ihm die Frau mit dem Gänsegeschnatter und Gänsegehirn, die ihn seinerzeit im Breslauer Ghetto in die Welt gesetzt, wenig bedeutet; doch als er im Grau des Morgens erwachte, zum erstenmal in den Armen der Gräfin, hatte er sich trotz ihres Schlafgeruchs und trotz des Haars, das ihr auf der Oberlippe sproß, geborgen gefühlt wie ein Kind, und die Unruhe und der Ehrgeiz, die ihn ständig trieben, waren einem großen Frieden gewichen.

Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, der den Regen von sich schüttelt. »Außerdem, mein Goldfuchs«, bemerkte er, »ist es nie von Nutzen, wenn ein Mann einer Frau seine Gefühle für eine andere zu erklären sucht.«

Von dem Gespräch mit Lassalle blieben in Helens Erinnerung nur Teile ohne Zusammenhang haften. Wein – sie hatten von Weinen gesprochen, und sie hatte ihm gestanden, daß sie gern ein Gläschen trank, und er hatte geantwortet: »Großartig! Eine Frau mit Geschmack für guten Wein! Ich habe einen recht anständigen Keller, und wir beide werden das Beste darin kosten.« Darüber, wann er mit der gemeinsamen Weinprobe zu beginnen gedächte und wie er sich vorstellte, sie mit dem Segen von Papa und Maman und, gleichermaßen wichtig, von Grandmaman in diesen Keller zu bringen, ließ er sich allerdings nicht aus; anscheinend störten ihn die Komplikationen wenig, die sich auf dem Weg vom Arbeitszimmer des Geheimrats Bonseri in das gelobte Souterrain, wo der Wein floß, ergeben konnten. Der olivfarbene kleine Herr – wie sich herausstellte, Rechtsanwalt Holthoff – trat wieder ins Zimmer, ein Pack Karten in der Hand, und verlangte Auskunft über eine bestimmte Spielvariante. Lassalle nahm die Karten, mischte sie mit der Geschicklichkeit eines routinierten Spielers, verteilte sie, Bild nach oben, auf einem Seitentischchen neben der Sitzbank und begann, Holthoff die Sache zu erklären. Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht, er schob die Karten zur Seite und fragte schrill: »Was zum Teufel … Muß das jetzt sein? Können Sie uns nicht allein lassen?«

Holthoff zog sich ohne Widerspruch hastig zurück. Die Leute, schien es Helen, erkannten die Sonderstellung, die Lassalle sich zumaß, durchaus an.

Die bronzeverzierte schwarze Marmoruhr der Bonseris schlug halb drei, als sie in den Salon zurückkehrten. Die Räume, in denen sich vorher alles drängte, hatten sich teilweise geleert, aber die Stammgäste waren sämtlich noch da, und aus dem Kartenzimmer drangen die Stimmen der Spieler und der Rauch ihrer Zigarren. Lassalle nahm die Blicke, das Flüstern, das Nicken, das Lächeln wie einen Tribut entgegen, der ihm – und ihr – zustand; immer wieder preßte er Helen die Hand, während er in absichtlicher Schaustellung die Räume Seite an Seite mit ihr langsam durchschritt. Sie staunte ein wenig über die Gelassenheit, mit der diese Menschen die neue Verbindung zur Kenntnis nahmen – Majestät hatten seine Favoritin gewählt, und der Hofstaat fügte sich. Sie selbst fügte sich ja auch. Alles Vorhergegangene wurde bedeutungslos: Eltern, München, Italien; die Serie ihrer Verehrer, der jungen und der nicht mehr so jungen; ihre Studienpläne und Grandmaman; Yanko von Racowitza, in dessen großen runden Hundeaugen die Enttäuschung stehen würde.

Und dann war auch diese Demonstration zu Ende. Man trank Mokka aus geblümten Meißner Täßchen. Korffs lächelndes Bärtchen zeigte sich in der Nähe. »Meine Ahnungen, M’selle Hélène, eh? Vielleicht sollte ich den Dienst quittieren und das Geschäft eröffnen: Korffs Eheanbahnungsinstitut – lassen Sie Korff Ihre Liebe und Ihr Leben planen!«

Die Formes verzog das Gesicht. Um diese Nachtzeit ließ die Spannkraft ihrer Haut nach, und eine wenig schmeichelhafte Linie vom Kinn zum Hals herunter bildete sich. Korff war ein Esel. »Lassalle«, warnte sie, »tun Sie das dem armen Mädchen nicht an. Sie sehen immer nur sich selbst, und Sie sind zu alt, sich noch zu ändern.«

Lassalle liebte es nicht, wenn man sein Alter erwähnte. »Ich habe mich stets von dem Gedanken leiten lassen, Madame, daß es etwas weit Größeres gibt als meine Person« – die Stimme erhoben, eine programmatische Erklärung, unanfechtbar –, »nämlich die Menschheit. Dieser diene ich, und so muß ich erwarten, daß eine Frau, die mich zu lieben meint, sich unterordnet.«

Cosima lachte scheppernd.

Das Lachen irritierte Helen, und sie sagte mit Nachdruck: »Ferdinand hat absolut recht. Die Unterordnung der Frau ist Vorbedingung zu ihrem Glück.«

»Ferdinand! …«, wiederholte Cosima. »Mein Gott, Lassalle, das Mädchen ist schlauer als Sie und ich und wir alle. Die wird Sie um den Finger wickeln und auspressen, und Sie werden ihr noch hinterherlaufen und sie kniefällig um mehr solche Zärtlichkeiten bitten. Unterordnen …! Menschheit! …« Sie stellte ihre Tasse zur Seite. »Ist doch die Höhe.«

»Sie sind betrunken, Beste«, sagte Lassalle. »Wo ist Ihr Mann …? Korff – wollen Sie sich nicht nach von Bülow umsehen?«

Cosima winkte Korff ab und erhob sich schwankend. »Natürlich bin ich betrunken. Darum gestatte ich mir eben, so zu sprechen …«

Und weiter erinnerte sich Helen der Vorhalle, des Gedränges an der Garderobe, der Hand Lassalles auf ihrer Schulter, als er ihr das Cape umlegte, der flackernden Kerzen im Treppenhaus. Die Kettchen an Korffs Degengehenk klirrten; und da war Augusta Formes’ Stimme, gereizt: »Nein, ich nehme sie in meinem Wagen mit. Sie hat einen Ruf zu wahren, bis die Angelegenheit geregelt ist, so oder so.« Und plötzlich spürte sie, wie sie hochgehoben und getragen wurde – Lassalle trug sie; trug sie die ganze Treppenflucht hinunter; die Lichter begannen zu kreisen, und sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, und sie wußte, daß alle sie sahen und Verständnis hatten, es war die natürlichste Sache der Welt, und sie wünschte nur, die Treppe nähme kein Ende.

Dann rief jemand nach einer Droschke. Helen spürte wieder Boden unter den Füßen und hörte Pferde stampfen und das leise Prusten der Tiere. Lassalle ergriff ihre Hand. »Jetzt reden wir vernünftig. Wann sehen wir uns wieder, und wann darf ich Grandmaman meine Aufwartung machen?«

»Lieber nicht …« Ein Schauer durchlief sie – die Nachtluft, die dunklen Schneewolken, der naßkalte Dunst nach all der Wärme und dem Licht und dem Wein und der Aufwallung der Gefühle. Und der Gedanke an morgen: Auseinandersetzungen mit Grandmaman, mit Yanko. Die Stimmung war ihr nicht neu – zu Ende der Ball, die Masken zertreten, Rückkehr zur Realität, stumpfes Grau nach den Blumen, dem Tanz, dem Lachen … »Kommen Sie lieber nicht. Später vielleicht – nicht jetzt. Und Grandmaman fühlt sich nicht wohl.«

Was ja auch stimmte. Und in wenigen Stunden würde ein fahler Morgen die flachgestreckte Stadt erhellen und die Begegnung dieser Nacht verwischen. Wahrscheinlich empfand auch er das und sprach daher um so lauter von seinen Absichten; es gehörte sich so; aber in Wirklichkeit war er ganz froh, daß sie die Sache leichthin behandelte und seine Lage richtig verstand.

Der Kutscher begann zu schimpfen; Korff, der mit Augusta Formes etwas abseits gestanden hatte, räusperte sich ungeduldig. Lassalle sagte: »Helen, Kind, warum hinauszögern, was doch kommen muß? Fühlst du denn nicht, daß wir einer des andern Schicksal sind?«

Ein großer Mann, der große Worte liebte. Dennoch spürte sie Angst.

»Ich will dich nicht erschrecken«, fuhr er fort, bei dem plötzlichen Du bleibend. »Ich gehorche deinen Wünschen, Kind. Ich werde warten – obwohl es schade ist um die verlorene Zeit.«

Sie lächelte. Er öffnete die Droschkentür und gab Augusta Formes ein Zeichen. Die Schauspielerin kam eilends und beklagte sich: »Diese endlosen Adieus! Wirklich …«

Er hörte nicht hin. Er starrte in die schäbige Droschke und suchte in ihrem Dunkel noch einmal Helens Gesicht zu erkennen und sich ihre Züge einzuprägen.

Zweites Kapitel

Ein Mann ohne Träume ist innerlich tot. Mögen die Träume undurchführbar sein; man braucht sie; sie sind die treibende Kraft.

Lassalles Träume reichten zurück bis in seine frühe Jugendzeit, da er die Schule schwänzte, um, schon ganz der junge Herr, in den Breslauer Kaffeehäusern zu sitzen, Billard und Karten zu spielen, Weiber zu begaffen, frühreife Witze zu reißen – alles mögliche. Alles mögliche, um nur ja den Gerüchen des Ghettos zu entgehen; dem väterlichen Laden unter den Arkaden, den Lagerräumen gefüllt mit Wollstoffen und Kaliko; der Wohnung darüber, die ewig widerhallte von dem Gezänke und Geplärr seiner Mutter und Schwester. Revolte! Irgendwo jenseits dieser schäbigen Umgebung mußte eine Welt des Glanzes und der Größe liegen: seine Welt, seine Größe.

Menschen, die selbst Größe besaßen, erkannten das sofort in ihm: Heinrich Heine, der ihn einen jungen Mirabeau nannte; der alte Professor Boeckh von der Universität Berlin, der ihn willkommen hieß unter den Auserwählten der Wissenschaft; die Gräfin, die in ihm eine Kreuzung von Jesus Christus und Robespierre sah. Aber das Mittelmaß verschwor sich gegen ihn, und wann immer er ansetzte zum Flug in die Höhen, klammerten sie sich an seine Flügel, banden sie ihm die Klauen: wie sollte man sich erheben mit diesem Ballast! Selbst sein Freund Marx und Marxens Freund Engels, die schon wußten, was in ihm stak, ließen ihn oft genug ohne Unterstützung, obwohl doch er – nicht sie – ins Gefängnis gegangen war dafür, daß er die Massen zu den Waffen gerufen hatte in Verteidigung der bedrängten Revolution … Und dann die endlosen Jahre, da jede Bewegung, jeder Aufschrei erstickt wurde, da er in seinem Düsseldorfer Haus saß und wartete – wartete – wartete, da die einzige Veränderung der Wechsel der Polizeispitzel war, die einander ablösten bei der Bewachung seiner Haustür und der Beobachtung seiner Besucher …

Diese Jahre hatten an ihm gezehrt, schlimmer als die Krankheit, die ihm sein Kopfweh und die lähmenden Schmerzen in Rücken und Beinen verursachte und, seit kurzem, auch noch die häufigen Anfälle von Halsentzündung und einer lästigen Heiserkeit. Die Gräfin, die ja sah, wie er innerlich litt, sagte ihm einmal: Dein Schicksal ist Größe. Die Gräfin hatte in Dingen, die ihn betrafen, gewöhnlich recht. Schicksal: Er hatte gehofft, in der Revolution seinem Schicksal zu begegnen; diese Revolution aber, da sie eine preußische war, bot einem zukünftigen Bonaparte keine Chance. Schicksal: Er hatte es verfolgt in den Gerichten, umworben mit seiner Beredsamkeit, mit der Schärfe seiner Dialektik; und wieder entzog es sich ihm. Schicksal: Er hatte versucht, es in der Wissenschaft zu finden, auf der Theaterbühne, sogar in der kleinlichen Politik eines heruntergekommenen Königreichs, das eher Figur war als Spieler im großen Spiel. Er gedachte mit Erbitterung seiner dauernden Versuche, die elenden bürgerlichen Politiker ihrer revolutionären Herkunft zu erinnern, sie zur Aktion anzustacheln gegen feudalen Stumpfsinn und bürokratische Willkür; sie aber beschränkten sich auf Kümmelspalterei in der Kammer und wiesen, statt sich von ihm lenken zu lassen, seine Ratschläge zurück; ließen sogar ihre Presse gegen ihn geifern, bis dann die Staatsanwaltschaft seine Broschüren beschlagnahmte und ihn vor den Kadi zerrte.

Schicksal: und jetzt, da es endlich in greifbare Nähe kam, da der Strom der Geschichte wieder in Bewegung geriet – war es nicht schon zu spät? Er betrachtete sich im Spiegel: ein stattlicher Mann; sollte das Alter schon an ihm nagen, so gab es kein äußeres Anzeichen dafür; zum Beweis siehe Helen von Dönniges. Und die Konstellation der politischen Kräfte war günstig. Was hatte er erst vor wenigen Monaten den Arbeitern in dem verrauchten Saal der Oranienburger Vorstadt erklärt? Eine Revolution kann man nicht machen; sie muß herangereift sein, schon leben in den Eingeweiden der Gesellschaft; man kann ihr nur zum Durchbruch verhelfen, Geburtshilfe leisten, sie erkennbar machen in den Köpfen der Menschen. Hatten sie ihn verstanden?

Er riß sich vom Spiegel los. Bei ihm bestand immer die Gefahr der Überbetonung. Er mußte da auf sich achten. Die Massen waren ein Instrument, auf dem man zu spielen lernte wie auf jedem anderen; der wahre Virtuose zeigte nie, welche Anstrengung sein Spiel ihn kostete.

Sie hatten höflich geklatscht in dem Saal, höflicher Beifall dem gelehrten Herrn Doktor, der aus seiner Studierstube gekommen war, um sie an den Krumen seiner Gelehrsamkeit teilhaben zu lassen. Bei Arbeitern wußte man nie ganz, wie man sich verhalten sollte: manchmal erschienen sie bemerkenswert lernbegierig, wollten mehr wissen als ihr Lesen, Schreiben, Rechnen; ein andermal wieder machten sie den Eindruck, als hätte man die harte Schale nicht einmal angeritzt, mit der sie sich gegen jeden Andersdenkenden wappneten. Und doch mußte seine Rede gezündet haben; oder die Züricher Veröffentlichung hatte gewirkt, nachdem die Berliner Ausgabe beschlagnahmt worden war … Berichte erreichten ihn von Reaktionen hier und da, im Rheinland, in Sachsen, in Hamburg; Briefe liefen ein; und aus Leipzig meldete sich eine Gruppe, die sich pompös als Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses bezeichnete und ihm schrieb, man habe dort seine Rede diskutiert, und ob er bereit sei, Übereinstimmung in anderen Punkten vorausgesetzt, an die Spitze der Bewegung zu treten.

Gezeichnet: Vahlteich, Dr. Dammer.

Spitze der Bewegung. Nun ja – wen sonst denn gab es? Damals vor fünfzehn Jahren, als die Sonne auf den Gewehrläufen blitzte und die Herzen entbrannt waren und alles noch jung und begeistert und so – so voller Illusionen war, da war kein Mangel gewesen an potentiellen politischen Führern. Die einen waren erschossen; die andern verfault in den Gefängnissen; andere wieder, die es überlebt hatten, blickten vom fernen Exil her ins Land, von London aus zum Beispiel, außerstande, sich in das neue, noch kaum spürbare Wiedererwachen einzuschalten, wohl auch kaum fähig, es richtig zu begreifen; fern vom Schuß, sein Freund Marx, fern den Herzen.

Lassalle lächelte: So verstanden, hatte das Schicksal, die launenhafte Primadonna, ihn seit je im Auge gehabt – seit jener preußische Polizeirichter im Mai 1849 ihn wieder in Untersuchungshaft setzen ließ und so verhinderte, daß er an den letzten Kämpfen der Revolution teilnahm und darin umkam wie so viele oder außer Landes getrieben wurde. Als sich ihm dann die Gefängnistore öffneten, war er in eine veränderte Welt hinausgetreten – eine Welt, verstummt unter dem Leichentuch der gemordeten Freiheit. Er jedoch lebte, und zwar in Deutschland: der letzte von all den Feuerköpfen, die das Reich hätten erneuern können. Er lebte. Und dennoch war etwas in ihm erstorben, und die ganzen Jahre hindurch hatte er zu ergründen gesucht, was es war: Hoffnung? Glaube? An wen? An was?

»Herr Vahlteich und Herr Dr. Dammer«, meldete der Diener.

»Führen Sie sie herein.«

Rasch noch einen prüfenden Blick über das Bibliothekszimmer: Zigarren, Brandy, Broschüren-alles leicht greifbar. Dann sah er die zwei Männer in der Tür, linkisch, verschüchtert durch die Wände von Büchern, durch den weißen Hegelkopf auf dem schwarzen Piedestal. Sie waren noch sehr jung; mit leisem Erschrecken erkannte Lassalle, daß hier eine neue Generation auftrat, die noch dasein würde, nachdem er längst verschwunden war.

Die beiden traten auf ihn zu: der eine wesentlich größer als er, mit Schultern, die das enge Jäckchen zu sprengen schienen; der andre fahlblond, das Gesicht irgendwie zerfließend, keinerlei markante Züge.

Lassalle zuckte zusammen; der Große, der sich als Julius Vahlteich vorgestellt hatte, preßte ihm die Hand. Der andre trat nervös auf ihn zu und nahm hastig in dem ihm zugewiesenen Sessel Platz und sank, kaum das er saß, in eine sonderbar verkrampfte Haltung.

»Vielleicht beginnen wir« – Lassalle goß den Brandy ein –, »indem Sie mir ein wenig über sich berichten.«

Vahlteich suchte sich zu orientieren. Das Gesicht des Mannes ihm gegenüber entsprach der Legende – Lassalle, das war die Revolution, das Wort gegen den Polizeisäbel; Lassalle, das hieß, daß man Geschichte, Gesetz, Philosophie auf seiner Seite hatte, auf der Seite des unwissenden Volkes.

»Was gibt’s da zu berichten …«, sagte er.

»Keine falsche Bescheidenheit, bitte. Sie sind einer von denen, die die Welt vorwärtstreiben.«

Vahlteich wußte nicht, sollte er sich geschmeichelt fühlen ob der ihm beigemessenen Würde; er organisierte die Menschen, einfach weil seine Erfahrung ihn gelehrt hatte, daß ein Mann allein nichts vermochte. »Ich bin bei einem Schuster in die Lehre gegangen«, sagte er schließlich, »und habe dann bei meiner Tante in ihrem Kurzwarengeschäft gearbeitet. Jetzt bin ich wieder Schuhmacher. Ich habe versucht, mir selber etwas Bildung zu verschaffen, habe viel gelesen … Darunter auch einiges von Ihnen, Herr Dr. Lassalle.«

»Ausgezeichnet«, sagte Lassalle. »Dann werden wir einander verstehen.«

Dammer richtete sich kurz auf. »Ihre Werke sind gedrucktes Feuer.«

»Obwohl einige Stellen nicht ganz klar sind«, sagte Vahlteich und fügte eilig hinzu, »mir, meine ich.«

Lassalles Lächeln blieb verbindlich. »Sie müssen mir das bei Gelegenheit zeigen. Vielleicht kann ich Ihnen erklären. Das wäre übrigens auch mir recht wertvoll. Man erreicht die Ohren der Leute nicht, wenn man über ihre Köpfe hinweg redet.« Und mit einer leichten Wendung: »Sie sind Chemiker, Herr Dr. Dammer?«

»Chemiker?« Dammer stützte sich auf die Armlehnen und suchte sich aufzurichten. »Wenn Sie die Herstellung von Seife zur Chemie zählen, ja.«

»Und außerdem Schriftsteller«, ergänzte Lassalle. »Sie sehen, ein wenig bin ich informiert.«

»Ich bemühe mich zu schreiben.« Dammer schien geschmeichelt. »Einen sozialen Roman.«

»Und ich habe mich als Dramatiker versucht.« Lassalle wartete: wieder eine Bindung hergestellt. »Ich glaube fest an die revolutionierende Rolle der Literatur … Denken Sie sich, Sie lesen aus Ihrem Buch zu Tausenden von Arbeitern; welche Inspiration von Ihren Gedanken ausgehen könnte …«

Dammers Gesicht straffte sich momentan; dann zerfloß es wieder. »Ich bin ein schlechter Vorleser.«

»Macht nichts. Wir werden Ihr Werk von Schauspielern lesen lassen – von Madame Formes, zum Beispiel. Sie wird Ihre Worte mit innerem Leben erfüllen, mit einer Glut, die die Menschen entflammen wird. Stellen Sie sich mal vor!«

Zu seinem Erstaunen konnte Dammer es sich wirklich vorstellen. Er sah die Massen von Arbeitern, die dieser Dr. Lassalle ihm vor die Augen zauberte, nach der Lesung eines Romankapitels auf die Straße marschieren mit Trommelschlag und wehenden Bannern; er sah sie Barrikaden erstürmen und Ziegel um Ziegel die scheußliche, stinkende Seifenfabrik zertrümmern, in der er arbeiten mußte. Dabei hatte er sonst nie Visionen. Er war nur der Meinung, daß in der Welt eine große Ungerechtigkeit herrschte und daß man irgendwie etwas dagegen unternehmen müßte. Lassalle aber ließ ihn Visionen sehen; der Mann besaß anscheinend diese Macht; von hier kam das Fluidum, durch das er zum natürlichen Volksführer wurde.

»Sollte Dammer das Buch nicht zunächst fertigschreiben?« meinte Vahlteich.

»Nüchterner Zeitgenosse, was?« Lassalles Zigarre wies auf Vahlteich. »Auch das brauchen wir – mit beiden Füßen fest auf dem Boden, solide Leute, die täglich nachzählen: Verlust, Gewinn, soundso viele Mitglieder, so viel Geld in der Kasse, dies muß beschafft werden, auf das müssen wir uns konzentrieren. Aber, Mann! – wo ist Ihre Perspektive!«

»Ich dachte, die hätten wir«, sagte Vahlteich verstimmt. »Ein großer, gesamtdeutscher Arbeiterkongreß …«

»Und nach dem Kongreß, bitte?«

Vahlteich verzog das Gesicht. Der Kongreß war sein Geschöpf, das Zentralkomitee, der Leipziger Arbeiterverein Vorwärts; er hatte die Mitglieder geworben, die Heller und Pfennige gesammelt, die Säle gemietet – und hier in dieser eleganten Wohnung saß dieser elegante Herr mit all seiner Klugheit und Erfahrung und erledigte ihn mit einer einzigen Frage: Und nach dem Kongreß, bitte?

»Das müßte der Kongreß beraten«, sagte er schließlich. »Aber vielleicht haben Sie Ihre Vorstellungen darüber, Herr Doktor.«

Ihre Vorstellungen, Herr Doktor …

Lassalle überlegte.

Denn Sie sind der Mann der Gelehrsamkeit. Sie haben die Bücher studiert – Jus, Ökonomie. Sie können das Ganze übersehen, beurteilen, Schlüsse ziehen. In den zwölf Jahren politischer Lähmung hatte sich die deutsche Industrieproduktion mehr als verdoppelt; wo dürftiger Ginster und verkrüppelte Fichten gestanden hatten, erhoben sich Fabriken und Werke; Maschinen ersetzten die Hand, ganze Bevölkerungen wurden verpflanzt, jahrhundertealte Bande zerrissen; Vermögen schossen auf wie Pilze. Selbst der Adel, der preußische Landadel, industrialisierte sich; die Herren erzeugten Zucker, erzeugten Schnaps, erzeugten einen neuen Geist, Gott helfe uns.

Was für Möglichkeiten für einen Mann, der Sinn besaß für den Mechanismus der Geschichte!

Die neureichen Krämer in der Kammer, die sich als Partei des Fortschritts bezeichneten, schwankten ewig. Und die neue Arbeiterklasse, die sich zu rühren begann in den feuchten Löchern der Mietskasernen, dem Dreck der Vorstädte? – Ohne eigne Sprache, auf der Suche nach sich selbst, die einzig ihr gestatteten Organisationen ein paar Bildungsvereine, in denen wichtigtuerische kleinbürgerliche Professoren ihrem proletarischen Publikum ein mageres Paradies mit Konsumvereinen und Arbeitersparkassen ausmalten.

Was für Möglichkeiten für einen Mann mit Entschlußkraft!

»Das allgemeine Wahlrecht!« proklamierte Lassalle. »Ein Mann, eine Stimme. Das ist der Schlüssel. Solange des reichen Mannes Stimme siebzehnmal soviel wiegt wie die des Arbeiters, werden wir nie etwas erreichen. Sobald das aber geändert ist, werden unsere Abgeordneten sich in der Kammer erheben, bewaffnet mit dem Schwert der Wissenschaft …«

»Männer wie Sie …«, ergänzte Vahlteich.

Lassalle stockte. Er fand keine Spur von Ironie auf diesem Gesicht; der Bursche hatte einfach die blöde Manier, einem die Gedanken aus der Bahn zu bringen. »Um offen zu sprechen«, fuhr er fort, »bevor wir uns den Kopf über eine Kandidatenliste zerbrechen, müssen wir eine Partei haben; bevor wir eine Partei haben können, müssen wir organisieren; und bevor wir organisieren können, müssen wir agitieren.«

»Eine Partei?« Vahlteich starrte auf seine Daumenkuppe, die durch das Eindrücken zahlloser Holzzwecken in zahllose Schuhsohlen übermäßig verbreitert war. »Eine politische Partei?«

»Jawohl.«

Dammer war aufgeschreckt, trat unbewußt mit einem plumpen Stiefel auf den anderen.

»Mit welchen Mitteln? Welchen Menschen?« Ein neuer Ton deutete an, daß Vahlteich doch Feuer gefangen hatte. »Mit welchem Programm? Welchem Ziel?«

»Macht.«

»Für wen?«

»Für wen?« Lassalle blickte ihm ins Gesicht. »Für das Volk.«

Dammer schien peinlich berührt. »Ich bin überzeugt, unser Freund Vahlteich hatte nicht die Absicht …«

»Vahlteich hat ein Recht zu fragen.« Lassalle begab sich zu der Hegelbüste und legte nachlässig drei Finger aufs Piedestal, als wollte er damit andeuten, daß mit Hegel alles begann und alles endete. »Vahlteich verkörpert das Beste dieser neuen Arbeiterklasse, die hierzulande entsteht: kritische Wißbegier, Bewußtsein der eigenen Kraft.«

Er betrachtete Vahlteichs Schultern. Der Mann war Turner oder Gewichtheber oder etwas der Art, dachte er und unterdrückte einen Seufzer. Wenn der Plan, den er im Sinne hatte, je zur Reife kam, würde man sich an Vahlteich halten müssen; zuviel von Dammers Charakter war in die Seife geflossen, die er fabrizierte.

»Aber wir müssen diese Arbeiterklasse vom Schürzenband der Bourgeoisie und ihrer sogenannten Fortschrittspartei losreißen. Wenn Sie damit einverstanden sind, stelle ich Ihnen das ganze Wissen eines Gelehrten, die Erfahrung eines Revolutionärs und eine in einem Dutzend Gerichtshöfen geschulte Beredsamkeit zur Verfügung.« Er trennte sich von Hegel und trat an das Tischchen, auf dem er Exemplare seiner Bücher und Broschüren aufgestapelt hatte, und verteilte sie an beide Besucher. »Hier – meine Assisenrede, 1849 gehalten vor den Geschworenen gegen die Anklage, die Bürger zur Bewaffnung gegen die königliche Gewalt aufgerufen zu haben. Hier – meine Verteidigungsrede im Kassettenprozeß, die halbe Zeit waren die Geschworenen zu Tränen gerührt, die andre Hälfte sprachlos vor Begeisterung. Und so weiter und so weiter, bis zu meiner Rede im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, jetzt betitelt Arbeiterprogramm, wovon Sie bereits Exemplare erhalten haben. Nehmen Sie nur alles mit. Lesen Sie es, und lesen Sie es immer wieder, und dann geben Sie’s weiter.«

Er hielt inne. Zuviel Werbung. Diese zwei unbeholfenen jungen Provinzler hatten niemanden hinter sich als ein paar Dutzend ebenso armer, ebenso hilfloser Handwerksgesellen und Lohnarbeiter.

»Herr Dr. Lassalle?«

»Ja?«

Vahlteich erhob sich. »Sie sprachen vorhin von Macht, Herr Dr. Lassalle. Obwohl ich darüber recht wenig in Ihren Schriften finde, nehme ich an, Sie meinen Volksmacht, eine Republik, Demokratie, vielleicht sogar soziale Demokratie …«

Lassalle klemmte sich sein Pincenez auf die Nase; die Gläser maskierten den Blick und verliehen dem Gesichtsausdruck die gehörige Distanz.

»Wenn Sie nun zu formulieren hätten – darum wollten wir Sie nämlich bitten« – Vahlteich zögerte plötzlich –, »den Aufruf zu formulieren hätten, den wir in Vorbereitung eines Allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses …«

»Kongresses?«

»Wie Sie’s auch nennen.« Vahlteich wurde rot; was mußte er den Bittsteller spielen vor diesem Mann; sein Leben lang war er Bittsteller gewesen vor Prinzipal, Beamten, Polizisten. »Würden Sie in diesem Aufruf, den wir vorbereiten wollen, die Forderung nach Macht darlegen?«

Lassalle trat auf Vahlteich zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern – der weise Herr Doktor, der den jungen Riesen ins Vertrauen zieht. »Warum die Leute durch die Größe der Aufgabe erschrecken? Sehen Sie, was da gegen uns steht: Armeen von Gendarmen, Richtern, Bürokraten, Soldaten; das gesamte Gewicht aller Geldsäcke von Preußen. Und auf unsrer Seite? Nur unsre List und das Potential einer Klasse, die allerdings noch in ihrem Dornröschenschlaf liegt. Wir werden uns nicht einmal als Partei bezeichnen. Wir nennen unsre Organisation« – er begab sich zum Fenster, blickte hinaus in den grauen Nachmittag –, »wir nennen sie: Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein.«

Als schmecke er jede Silbe ab, so hatte er das gesprochen. Jetzt wandte er sich seinen Besuchern wieder zu. Dammer nickte; er trat nicht mehr mit einem Fuß auf den andern; ein Verein war schon mehr nach seinem Geschmack, ein Verein konnte vielerlei sein und sich zu vielerlei entwickeln.

»Bei der jetzigen Lage und vorausgesetzt, daß wir richtig an die Leute herangehen, sollten wir innerhalb von Monaten imstande sein, etwa« – Lassalle, die Augen zusammengekniffen, sah aus, als zähle er die Ballen von Taft und Popeline im väterlichen Laden –, »etwa hunderttausend Arbeiter zu gewinnen.«

Vahlteich erschrak.

»Man muß sich ein großes Ziel setzen, Vahlteich. Mit nur ein paar hundert oder paar tausend Mitgliedern in einem Land wie Deutschland würde ich zur Witzfigur für sämtliche bürgerlichen Blätter. Und ich muß darauf bestehen, daß Sie beide sich jetzt entscheiden: Entweder wir stecken das Ziel hoch, oder wir fangen gar nicht an zu schießen.«

Vahlteich suchte Hilfe bei Dammer. Doch Dammer hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und schien in Gedanken versunken. Hunderttausend Mann, organisiert, dachte Vahlteich – das war Macht. Lassalle hatte recht. Und doch, wenn er sich vor Augen führte, wie er und seine Leipziger Freunde im Hinterzimmer der Bierwirtschaft Zur kleinen Quelle saßen, und wenn er die vorhandenen unbedeutenden Mittel mit Lassalles riesenhafter Phantasie verglich, wurde ihm ungut zumute.

Lassalle goß Brandy nach und schob das Glas Vahlteich in die Faust. »Außerdem wünsche ich, aufgefordert zu werden.«

»Aber wir fordern Sie ja auf!« sagte Dammer, dem der Brandy die Zunge etwas löste. »Wir sind bereit, alles Ihren Händen zu überlassen. Sagen Sie uns nur, was wir zu tun haben …« Seine Stimme verlor sich.

»Die Aufforderung hat in aller Form zu erfolgen – und zwar seitens Ihres gesamten Komitees.« Lassalle legte plötzlich Wert auf Einzelheiten. »Ich befinde mich mitten in den Vorbereitungsarbeiten für ein Werk über Grundsatzfragen der heutigen Ökonomie, ein Buch, das à la longue mindestens soviel Einfluß auf die Weltgeschichte haben würde wie sämtliche Reden, die ich auf sämtlichen von Ihnen organisierten Veranstaltungen halten könnte.«

Dammer erhob sich. »Könnten Sie nicht zunächst uns helfen, Herr Dr. Lassalle?«

Lassalle wandte sich an Vahlteich. »Und Sie?«

Vahlteich nickte träge.

Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein, dachte Lassalle. Hunderttausend Mitglieder. Das war schon ein Gewicht, das sich in die Waagschale werfen ließ. Das machte ihn zum ausschlaggebenden Faktor zwischen den Fortschrittlern und Herrn von Bismarck, des Königs neuem Ministerpräsidenten. »Schicken Sie mir Ihre Einladung«, sagte er, als handle es sich um eine Kleinigkeit. »Und ich werde Ihnen mit einem offenen Antwortschreiben an Ihr Komitee erwidern, worin ich einige meiner Gedanken darlege. Sie können diese akzeptieren, Sie können sie ablehnen. Wie Sie wollen.«

»Wir werden sie akzeptieren«, beeilte sich Dammer zu versichern.

»Und Sie, Herr Vahlteich?«

»Eine leichte Arbeit wird das nicht werden«, sagte Vahlteich.

»Ah«, sagte Lassalle lächelnd. »Aber bedenken Sie, was sich daraus ergeben kann!«

Zur Nacht kam Mathilde.

Sie nahm ihren Umhang ab und zog sich die hochgeknöpften Stiefelchen aus und trat, nur die Strümpfe an den Füßen, hinter den Sessel, in dem er saß und las, und küßte sein Haar und fragte: »Wie ist’s gegangen?«

»Ich weiß nicht.« Er legte seine Papiere zur Seite. »Ich bin nicht sicher.«

Sie setzte sich ihm auf den Schoß und schmiegte sich an ihn. Sie hatte noch den Ladengeruch – Schweiß, Staub, billiges Parfüm. »Ich werde dir dein Bad richten«, sagte er, und da sie die Brauen hob, »Johann ist schon fort.«

Sie lachte. Wenn sie lachte, öffneten sich ihre vollen, saftigen Lippen, und man sah ihre Zahnlücke. »Warum weißt du nicht?« kehrte sie zu ihrer Frage zurück. »Sie haben dich doch aufgefordert, nicht?«

»Das schon.« Lassalle griff nach ihrer Hand, deren Finger in der Liebe erfahren waren. »Schon wieder ein Nagel gebrochen«, bemerkte er kritisch.

»Ich mußte Kartons auspacken; ich lebe von meiner Hände Arbeit.«

»Stolz?« Er lächelte mit einem Anflug von Sarkasmus. »La Gersonnaise …«

Das war der Name, den er ihr gegeben hatte, weil sie in Gersons Paradies für die Damen arbeitete. Ihr gefiel La Gersonnaise, es war französisch und klang vornehm. An einem Sommerabend im Vorjahr hatte er sie auf der Straße vor dem Gersonschen Warenhaus stehen sehen und hatte sie mitgenommen für die Nacht, und sie war ihm bereitwillig gefolgt; aber aus der einen Nacht waren mehrere geworden und dann noch mehr; sie verlangte nichts, sie war einfach da, zufrieden mit den Stunden, die er für sie hatte; sie konnte sehr leidenschaftlich sein, und danach streichelte sie ihm mit ihren harten Fingerkuppen den Nacken.

»Sie haben mich aufgefordert, ganz wie ich verlangt habe«, sagte er, »und sie werden mich schriftlich einladen, und ich werde ihnen schriftlich antworten, und alles wird wie am Schnürchen gehen.« Sie bewegte sich, und er spürte die angenehme Festigkeit ihres Hintern. »Aber was, wenn es alles eine Selbsttäuschung ist? Wenn dieses Proletariat es vorzieht, auf seine eigne stumpfe Weise weiterzuleben, und nicht wünscht, seine historische Mission zu erfüllen und sich zu diesem Zweck von Dr. Lassalle führen zu lassen …? Was meinst du, Mathilde? Du gehörst doch zu ihnen …«

Sie glitt ihm vom Schoß und stand vor ihm, Hände auf den Hüften. »Historische Mission! Weißt du, was die historische Mission von meinem Vater ist? Sich bis auf die Knochen zu schinden, damit er seine Arbeit nicht verliert und nicht verhungert mitsamt Familie. Und über meine historische Mission habe ich noch nicht Zeit gehabt nachzudenken, weil ich den ganzen Tag hinter dem Ladentisch stehen muß und Kratzfüße mache vor dem alten Gerson und die Damen anlächle: Jawohl, Madame, und: Möchten Sie das nicht mal ansehen, Madame, und: Wie gut Ihnen das steht, Madame.«

»Das ist nicht die Frage«, sagte er; und dann dachte er an Helen von Dönniges; er hatte nichts mehr von ihr gehört, eigentlich müßte er versuchen, mit ihr in Verbindung zu kommen, über La Formes oder durch Korff oder Holthoff.

»Was denn ist die Frage?«

Sie wartete auf Antwort. Ein vulgäres Frauenzimmer im Grunde, dachte er. Er hatte versucht, ihr ein paar Feinheiten beizubringen; sie hörte ihn willig genug an und vergaß alles sofort. »Gibt es denn da gar nichts, Mathilde, außerhalb des ewigen Kreislaufs von Geld verdienen, um zu essen, und essen, um Geld zu verdienen?«

»Warum, glaubst du, komme ich hierher?«

Er straffte sich. »Wäre es eine zu große Selbstschmeichelei, wenn ich annähme, daß es dir Freude macht, mit mir zusammen zu sein?«

Sie ließ die Hände sinken. Das Herausfordernde an ihr war verschwunden; ohne das erschien sie hilflos. »Ich habe nie in meinem Leben schöne Dinge gehabt. Erst bei dir habe ich sie kennengelernt: Bilder, weiche Sessel, Teppiche; das warme, breite Bett. Das verstehst du wohl nicht?«

»Doch, ich verstehe. Andrerseits hat es auch Frauen gegeben, die mir sagten, sie liebten mich um meiner selbst willen und weniger wegen meines Mobiliars. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich inzwischen älter geworden bin.«

Sie verzog das Gesicht. Gab es überhaupt eine Brücke zwischen ihr und ihm? Er liebte die Menschen nicht. Liebte er überhaupt jemanden? »Ich möchte mein Bad«, sagte sie.

Er nickte erleichtert und ging ihr voran in das angenehm vorgewärmte, gekachelte Badezimmer. Mathildes Bad war zu einer Art Ritual geworden; das hatte sich so ergeben in ihrer ersten Liebesnacht. Zunächst zog er sein Jackett aus und nahm Kragen und Manschetten ab; dann holte er die Krüge mit heißem Wasser, die Johann vorsorglich auf dem Küchenherd hinterlassen hatte. Danach fügte er Badesalz hinzu, dessen Duft sich mit dem aus der Wanne steigenden Dampf vermengte, und brachte ein frisches Stück parfümierter französischer Seife. Indessen entkleidete sie sich hinter einer spanischen Wand und steckte ihr Haar auf, um dann hervorzutreten: volle Brüste, schmale Taille, und mit einer kaum merklichen Bewegung der Hüften, die ihm Zunge und Hals vertrocknen ließ und das Blut in die Schläfen trieb. Er half ihr beim Einsteigen in die Wanne; das Wasser verwischte ihre Umrisse.

Sie seufzte zufrieden, griff nach dem vollgesogenen Schwamm und preßte ihn über ihrer Schulter aus. »Einen Groschen für deine Gedanken«, sagte sie.

Er lachte. »Ach, nichts.«

»Vielleicht ist’s auch besser, ich erfahre sie nicht. Ich würde erschrecken davor oder mich sogar genieren.« Ihre Zehen durchbrachen die Wasseroberfläche, Zehen, verkrümmt durch den Zwang der nie passenden Schuhe. »Wir benehmen uns schon wie verheiratet, nicht? Sehr verheiratet?«

»Komm, ich wasch’ dir den Rücken.« Er nahm Schwamm und Seife zur Hand. Beinahe wäre ihm die Seife entfallen, so zitterten ihm die Finger. Mathilde lehnte sich leicht nach vorn. Wassertröpfchen glänzten auf ihrer Haut, weißer Haut über festem Fleisch, das, nach dem Rückgrat zu, sanft gewölbt war. Unter seinen Fingerspitzen schäumte die Seife.