Auf Spurensuche am Río de la Plata. Aufzeichnungen einer jüdischen Emigration nach Uruguay - Doris Ryffel-Rawak - E-Book

Auf Spurensuche am Río de la Plata. Aufzeichnungen einer jüdischen Emigration nach Uruguay E-Book

Doris Ryffel-Rawak

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Beschreibung

Die sterbenskranke Noemi bittet ihre Tochter Mirjam, ihre Asche in Uruguay zu verstreuen, dem Land, in dem sie als Tochter deutsch-jüdischer Emigranten zur Welt gekommen ist. Mirjam begibt sich mit der Urne ihrer Mutter und deren Tagebuch nach Montevideo. Es wird eine Reise in die Vergangenheit. Wer war ihre Mutter wirklich, und warum ist Mirjam nie aufgefallen, wie sehr Noemi an Uruguay hing? Durch die Begegnungen mit Freunden und Bekannten ihrer Großeltern und ihrer Mutter verändert sich Mirjams Blick auf die Geschichte ihrer Vorfahren und auf ihre eigene Herkunft. Um sich in dem Sehnsuchtsland ihrer Mutter besser zurechtzufinden, besucht sie einen Spanischkurs. Ihr attraktiver Spanischlehrer Diego bringt Mirjam jedoch völlig aus dem Konzept. Trotzdem versucht sie, seinem exotischen Charme zu widerstehen, wartet doch in Frankfurt ihr Verlobter Matthias auf sie. Wird Uruguay auch zu ihrem Sehnsuchtsland? Mit stark autobiografischen Zügen ist "Auf Spurensuche am Río de la Plata" ein sehr persönliches Porträt, ein Stück Zeitgeschichte und nicht zuletzt ein Reiseführer.

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Doris Ryffel-Rawak

Auf Spurensuche am

Río de la Plata

Aufzeichnungen einer jüdischen

Emigration nach Uruguay

Ryffel-Rawak, Doris: Auf Spurensuche am Río de la Plata, Hamburg, ACABUS Verlag 2013

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-190-7

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-191-4

Print: ISBN 978-3-86282-189-1

Lektorat: Berit Liedtke, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Bilder und Fotos: © Doris Ryffel-Rawak

Covermotiv: „Nostalgia“, © Doris Ryffel-Rawak

Karte Uruguay: © „Consejo Intermericano de Comercio y Producción.

Sección Uruguaya. Síntesis Económico-Finaciera del Uruguay“,

Montevideo 1952.

„Schlaflied für Mirjam“: © Richard Beer-Hofmann, „Schlaflied für Mirjam“

IGEL Verlag Literatur & Wissenschaft, Hamburg, 2011, 2. Auflage, ISBN:

978-3-86815-539-6.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2013

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für

Daniel, Michael und David

Der Weg des Lebens

Rabbi Mosche Löb sprach: „Der Weg in dieser

Welt ist wie die Schneide eines Messers.

Auf dieser Seite ist die Unterwelt und auf

jener Seite ist die Unterwelt und der Weg

des Lebens inmitten.“

Martin Buber

Die Erzählungen der Chassidim

1.

Weihnachten 2010.

Eisblumen haben sich über Nacht am Balkonfenster gebildet, sie schimmern golden im Sonnenlicht. Trotz klirrender Kälte kündigt sich ein schöner Wintertag an. Mirjams Blick hängt verloren an den kahlen Ästen der Bäume. Sie hat die intensivsten vier Monate ihres Lebens erlebt. Endlich ist sie angekommen. Ist sie das wirklich? Sie hatte sich auf eine lange Reise begeben. Während ein kleiner Spatz sich Nahrung aus dem Vogelhäuschen herauspickt, spürt Mirjam an diesem Weihnachtsmorgen das starke Bedürfnis, all die gemachten Erfahrungen und Erlebnisse in Uruguay niederzuschreiben. Sie steht auf, holt ihren Computer aus dem Schlafzimmer, setzt sich an den Esszimmertisch, rückt ihren Stuhl bequem zurecht und startet den Computer. Mirjam muss gar nicht lang überlegen, es ist, als würde sich ein Film vor ihrem inneren Auge abspielen. Nichts hält Mirjam mehr auf, wie besessen hämmert sie auf ihre Tastatur ein.

Flughafen: Madrid-Barajas, Anfang September 2010.

Mirjam hielt die Urne mit der Asche ihrer Mutter auf ihrem Schoß, ein Gedanke jagte den anderen. Wie sollte sie es nur anstellen? Würde sie die geeignete Stelle finden, um die Asche ihrer Mutter im Winde zu verstreuen, so wie es sich ihre Mutter gewünscht hatte?

Beklommen saß sie auf einem viel zu harten Stuhl in der Wartehalle. Noch vier Stunden musste sie ausharren bis zum Weiterflug. Ihre Reise nach Montevideo war bisher problemlos verlaufen. Die kleine Urne, die sie jetzt in ihren Händen hielt, hatte sie vorsorglich in einem Pappkarton verpackt und diesen wiederum im Handgepäck verstaut, einem kleinen blauen Koffer. Es war derselbe, den ihre Mutter auf ihren Reisen nach Uruguay immer mitgenommen hatte.

Mirjam, mit ihren fünfundzwanzig Jahren, war hübsch anzuschauen. Ihre dunkelbraunen mandelförmigen Augen leuchteten im kargen Licht der Flughafenhalle. Ein zaghaftes Lächeln umrandete ihre Lippen, ihre Unsicherheit kaschierend. Sie trug Jeans, ein dunkelblaues T-Shirt und eine braune Lederjacke. Kleine, mit bunten Glassteinen gefasste Ohrringe und ein feines Goldkettchen betonten ihre feinen Gesichtszüge. Obgleich sie äußerlich ruhig wirkte, war sie innerlich angespannt, sie kam sich vor wie ein Saiteninstrument, kurz bevor der Musiker zum ersten Takt ansetzt.

Uruguay. Zweimal hatte Mirjam ihre Mutter begleitet. Sie hatte schöne Erinnerungen an das Land und die Menschen, mit denen sie zusammengekommen war. Das erste Mal als Zehnjährige, die Eltern hatten sich gerade getrennt, sie war furchtbar traurig gewesen und zu ihrem großen Erstaunen war diese Traurigkeit, einmal in Montevideo angekommen, rasch verflogen. Tagsüber verbrachten Mutter und Tochter viele Stunden am Strand von Pocitos. Es war März, das Meer war noch warm, die Sonne schien angenehm, sie machten lange Spaziergänge am Ufer entlang und kein Tag verging, an dem Mirjam nicht mit einem Plastiksack in der Hand Strandgut, Muscheln, Hölzer oder vom Meer weichgeschliffene, kleine buntfarbige Scherben einsammelte. An den Abenden wurden sie und Noemi dann reihum eingeladen. All die Freunde und Bekannten ihrer Mutter aus deren Kinder- und Jugendzeit verwöhnten Mirjam nach Strich und Faden. Sie bekam große und kleine Geschenke, ein geblümtes Kleidchen, einen Sonnenhut, eine kleine uruguayische Fahne, ein Puppenpaar mit der traditionellen Tracht der ‚gauchos‘ und der ‚chinita‘. Am meisten genoss es Mirjam, wenn sie auf dem kleinen Landgut eines Schulkameraden von Noemi eingeladen waren und ein ‚asado‘ zubereitet wurde. Es war eine wahre Freude, zu beobachten, wie Uwe fachmännisch mit der Holzkohle umging, die ‚chorizos‘ und das Fleisch langsam gar wurden.

Die zweite Reise war ein Geschenk ihrer Mutter zu ihrem achtzehnten Geburtstag.

Als Mirjam wieder auf die Uhr schaute, waren bereits zwei Stunden der Wartezeit vergangen, so sehr war sie in ihren Gedanken versunken. Langsam machte sich bei ihr Hunger bemerkbar, in den letzten Tagen und Wochen seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie kaum etwas essen können. Ihr fehlte der Appetit und es hatte noch so vieles erledigt und in Ordnung gebracht werden müssen.

Mirjam gab sich einen Ruck und beschloss, die Reise in die Vergangenheit auf die Zukunft zu verschieben. Sie ging in die umliegende Bar, holte sich ein Käse-Schinken-Sandwich und trank dazu eine Cola. Kaum hatte sie den letzten Bissen heruntergeschluckt, spürte sie, wie sie wacher wurde und, obwohl sie eigentlich traurig war, freute sie sich auf die bevorstehende Reise und lächelte vor sich hin. Ein junger Mann beobachtete sie belustigt und es war eine Frage von Sekunden, bis sich ihre Blicke trafen. Mirjam spürte ein Kribbeln im Herzen und musste sofort an Matthias, ihren Freund, denken, den sie in Deutschland zurückgelassen hatte mit dem Versprechen, sich ernsthaft Gedanken über seinen zweiten, oder war es schon der dritte Heiratsantrag?, zu machen. Aber das hatte Zeit, jetzt ging es darum, die Reise anzutreten und den Spuren ihrer Mutter zu folgen.

Frankfurt am Main, August 2010.

Noemi saß aufrecht im Bett, so wie es ihr nur noch möglich war. Die Krankenpflegerin hatte kurz bei ihr hereingeschaut, die Kissen geschüttelt und ihr beim Schminken geholfen. Sie erwartete Mirjam, die letzten Anweisungen wollte sie ihrer Tochter geben und dabei trotz der aufkommenden Traurigkeit einen möglichst ruhigen Eindruck und – falls es ihr gelingen sollte – sogar eine Spur Fröhlichkeit vermitteln. Noemi wusste genau, dass es sich jetzt nur noch um wenige Tage handeln würde, bis sie für immer die Augen schließen sollte. Sie hatte Brustkrebs, drei Mal war sie operiert worden, aber der Tumor war immer wieder gekommen und hatte Metastasen in verschiedenen Organen gebildet. Sie litt unter schrecklichen Schmerzen, die sie nur mit Morphium lindern konnte. Am schlimmsten waren die Kopfschmerzen, die Gedanken entglitten ihr und dieser Umstand beunruhigte sie. ‚Mirjam soll pünktlich kommen‘, hoffte sie, ‚zwei Stunden halte ich schon durch, aber Mirjam soll dann gehen, sie soll nicht mit ansehen müssen, wie ich kraftlos und geplagt von diesen unsinnigen Schmerzen hilflos daliege.‘ Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gefasst, hörte sie, wie es zweimal an der Haustür klingelte und Mirjam die Tür aufschloss. Mutter und Tochter umarmten sich, Noemi küsste ihre Tochter auf die Stirn. Noch nie zuvor hatte sie das gemacht, im Nachhinein ein symbolischer Kuss, sollte es doch das letzte Mal sein, eine Vorahnung dessen, was sich schneller als vermutet ereignen würde.

Auf dem Nachttisch lag ein Buch, Noemi bat ihre Tochter, ihr dieses Buch zu überreichen, um es im nächsten Augenblick in Mirjams Hände zu legen. In dieser Geste lag so viel Feierlichkeit, dass Mirjam einen Kloß im Hals verspürte. Als ihr bewusst wurde, dass es sich um das Tagebuch ihrer Mutter handelte, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Noemi strich ihrer Tochter sanft über die Haare, flüsterte tröstende Worte, wie früher, wenn Mirjam nach Hause gerannt gekommen war, traurig, zornig oder beleidigt nach einem Streit mit einer Klassenkameradin.

Nach einigen Minuten beruhigten sich die Gemüter beider Frauen. Sie schauten sich schweigend an.

‚Mami‘, dachte Mirjam, ‚wo ist nur deine Schönheit geblieben, deine dunklen Mandelaugen, die ich von dir geerbt habe, liegen so tief, umgeben von dunklen Augenringen, deine Lippen sind so schmal geworden und deine Nase so spitz, ach nein, das ist alles nicht wahr, du bist immer noch schön wie eh und je!‘

Noemi betrachtete ihre Tochter, ein Lächeln huschte über ihre Lippen, sie konnte wahrlich stolz sein: Mirjam hatte die aparte Augenform von ihr, aber sonst hatte sich der Vater durchgesetzt und diese Melange war gar nicht schlecht geraten, ganz im Gegenteil! Mirjam hatte ebenmäßige Züge, dunkelbraunes, naturgelocktes, halblanges Haar, alles vollkommen und sie hatte eine schöne Figur, nicht groß, nicht klein, einfach perfekt, dachte sie noch einmal.

Noemi schaute verstohlen auf die Uhr an ihrem Handgelenk, die Zeit drängte, soviel musste sie Mirjam noch sagen, wer wusste, ob sie noch einmal dazu Gelegenheit haben würde.

„Mein liebes kleines Mädchen“, sie schaute Mirjam in die Augen, die den ihren so ähnlich waren, und strich ihr wieder sanft über die Haare. Traurigkeit wallte in ihr auf, aber sie musste sich jetzt zusammenreißen, es gab noch so vieles zu sagen. „Es ist soweit, ich habe nicht mehr viel Zeit, ich kann es spüren. Bitte, du musst jetzt tapfer sein und versuchen, dir alles zu merken, was ich dir noch zu sagen habe.“ Sie drückte Mirjams Hand und versuchte die tränenschimmernden Augen ihrer Tochter zu ignorieren. Sie räusperte sich.

„Diese Bücher hier sind eigentlich keine Tagebücher, es sind Aufzeichnungen, die ich während meiner Krankenhausaufenthalte gemacht habe.“

Mirjam schaute sie verwundert an. Sie schien noch nicht zu verstehen, was hier vor sich ging.

„Ich sehe deinen fragenden Blick“, fuhr Noemi fort und zeigte auf die Hefte, die sie in den Händen hielt. „Weißt du, auf einmal wurde mir bewusst, dass ich dir sehr wenig über mein Leben damals in Uruguay erzählt habe und jetzt bleibt keine Zeit mehr dazu …“ Sie schüttelte den Kopf, als sie Mirjams Tränen bemerkte. „Werde nicht traurig, mein Kind, ich habe mein Leben gelebt, natürlich wäre ich gerne älter geworden, aber seinem Schicksal kann man nicht entrinnen und hadern bringt auch nichts. Schau, wenn du diese Hefte gelesen hast, wirst du spüren, dass ich immer bei dir bin.“ Sie schaute Mirjam nun fest in die Augen, alle Wehmut war verschwunden, das hier war wichtig! „Der eigentliche Grund, weshalb ich sie überhaupt geschrieben habe, ist der, dass du nicht nur mich, sondern vor allem auch dich selbst besser kennen- und verstehen lernen musst. Das wird dir das Leben erleichtern, so denke ich jedenfalls.“ Sie versuchte ein Lächeln, „du kennst ja deine Mutter, so ganz selbstlos habe ich mich nicht ans Schreiben gemacht! Mirjam, mein größter Wunsch wäre es, wenn du, wenn ich nicht mehr da bin, mit Hilfe des Geschriebenen die Wege und Irrwege meiner Kindheit und Jugendzeit nachvollziehen kannst.

Ich möchte, dass du nach Uruguay fährst. Dieses Mal wirst du die Reise alleine antreten müssen und ich wünsche mir für dich, dass du ein kleines bisschen von dem zu spüren vermagst, was mich an dieses Land bindet. Mehr möchte ich nicht sagen, du sollst es selbst erleben und wer weiß? Von irgendwoher kann ich es ja mitverfolgen, träumen darf man bis zum letzten Augenblick.“

Mirjam hörte ihrer Mutter andächtig zu und fragte sich, warum sie nie Fragen gestellt hatte. Sie hatte das Gefühl, wie auf einer Wolke zu schweben, etwas Geheimnisvolles lag in der Luft, nicht beängstigend, eher nicht fassbar, aber auch nicht unwirklich.

Noemi spürte zunehmend die seelische Anstrengung, immer wieder hatte sie in Gedanken geübt und sich selbst vorgesprochen, was sie Mirjam noch mitteilen wollte.

Sie hatte auf keinen Fall pathetisch klingen wollen, aber es sollte auch nicht belanglos sein, es war ihr ein großes Anliegen gewesen und in Mirjams Blick glaubte sie feststellen zu können, dass es ihr gelungen war, ihre Botschaft zu vermitteln. Und jetzt noch das Schwierigste:

„Mirjam, reich mir deine Hand, schau mich an und weine bitte nicht, ich habe noch einen letzten Wunsch.“

Mirjam reichte der Mutter die Hand und schaute sie mit großen Augen voller ungewisser Spannung an. Sie wagte kaum zu atmen, wartete auf das, was ihre Mutter als ihren letzten Wunsch bezeichnet hatte.

Noemi hatte Mühe mit der Sprache, eine bleierne Müdigkeit machte sich in ihr breit, sie drückte Mirjams Hand, als ob sie so noch einmal Kraft schöpfen könnte.

„Nach meinem Ableben wird sich Max, dein Vater, um die Formalitäten kümmern, wir haben alles schon miteinander besprochen. Meine Asche wird in eine kleine Urne kommen, diese wird dir Max überreichen und ich möchte, dass du sie mit auf deine Reise nimmst. Einmal in Uruguay, wenn du spürst, dass der richtige Augenblick gekommen ist, gehst du ans Meer. Dort, wo du dich am wohlsten fühlst, öffnest du die Urne und lässt den Wind die Asche verstreuen.“

Noemi und Mirjam schauten sich an, weitere Worte waren nicht mehr nötig.

Mutter und Tochter umarmten sich innig. „Mami, du bist jetzt müde, ich gehe jetzt, morgen komme ich zur selben Zeit wieder.“ Noemi strahlte fast ein wenig, auf ihren Lippen lag ein Lächeln. So sollte Mirjam ihre Mutter für immer im Gedächtnis behalten …

Dr. Max Rosenberg, Kieferchirurg und Privatdozent, trat in seine ehemalige Wohnung ein. Vor fünfzehn Jahren war er ausgezogen, hatte den Wohnungsschlüssel aber behalten. Er und Noemi hatten sich im Guten getrennt. Die Trennung war für Mirjam immer ein Rätsel geblieben, über das Stillschweigen gehalten worden war. Zu einer Scheidung hatten sie sich nie durchringen können, obgleich Max seit mehreren Jahren eine neue Lebenspartnerin hatte und mit ihr auch eine kleine fünfjährige Tochter, Mirjams Halbschwester Susi.

Max war großgewachsen, eher schlank, aber doch mit dem leichten Ansatz von einem Bauch. Graublaue Augen, schöne, gepflegte Zähne, eine kleine runde Glatze am Hinterkopf, wie bei den Franziskanermönchen, eine durchweg sympathische Erscheinung.

Auf leisen Sohlen betrat er das Schlafzimmer, Noemi schien friedlich zu schlafen. Einer plötzlichen Eingebung folgend holte Max sein Handy hervor, rief zu Hause an und teilte mit, er werde die Nacht über bei Noemi bleiben. Er setzte sich in den einzigen einigermaßen bequemen Sessel und überlegte, was er nun tun sollte. Er konnte den Gedanken gar nicht zu Ende denken, da nickte er schon ein. Nach knappen zehn Minuten erwachte Max, voller Schrecken blickte er zu Noemi. Sie schlief weiterhin, und doch hatte Max das Gefühl, irgendetwas habe sich in der kurzen Zeit verändert, Noemi lächelte, ihr Atmen war sehr flach, kaum hörbar, das Ende nahte.

Keine Stunde war vergangen, als Noemi unruhig wurde. Max setzte sich auf den Bettrand und nahm Noemis Hände in die seinen, er sprach leise zu ihr, es war, als wolle er zusammen mit ihr den Kampf mit dem Tod aufnehmen.

Einen kurzen Augenblick schlug Noemi die Augen auf, sie konnte nicht mehr sprechen, es war auch nicht nötig, beide wussten, was sie einander bedeutet hatten, und sie waren für diese Zeit dankbar. Noch ein tiefer Atemzug, Noemis Kopf fiel auf die Seite.

Max verständigte den Notarzt.

Die Trauerfeier wurde so organisiert, wie es sich Noemi gewünscht hatte. Max hatte sich um alles gekümmert. Jetzt stellte sich die Frage, was aus der Wohnung werden sollte. Mirjam bat ihren Vater um einen Aufschub dieser Entscheidung. Sie war noch nicht fähig, sich von den Sachen ihrer Mutter zu trennen und überhaupt: Sie wollte möglichst bald ihre Reise nach Uruguay antreten.

Mirjam hatte eben ihr Psychologie-Studium abgeschlossen, sich allerdings nach dem Abschluss nicht sonderlich bemüht, eine Stelle zu finden, und so war sie jetzt frei.

Während des Studiums hatte sie immer da und dort gearbeitet und sich eine ansehnliche Summe zusammengespart. Mirjam hatte das Bedürfnis nach einer Auszeit. So kam ihr der Wunsch ihrer Mutter, in Uruguay ihren Spuren nachzugehen, mehr als gelegen. Dies war auch eine Erklärung ihrem Freund Matthias gegenüber, der zur Heirat drängte. Mirjam spürte jedoch, dass sie noch nicht soweit war. Es war jetzt nicht der Zeitpunkt, nachzufragen warum, weshalb, wieso sie vor der Hochzeit zurückscheute, es war einfach so. Sie konnte es sich selbst kaum erklären. Sie konnte Matthias nur versprechen, dass sie ihm nach ihrer Rückkehr eine Antwort geben würde. Seit drei Jahren waren Mirjam und Matthias ein Paar. Sie hatten sich auf einer Fortbildungsveranstaltung in einem Hypnoseseminar kennengelernt. Matthias sah gut aus, war sieben Jahre älter als Mirjam und hatte seit kurzem eine Stelle als Oberarzt in der Inneren Medizin.

Mirjam begab sich in das nächstbeste Reisebüro und buchte einen Flug Frankfurt-Madrid-Montevideo. Wann sie zurückkehren wolle, fragte die Angestellte, Mirjam wusste es nicht, das Datum für den Rückflug blieb offen.

In einer Woche sollte es losgehen, Pass und uruguayische Identitätskarte, die ‚cédula‘, waren in Ordnung, Koffer, Kleider, das war kein großes Problem. Jetzt musste sie sich aber an den PC setzen und herausfinden, wer von ihren Freunden und Bekannten überhaupt noch in Uruguay war und bei wem sie Unterschlupf finden könnte.

Flughafen: Madrid-Barajas.

Mirjam saß noch immer in der großen Flughafenhalle und überlegte, ob sie ihre E-Mails checken sollte. Leni, die Freundin ihrer Mutter, hatte ihr am Tag zuvor geschrieben und versprochen, sie am Flughafen von Montevideo abzuholen, aber was, wenn etwas dazwischen gekommen war? Sie kannte zwar die Adresse von Leni, hatte jedoch nur Dollars und keine uruguayische Pesos für ein Taxi bei sich. Ihre Spanischkenntnisse waren außerdem bescheiden, da Noemi mit ihr nie wirklich Spanisch gesprochen hatte. In ihrer Kindheit hatte ihr Noemi zwar häufig spanische Kinderlieder vorgesungen, aber das war dann auch schon alles. Nach der zweiten gemeinsamen Reise nach Uruguay hatte Mirjam beschlossen, einen Spanischkurs irgendwo in Spanien zu besuchen. Die Entscheidung fiel auf Granada. Sie wohnte bei einer älteren Spanierin und besuchte jeden Tag für drei Stunden einen Sprachkurs. Sie hatte gestaunt, wie leicht es ihr gefallen war, diese Sprache zu erlernen. Ihre Freude daran war groß gewesen und nach einem Monat hatte sie sich gut verständigen können, doch dies lag jetzt viele Jahre zurück.

Mirjam kam nicht dazu, weitere Überlegungen anzustellen. Der junge Mann, mit dem sie wenige Minuten zuvor Blicke ausgetauscht hatte, gesellte sich zu ihr und fragte: „Está libre?“ Er zeigte auf den Sitz neben ihr. Mirjam nickte, worauf er sich mit einem breiten Lächeln zu ihr setzte und sich mit „Juan Esteban“ vorstellte, seine Freunde würden ihn aber Johnny nennen. Juan Esteban erzählte, er habe vor neun Monaten sein Ingenieursstudium in Buenos Aires abgeschlossen und sei dann nach Europa gefahren. Seine Großeltern beiderseits stammten aus Italien und so sei es für ihn leicht gewesen, einen europäischen Pass zu bekommen und Europa zu bereisen. Es habe ihn schon immer interessiert, das Land seiner Ahnen kennenzulernen und er sei nun sehr zufrieden mit sich und den vielen Erfahrungen, die er gemacht habe.

„Wir unterhalten uns so gut, wollen wir nicht schauen, dass wir im Flieger zusammen sitzen? Was hast du für einen Platz? Wenn es dir recht ist, gehe ich zum Check-in und frage mal nach.“

Mirjam kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Erstens hatte sie bislang überhaupt kein Wort gesagt und zweitens hatte er sie einfach geduzt! Mirjam wusste nicht so recht, was sie von der ganzen Situation halten sollte, war dieser Johnny nicht ein wenig aufdringlich? Auf der anderen Seite war es amüsant und die Zeit verflog im Nu, während sie ihm zuhörte. Er sah auch gar nicht übel aus. Für einen ursprünglichen Italiener war er sehr hellhäutig, hatte grüne Augen und sein Lachen wirkte ansteckend. Während Mirjam mit sich rang, ob sie Johnny ihr Flugticket aushändigen sollte oder nicht, schaute er ihr über die Schulter und stellte fest, dass sie einen Flug nach Montevideo gebucht hatte, während er ja nach Buenos Aires flog. Enttäuschung machte sich auf Johnnys Gesicht breit, er wäre gerne zusammen mit ihr in seine Heimatstadt geflogen. Er bestand darauf, die E-Mail-Adressen auszutauschen und versprach zu schreiben. Sie würde sicher einmal nach Buenos Aires kommen und dann wolle er sie herumführen und ihr die Schönheit der Stadt zeigen.

Mirjam war erleichtert, dass es bei dieser flüchtigen Bekanntschaft blieb. Sie hatte eine Aufgabe und keine einfache. Sie hatte sich vorgenommen, jeden Tag in den Heften ihrer Mutter nachzulesen, Menschen aufzuspüren, die ihrer Mutter viel bedeutet hatten, Ortschaften, Landstriche und immer wieder das Meer aufzusuchen. Matthias hatte sie begleiten wollen, doch sie hatte den Kopf geschüttelt und Nein gesagt, diese Reise wollte sie alleine durchstehen.

Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme einer Stewardess: „IBERIA Flight Number 6012 is ready for boarding …“

Mirjam nahm ihren Platz ein, mit einem Fensterplatz in einer Zweierreihe hatte sie Glück. Neben ihr saß eine ältere Frau, die sich bereits in die Lektüre eines Buches vertieft hatte. Dieser Umstand kam Mirjam sehr gelegen, hatte sie doch auf diesen Moment gewartet, um mit dem Lesen der Aufzeichnungen ihrer Mutter zu beginnen. Sie kramte das Tagebuch aus dem kleinen Handkoffer hervor und versank in der Lektüre:

„Mein liebes Kleines, verzeih mir, wenn ich Dich so anrede. Du bist erwachsen, ich weiß das nur allzu gut, Du wirst diese Erfahrung auch einmal machen, wenn Du Mutter wirst. Die eigenen Kinder nimmt man ein Leben lang als ‚Kinder‘ wahr. Es ist diese unbeschreibliche Liebe, die man für sie empfindet und wahrscheinlich der unbewusste Wunsch, dass die Kinder für immer bei einem bleiben, man wünscht sich, man könnte sie sein Eigentum nennen. Natürlich ist dem nicht so, denn jeder Mensch gehört nur sich selbst. Wie dem auch sei, ich schreibe und kann nur hoffen, dass Du Dir daraus einen Reim machen kannst, es sind Erinnerungsfetzen von Erzähltem und Erlebtem.“

Weiter kam Mirjam nicht, ein Steward unterbrach sie mit barscher Stimme und fragte: „Pollo o pasta?“ Mirjam entschied sich für Pasta. Lustlos stocherte sie in ihrem Salat und dem Nudelgericht herum, ihr war nicht nach Essen zumute. Lesen mit dem Tablett vor sich war ein Ding der Unmöglichkeit. Mirjam schloss die Augen.

Sie war wohl eingeschlafen, denn als sie aufblickte, war es dunkel, das Tablett abgeräumt und der Bildschirm über ihrem Kopf flimmerte. Sollte sie das kleine Lämpchen anzünden und weiterlesen oder sich den Film anschauen, sie war unschlüssig. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sie das leise Schnarchen ihrer Nachbarin hörte. Es wäre unhöflich, sie mit Licht aufzuwecken. Morgen war auch noch ein Tag.

Der Flug war angenehm. Nur ab und zu gab es leichte Turbulenzen und aus dem Cockpit wurde man angehalten, sich anzuschnallen. Mirjam kannte keine Flugangst und schlief bald wieder ein.

Als sie erwachte und aus dem Fenster schaute, staunte sie über das wunderschöne Morgenrot, sie hatten bereits Sao Paulo überflogen, jetzt waren es nur noch zwei Stunden bis zur Ankunft in Montevideo. Sie hatte Heißhunger und obgleich das in einem Pappkarton servierte Frühstück ziemlich unappetitlich wirkte, aß sie alles auf. ‚Jetzt noch ein wenig weiterlesen und dann werden wir in Montevideo landen‘, dachte sie.

„Meine Eltern sind beide 1933 nach Uruguay emigriert. Meine Mutter kam zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Berlin. Mein Vater stammte aus Gleiwitz, das heute in Polen liegt. Meine Mutter war zwölf, mein Vater achtundzwanzig Jahre alt. Als Arzt hatte mein Vater bereits eine eigene Praxis als Neurologe geführt. Den Erzählungen zufolge realisierte er sehr früh, dass die politische Situation in Deutschland speziell für Juden immer schwieriger und kritischer wurde. Juden wurde es untersagt, nach Sonnenuntergang spazieren zu gehen, öffentliche Parkanlagen und bestimmte Gaststätten aufzusuchen. Anfeindungen waren an der Tagesordnung und als seine Praxis direkt angegriffen wurde, das heißt, Fensterscheiben eingeschlagen wurden, war es für meinen Vater offensichtlich, dass das weitere Leben in Deutschland für ihn unmöglich wurde. Sein Vater und sein Bruder waren bereits verstorben, seine Mutter, meine Großmutter, Deine Urgroßmutter lebte aber noch. Mein Vater versuchte sie zur Auswanderung zu bewegen, sie meinte jedoch, ‚die Suppe wird nicht so heiß gegessen wie sie gekocht wird‘ … 1942 erhielt mein Vater zum letzten Mal eine Nachricht von ihr. Dann wurde sie nach Auschwitz verschleppt und ermordet.

Gerne wäre mein Vater nach Palästina ausgewandert, doch dort waren Bauarbeiter und keine Ärzte gefragt, von denen es mehr als genug gab. Durch Zufall lernte mein Vater den damaligen Konsul aus Uruguay kennen, dieser beschrieb seine Heimat als ein Land, in dem Milch und Honig fließen und kurzentschlossen beantragte mein Vater ein Visum für dieses ihm völlig unbekannte lateinamerikanische Land. Mit einem kleinen Reisekoffer in der Hand startete mein Vater seine Reise ins Ungewisse, offiziell war er nur in die Ferien gefahren. Wenn mein Vater über seine Emigration erzählte, verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck, es war schmerzvoll ihm zuzuhören. Auch wenn er es nicht sagte, so hatte ich immer den Eindruck, dass er von Schuldgefühlen gequält wurde, weil er seine Mutter einem zweifelhaften Schicksal überlassen hatte.

Im Dezember 1933 erreichte mein Vater mit dem Schiff ‚Aldabi‘ aus Rotterdam den Hafen von Montevideo.“

Mit Tränen in den Augen hatte Mirjam diesen ersten Abschnitt über ihre Großeltern gelesen. Ihre Mutter hatte nie wirklich ausführlich über die eigene Familiengeschichte erzählt. Im Geschichtsunterricht hatten sie zwar den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung besprochen. Doch welch ein Unterschied, wenn man davon persönlich betroffen war, auch dann noch, wenn es schon so lange zurücklag.

Im Moment konnte sie nicht mehr weiterlesen, sie verstaute das Heft in ihrem Handgepäck.

Ein Blick durch das Fenster und vor ihnen lag schon der Río de la Plata: ein Strand reihte sich an den anderen, zwischendurch zeigten sich kleinere Felsformationen, das Wasser schimmerte im Sonnenlicht silbern, kein Wunder also, dass der Fluss diesen Namen trug. Der Fluss mit seinem ruhigen Wasserlauf, glitzernder Oberfläche und unendlicher Weite glich einem Meer. Der Anblick übte auf Mirjam eine beruhigende Wirkung aus und spendete ihr zugleich Trost.

Sie sah in Gedanken ihre Mutter vor sich und verstand nun, was ihre Mutter immer kurz vor der Ankunft in Montevideo gefühlt hatte: eine Mischung aus Traurigkeit und freudiger Erwartung. Traurigkeit um die verlorenen Wurzeln seitens der Mutter und gleichzeitig die freudige Erwartung, diese wieder zu finden. Im Grunde genommen war sie nicht nur auf Spurensuche nach den Wurzeln ihrer Mutter, sondern auch ihrer eigenen. Mirjam wurde sich bewusst, wie sehr sie sich nach ihrer Mutter sehnte. Sie wunderte sich über sich selbst, da ihre traurige Stimmung nun in eine heitere Stimmungslage umschlug. In Gedanken fühlte sie sich mit ihrer Mutter stark verbunden.

2.

Montevideo, Anfang September 2010.

Die Sonne stach Mirjam in die Augen. Diese Helligkeit, dabei war es nicht einmal Sommer und die Temperatur war noch angenehm mild. Mirjam war aufgeregt, sie hantierte mit dem kleinen Handkoffer und stolperte mehrmals über ihre Füße. Ich muss mich zusammenreißen, sagte sie sich, aber wie sollte sie sich verhalten, sollte sie den deutschen Pass vorzeigen oder die ‚cédula‘? Das konnte lustig werden, wenn sie jetzt schon aus einer Ameise einen Elefanten machte …

Fünf Passagiere standen noch vor ihr, dann war sie an der Reihe, sie zeigte den deutschen Pass und die ‚cédula‘. Die junge Frau am Schalter lächelte freundlich, stempelte den deutschen Pass, machte einige lustige Bemerkungen und wünschte Mirjam einen schönen Aufenthalt. Mirjam hauchte ein ‚gracias‘ und begab sich zur Gepäckausgabe. Nur langsam kam das Band ins Rollen und noch langsamer gestaltete sich die Kofferausgabe. Zuerst kam Frachtgut an und da, der erste Koffer. Mirjam hatte Glück, ihr Koffer kam bereits an fünfzehnter Stelle, um die Zeit totzuschlagen, hatte sie die Koffer gezählt. Mirjam fiel den Zollbeamten nicht weiter auf, sie konnte sich geradeaus zum Ausgang begeben.

Menschen über Menschen, ein ohrenbetäubender Lärm, alles lachte wild durcheinander, Umarmungen, Küsse, ‚hola, hola‘, ein wahres Spektakel und da plötzlich ein Plakat, auf dem mit Druckbuchstaben groß ihr Name stand: M I R J A M.

So schnell sie vermochte, eilte sie in die Richtung, zärtliche Arme umschlangen sie, Leni hatte sie schnell entdeckt und erkannt!

„Mein Gott, wie siehst du deiner Mutter ähnlich, ich freue mich so, dich wiederzusehen“, rief Leni, „sei willkommen, bienvenida en Montevideo!“

Mirjam fühlte sich sofort wohl in Lenis Obhut, es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie zusammen mit ihrer Mutter das letzte Mal in Montevideo angekommen war, und dabei waren seither doch schon sieben Jahre vergangen.

Fröhlich verließen sie den schönen neuen Flughafen von Montevideo. Leni konnte nicht umhin, Mirjam voller Stolz zu erzählen, dass der neue Flughafen erst vor wenigen Monaten in Betrieb genommen worden war. Ein fantastischer Bau mit einem runden Kuppeldach und auf dem Fuβboden Fotos unzähliger Gesichter, jung und alt, alle lächelnd, um die Neuankömmlinge willkommen zu heißen.

Draußen wartete ein spezielles Taxi, eine sogenannte Remise, der Chauffeur begrüßte Mirjam und nahm ihr sogleich das Gepäck ab, während die zwei Frauen in das Auto stiegen.

Riesige Eukalyptusbäume umsäumten die Allee in Richtung der ‚rambla‘, der Uferpromenade. Der Himmel war blau, keine einzige Wolke war zu sehen.

Mirjam hatte das Fenster runtergekurbelt und atmete die frische Luft ein, es war nicht mehr weit bis zum Meer.

Leni war Noemis lebenslange Freundin, zehn Jahre älter als Noemi. Wenn Noemi von ihr erzählt hatte, sprach sie immer wie von ihrer „großen Schwester“.

Leni hatte einen liebevollen Gesichtsausdruck, sie war großgewachsen, mit ihrem überlangen Rock, dem Kaschmirpulli und der weißen Perlenkette wirkte sie jedoch ein wenig streng. ‚Eine echte Dame‘, dachte Mirjam. Schon die Eltern der beiden Freundinnen waren gute Freunde gewesen. Mirjam erinnerte sich, dass Noemi ihr die Geschichte erzählt hatte, wie sich ihre Eltern kennengelernt hatten: Lenis Mutter hatte von Bekannten eine goldene Kette für Mirjams Großvater aus Deutschland nach Uruguay geschmuggelt. Die Auswanderung im Jahr 1938 war mit vielen Gefahren verbunden und jedermann wusste, was es zur damaligen Zeit hieß, Schmuck vor den Nazis zu verstecken. Wurde man entdeckt, war der Weg ins KZ unausweichlich. Schicksalsgemeinschaften und Freundschaften entwickelten sich so zwischen diesen Menschen und solche Freundschaften übertrugen sich von einer Generation auf die nächste. Man spricht immer davon, dass Familienbande die stärksten Bindeglieder sind, doch die Emigration hat Ähnliches vollbracht.

Sie fuhren die Uferstraße entlang: Carrasco, Punta Gorda, Malvín, ein Strand schöner als der andere und menschenleer. Es war Frühling, kurz vor Mittag, das Thermometer zeigte angenehme zwanzig Grad, das war für Uruguayer noch viel zu kalt zum Baden. Sie fuhren am schönen Jachthafen Puerto del Buceo vorbei und kamen in Pocitos, dem Stadtteil mit den großen, modernen Hochhäusern, an. Es erinnerte ein wenig an Rio de Janeiros berühmte Copacabana, nur in Miniaturausgabe.

Zuhause angekommen, wurden sie von Celia empfangen, Lenis achtzigjähriger Hausangestellten, die gute Seele der Familie. Sie hatte das Mittagessen vorbereitet und nachdem Mirjam ihr Zimmer bezogen hatte, konnte sie sich an den schön gedeckten Tisch setzen. Es war gediegen und gemütlich zugleich. Ein schönes Tischtuch mit kleinen Besonderheiten, welche die Tafel zierten: Messerbänkchen, Stoffservietten in Silberringen und auch Blumen fehlten nicht. Noemi hatte oft erzählt, wie sehr sie sich in Deutschland nach all diesen kleinen Details sehnte, die sie von zu Hause her kannte.

‚Milanesas‘, ‚zapallitos rellenos‘ wurden aufgetischt, es schmeckte alles herrlich. ‚Von jetzt an mein Lieblingsessen‘, dachte Mirjam.

Leni und Mirjam genossen die gemeinsame Mahlzeit. Beim Nachtisch, einem herrlichen ‚postre chajá‘, der aus Biskuit, Baisers und Pfirsich kunstvoll angerichtet war, konnte Leni ihre Fragen nicht länger zurückhalten. „Mirjam, wenn du erzählen magst, würde ich gerne hören, wie Noemi ihre letzten Stunden verlebt hat, musste sie sehr leiden? War dein Vater zugegen? Was geschieht mit der Wohnung? Welche Pläne hast du für dich? Die letzten Monate müssen sehr aufreibend für dich gewesen sein.“

Mirjam verschluckte sich, musste mehrmals husten und niesen, die Fragen hatten sie aus dem Konzept gebracht, so viele auf einmal, wie sollte sie nur anfangen. Das Telefon läutete, eine willkommene Ablenkung. Mirjam atmete tief durch, nutzte die kurze Pause, um ihre Gedanken zu ordnen und dann erzählte sie.

Stunde um Stunde verging, die beiden Frauen hatten sich nach dem Essen auf das bequeme Sofa im ‚living‘ gesetzt und Mirjam sprach ununterbrochen. Es tat ihr gut, bei Leni endlich ihr Herz auszuschütten, weder Matthias noch ihre Freundinnen hätten je die Geduld aufgebracht, ihr so lange einfach nur zuzuhören.

Mirjam spürte eine wohlige Müdigkeit, die Augen fielen ihr immer wieder zu, bis Leni meinte, es sei jetzt Zeit, eine kleine Siesta abzuhalten. Sie brachte Mirjam noch zu ihrem Zimmer, ehe sie sich auch zurückzog.

Nach der Siesta war Mirjam wieder zu Kräften gekommen und konnte kaum stillhalten, ein enormer Bewegungsdrang machte sich bei ihr bemerkbar. Leni schien dies vorausgesehen zu haben und hatte bereits einen kleinen Stadtplan zurechtgelegt. Sie zeigte Mirjam darauf den Weg zur Uferpromenade, der ‚rambla‘.

„Du gehst immer geradeaus und dann entscheidest du, ob du nach rechts oder links möchtest. Verlaufen oder den Weg verfehlen, das ist kaum möglich.“ Mirjam überlegte nicht lange und machte sich auf den Weg.

An der Rambla angelangt, setzte sie sich auf eine der Sitzbänke und beobachtete das Treiben an diesem schönen Frühlingsnachmittag. Der Himmel war leuchtend blau und die Luft kristallklar. Man ging spazieren, eine Gruppe Jugendlicher lief auf Rollschuhen, ein kleines Mädchen zerrte an der Hand des Kindermädchens und diese hatte ihre liebe Mühe, das Mädchen in Schach zu halten, während sie gleichzeitig einen Kinderwagen vor sich her schob. Ein uraltes Ehepaar ging Hand in Hand spazieren, ein Hundesitter führte sieben Hunde an Leinen aus; das hatte sie noch nie erlebt. Zwei ältere Männer joggten und aus einem am Straßenrand geparkten Auto ertönte laute Musik. Am Strand wurde Fußball gespielt: pulsierendes Leben. ‚Verwirrend und aufregend, all diese vielen neuen Eindrücke‘, dachte Mirjam.

Nach einer knappen Stunde kehrte sie nach Hause zu Leni zurück und überlegte:

„Erst gestern war ich noch in Frankfurt, heute bin ich in Montevideo und es kommt mir vor, als wäre ich schon seit Wochen hier.“

„Wir wollen heute etwas früher zu Abend essen, im Allgemeinen wird hier erst ab einundzwanzig Uhr gegessen, aber du bist eben erst angekommen und solltest dich ausruhen.“

Leni hatte die Mutterrolle übernommen, Mirjam gefiel das.

‚Ich kann es kaum glauben, ich bin in Montevideo, weit weg von zu Hause und im Einklang mit mir selbst. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass meine Stimmung schnell umschlagen kann, ich bin gespannt wie es weitergeht.‘

Mirjam nahm die Aufzeichnungen ihrer Mutter zur Hand und las:

„Mein Kleines, ich frage mich, wo Du jetzt wohl bist, noch in Frankfurt oder bereits in Montevideo? Ich erzähle Dir ein wenig weiter, wie das damals so war. Deine Urgroßeltern mütterlicherseits stammten aus Berlin. Dein Urgroßvater war Teilhaber bei Telefunken. Sie führten ein gutbürgerliches Leben. In Uruguay angekommen, änderte sich das. Auf einmal waren sie arme Leute. Dein Großvater traf Deine Großmutter das erste Mal, als sie dreizehn Jahre alt war. Sie litt an einer Halsentzündung und er machte einen Hausbesuch. Weißt Du, Dein Großvater war der einzige Arzt, der es auf sich genommen hat, das uruguayische Examen nachzuholen, um offiziell eine Arztpraxis führen zu können. Jahre später trafen sie sich wieder. Aus der ehemaligen kleinen Patientin war eine bildhübsche junge Frau geworden. Sie hatte schwere Zeiten durchgemacht, ihre Schulausbildung hatte sie nicht zu Ende führen können, sie musste stattdessen Geld verdienen. Meine Mutter hat sich aber immer weitergebildet, beherrschte Deutsch, Spanisch und Englisch und war später die Sekretärin meines Vaters.

Urgroßeltern mütterlicherseits

Dein Großvater war damals schon eine angesehene Persönlichkeit. Als sie sich wiedertrafen, war sie dreiundzwanzig und er neununddreißig Jahre alt. Sie verliebten und liebten sich. Als ich dann unterwegs war, heirateten sie. Die Schwangerschaft meiner Mutter wurde von keinem geringeren als von Professor Ludwig Fraenkel begleitet. Wie mein Vater stammte auch er aus Oberschlesien und war ebenfalls nach Montevideo ausgewandert. Seine Eltern sind Hitler zum Opfer gefallen. Die kleine Tischglocke auf meinem Schreibtisch habe ich von ihm geerbt. Es wäre schön, wenn sie von jetzt an bei Dir stehen würde.

Hast Du es bemerkt? Die Geschichte hat sich wiederholt: Als Du unterwegs warst, haben Dein Vater und ich geheiratet.

Ich wuchs in einer großen Wohnung an der ‚Avenida 18 de Julio‘, der Hauptstraße im ‚centro‘, das heißt, in der Innenstadt, auf. Das Haus mit seinen fünf Stockwerken wurde später leider abgerissen, die frühere Prachtstraße ist heute nicht mehr das, was sie einmal war. Das Denkmal ‚El Gaucho‘ steht jedoch nach wie vor an seinem Platz, ebenso die ‚Merceria del Cordón‘, ein kleiner Laden, wo Du immer noch Wolle, Nähseide, aber auch Unterwäsche, Strümpfe und vielleicht auch noch handgestickte Taschentücher kaufen kannst. Dort riecht es so schön muffig. Der Geruch ist mir vertraut und lässt Erinnerungen an vergangene Zeiten aufkommen. Bei einem meiner Besuche in Montevideo bin ich hingegangen, eine Verkäuferin fragte mich nach meinen Wünschen und ich sagte, ich wolle mich nur ein wenig umschauen. Sie fand mein Ansinnen wohl etwas merkwürdig und rief den Besitzer. Dieser war sofort zur Stelle und als ich ihm erzählte, dass ich als kleines Mädchen mit meiner Mutter oft in diesem Laden gewesen sei, schaute er mich lange an und auf einmal blitzte es in seinen Augen auf: Ob ich denn nicht die Tochter vom Doktor sei, der in Nr. 1489 nebenan gewohnt habe?

Jüdische Privatschule Berlin, ca. 1930

Mirjams Großmutter: 2. Reihe, 2. Mädchen von links

Ich wuchs sehr geborgen und verwöhnt auf, wir hatten eine Hausangestellte, die bei uns wohnte. Ein Kindermädchen kam jeweils am Vormittag und eine Waschfrau jeden Dienstag. Als ich älter wurde, verbrachte ich häufig die Siesta mit unserer Hausangestellten. Wir hörten Folklore- und Tango-Musik, und ich durfte mit ihr ‚mate‘ trinken. Mein Vater sah es zwar nicht gern, er meinte, das sei keine ‚Kultur‘, verbieten konnte und wollte er es aber auch nicht. Es wäre für ihn gleichbedeutend mit der Missachtung der Würde des Hausmädchens gewesen. Zuhause wurde Deutsch gesprochen, ich antwortete allerdings auf Spanisch, da mir diese Sprache geläufiger war.