Aus vollem Leben - Nataly von Eschstruth - E-Book

Aus vollem Leben E-Book

Nataly von Eschstruth

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Beschreibung

Hübsche, kurze und humorvolle, aber auch nachdenklich stimmende Erzählungen voller Gefühl und mit viel Sinn für besondere Stimmungen und Situationen: Rosen unterm Schnee. – Frühlings-Orakel. – Die graue Schwester. – Frieden auf Erden. – Regenwetter. – Ein gemütlicher Weihnachtsabend. – Es steht geschrieben. – Das Dokument. – Der Weihnachtshase. – Lieblos. – Neujahrsglocken. – Ahnungen.-

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Nataly von Eschstruth

Aus vollem Leben

Novellen und Erzählungen

Saga

Aus vollem Leben

German

© 1900 Nataly von Eschstruth

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711470022

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Rosen unterm Schnee.

Es war eine milde, mondhelle Frühlingsnacht.

Silbern verschleiert tauchten die gewaltigen Berghäupter aus den tiefen Thalschatten empor, die Wellen des Flusses, welche so eilig und geschwätzig zwischen den hohen Ufern dahin schäumten, glitzerten in zauberhafter Schöne, wie ein breites Silberband, welches Feenhände um die Stirn der schlafenden Erde geschlungen, und aus dem nahen Wald wogte duftiger Lenzesodem, köstlich rein und frisch, durchduftet von den Blüten, welche im Garten die jungen Gesichtchen dem Vollmond zuwandten.

Die Nachtigallen jubelten und klagten aus dem blühenden Flieder empor, und die beiden jungen Mädchen, die an dem offenen Fenster des altehrwürdigen Hauses lehnten und voll schweigenden Entzückens in dieses Maienparadies hinausträumten, umschlangen sich fester und inniger und schmiegten die rosigen Wangen aneinander, wie zwei Menschenkinder, die in Liebe und Treue Eins geworden sind.

Nora und Otty waren Pensionsgenossinnen und hatten in dem grauen Hause, das so heimlich und versteckt wie ein Dornröschen in seinem Blütengarten lag, drei glückselige Jugendjahre verlebt.

Sie hatten sich sogleich vom ersten Blick an gefunden, als die zierliche kleine Otty mit den kecken, dunkelblitzenden Augen, welche freilich in diesem Moment recht verweint und schüchtern blickten, zum erstenmal in den Kreis der Pensionärinnen geführt wurde.

Da sah sie, wie die jungen Mädchen ihr recht neugierig, prüfend und musternd entgegenblickten, wie sie spöttisch die Näschen über ihre thränenfeuchten Wangen rümpften, ihren altmodischen Mantel und Hut heimlich verspotteten und sich unmerkliche Zeichen machten, die ein allgemeines Lippenbeissen und unterdrücktes Kichern zur Folge hatten. Nur ein paar grosse, ernste, leuchtend blaue Mädchenaugen richteten sich voll herzlicher Teilnahme auf die Neuangekommene, und die schlanke, blonde Nora trat freundlich neben die kleine Otty, legte den Arm um sie und küsste sie auf die Wange.

„Wir wollen gute Kameradschaft halten, Otty Florenzius!“ sagte sie herzlich; „wir werden in einem Zimmer wohnen, und ich hoffe, dass wir viele schöne Jahre miteinander darin verleben!“ —

„Natürlich, Nora bekommt stets die Neulinge zum Eindressieren!“ lachte eine Stimme aus der Schar der anderen jungen Mädchen, und abermals erhob sich ein allgemeines Kichern und Prusten; Otty aber umklammerte jählings die Hand ihrer schlanken Beschützerin und lächelte unter Thränen zu ihr auf: „Wie freue ich mich, dass gerade du mit mir zusammen wohnen sollst! Ich bin von daheim so viel Liebe gewöhnt, Grossmama war Tag und Nacht um mich, und mein guter Vater verzog und verwöhnte mich so sehr! Nun Grossmutterchen tot ist, ward es notwendig, dass ich in eine Pension kam, — ach ... und du glaubst nicht, Nora, wie schwer es ist, wenn man zum erstenmal von Hause fortkommt!“

„Ihr wohnt auf dem Lande, Otty?“

„Ja, Papa besitzt ein schönes, grosses Gut, aber es ist einsam gelegen, und weil Grossmama kränklich war und Vater sehr still und wortkarg ist, so hatten wir keinen Verkehr. Du musst also schon Geduld mit mir haben, liebe Nora, wenn ich in erster Zeit allzu scheu und sonderbar bin, — ich denke, ich überwinde es aber bald.“ — Nora nickte ihr lächelnd zu und hatte viel Geduld und viele Liebe zu dem armen, jungen Kind, welches gar bald Qualen des Heimwehs litt und zu niemand Vertrauen fasste, als zu der stillen, ernsten Nora mit dem Madonnengesicht und den Veilchenaugen.

Eine innige, grosse Freundschaft entwickelte sich aus diesem täglichen Verkehr, und als ein paar Monate vergangen waren, da hatten die beiden jungen Mädchen ahnungslos die Stellen getauscht.

Aus der schüchternen, etwas altmodisch erzogenen Otty war ein lebenslustiges, elegantes und bildhübsches Mädchen geworden, das bald im Kreise der Gefährtinnen tonangebend war. Es war bald bekannt geworden, dass Otty eine reiche Erbin war, — ihr Vater versorgte sie in ausgiebigster Weise mit Geld, — und da die Pension keine allzu strenge war, sondern den jungen Mädchen hauptsächlich Umgangsformen und eine Ausbildung in schönen Künsten, Musik, Malerei und Gesang geben sollte, so konnte Otty nach Herzenslust in den Magazinen der Stadt einkaufen, um sich modern und elegant zu kleiden, oder sich und ihre Mitschülerinnen durch allerhand Näschereien zu erfreuen.

Aus dem ehemals so unscheinbar aussehenden Mädchen entwickelte sich in der Stadtluft gar bald ein recht elegantes, allerliebstes kleines Fräulein, dessen sprudelnde Laune und Lebhaftigkeit ihr alle Herzen gewann. Nora sah oft ein wenig besorgt in die kecken, lustblitzenden Augen, welche das Leben so gar nicht ernst nehmen wollten, und sie musste oft ihren ruhigen, gesitteten Einfluss geltend machen, wenn die leichtsinnige kleine Freundin trotz aller Vorstellungen die rosa Briefchen aufhob und mit leisem Gelächter las, die ihre Verehrer heimlich über den Gartenzaun warfen.

Nora war sehr ärgerlich, wenn ihre Freundin während der Spaziergänge mit den Primanern und Fähnrichen kokettierte und sich in den Tanzstunden allzu sehr den Hof machen liess: aber wenn sie ihre Ermahnungen anhub, schlang Otty stürmisch den Arm um ihren Nacken, blickte ihr mit den blitzend dunklen Augen so voll Übermut und strahlender Heiterkeit in das Antlitz und jubelte so herzgewinnend froh und kindlich heiter: „Nora vergieb mir! — ach es ist ja so schön, sich zu amüsieren, sich anbeten zu lassen, du weisst, Nora, dass ich es nicht böse meine, wenn ich lache und tanze!“ — dass die ernste Freundin wohl oder übel sich drein finden musste.

„Ja, Otty, ich weiss es, dass du nicht die Absicht hast, kokett zu sein, — dein Wesen hat nur leicht diesen Anschein, und darum solltest du alles vermeiden, was es auffällig macht! Ich begreife nicht, wie du Menschen, die dir gleichgültig sind, ja über die du heimlich deine Witze machst, so anmutig anlächeln und sie mit so bezaubernden Augen ansehen kannst! Ich wäre dies gar nicht imstande, denn es ist doch immer ein bisschen Falschheit, den Menschen Empfindungen zu zeigen, die man nicht für sie fühlt!“

Otty lachte hell auf: „Ja du! Du liebe Heilige! Du nimmst alles so furchtbar ernst und solide wie eine Nonne! Wo sollte dann die Fröhlichkeit herkommen, wenn wir alle Leute nach unseren ehrlichsten Gefühlen behandeln wollten! Da würden wir das Lachen bald verlernen! Dass ich recht in diesem Punkte habe, kannst du schon an den Erfolgen sehen! Du bildhübsches, grosses, schlankes Mädchen mit dem ewig ernsten, stillen Wesen stehst unbeachtet beiseite, weil du es in deiner Redlichkeit nicht fertig bringst, den Menschen ein X für ein U zu machen! Ich garstiger kleiner Sprühteufel hingegen bin umschwärmt und verehrt wie ein Götzenbild, warum? Weil ich es mit der Aufrichtigkeit nicht allzu genau nehme, sondern die Menschen in meinem Interesse ausnutze. Du nennst das unedel — und egoistisch — und Gott weiss wie noch! Aber du musst mir zugeben, dass es trotz alledem praktisch und weltklug ist, und dass ich sehr viel bessere Geschäfte im Leben machen werde, als du, mein Liebling!“ —

Nora schüttelte traurig den Kopf — und doch konnte sie der kleinen Schelmin nicht zürnen, im Gegenteil, gerade die grossen Gegensätze ihrer Charaktere berührten sich sympathisch, und wenn Otty auch in allen anderen Dingen wankelmütig und selbstsüchtig erschien, — in ihrer Freundschaft war sie es nicht, — im Gegenteil, sie kannte keine grössere Freude, als Nora Beweise ihrer Liebe und Zärtlichkeit zu geben, sie überschüttete sie mit Geschenken und fand gar nicht genug Worte, um die Freundin ihrer Liebe und Treue zu versichern.

So waren drei Jahre wie im Flug entschwunden, eine glückselige, harmonische Zeit, an die alle Pensionärinnen voll dankbaren Entzückens zurückdachten.

Nun hatten Noras Eltern die Tochter heimgerufen, und die beiden Freundinnen sassen zum letztenmal Arm in Arm an dem offenen Fenster ihres lieben, trauten Stübchens, um die ganze Poesie solch eines Trennungsschmerzes voll bitter-süsser Thränen auszukosten.

„Nora — wirst du mich auch nicht vergessen?“ — schluchzte Otty und umschlang die Gestalt der Freundin voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit.

Nora küsste die fragenden Lippen: „Welch ein Gedanke, mein Liebling! Du weisst, dass mein ganzes Herz voll steter Treue dir allein angehört!“

Otty richtete sich empor und blickte forschend in das vom Mondlicht beschienene Gesicht der Sprecherin. „Nein, Nora! Das weiss ich nicht!“ stiess sie erregt hervor; „früher war ich dessen wohl gewiss, aber seit kurzer Zeit — seit du den dritten Brief aus Düsseldorf bekamst — — —“

Nora zuckte leicht zusammen. „Aber Otty — ich verstehe dich nicht —! Was meinst du damit?“

„Was ich meine?! Dass du seit jenem Tage ein Geheimnis vor mir hast, Nora! O glaube ja nicht, dass ich so kurzsichtig und thöricht bin! Ich habe es wohl gesehen, wie heiss du erglühtest, als dein Blick die Briefadresse traf, — du kanntest die Schriftzüge ganz genau, und dann verliessest du unter einem Vorwand das Zimmer, um das Schreiben heimlich öffnen zu können. Heimlich, Nora! Heimlichkeiten auch vor mir! Glaubst du, ich hätte dich nicht beobachtet? Wie verklärt sahst du aus! Deine Augen strahlten! Dein ganzes Wesen war verändert und ist es auch noch; soll ich dir sagen, warum? Du hast ein Bild erhalten, von einer Person, welche du viel — viel — ach tausendmal lieber hast, als mich!“

Und Otty barg ihr Antlitz schluchzend an der Schulter der Freundin.

Nora von Rastatt war heiss erglüht. Sie atmete schwer auf und drückte die bebende Gestalt der Kleinen fest und innig an sich.

„Nein, Otty — nicht tausendmal lieber ... wohl aber ... ach, wohl aber ebenso lieb wie dich!“ sagte sie leise mit ihrer weichen, seelenvollen Stimme.

Otty Florenzius hob jählings das Köpfchen. „Also doch! O du Böse! Und davon hättest du mir freiwillig kein Wort gesagt! Ist das etwa ehrliche Freundschaft, wie?!“

Nora verschlang die bebenden Hände. „Verzeih mir, Otty! — Ich sehe es selber ein, dass ich vielleicht unrecht that, dir etwas zu verheimlichen, was seit Jahren schon meine ganze Seele erfüllte! Aber es giebt Empfindungen, die nicht zum müssigen Geschwätz erniedrigt werden dürfen, und je heiliger ein Gefühl ist, desto sorgsamer verbirgt man es!“ —

Einen kurzen, schweren Kampf kämpfte sie mit sich, dann aber schlang sie jählings die Arme um Otty, blickte ihr wie in beschwörender Frage ins Gesicht und flüsterte: „Meinst du es treu mit mir, Otty — von ganzem Herzen treu?“ —

Die Kleine faltete hastig die Händchen über der Brust: „Treu bis in den Tod! — Ich werde dein Geheimnis ewig hüten und wahren!“

Nora küsste sie auf die Lippen, zog das dunkle Lockenköpfchen fester an sich und flüsterte: „So höre. Es war ein halbes Jahr nach meiner Konfirmation, als meine Eltern mich selber hierher in die Pension brachten, wo ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahre bleiben sollte, denn in meinem kleinen Heimatstädtchen hatte ich keine Gelegenheit, mich in der Musik auszubilden.

Wir reisten über Düsseldorf, und an der Bahn empfing uns der Sohn eines intimen Jugendfreundes meines Vaters.

Er hiess Raoul von Glärnisch und bildete sein hervorragendes Maltalent auf der Akademie in Düsseldorf aus. — O Otty — welch ein Augenblick, als ich ihm zuerst in die Augen sah! — Ich bin seit jeher ein stilles, ernstes Mädchen gewesen, ich habe niemals geschwärmt und mich bald hier, bald dort begeistert, wie du, kleine Libelle! — Ich bin schwerblütig beanlagt, und ein Gefühl, das mich beherrscht, ist keine Eintagsfliege, sondern ein Stück Leben, ein Teil meines ureigensten Ichs. — Nie zuvor hatte ich einen Menschen kennen gelernt, der einen so tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, wie Raoul! Seine ideale, sonnige Schönheit entzückte mich, seine Liebenswürdigkeit liess mein Herz höher schlagen, seine Kunst, sein reiches Wissen imponierten mir. — Und es war, als ob eine geheime Zaubermacht auch sein Herz in Banden geschlagen. Inniger und zärtlicher ruhte sein Blick auf mir, länger hielt er meine Hand, fester, ausdrucksvoller drückte er sie.

‚Fräulein Nora — wissen Sie wohl, was ich möchte?‘

Ich blickte fragend in seine leuchtenden Augen auf.

‚Als Ingeborg möchte ich Sie malen!‘ rief er leidenschaftlich: ‚Auf einsamem Felsstein am Meere sitzend, das blonde, herrliche Haar gelöst im Winde flatternd, den Falken auf der Hand und den Blick voll tiefen Liebessehnens hinaus auf das graue Nordlandsmeer gerichtet —:

Konnt fernhin sehn —

Die Segel wehn!

Ach sie dürfen Fritjof auf weiten

Meeren geleiten!‘

Ich ward sehr verlegen bei seinen schmeichelhaften Worten, noch verlegener aber senkte ich die Blicke, als ich in seine Augen schaute, die noch viel mehr, — ach so unendlich viel mehr sagten, als diese Worte!

Mein Vater lachte. ‚Könnte wahrlich ein schönes Bild werden, Raoul! Fürerst aber machen Sie Ihre Studien dazu, und Nora spielt noch zwei oder drei Jahre Fingerübungen und Sonaten in ihrer Pension! Wenn ihr dann beide fertig ausgebildet seid und mein Mädel zu uns heimkommt, melden Sie sich zum Besuch an, Freund Glärnisch, und malen die Ingeborg!‘

O wie jauchzte mein Herz bei diesem Gedanken, wie flammte es so heiss und verräterisch in meinen Augen auf!

Nachmittags fuhren wir rheinab, und Raoul begleitete uns.

Es war eine Mondnacht — so wie heute! Lind und duftig — zauberhaft schön und blütenfrisch wie jene Maiennacht, da der Trompeter unter das Turmfenster seiner Margareta trat und das Lied blies: ‚Jung Werner ist der glückseligste Mann im römischen Reich geworden!‘ — Ach Otty, auch ich ward in jenem Frühlingswehen das glückseligste Wesen auf Gottes weiter Welt! Raoul stand neben mir an dem Schiffsgeländer und träumte gleich mir still in die Pracht hinaus, welche, in silberne Lichtfluten getaucht, an uns vorüberzog. —

Und plötzlich nahm er meine Hand in die seine, drückte sie voll leidenschaftlicher Innigkeit und neigte sich nahe, ganz nahe zu mir.

Was er da alles in mein Ohr flüsterte — o ich weiss es noch so genau und vermöchte doch nicht, es zu wiederholen! Aber in jener seligen Stunde gelobten wir uns einander an, und siehst du, Otty, das ist der Grund, warum ich mich so still von allen Vergnügungen, die euch entzückten, zurückzog; warum ich nach keinem andern Herrn blickte und keine Aufmerksamkeiten und Huldigungen duldete. Ich liebe Raoul! Und diese Liebe wird meines ganzen Lebens Inhalt sein! — Du wirst das noch nicht verstehen, mein Liebling, denn dein flatterhaftes Herzchen hat die grosse, heilige und wahre Liebe, die selbst den Tod überdauert, noch nicht kennen gelernt!“

„Aber ich werde sie kennen lernen, Nora!“ rief das junge Mädchen mit glühenden Wangen und presste die Freundin leidenschaftlich an die Brust, „und ich werde so lieben wie du! Treu bis in den Tod! O wehe mir, wenn mich dann der Erkorene nicht wiederlieben würde! Ich ginge zu Grunde an solchem Unglück! Doch warum jetzt an so etwas denken! Jetzt, wo ich mich mit dir freuen und vor Glückseligkeit in alle Welt hineinjubeln möchte! Der Brief aus Düsseldorf war natürlich von ihm, dem Herrlichsten von allen — und er hat dir sein Bild geschickt — und was geschrieben?“

„Was er schrieb?“ Nora lächelte wie verklärt. „Dass er nun meines Vaters Wort einfordern und zu uns kommen wolle, um seine Ingeborg zu malen!“ flüsterte sie und strich mit der Hand wie träumend über ihr glänzendes, goldblondes Haar —: „Ach Otty, — du ahnst nicht, was dieses Wiedersehen für mich bedeutet! Den Gipfel alles Glückes! Die Erfüllung all meiner sehnlichsten Wünsche, die Verwirklichung alles dessen, was mir die vermessensten Träume vorgegaukelt!“

Otty nahm das glühende Antlitz der Specherin zwischen ihre kleinen, heissen Hände und küsste stürmisch Wangen und Mund.

„Ja, du wirst glücklich sein, Teuerste! Und ich werde mich in deinem Glück sonnen und mich mit dir freuen! Wer verdient es mehr auf der Welt, als du! — Aber ach —“ und die Sprecherin schlug plötzlich die Hände vor das erregte Gesichtchen und schluchzte laut auf, „wenn du dich verlobst und verheiratest, dann wirst du mich um des Geliebten willen vergessen, dann wird unsere Freundschaft zu Grabe gelegt werden, denn nicht umsonst heisst es: ‚Hochzeitsglocken sind der Freundschaft Sterbeglocken!‘ —“

Nora zog die Weinende voll grosser Innigkeit an sich. „Daran glaubst du selber nicht, Otty!“ sagte sie sehr ernst, „dazu kennst du mich zu gut! — Du weisst, dass ich nichts im Leben so hoch und heilig halte wie die Treue! — Wem ich jemals die Treue gelobte, dem halte ich sie unverbrüchlich, mag da kommen, was wolle, mag sie noch so schwer auf die Probe gestellt werden, ich breche sie nicht; aber ich verlange auch von denen, welchen ich mein Herz so völlig zu eigen gebe, dass sie nur wieder die Treue halten! — Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen, Kleine, wohl aber könnte ich um dein sorgloses, flatterhaftes Herzchen bangen, dass es mir nicht eines schönen Tages doch davonfliegt und die arme Nora einsam und unglücklich zurücklässt!“

Otty schüttelte heftig die dunklen Löckchen aus der Stirn und umarmte die Freundin in ihrer erregten, leidenschaftlichen Weise so ungestüm, dass Nora kaum zu atmen vermochte.

„Ich? Ich sollte dir jemals die Treue brechen?“ rief sie, „niemals, Nora! Das schwöre ich dir! Nicht einmal — nein hundert-, tausendmal! Gott soll mich strafen, wenn ich jemals vergesse, was du mir Gutes gethan, wie viel Liebe und Freundschaft du mir geschenkt! Himmel und Erde sollen einstürzen, wenn ich je im Leben falsch an dir handeln oder dich vergessen würde! Hörst du, Liebste, das schwöre ich dir! Und du sollst das gleiche thun — du sollst mir ebenfalls Treue geloben.“ — —

Nora legte mit ernstem Lächeln die Hand auf den Mund der Sprecherin. „Nicht mit solchen Worten, mein Liebling, die klingen theatralisch und überschwenglich, die liebe ich nicht. Hier meine Hand! Und blick in meine Augen, darin sollst du lesen, wie treu ich es mit dir meine!“

Wieder umarmte und küsste Otty Florenzius das ernste Mädchen voll glühender Begeisterung, und als sich der Sturm ihrer Gefühle etwas gelegt, fragte sie plötzlich: „Und sein Bild hat er dir geschickt? Weisst du auch, dass ich dir eigentlich böse sein müsste, weil du dein Geheimnis so lange vor mir gehütet hast? Ich entschuldige es lediglich mit deiner ganzen Art und Weise, die so verschlossen und schweigsam ist, dass man es nicht als ein Zeichen von Misstrauen auffassen kann! Nun lass mich aber schnell sein Bild sehen! Ich muss wissen, wie der Mann aussieht, der dieses stolzeste und sprödeste aller Herzen zu eigen gewann!“

Die Sprecherin hustete scharf auf und zog fröstelnd ein Tuch um die Schultern, Nora aber sprang erschrocken von dem Fensterbrett herab. „Du hustest schon wieder, Kleine!“ sagte sie besorgt, „beim Abschiedsfest der Tanzstunde hast du dich doch tüchtig erkältet! Ich warnte dich gleich, als du die kalte Limonade trankst, du warst viel zu erhitzt, und Tante Emma hatte es auch streng verboten! Komm schnell in das Zimmer! So herrlich diese Mondnacht auch ist, die Luft scheint doch zu kühl für dich zu sein!“

Otty lachte. „O du lieber Angsthase! Dies bisschen Husten ist gar nicht der Rede wert! Da hättest du mal hören sollen, wie ich daheim in dem kalten, grossen Gutshaus oft gehustet habe! Beinahe so schlimm, wie mein armes Mütterchen, ehe sie starb! — So; nun hast du deinen Willen. Ich schliesse das Fenster und stecke Licht an! Zur Belohnung darf ich nun aber auch sein Bild sehen, — ja?“ —

Etwas zögernd griff Nora in die Tasche ihres Kleides und entnahm ihr einen Brief. Man sah, es kostete sie einige Überwindung, ihr grösstes Kleinod fremden Blicken preiszugeben, — und wenn es auch die der besten Freundin waren.

Mit leicht bebenden Händen schlug sie das feine Seidenpapier zurück und bot der Gefährtin die Photographie dar. „Hier sieh!“ sagte sie schlicht und innig: „Mein ganzes Glück!“

Otty neigte sich hastig gegen das Licht, und ihr Blick traf schier ungeduldig forschend das schöne Männerantlitz, das ihr aus dem Bild entgegenlächelte.

Ein leiser Laut höchster Überraschung und höchsten Entzückens.

Wie gebannt starrte sie auf Raoul von Glärnisch nieder, und in Noras Wangen flammte es purpurn heiss vor stolzer, seliger Freude und Genugthuung.

„O Himmel, wie schön, wie blendend schön ist er!“ stiess Otty atemlos hervor: „Wirklich, liebstes Herz — so viel hatte ich nicht erwartet! Welche Augen! Welch ein Gesicht! Der Apoll von Belvedere ist nicht schöner als er! O Nora! Nora! ja du bist glücklich — beneidenswert glücklich!“

Otty rief es in derselben überschwenglichen Weise wie zuvor, und doch hatte ihre Stimme plötzlich einen andern Ausdruck, sie umarmte die Freundin flüchtiger als zuvor und wandte sich sofort wieder dem Bilde zu.

„Hat er blaue Augen? Auf dem Bild hier sehen sie eigentlich dunkel aus! Und die Locken ... wie bildschön ringeln sie sich um seine Stirn, so ein echter, rechter Künstlerkopf — o und die Hand ... welch eine klassische Form hat sie! Ist er gross oder klein? Grösser als du? — Und sieht er sehr blass und interessant aus, oder hat er frische Farben? ...“

So sprudelte es von ihren Lippen, und Nora griff lächelnd nach dem Bild und sagte: „Halt! halt! eine Frage nach der andern! — Ich denke, ich kann sie alle zu deiner Zufriedenheit beantworten! Und dabei traf ihr Blick voll zärtlichster Liebe das Bild des Verlobten, und sie neigte das Antlitz und drückte einen Kuss darauf. Über Ottys lebhaftes Gesichtchen flog unmerklich ein Schatten. Sie warf sich auf einen Stuhl und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „O du Glückliche!“ seufzte sie, „ja, es muss schön sein, solch einen herrlichen Herzliebsten zu haben! — Ob der meine wohl jemals ebenso schön sein wird? Ach, einen Maler hatte ich mir seit jeher gewünscht, es ist so poetisch, und die Künstler sind alle so interessant! Ja, du kannst wirklich lachen, Nora! Du bist ein Glückspilz!“

„Möchte Gott mir dieses Glück schirmen! Raoul ist nicht nur schön, er ist auch brav und edel, und das ist die Hauptsache! Nun aber lass uns zu Bett gehen, mein Liebling, es ist schon sehr spät geworden, und du siehst plötzlich so bleich aus, — die Nachtluft hat dir am Ende doch geschadet!“

Die Sprecherin neigte sich voll zärtlicher Sorge über die Freundin, und Otty schlang voll etwas nervöser Innigkeit die Arme um ihren Nacken.

„Ja, ich bin müde geworden, — wir wollen uns beeilen, dass wir zu Bett kommen. Gute Nacht, meine liebe, liebe Nora, — du Glückliche! — träume von ihm! —“

„Die letzte Nacht in der Pension, — die letzte Nacht in unserm trauten Stübchen!“ nickte Nora voll Wehmut, und just als habe sie nur auf einen Anlass gewartet, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, schluchzte Otty plötzlich laut auf und warf sich bitterlich weinend auf ihre Kissen. „Du sollst nicht fort von mir! Ich ertrage es nicht!“ rief sie voll leidenschaftlichen Trotzes, „ich will es nicht! Bleib’ hier, Nora! Ich sterbe, wenn du gehst!“

Da nahm Nora die Aufgeregte wie ein kleines Kind in den Arm und beruhigte sie, und als Otty das blasse, weinende Gesicht zum Schlaf neigte, sass Nora noch neben ihrem Bett und hielt trostreich und liebevoll die heisse kleine Hand in der ihren.

Spät erst, als sie die Freundin in festem Schlaf wähnte, suchte sie selber ihr Lager auf.

Otty schlief aber nicht.

Mit weitoffenen, brennenden Augen lag sie und starrte in das mondhelle Zimmer. „Wie glücklich, wie beneidenswert glücklich!“ war der einzige Gedanke, der sie beherrschte, und dabei schwebte das schöne Männergesicht vor ihr, wie eine Vision.

Wahrlich, so schön hatte ihr noch kein anderer je zuvor gedeucht, und dieser ... gerade dieser war der Bräutigam der besten Freundin!

Welch irre, wirre Gedanken kreuzen plötzlich hinter ihrer Stirn. Wie mit dämonischen Gewalten drängt und treibt es sie.

Leise, ganz leise und heimlich gleitet sie aus dem Bett, schleicht neben das Lager der Freundin und tastet nach deren Kleiderrock.

Hier in der Tasche knistert der Brief. — —

Otty beisst wie in leidenschaftlichem Trotz die Zähne zusammen und zieht Brief und Bild vorsichtig heraus. —

Lautlos wie ein Schatten flieht sie mit der kostbaren Beute in ihre Kissen zurück.

Ein neues, ganz fremdes, unerklärliches Gefühl beherrscht sie. Sie kennt keine Scham und Reue über ihr verächtliches und frevelhaftes Thun, nur eine Empfindung höchster Genugthuung und fiebernden Entzückens überkommt sie.

Nun gehört er auch ihr, der schöne, bildschöne Mann, nun muss ihn Nora mit ihr teilen ... wenigstens in effigie ...

Sie verbirgt ihren Raub auf das sorgsamste und schläft ein.

Wüste, beängstigende Träume quälen sie, vor einem Abgrund steht sie — am jenseitigen Ufer Raoul. Sie breitet die Arme nach ihm aus und ruft ungestüm seinen Namen, er lächelt und bietet ihr die Fingerspitzen dar.

Sie will sie erhaschen — um jeden Preis — und sie springt blindlings über die Tiefe hinweg. Die Felsen aber weichen zu beiden Seiten zurück — sie kann nicht Fuss fassen und sinkt in die Tiefe ... Eiseskälte durchschauert sie — ihr Herzschlag stockt — dunkel wie ein Grab wird es um sie her — —

„Nora! Nora!“ schreit sie gellend auf. —

Zwei Arme umfassen sie liebevoll rettend wie die eines Engels.

Sie erwacht.

Nora neigt sich über sie und streicht ihr zärtlich mit der kühlen, weichen Hand über die schweissbedeckte Stirn.

„Kind — du träumst ja gar zu ängstlich! Komm, ermuntere dich, — es ist so wie so schon die höchste Zeit, wir haben es beide tüchtig verschlafen!“

Welch eine Hast und Unruhe.

Nora muss sich in fliegender Eile ankleiden, frühstücken, sich verabschieden.

Die ganze Pension giebt ihr das Geleit zum Bahnhof.

Arm in Arm schreitet sie mit Otty, und wenn sie in das blasse Gesichtchen sieht, das sichtlich vermeidet, die Augen zu ihr aufzuschlagen, so überkommt sie tiefste Rührung und Mitleid. Wie schwer, wie unendlich schwer fällt dem armen Kind der Abschied!

Der letzte Kuss — die letzte Umarmung, — da hebt Otty plötzlich das Köpfchen und blickt der Freundin mit seltsam flehendem, beinahe zwingendem Blick in das Antlitz.

„Ich besuche dich, Nora — ich muss dich besuchen! Ich sterbe vor Sehnsucht!“ stösst sie hervor.

„Ei, du liebes Närrchen, das ist doch selbstververständlich!“ lächelt Fräulein von Rastatt: „Das haben wir doch längst ausgemacht! Du meintest nur, vor dem Herbst werde es dir nicht recht möglich sein — —“

„Doch! Doch!“ nickt Otty aufgeregt, „ich komme schon bald — sehr bald —! Schreib mir nur alles, sehr, sehr ausführlich ...“

„Bitte einsteigen! einsteigen!“ klingt die Stimme des Schaffners neben ihnen, die Pensionsmutter schliesst ihren Zögling noch einmal in die Arme — man trennt sich.

Einsilbig und voll düsterer Träumerei — oder ganz unmotiviert ausgelassen und übermütig ist Otty Florenzius.

Man nennt es Heimweh nach Nora und beklagt sie im stillen.

Schon der zweitfolgende Tag bringt ihr einen Brief von der Freundin.

Nora schreibt ganz unglücklich und verzweifelt. In dem Reisetrubel hat sie Brief und Bild verloren. „Hat es sich vielleicht in unserm Zimmer gefunden? Ach, Otty, ich weine mir die Augen danach aus, es kommt mir vor wie ein böses, trauriges Omen ...“

Nein, weder Bild noch Brief hatte sich gefunden! Otty schrieb in sehr überschwenglichen Worten ihr Bedauern darüber. „Und sollte es ein böses Omen sein, mein Liebling, — so nimm es dir ja nicht zu Herzen! Du weisst, dass Ehen im Himmel (oder in der Hölle!!) geschlossen werden, und manch aufgelöste Verlobung hat sich schon als grosses Glück erwiesen!“ —

Nora antwortete bald. „Dass du kleine Schmetterlingsseele dich bald über eine gelöste Verlobung trösten würdest, glaube ich wohl! Du weisst aber, wie verschieden wir beanlagt sind. Raouls Liebe verlieren bedeutet für mich den moralischen Tod. — Mein Leben würde von solchem Augenblick an ausgelebt sein, denn ohne ihn kein Glück! — Gott sei Lob und Dank brauche ich solch ein namenloses Unglück aber wohl nicht zu befürchten. Eben meldet sich Raoul an. In acht Tagen ist er bei uns. Ich habe ihn gebeten, erst das Bild seiner Ingeborg zu vollenden und dann von meinen Eltern das Jawort zu erbitten, — sehen sie, welch ein Künstler er ist, entschliessen sie sich wohl eher, denn noch trägt Vater mancherlei Bedenken, da weder Raoul noch ich über grosse Mittel verfügen ...“

Ottys hübsches, pikantes Gesichtchen mit den unruhig flackernden Augen hatte sich zuerst verdüstert, bei den letzten Zeilen aber blitzte es wie eitel Genugthuung darüber hin.

„In acht Tagen! Vortrefflich, dass der Doktor sich plötzlich so besorgt wegen meiner Lunge zeigt, sie wird den Vorwand abgeben, dass ich Luftveränderung brauche und reisen kann.“ Ja, Otty hustete mehr denn je und die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Das stand ihr vortrefflich, und die grossen, glänzenden Augen waren fesselnder und eigenartiger als zuvor.

Ja, Luftveränderung!

Der Arzt und die Pensionsmutter konferierten längere Zeit und sahen beide recht besorgt aus. „Die Mutter ist auch an der Schwindsucht gestorben, es liegt in der Familie! Man muss sofort etwas dafür thun.“

Otty hatte an ihren Vater geschrieben, und der sehr ängstliche alte Herr wünschte die sofortige Heimkehr der Tochter, um mit ihr in ein heilsames Bad abreisen zu können.

Das junge Mädchen nickte sehr befriedigt vor sich hin und packte voll stürmischen Eifers die Koffer. Zuvor aber machte sie die weitgehendsten Einkäufe, Toiletten, Hüte, Mäntel und Matinees, alles so elegant und kostbar wie möglich.

„Ich reise ja zuvor zu Nora Rastatt, — da muss ich doch anständig aussehen, sonst hält man mich für ein armes Aschenbrödel!“ sagte sie mit wunderlichem Blick.

Und sie reiste zu Nora ab.

Welch ein Jubel des Wiedersehens!

Fräulein von Rastatt war von derselben ruhigen, tiefinnigen Herzlichkeit wie stets, ihr schönes Antlitz war verklärt von einem Hauch stillen Glückes, das machte sie älter und gereifter aussehend noch als früher.

Ottys überschwengliche Zärtlichkeit wirkte beinahe etwas unnatürlich.

Es hatte den Anschein, als suche sie gewaltsam mit schönen Worten über ein gewisses Etwas hinweg zu täuschen, was sich entfremdend zwischen sie und die Freundin geschoben. In dem Hause des pensionierten Oberstleutnants ging es schlicht und still zu, und so war es plötzlich, als sei mit dem eleganten kleinen Fräulein Otty ein ganz neuer Hauch unter das Dach geweht.

Welch ein Unterschied zwischen den beiden jungen Mädchen!