Autobiographische Notizen - Marie Curie - E-Book

Autobiographische Notizen E-Book

Marie Curie

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Beschreibung

Marie Curie ist eine der berühmtesten Wissenschaftlerinnen der Geschichte. Sie war die erste Frau, die einen Nobelpreis gewann und die einzige Person, die in zwei verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Physik und Chemie) Nobelpreise erhielt. Ihre Entdeckungen und Fortschritte in der Radiologie haben die Medizin revolutioniert und ihr Name ist untrennbar mit der Erforschung radioaktiver Stoffe verbunden. In ihrer Autobiographie "Autobiographische Notizen" teilt sie ihre Gedanken, Erfahrungen und Erkenntnisse aus ihrem Leben und ihrer Arbeit.

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL I

Ich bin von amerikanischen Freunden gebeten worden, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben. Zuerst erschien mir dieser Gedanke fremd, aber ich gab ihren Überredungskünsten schließlich nach. Allerdings konnte ich mir meine Biografie nicht als eine vollständige Darstellung meiner persönlichen Gefühle oder eine detaillierte Beschreibung aller Ereignisse vorstellen, an die ich mich erinnere. Viele unserer Gefühle verändern sich mit den Jahren und wenn sie erst mal verschwunden sind, erscheinen sie uns insgesamt seltsam; Ereignisse verlieren ihre kurzzeitige Bedeutung und man erinnert sich an sie, als ob sie jemand anderem widerfahren wären. Aber einem Leben kann eine Art allgemeine Richtung innewohnen, ein stetiger Faden, beruhend auf einigen vorherrschenden Vorstellungen und einigen starken Gefühlen, der das Leben erklärt und für eine menschliche Persönlichkeit charakteristisch ist. Ich habe den allgemeinen Verlauf und die relevanten Faktoren meines Lebens, welches insgesamt nicht einfach war, beschrieben und vertraue darauf, dass meine Geschichte einen Eindruck der geistigen Verfassung vermittelt, in der ich lebte und arbeitete.

Meine Familie ist polnischer Herkunft und mein Geburtsname ist Marie Sklodowska. Mein Vater und meine Mutter gehörten beide zur Klasse der kleinen polnischen Landeigentümer. In meinem Land besteht diese Schicht aus einer großen Anzahl von Familien, die als Eigentümern kleiner und mittlerer Grundstücke, häufig miteinander verwandt sind. Bis in jüngster Vergangenheit bezog Polen den Großteil seines intellektuellen Nachwuchses aus diesem Personenkreis.

Während mein Großvater väterlicherseits seine Zeit zwischen der Landwirtschaft und der Leitung einer Kleinstadtakademie aufgeteilt hatte, studierte mein Vater, welcher sich stärker zum Akademischen hingezogen fühlte, an der Universität von Petrograd und wurde schließlich in Warschau an einem der Lyzeen dieser Stadt zum Professor für Physik und Mathematik. Er heiratete eine junge Frau, deren Lebensweise der seinen wesensverwandt war, sie verfügte über eine für jene Zeit hervorragende Ausbildung und war die Direktorin einer der besten Warschauer Mädchenschulen.

Mein Vater und meine Mutter liebten ihren Beruf in höchstem Maße und haben dank ihrer zahlreichen Schüler im ganzen Land eine bleibende Erinnerung hinterlassen. Ich kann mich nicht einmal heute in polnischer Gesellschaft bewegen, ohne Menschen zu begegnen, die liebevolle Erinnerungen an meine Eltern hegen.

Obwohl meine Eltern sich einer Universitätskarriere widmeten, blieben sie weiterhin mit ihren zahlreichen Verwandten auf dem Land in enger Verbindung. Ich habe meine Ferien häufig bei diesen Verwandten verbracht, dort in völliger Ungezwungenheit gelebt und Möglichkeiten gefunden, den Bereich des Lebens, zu dem ich mich stets hingezogen fühlte, kennenzulernen. Ich glaube, dass ich unter diesen Voraussetzungen, die sich von denen üblicher Ferienorte so sehr unterscheiden, meine Liebe für das Land und die Natur zu verdanken habe.

Ich wurde am 7. November 1867 in Warschau geboren, als jüngstes von fünf Kindern, aber meine älteste Schwester starb im frühen Alter von vierzehn und so waren wir schließlich drei Schwestern und ein Bruder. Meine Mutter, vom Verlust ihrer Tochter grausam getroffen und durch eine schwere Krankheit dahingerafft, starb mit zweiundvierzig Jahren und ließ ihren Ehemann in tiefster Trauer mit seinen Kindern zurück. Ich war zu dem Zeitpunkt erst neun Jahre alt und mein ältester Bruder war kaum dreizehn.

Diese Katastrophe war das erste große Leid meines Lebens und stürzte mich in eine tiefe Depression. Meine Mutter verfügte über eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Sie hatte bei aller Intellektualität ein großes Herz und ein sehr starkes Pflichtbewusstsein. Und wegen ihrer unendlichen Nachsicht und ihrem freundlichen Wesen war sie in der Familie eine bemerkenswerte moralische Autorität. Sie verfügte über einen inbrünstigen Glauben (meine Eltern waren beide Katholiken), war dabei aber nie intolerant; Unterschiede in der Religion störten sie nicht, sie war zu jedem, der ihre Auffassungen nicht teilte, ebenso freundlich. Ihr Einfluss auf mich war außergewöhnlich und in mir vereinigte sich die natürliche Liebe des kleinen Mädchens für die Mutter mit leidenschaftlicher Bewunderung.

Mein Vater, sehr betroffen vom Tode meiner Mutter, widmete sich vollständig seiner Arbeit und der Sorge für unsere Ausbildung. Seine beruflichen Pflichten wogen schwer und ließen ihm wenig Freizeit. Über viele Jahre spürten wir den Verlust derjenigen, die die Seele des Hauses gewesen war, auf uns lasten.

Wir begannen alle sehr jung mit der Schule. Ich war erst sechs Jahre alt und weil ich in der Klasse die Jüngste und Kleinste war, wurde ich oft zum Rezitieren nach vorn gerufen, wenn Besucher da waren. Das war wegen meiner Schüchternheit eine große Prüfung für mich, ich wollte immer weglaufen und mich verstecken. Mein Vater, ein ausgezeichneter Pädagoge, interessierte sich für unsere Hausarbeiten und wusste uns dabei zu unterstützen, aber die Bedingungen unserer Ausbildung waren schwierig. Wir begannen sie in Privatschulen und beendeten sie an staatlichen Schulen.

Warschau stand zu jener Zeit unter russischer Herrschaft und einer der schlimmsten Aspekte dieser Besatzung war die Unterdrückung der Schulen und der Kinder. Die von Polen geleiteten Privatschulen wurden von der Polizei genau überwacht und waren mit der Aufgabe überlastet, den Kindern die russische Sprache beizubringen, die so jung waren, dass sie kaum ihre polnische Muttersprache sprechen konnten. Und trotzdem, da die Lehrer fast alle polnischer Nationalität waren, bemühten sie sich auf jede erdenkliche Art, die aus der nationalen Verfolgung resultierenden Schwierigkeiten abzumildern. Diese Schulen konnten allerdings keine offiziellen Abschlüsse verleihen. Diese konnten nur an den staatlichen Schulen erlangt werden.

Letztere, ausschließlich in russischer Hand, waren absolut gegen den polnischen Nationalgeist eingestellt. Der gesamte Unterricht wurde auf Russisch erteilt, von russischen Professoren, die der polnischen Nation feindlich gegenüberstanden und ihre Schüler als Feinde betrachteten. Männer, die sich moralisch und intellektuell auszeichneten, konnten sich kaum dafür hergeben, in Schulen zu unterrichten, in denen ihnen eine fremde Einstellung aufgezwungen wurde. Also war das, was den Schülern beigebracht wurde, von fraglichem Wert und die moralische Atmosphäre war völlig unerträglich. Die Kinder, die ständig unter Verdacht standen und ausspioniert wurden, wussten, dass eine einzige Unterhaltung auf Polnisch oder ein unüberlegtes Wort nicht nur ihnen, sondern auch ihren Familien ernsthaft schaden könnten. Inmitten dieser Feindseligkeiten verloren sie sämtliche Lebensfreude und frühzeitige Gefühle des Misstrauens und der Empörung belasteten ihre Kindheit. Andererseits führte diese missliche Situation dazu, dass die patriotischen Gefühle der polnischen Jugend in höchstem Maße geweckt wurden.

Und doch habe ich an diese Phase meiner frühen Jugend, sosehr sie auch durch Trauer und das Leid der Unterdrückung verdunkelt wurde, mehr als eine angenehme Erinnerung. Zusammenkünfte von Verwandten und Freunden unserer Familie brachten etwas Freude in unser stilles aber ausgefülltes Leben. Mein Vater interessierte sich sehr für Literatur und war mit polnischer und ausländischer Lyrik sehr vertraut; er verfasste sogar selbst Gedichte und konnte sie sehr erfolgreich aus fremden Sprachen ins Polnische übersetzen. Immer an Samstagabenden rezitierte oder verlas er Meisterwerke der polnischen Prosa und Lyrik. Diese Abende waren für uns eine große Freude und eine Quelle der Erneuerung patriotischer Gefühle.

Ich hatte seit meiner Kindheit eine starke Vorliebe für Lyrik und lernte bereitwillig lange Passagen unserer großen Dichter auswendig, meine Lieblingsdichter waren Mickiewicz, Krasiński und Słowacki. Diese Vorliebe entwickelte sich noch weiter, als ich mit ausländischer Literatur vertraut wurde; meine frühen Studien beinhalteten das Lernen von Französisch, Deutsch und Russisch und ich wurde mit den ausgezeichneten, in diesen Sprachen verfassten Werken bald vertraut. Später verspürte ich das Bedürfnis, Englisch zu können, und es gelang mir, diese Sprache und die englische Literatur kennenzulernen.

Meine musikalischen Studien waren sehr mager. Meine Mutter musizierte und hatte eine schöne Stimme. Sie wollte, dass wir eine musikalische Ausbildung erhielten. Nach ihrem Tod, ohne weitere Ermutigung durch sie, brach ich diese Bemühungen bald ab, was ich später oft bereute.

Mathematik und Physik zu lernen fiel mir leicht, insoweit diese Wissenschaften in der Schule Beachtung fanden. Hier fand ich die bereitwillige Hilfe meines Vaters, der die Naturwissenschaft liebte und sie selbst lehrte. Er genoss jede Erklärung, die er uns über die Natur und ihr Verhalten geben konnte. Leider hatte er kein Labor und konnte keine Experimente durchführen.

Die Ferien waren besonders behaglich, da wir so der strengen Beobachtung der Polizei in der Stadt entflohen und bei Verwandten oder Freunden auf dem Land Zuflucht fanden. Dort lernten wir das freie Leben auf einem altmodischen Familiengut kennen, mit Wettrennen im Wald und freudiger Teilnahme an der Arbeit auf den sich weit erstreckenden, ebenen Kornfeldern. Bei anderen Urlauben überquerten wir die Grenze unseres von Russland beherrschten Sektors (Kongresspolen) und reisten südwärts in das Berggebiet Galiziens, wo die politische Kontrolle durch Österreich weit weniger drückend war als jene, die wir daheim erlitten. Dort konnten wir in aller Offenheit Polnisch sprechen und patriotische Lieder singen, ohne dafür ins Gefängnis zu kommen.

Mein erster Eindruck von der Bergwelt war sehr überwältigend, da ich auf dem flachen Land aufgewachsen war. Deshalb genoss ich unser Leben in den karpatischen Dörfern sehr, den Ausblick auf die Gipfel, die Ausflüge in die Täler und zu den hoch gelegenen Bergseen mit so pittoresken Namen wie „Das Auge des Ozeans“. Trotzdem verlor ich nie die Zuneigung zu den offenen Horizonten meiner flachen Heimatregion.

Später hatte ich die Möglichkeit, weitaus südlicher in Podolien einen Urlaub mit meinem Vater zu verbringen. In Odessa konnte ich zum ersten Mal das Meer sehen. Ein weiteres Mal dann später an der baltischen Küste. Das war eine aufregende Erfahrung. Doch erst in Frankreich erlebte ich die großen Wellen des Ozeans und die sich stets verändernden Gezeiten. Während meines gesamten Lebens ließen mich neue Anblicke der Natur immer wie ein kleines Kind jubeln.

So verging der Abschnitt unseres Schullebens. Wir hatten alle großes Talent für intellektuelle Arbeit. Mein Bruder, Dr. Sklodowski, wurde nach Abschluss seines Medizinstudiums später Chefarzt in einem der bedeutendsten Warschauer Krankenhäuser. Meine Schwestern und ich hatten vor, wie unsere Eltern, Lehrer zu werden. Meine ältere Schwester entschied sich allerdings um, als sie erwachsen wurde, und beschloss, Medizin zu studieren. Sie machte an der Pariser Universität ihren Doktor, heiratete Dr. Dluski, einen polnischen Arzt, und sie gründeten gemeinsam ein wichtiges Sanatorium an einem herrlich schönen karpatischen Bergort im österreichischen Polen. Meine zweite Schwester, in Warschau verheiratet, Frau Szalay, war viele Jahre lang Schullehrerin, wo sie ausgezeichnete Dienste leistete. Später wurde sie an eines der Lyzeen im freien Polen berufen.