Baden-Baden wagen - Ulrich Wendt - E-Book

Baden-Baden wagen E-Book

Ulrich Wendt

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Beschreibung

Baden-Baden im Jahr 1990: Die existenziellen Beziehungen zum Land Baden-Württemberg sind zerrüttet, die Stadt steht vor einer Neuausrichtung. Am 1. Juni desselben Jahres tritt Ulrich Wendt sein Amt als Oberbürgermeister an und leitet acht Jahre die Geschicke der Stadt. In seinem Buch nimmt Ulrich Wendt den Leser mit auf eine Expedition in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, das während seiner Amtszeit wie eine Wasserscheide zur Nachkriegszeit gravierende Veränderungen für die Kurstadt einforderte. Er berichtet spannend von seiner Zeit als Stadtoberhaupt in Baden-Baden, präsentiert die entscheidenden Fakten und spricht authentisch über seine Emotionen. Wohl erstmals nach 1945 gibt ein ehemaliges Stadtoberhaupt vollen Einblick in seine Amtszeit. Dieses Buch dokumentiert alle Motive, Hintergründe, Stimmungen und Fakten aus dieser Zeit – auch solche, die der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannt waren oder Gefahr liefen, in Vergessenheit zu geraten. So ist "Baden-Baden wagen – ein Jahrzehnt der Entscheidungen" auch ein wichtiger Beitrag zur neueren Stadtgeschichte.

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Ulrich Wendt

BADEN-BADEN

wagen

Ein Jahrzehntder Entscheidung

Ulrich Wendt: Baden-Baden wagen – Ein Jahrzent der Entscheidung

Copyright by AQUENSIS Verlag Pressebüro Baden-Baden GmbH 2020

Printed in Germany

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe jeder Art, elektronische Daten, im Internet, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsunterlagen aller Art ist verboten.

Fotos: Privatarchiv, Wolfgang Breyer, picture-alliance / dpa | Rolf Haid, Klaus Schultes

Umschlaggestaltung: Dustin T. Weidenhiller, brandmanufactur München unter Verwendung eines Fotos von Fotoatelier Christiane Haumann-Frietsch.

Lektorat: Andrea Söhner, Veruschka Rechel

Satz und Gestaltung: Tania Stuchl, [email protected]

ISBN: 978-3-95457-219-9eISBN: 978-3-95457-222-9

1. Auflage 2020

www.aquensis-verlag.de

Auch als E-Book erhältlich: aquensis-verlag.e-bookshelf.de

Für Gitta

„Quod non est in actis,non est in mundo.“

(Was nicht in den Akten steht,ist auch nicht in der Welt)

aus dem römischen Recht

Inhaltsverzeichnis

PrologEine Vision für Baden-Baden

Kapitel 1Die neue Welt mit Kinderaugen

Kapitel 2Innenleben: Legendäre Gäste – Das Leben ein Fest

Kapitel 3Mystische Natur – Ein Flug über Zeit und Raum

Kapitel 4Baden-Baden 1990

Kapitel 5Der Start

Kapitel 6Eine Begegnung – Eine Wahnsinnsidee Bürgerstadt und internationaler Standort

Kapitel 7Zwischenzeiten 1991 – 1992 Meine engste Weggefährtin Ursula Lazarus

Kapitel 8Schwächen, Stärken und meine Frau Baden-Baden braucht dringend einen SPD-Bürgermeister

Kapitel 9SWF-Medienstadt Baden-Baden

Kapitel 10Siebenmeilenstiefel dank vulkanischer Verhältnisse BKV-Neuordnung ist „Baden-Baden-Verfassung“

Kapitel 11Festspielstadt in spe sucht festen Grund Das Solitude-Treffen Geburtsstunde Königsidee Festspielstadt

Kapitel 12Danke Lothar Späth

Kapitel 131994 – 1995 Rückenwind – Ein Initiativkreis Dreamteam Festspielhaus: Walter Veyhle und Wilhelm Holzbauer

Kapitel 14Viele Spieler auf dem Feld – Striktes Controlling aus einem Guss

Kapitel 15Knackpunkte in der Kulturlandschaft – SPD-Risse in der Landtagsfraktion

Kapitel 16„Trumpfkarte“ Werner Kupper – Unter vier Augen mit Erwin Teufel

Kapitel 17Frieder Burda – Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann

Kapitel 18Am seidenen Faden – Die Bunkersitzung

Kapitel 19Tausch: Kommunale Spielbankbeteiligung gegen Festspielhausfinanzierung

Kapitel 20Die Sonne geht im Westen auf – Abschied „unserer Franzosen“ 430 Sozialwohnungen in einem Jahr

Kapitel 21Grundstein neue Cité wird gelegt – Signalwirkung Infoscore – Ja zum Wirtschaftsstandort

Kapitel 22Baden-Baden-Vision wird umgesetzt Drei Quellen speisen die Stadt Wirtschaftsstandort – Neuordnung – Privatinitiative

Kapitel 23Gewonnener Wettlauf Regionalflughafen Baden-Airpark

Kapitel 241995 Die Baden-Baden-Wende: Gründung Freundeskreis – Privater Betreiber gefunden – Alle Verträge pro Baden-Baden besiegelt

Kapitel 251996 – 1997 Schattenseiten

Kapitel 26Die Rufmordkampagne – Es geht los

Kapitel 27Ende einer Amtszeit In Spanien bei Dieter Thomas und Ragnhild Heck

Kapitel 28Gerhard Zeidler findet Andreas Mölich-Zebhauser Der Konkurs wird verhindert Die Stiftung und „AMZ“ – Eine neue Ära beginnt

Kapitel 29Das Leben danach und Thomas Schäuble

Kapitel 30Zwei Appelle an unsere Kinder im Spiegel 2020

EpilogBaden-Baden - ein Privileg

Prolog

EINE VISION FÜR BADEN-BADEN

Heute, 22. März 2020, ein sonniger Sonntag lacht durch die Fensterscheiben. Hier am Fuße des Merkurs, am Saum von Wiesen und Wäldern, tickert „Spiegel online“ die deutschen Corona-Infektionszahlen. Wir bewegen uns auf die 25.000 zu. Alles ist unwirklich. Noch nie erlebt. Keine sicheren Prognosen, für wen auch immer, auf unserem Globus. Doch so viel scheint unausweichlich: Viele Wochen, noch eher lange Monate in Quarantäne liegen vor uns.

Was mich betrifft, könnte das die letzte Chance sein. Tausendmal probiert, tausendmal ist nichts passiert …

Immer wieder seit jetzt 22 Jahren, seitdem ich mit 53 die Verantwortung für diese Stadt ab- und übergeben habe und immer wieder darüber schreiben wollte. Aber was genau und wie und für wen und warum überhaupt?

Eine blitzsaubere Dokumentation mit hundert Fußnoten der 90er-Jahre für das Stadtarchiv? Eine Serie „Wie es damals wirklich war“ in einer der beiden Lokalzeitungen? Ein Roman über eine besonders eruptive Phase der Baden-Badener Lokalpolitik mit allem, was dazu gehört? Mit kleinen „Einsprengseln“ vielleicht in Richtung TV-Serie „Kir Royal“? Am besten mit Tarnnamen bei finsteren Schubladen und bei übergriffigen Untiefen, um juristischen Nachspielen den Sauerstoff zu nehmen, aber das Interesse anzuheizen – ebenso feige wie förderlich! Etwas, was man zum Beispiel auf Sylt, in Salzburg oder Bayreuth genauso gut lesen könnte. Eben, weil sich die psychologischen Mechanismen gleichen könnten. Oder eine Ansammlung ausgewählter Essays berufener Autoren, die diese Phase der jungen Stadtgeschichte als Zeitzeugen erlebt oder gar mitgestaltet haben? Oder eher Poesie und Lyrik? Oder, oder …

Und dann, nachdem alles ungeschrieben im „geistigen Papierkorb“ landete, schälte sich heraus, was es werden könnte. Eine Expedition in das letzte Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, das wie eine Wasserscheide zur Nachkriegszeit gravierende Veränderungen einforderte. Alte Städte mit all ihren angehäuften Schätzen drohen zu verknöchern, in Selbstbespiegelung zu versinken, wenn sie nicht gerüttelt und geschüttelt, nach vorne gedacht und neu ausgerichtet werden. In Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“ gipfelt eine analoge Situation in dem Zitat: „Alles muss sich ändern, damit sich nichts ändert“. Was sich auf den ersten Blick wie Nonsens liest, öffnet sich danach als klarer Quellteich. Zwischen dem Entweder-oder von Bewahren und Verändern grüßt die richtige dritte Alternative: der verbindliche Auftrag zur vitalen Wiedergeburt durch das Beschreiten neuer Wege.

Genau das war die Ausgangssituation, wie ich sie 1990 für Baden-Baden sah und spürte. Schluss mit dem Aussitzen vermeintlicher Besitzstände. Nichts wie ran an eine neue Vision mit konkreten fundamentalen Herausforderungen!

Klagen wir über das damals desaströse Verhältnis zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Baden-Baden? Verklagen wir uns sogar vor Gericht, oder sind wir bereit, auf den Trümmern der veralteten Bäder- und Kurverwaltung eine tiefgreifende, langfristig angelegte Neuordnung mit mehr Effizienz zu etablieren, strategisch, operativ und finanziell?

Ist es Größenwahn, als Stadt mit gerade mal 53.000 Einwohnern das weltweit viertgrößte, künstlerisch privat zu finanzierende Opernhaus der Welt mit gut 2.500 Plätzen aus der Taufe zu heben? Oder handelt es sich um ein „radikal richtiges Projekt“, das mit Hochkultur das internationale Image sowie den Tourismus als Wirtschaftsprogramm für Arbeitsplätze und Steuereinnahmen entscheidend stärken könnte?

Ist es nicht ein brutaler Verstoß gegen die Ruhe im „Weltkurort Baden-Baden“, wenn man sich zugleich darauf konzentriert, ein prosperierender Wirtschaftsstandort in direkter Nachbarschaft eines leistungsstarken Flughafens zu werden?

Ist es die richtig gewichtete Marketingstrategie, uns an erster Stelle als Kur- und Bäderstadt zu positionieren? Oder ist unsere charakteristisch gewachsene Vielfalt mit Festspielhaus, SWR, Museum Frieder Burda, Staatlicher Kunsthalle, neuem Stadtmuseum, LA8, Theater, Philharmonie, Brahms-, Turgenew-Gesellschaft sowie weiteren vorzüglichen Institutionen nicht vielversprechender unter dem Dach einer spannenden Kulturstadt zu präsentieren?

Stimmt es wirklich, dass die „normalen“, angestammten Baden-Badener Bürger zu oft den Kürzeren ziehen, weil zu einseitig auf den internationalen Standort gesetzt wird? Oder gibt es ein Leitbild, wie beide Seiten fair und anteilig in einer Zugewinngemeinschaft profitieren könnten?

Ich werde versuchen, liebe Leserinnen und Leser, Ihnen darauf eine Antwort zu geben.

Der Versuch, für das bisweilen komplexe Werden, Wachsen und Wollen unserer kleinen Stadt, ein striktes, chronologisches, nach Fakten und Ergebnissen gegliedertes Vorgehen zu zimmern, hat viel Schweiß gekostet.

Schnell wurde mir klar, dass die autobiografischen, naturgegeben emotionalen Sichtweisen von den produzierten Fakten und Ergebnissen nicht zu trennen sind. Es wäre anderenfalls weder lebensnah, ehrlich und gewiss weniger spannend geworden. Natürlich steht am Anfang einer Neuausrichtung eine Vision mit Strategie und klaren Zielen. Aus dieser geordneten Struktur erwachsen aber immer wieder neue Situationen, Chancen wie Hindernisse, Impulse und Motive. Diese emotionale Seite ist neben der Vernunft der Treibstoff für politisches Handeln. Aus diesem Spannungsbogen heraus habe ich geschrieben. Genau so sind daraus stadtgeschichtliche Ergebnisse geworden.

Die öffentliche Person Oberbürgermeister Wendt wächst bei hohem Widerstand mit seinem privaten Wesen zusammen. Wer alles geben will, kann das nicht verhindern. Wenige enge Weggefährten habe ich deshalb meinen Entwurf gegenlesen lassen. Es ging mir um Rat, Maß und Mitte, besonders bei den brisanten Themen. Die einen sahen in mir mehr den kühl kalkulierenden Macher, die anderen mehr den Menschen mit seinen Emotionen, der die Leser tief in sein Inneres blicken lässt.

Vor allem bei dem Kapitel „Schattenseiten“ galt es, meine Frau und meine Kinder mit hineinzunehmen, weil hier, von wem auch immer, eine massive Vergiftung in die öffentliche Wahrnehmung wie in unsere intimste Privatsphäre getragen wurde, die nachhaltige Wirkung für beide Bereiche hinterließ.

Immer wieder war es nötig, Vergangenes nicht nur inhaltlich, sondern auch im Zeitgefüge richtig zu rekonstruieren. Weil meine wenigen Unterlagen sowie die vorhandenen Terminkalender besonders im „überfüllten Korridor“ zwischen 1993 und 1997 nicht in allen Fällen weiterhalfen, können zum Beispiel bei Begegnungen oder bei der Schrittfolge von Verwaltungsverfahren Jahresschwankungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

Auch war es geboten, neben der erzählenden Zeitebene der 90er-Jahre sowie kurzen Rückblicken immer wieder an prägnanter Stelle aus der heutigen Sicht 2020, damalige Momentaufnahmen mit der eingetretenen Realität abzugleichen.

Und ja, Corona hatte für den Autor auch sein Gutes. Er nutzte das Refugium daheim im Arbeitszimmer, um parallel zur bisher nie gekannten „Geisterwelt“ draußen, in der zeitlichen Verdichtung von vier Monaten das erste Entwurfskonzept niederzuschreiben. Die Corona-Zeitzeiger sind lediglich statische Wegmarken mit Kurzanmerkungen, die Rückschlüsse auf den Autor ermöglichen könnten. Mit dem Geburtsdatum Juni 1945 als Vertreter der allerersten Nachkriegsgeneration hat man als Demokrat eine Verpflichtung und als Deutscher einen europäischen Kompass. Dass Bücher in der Zeit zwischen Abschluss des Manuskripts und der Veröffentlichung teils von der Realität überholt werden, träfe dann wohl auf diese „Corona-Haltestellen“ und auf den Epilog zu, bei dem mir meine innere Stimme sagt, dass unser Festspielhaus die Corona-Krise meistern muss und wird.

Wohlan, ich bin mir bewusst, dass diese Vermessung der Baden-Badener 90er-Jahre den Autor spiegelt. Mein Maßstab war: Die Liebe zur Stadt sollte eine ehrliche, suchende und zielführende sein.

Und auf einer Metaebene sehe ich bildlich vor mir, wie die „echten“ Baden-Badener in ihrem Oostal dafür arbeiten, damit die Gäste und Residenten als bekehrte, aufgeklärte Baden-Badener auf ihren verschiedenen „Chaiselongues im Grünen Salon“ genesen, musizieren, lauschen, schreiben oder lesen, diskutieren, genießen, spielen und riskieren – entrez s’il vous plait!

1.

DIE NEUE WELT MIT KINDERAUGEN

Im Frühling 1955 muss es gewesen sein, als ich mit meinem sichtbar stolzen Vater vor unserem Baugrundstück in der Stresemannstraße, einem steilen Hang am sogenannten Birkenbuckel, stand. Von der Talseite vis-à-vis grüßte als Ensemble der Hausberg Merkur mit Aussichtsturm plus waghalsiger Standseilbahn Hand in Hand mit seinem Zwillingsberg „Kleiner Staufen“. Davor, wie hingetupft, die Eckhöfe mit Marienkapelle und, wie ich Tage später bestaunen konnte, mit alten Weinstöcken. Über uns ein stattliches Sanatorium, unter uns das Hotel Runkewitz direkt an der Lichtentaler Allee, das wenige Jahre danach fast bis auf die Grundmauern abbrennen sollte. Papa, gelernter Stadtbaumeister, hatte als neuer Leiter des städtischen Hochbauamtes für die sechsköpfige Familie alles auf Zukunft gesetzt und für das schmalbrüstige, langgestreckte Haus mit gewagtem Treppenaufstieg den letzten Pfennig umgedreht. Vom Timmendorfer Strand direkt in den Schwarzwald – mein Herz schlug hoch – was für ein Paradies! Eine märchenhafte Kulisse allein der Schulweg in die Vincenti-Grundschule. Zwei Minuten bergab zur Linken flatterten Hammer und Sichel über der Villa Sorento. Die sowjetische „Botschaft in der Hauptstadt“ der ehemaligen französischen Besatzungszone war noch immer als Militärmission aktiv. Auf der anderen Seite der Oos grüßte von Brücken flankiert das prachtvolle Hotel Bellevue mit seiner soignierten Parklandschaft. Es folgte, immer entlang der zentralen Flusspromenade, zur Rechten die Gönneranlage, ein zauberhafter Rosengarten, benannt nach einem weitsichtigen Oberbürgermeister. Gegenüber die rotsandige Anlage des ältesten deutschen Tennisclubs Rot-Weiß, einer Gründertat der englischen „Kolonie“, die sich später mehr und mehr Richtung Nizza verabschiedete und zusätzlich noch den ältesten Golfclub hierzulande und die anglikanische Kirche am Gausplatz als Abschiedsgeschenk hinterließ. Es gab dann Weg-Varianten, aber die absolute Lieblingsstrecke führte entlang dem Flaggschiff, dem legendären Brenner‘s Parkhotel (heute Brenners Park-Hotel & Spa), bis 1949 Sitz der französischen Militärregierung, vorbei an prächtigen Villen wie der Villa Stephanie, benannt nach der Adoptivtochter Napoleons, Mitglied der markgräflichen Familie, und endete mit dem Palais Gagarin, benannt nach einem russischen Aristokraten und Liebhaber der Stadt. Gegenüber die Staatliche Kunsthalle aus der preußisch-wilhelminischen Phase, wenn auch schon im damals gewagten schnörkellos schlichten Baustil, was dem Kaiser als stetem Sommergast im nahen Maison Messmer gar nicht gefiel. Der Internationale Club, vormals Residenz der schwedischen Königin Frederike sowie das Stadttheater, ein architektonisches Schmuckstück der Pariser Schule. Sie alle zeugten von der internationalen Durchdringung der ehemaligen Sommerhauptstadt Europas.

Auf Höhe der Kurhaus-Kolonnaden ging es über die Fieserbrücke, den Leopoldsplatz mit vom Verkehr umtosten, wild winkendem Polizisten auf der Kanzel, über den schönsten, von Kastanienbäumen gesäumten Boulevard Baden-Badens, der Sophienallee. Dann war ich da, in meiner Schule. Hatte ich ein oder zwei Groschen in der Tasche, was keinesfalls immer der Fall war, freute ich mich vornehmlich auf eine zuckerglänzende Schneckennudel und eine knusprige, grobkörnig gesalzene Laugenbrezel in der großen Pause.

Natürlich hat mich prima vista das schöne Augenspiel entlang der Lichtentaler Allee nur optisch fasziniert. Ganz besonders, wenn zur Alleebeleuchtung gefühlt Tausende von Kerzen sowie fantasievolle Illumination nicht nur Gebäude, sondern auch Brunnen und prachtvolle Baumkronen mit dem abnehmenden, natürlichen Licht zu einer Fata Morgana zu verschmelzen schienen. Durch meinen Vater dann – wir durchwanderten fleißig Stadt, Wald und Flur – vertieften sich Kulissen durch Namen von Persönlichkeiten, ihren Lebensgeschichten sowie Großereignisse zu dem, was Baden-Baden ausmacht, zum Genius Loci. Das Zusammenspiel von Natur, Kultur, mitunter märchenhaft anmutenden Ereignissen samt Schicksalsmomenten, die ein Blitzlicht auf den ureigenen Zauber „dieses Sehnsuchtsortes“ werfen, begannen von da an in einem selbst weiter zu wohnen. Was als Ahnung seinen Anfang nahm, keimte ganz sanft und mehr gefühlt als gewusst, als Beginn einer lebenslangen Bestimmung in mir auf: diese Stadt von innen her verstehen. Dies galt allerdings, wie sich erweisen sollte, nicht nur für die Glücksfälle meines Lebens.

Ein väterlicher Stupser, schau mal da: Ein grauhaariger, schon sehr gebeugter, aber stattlicher Mann verließ einen großen Mercedes und erstieg mühsam die Treppen der Staatlichen Kunsthalle. Ich erkannte ihn selbst, denn Zeitung las ich schon sehr früh, wenn auch meist wegen der Fußballergebnisse von Kaiserslautern mit Fritz und Ottmar Walter. Es war unser Bundespräsident Theodor Heuss – und ich war dabei!

2.

INNENLEBEN: LEGENDÄRE GÄSTE – DAS LEBEN EIN FEST

Die Großereignisse, die haften blieben, oft von so legendären Baden-Badener Originalen wie Ludwig Braun, meist weinselig geschmückt, verselbstständigten sich bleibend als Running Gag. Ludwig, über drei Jahrzehnte graue Eminenz im Rathaus wie im Gemeinderat, Sängerpräsident, Volkstribun mit einem Schuss urbadischem Karl Valentin, war als prägender Protagonist aus dem bodenständigen Baden heraufgestiegen. Unvergessen sein Kampf mit dem Nierenstein, der nach eiskaltem Champagner im lauwarmen Hallenbad von Tony Marshall mit „Ich hätt‘ ’nen Mansardenbrand lösche könne“, seine Befreiung fand. Oder dem oberschlesischen „Herzblut-Katholiken mit Beichtstuhl-Aura“ Pit Fiolka als Herrscher im Mittelreich von Bistro, Disco, Nachtleben und stilvollendeter Wandler „Upperclass“ bei Adel, Prominenz, Showbusiness, der nebenbei so manche weibliche Herzen zum Schmelzen brachte.

Beide stehen für durchschlagende Deutungshoheit. Sie speisten Baden-Baden, den „Januskopf mit Doppelnamen“, in der analogen Nachkriegszeit schichtenübergreifend bildkräftig, wirkmächtig und ab und an mit rasender Beschleunigung.

Da war das Wunder aus 1001 Nacht im März 1955, als der Schah von Persien und Kaiserin Soraya vom Pfauenthron herabstiegen, um ganz Baden-Baden und Deutschland in ihren Bann zu ziehen. Da war 1957 der legendäre Wüstensohn König Ibn Saud. Mit Teilen seiner Herrscherfamilie verweilte er länger als gedacht im nur für ihn hergerichteten, exklusiven Hahnhof, der etwas erhöht über dem Palais Biron und der goldenen Kuppel der russisch-orthodoxen Kirche thronte. Er streute sein Wohlwollen mit Preziosen aller Art weit über das Oostal. Edle Armbanduhren und arabische Dolche als Brieföffner hatten Hochkonjunktur.

Da war 1981 der Olympische Kongress, der die Weltfamilie des Sports im Kurhaus versammelte und die Vergabe der Olympischen Spiele nach Seoul als mediales Großereignis konzertierte. Und in allen fünf Kontinenten lief der Name Baden-Baden über den Ticker, während intern die Kommunikation in allen Gott geschenkten Sprachen die kleine Stadt vibrieren ließ.

Da rauschten jährlich Schlossfeste, Schlagerfestivals mit Dieter Thomas Heck, sämtliche Tournee-Erstauftritte von Udo Jürgens über Jahrzehnte, Miss Germany-Wahlen, Großmeister-Schachturniere, Welttanz-Events und Sportler des Jahres über die Bühnen. Marlene Dietrichs Seufzer „Das schönste Spielcasino der Welt“ gleich neben dem Bildnis der Madame Pompadour und ihrer Devise „Nach mir die Sintflut“ flirrten durch die Lüfte. Dazu richteten Croupiers Abend für Abend jetzt schon im dritten Jahrhundert mit dem „Nichts geht mehr“, der surrenden Roulettekugel und dem Verkünden der Schicksalszahl mit blitzschnellem Zuordnen der Jetons über Freud‘ und Leid. Fjodor Dostojewskis „Der Spieler“ wurde hier inspiriert und vom Autor durchlebt. Dazu vergoldeten Oldtimer-Meetings, Ballooning und die traditionelle „Große Woche“ mit Pferderennen, Bällen, Banketten und Feuerwerk den Spätsommer. Und nicht zu vergessen: In den 1950er- bis 1960er-Jahren, kurz nach Wimbledon, gastierten im TC Rot-Weiß vor dicht besetzten Tribünen die Topspieler des weißen Sports.

Auch der kleine Uli Wendt gewann 1957 auf der Iffezheimer Rennbahn sein erstes größeres Taschengeld von 5,20 DM per Platzwette bei einem Einsatz von 2,50 DM. Dem Jockey Hein Bollow sei Dank. Unvergessen und blitzschnell in Kinokarte plus Eis umgerechnet und mit leicht schlechtem Gewissen danach verprasst. Beim TC Rot-Weiß bewunderte Uli Ken Roosevelt und Tony Roche als Balljunge und Linienrichter. Aber es nutzte ihm wenig: Seine Freunde und Klassenkameraden wie Franz Mayer, Jürgen Winter, Waldemar Timm und Rolf Wertheimer sammelten Titel, stießen vor bis in die deutsche Spitze oder wurden respektable Unternehmer. Apropos Franz Mayer: Er sollte als ältester Freund, bis heute an meiner Seite, nicht nur als Tennistrainer, als großherziges Baden-Badener Original, sondern auch als der mit Abstand kundigste Fachmann für kniffligste Verkehrsfragen, eine Heldentat vollbringen. Er löste den gordischen Knoten des stadteinwärts fließenden Verkehrs an der sogenannten „Carlein-Schleife“. Gleich nach dem Verfassungsplatz rechts auf die Talachse einbiegend, verengte sich hier die zweispurige auf nur noch eine Fahrbahn. Per Eigeninitiative und Handvermessung um fünf Uhr morgens errechnete er bei millimeterscharfer DIN-gerechter Neuverteilung von Gehwegen plus Fahrfläche eine zusätzliche Fahrspur. Ohne ihn hätten wir heute chaotische Zustände Richtung Schlossbergtangente und keine genehmigungsfähige Festspielhaus-Parkierung.

Doch zurück zu den Highlights: Wenn das, was Baden-Baden von den „normalen Städten“ unterschied, unübersehbar auftrumpfte, wurde diese Lichtgestalt an der Oos intern zeitgleich gerüttelt von Tratsch, Missgunst, Neid, verführerischer Intrige. Die institutionalisierte Rivalität zwischen Kurdirektion und Rathausspitze ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Andere bewältigten diesen Spagat zwischen badischer Provinz und Weltkurort mit warmherziger Sympathie, witziger Ironie, bissigem Spott oder inszenierter Empörung von Fall zu Fall auf unterschiedlichsten Bühnen.

Mal im Palais Biron die Wirtschaft, mal im Internationalen Club blaublütige Pferdeliebhaber, Banker, patriarchalische Unternehmer von den Maktums aus Dubai bis zu dem Hanseaten Albert Darboven, mal in renommierten Herrenclubs, die sich im wöchentlichen Rhythmus trafen. In auserwählten Kreisen oder halboffiziellen Runden formten sie neben vielem anderen auch stets von Interessen gesteuerte Meinung und Politik. Mit höchster Frequenz und prätentiöser Durchmischung konnte hier das Gagarin mit Pit und Millie Fiolka aufwarten. Man fühlte sich wie im eigenen Wohnzimmer. Zugleich war es eine Art Pulsschlag-Börse für VIPs oder solche, die sich dafür hielten, aus unterschiedlichsten Lebensbereichen.

Hin und wieder waren es andernorts, den Südwestfunk gilt es später noch gesondert unter die Lupe zu nehmen, Intellektuelle in Residence oder Liebhaber, die auch mit spitzer Feder fochten, wenn die Dinge eskalierten.

Als Bertolt Brecht 1962 im heimischen Theater am Goetheplatz mit „Mutter Courage“ inszeniert wurde, seine sofortige obrigkeitliche Verbannung durch den damaligen OB Dr. Ernst Schlapper vom Spielplan erfolgte und solchermaßen durch die bundesweiten Gazetten geisterte, siedete es im Talkessel der Oos. Auf dem Höhepunkt der Ost-West-Spannungen zwischen dem im adenauerisch-rheinischen Tonfall nachhallenden Kontra von „Sowjet-Zone und freiem Westen“ kritisierten im „Weltkurort“ auch die namhaften Baden-Badener Literaten Otto Flake und Herbert Wendt diesen direkten Eingriff der Politik in die Kultur. Doch gemach: Wir werden diesem Erbgut in Baden-Baden immer wieder begegnen.

3.

MYSTISCHE NATUR – EIN FLUG ÜBER ZEIT UND RAUM

Ich hatte es angedroht, dass wir zeitliche Sprünge, Szenenwechsel, Metaebenen rhythmisieren, „frei schöpferisch“ für einen neuen Blick. Bildlich könnten wir noch einmal die Trinkhalle durchschreiten, um uns von der romantisierenden Kraft der Wandgemälde inspirieren zu lassen. Engelskanzel – Teufelskanzel als Eingangstor über der Wolfsschlucht zum Beispiel passt trefflich. Das Oostal ist mystisch. Ein Blick vom Merkurturm ins Murgtal, Richtung Rastatt, weit über den Rhein hinaus ins Elsass und die Südpfalz hinüber ins Rebland und hinauf zu den Höhenlinien der beiden Tausender Hochkopf und Badener Höhe zeigen uns einen Garten Eden. Es scheint, als hätte hier der liebe Gott an einem auserwählten Tag der Schöpfung eigenhändig mit Gips gespielt und modelliert. Es ist ein Refugium, das schützt und wärmt. Im Herbst, bei Inversion und dauerhaftem Nebel im Rheintal, schenkt es viele zusätzliche Sonnentage. Auch der Wein fühlt sich wohl, zu Füßen des Neuen Schlosses reifen gar Feigen und Zitronen. Alles wurde über Zeit und Generationen hinweg behutsam und liebevoll zu einem einmaligen Großen und Ganzen geformt. Ein kompositorischer Dreiklang von Licht, Wasser und grün durchdringender Natur.

Wo gibt es schon echte Schlösser im Wald? Prächtige Wasserschlösser, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Quellen mit klarem, weichem Wasser fassten und architektonisch mit in Rotsandstein gemeißeltem Stadtwappen am Merkur, dem Leisberg oder unweit der Batschari-Hütte im lichtenden Morgennebel einen beinahe wagnerianischen Zauber versprühen. Wo gibt es Märcheninseln wie das verwunschene Mariahalden, das der deutschstämmige südamerikanische Kaffee-Goldmark-Millionär Hermann Maria Sielcken im trauten Herchenbachtal mit Herrenhaus, Verwaltungsgebäuden, Badehaus, Gärtnerei, Karpfenteich sowie einer mehrere Kilometer langen von Rhododendron gesäumten massiven Schlossmauer samt schmiedeeisernen Ziergittern einem Schmuckstück gleich krönte? Kein geringerer als Max Grundig erweckte in den 80er-Jahren nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf das Juwel zu neuem Leben. Vom artenreichen Wald der Berge über ausgedehnte, mit Obstbäumen bestandene Wiesen, die als sanfte Hügelzonen zum Talgrund neigende, von Villen gesäumte Straßenzüge begleiten, bis zu den großzügigen privaten Garten- und öffentlichen Parkanlagen entlang der Lichtentaler Allee, zeigt sich ein Ganzes. Es mutet wie Zufall an, ist es aber nicht. Man kann vom Alten Schloss zum Neuen Schloss hinunter, hinüber zur Stourdza-Kapelle mit Villa Friesenberg, von dort zum Schloss Solms wieder hinüber zum Bergschloss und nach diversen weiteren Talsprüngen über die Oos letztlich über die Villa Stroh beim Schloss Seelach enden. Es bildet eine Kette von Harmonie und Ästhetik, einer dem Tal immanenten Choreografie, die diesem Zauber Spiel und Raum eröffnet.

Es sollen einer Überlieferung zufolge die Kelten gewesen sein, die der Oos den Namen „leuchtendes Wasser“ gaben. Die schäumenden Geroldsauer Wasserfälle, im Frühsommer überwölbt von riesigen, blühenden Rhododendren und Baumkronen, die vortreffliche Symbiose der Laeugerschen Garten- und Wohnanlage am Annaberg namens Paradies, die talwärts über ihre Kaskaden mit glucksend spritzendem Merkurwasser den Menschen im Hochsommer ein andalusisches Augenzwinkern spendet. Das alles entspringt der hier rund dreihundert Millionen Jahre jungen Geologie des Schwarzwalds. Und seit dieser Zeit durften die vier Thermalquellen unter dem Florentinerberg dampfend emporsprudeln, was die Kelten bestaunten, die Römer zu Aquae in komfortable Badelandschaften verwandelten. Worin im Mittelalter Schweine brühten, menschliche Laster wie Leiden in den Trögen der Badestuben nicht enttäuscht wurden und dem großen Paracelsus als heißeste und mineralreichste Thermalschüttungen weithin – „Die heißen Wasser von Badin aber sind vollkommener als alles andere“ – eine Messe wert waren. Er behandelte 1526 den kranken Markgraf Philipp I. und man kolportierte, dass er gerne geblieben wäre, wenn man nicht so knauserig gewesen wäre. Ein herber Verlust, als Werbeikone hätte der ebenso namhafte wie umstrittene Medicus bestens zu Baden-Baden gepasst.

DONNERSTAG, 26. MÄRZ 2020

ES IST HEUTE DER VIERTE TAG NACH DEM VORLETZTEN MÄRZSONNTAG – DEM START. DIE SONNE STRAHLT IMMER NOCH. AUCH BEI KÜHLEN TEMPERATUREN BRICHT SICH DER FRÜHLING BAHN. DIE CORONA-ZAHLEN LIEGEN JETZT BEI BALD 40.000 INFIZIERTEN MENSCHEN IN DEUTSCHLAND UND STEIGEN IN STEILER KURVE. IN ITALIEN, SPANIEN UND DEN USA IST ES DRAMATISCH. ES STERBEN DORT DEUTLICH MEHR MENSCHEN ALS IN CHINA. AUS DEM ELSASS, FAST TEIL DER EIGENEN HEIMAT, LIEST MAN HEUTE DIE WACHRÜTTELNDE BOTSCHAFT: MENSCHEN ÜBER 80 JAHRE WERDEN NICHT MEHR KÜNSTLICH BEATMET. DIESE SEUCHE WIRD DIE WELT VERÄNDERN. WIR WOLLEN HOFFEN, DASS ES SICH ZUM GUTEN WENDET UND SOLLTEN JEDER AN SEINEM PLATZ ALLES DAFÜR TUN.

4.

BADEN-BADEN 1990

Deutschland strebt der Wiedervereinigung zu. Die Noch-DDR stellte in ihrer ersten demokratischen Wahl am Sonntag, dem 18. März, die Weichen unübersehbar in diese Richtung. An diesem Tag wählte die Kurstadt zeitgleich Ulrich Wendt, 44 Jahre alt, gelernter Jurist, Stabsstellenleiter des Regierungspräsidiums Karlsruhe von 1978 bis 1981, Bühler Oberbürgermeister von 1981 bis 1989, seit 1988 Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Baden-Baden, im ersten Wahlgang zum neuen Stadtoberhaupt.

Zum 1. Juni 1990 trat er sein Amt an. Sein Vorgänger Dr. Walter Carlein blickte auf eine erfolgreiche 24-jährige Amtszeit zurück. Auf Basis des Stadt- und Kurort-Entwicklungsplans wurde systematisch und zielgerichtet von der grünen Einfahrt in Baden-Oos, der Landesgartenschau mit Schlossbergtangente, der Innenstadtsanierung als Fußgängerzone, der Umgestaltung des Leopoldsplatzes und letztlich mit dem Jahrhundertbauwerk Michaelstunnel 1989 ein veritabler Durchbruch erzielt. Die Kurstadt befreite sich im zentralen Bereich vom Durchgangsverkehr, an dem sie zu ersticken drohte. Die Realisierung der Caracalla-Therme gab der Bäderstadt einen weiteren Schub. Der Krankenhausneubau in Balg, als Meisterstück damals seiner Zeit weit voraus, bewährt sich bis heute als Zentrum des mittelbadischen Klinikums.

Mit der landesweiten Gebietsreform in Baden-Württemberg hatte die Stadt Anfang der 70er-Jahre mit den Reblandgemeinden Steinbach, Neuweier, Varnhalt sowie Sandweier, Haueneberstein und Ebersteinburg die 50.000-Einwohnergrenze überschritten und gewann wichtige Gemarkungsflächen, auch als größter kommunaler Waldbesitzer Deutschlands, hinzu. Ihr vorausgegangen war ein „mittelbadischer Befreiungskampf um Sein oder Nichtsein“. Baden-Baden, bis dahin Stadtkreis wie Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, sollte vom Landkreis Rastatt geschluckt werden! Das lässt sich an gefühlter Grausamkeit nur mit einem Höllenfeuer à la Hieronymus Bosch vergleichen, schlimmer noch als der Abstieg von der Landesliga in die Kreisklasse. Der junge Walter Carlein meisterte das vereint mit dem Baden-Badener Landtagspräsidenten Camill Wurz in buchstäblich letzter Sekunde. Vom Balkon des Theaters wurde es verkündet. Die Baden-Badener applaudierten begeistert, als Ludwig Braun lauthals „Freiheit!“ in die Menge rief. Es fehlte nur noch die Marseillaise.

Leider entwickelte sich die Bäder- und Kurverwaltung, die von den Spielbankgeldern gespeist und mit Kurhaus, Casino, Bädern, Kongressen, Theater, Orchester und Gartenanlagen das internationale Herzstück bildete, krass formuliert, vom Sorgenkind zum Spaltpilz. Diese BKV wurde hälftig von Stadt und Land getragen. Sie hatte glanzvolle Momente erlebt, litt in den 80er-Jahren aber zunehmend unter andauernden Streitigkeiten. Die Übernachtungszahlen, sozusagen die Pulsschlagkurve Baden-Badener Vitalität und seit den 70er-Jahren stagnierend, ließen im Auf und Ab jenseits der konjunkturellen Zyklen keine durchgreifende Besserung erkennen.

Alles kreiste letztlich um die zentrale Frage: Wem gehören die Casinoerträge von Rechts wegen, der Stadt oder dem Land? Das sogenannte „Stern Gutachten“ eines renommierten Verfassungsrechtlers, von Walter Carlein kurz vor seinem Ausscheiden in Auftrag gegeben, wurde wahrscheinlich nur deshalb gehütet wie der heilige Gral, weil es Kanzleitrost statt handfester Rechtsgrundlagen liefern konnte. Und so war es auch, wie der neue OB nach Einsicht mit dem städtischen Justiziar und späteren Ersten Bürgermeister Werner Hirth notgedrungen konstatieren musste. Leider war es nach der Gesetzeslage eindeutig „Landesgeld“.