Baum der Erkenntnis - Eno Glas - E-Book

Baum der Erkenntnis E-Book

Eno Glas

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Beschreibung

Ein junger Traveller begegnet in Indien einem deutschstämmigen, uralten Schamanen. Der alte Schamane ist auf der Suche nach dem Spiegel der Wahrheit, nach dem Stein der Weisen. Der junge Reisende ist auf der Suche nach dem Sinn und der Berufung seines Lebens.

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Bevor er Indien verliess, schrieb Michael Jackson diese schöne Notiz auf ein Kissen...

Indien, mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, dein Gesicht zu sehen.

Ich habe dich und dein Volk getroffen und mich in dich verliebt.

Jetzt ist mein Herz mit Kummer und Verzweiflung erfüllt, denn ich muss gehen, aber ich verspreche, dass ich zurückkehren werde, um dich wieder zu lieben und zu streicheln.

Deine Freundlichkeit hat mich überwältigt, dein spirituelles Bewusstsein hat mich bewegt, und deine Kinder haben mein Herz sehr berührt. Sie sind das Gesicht Gottes.

Ich liebe und verehre dich wahrhaftig, Indien. Für immer, fahre fort, die Kinder zu lieben, zu heilen und zu erziehen, die Zukunft leuchtet auf sie.

Du bist meine besondere Liebe, Indien.

Gott möge dich für immer segnen.

Michael Jackson

Auf meinen ausgedehnten Reisen und bei meinen Aufenthalten in Indien bin einmal einem europäischen Schamanen begegnet, der fast dreissig Jahren in diesem Land lebte.

Diese Begegnung wurde die intensivste, lehrreichste und abenteuerlichste Zeit in meinem bisherigen Leben.

Von dieser Zeit handelt diese Geschichte.

Öffne deine Augen, lese und folge den Bildern deines eigenen Films…

Es war ein Zufall, oder vielleicht eben auch nicht. Ich befand mich auf einem Spaziergang entlang an einem einsamen Sandstrand in Süd-Indien, genoss das erste schöne Wetter nach dem trüben, grauen Monsun.

Der goldgelbe Sand glitzerte an der Sonne, die Schaumkronen der Wellen schienen schneeweiss.

Das Ziel meines Spazierganges war ein uralter Cashewnussbaum, der in Strandnähe wuchs. Unter diesem Baum erlebte ich vor einigen Jahren zusammen mit Caroline, einer australischen Touristin, einen wunderschönen Tag und eine unvergessliche Liebesnacht.

Cashewnussbäume sind oft so gewachsen, dass die Äste bis zum Boden reichen, sich ein natürlicher Hohlraum bildet, ähnlich einem Zelt oder einer Kuppel.

Dieser, den ich aufsuchen wollte, war besonders schön und üppig zu einer grossen, grünen Halbkugel gewachsen. Innendrin, von aussen nicht ersichtlich, befand sich ein fast kreisrunder Raum, mehrere Schritte breit und gegen drei Meter hoch. In der Mitte ein dreifacher Stamm.

Ob er überhaupt noch stand, der Baum, nach all den Jahren? Vielleicht hatten die Bauern ihn abgeholzt und verfeuert… Aber nein, da stand er. Ich erblickte ihn schon von weitem, schön wie eh und je in seiner ganzen Anmut und voller Pracht. Einen Moment lang stand ich vor ihm, dachte an jene schöne Zeit damals…Was wohl aus Caroline geworden ist? Ob sie Kinder hat, verheiratet ist, ein normales geregeltes Leben führt? Als ich nun so in alten Erinnerungen schwelgend die Aeste langsam aus dem Weg teilte und das Innere des Baumes betrat…traf mich fast der Schlag: in der Mitte des Raumes sass ein ziemlich wild aussehender Typ, nackt, bekleidet mit nur einem Stringtanga, im Yoga-Schneidersitz auf einer Bastmatte. Der Typ mochte um die siebzig, achtzig Jahre alt sein. Er trug einen weissen, buschigen Santa-Claus-Bart, der ihm bis an die Brust reichte. Das faltendurchfurchte Gesicht wurde von grauen filzigen Haaren umrahmt, aus denen gelbliche, sonnengebleichte Dreadlocks wuchsen. Der Körper des Alten schien nur aus Falten, Knochen, Sehnen und Muskeln zu bestehen, die von einer braunen, lederartigen Haut umspannt wurden.

»Hallo,..hm…ähm, I am sorry,« stotterte ich, »ich möchte nicht stören. Eigentlich habe ich hier niemanden erwartet.«

»Kein Problem«, entgegnete der Alte, »ich fühle mich nicht gestört, mir scheint eher, dass meine Anwesenheit hier, dich etwas stört?«

»Nein, nein, ich bin nur ein wenig erschrocken, man trifft hier in Indien in einer solch abgelegenen Gegend ja nicht alle Tage einen Nackten aus dem Westen unter einem Baum!«

»Gleichfalls, es latscht hier in Indien in einer solch abgelegenen Gegend ja auch nicht alle Tage ein "Weisser" einfach so in einen Baum hinein«, grölte der Alte aus fast zahnlosem Mund. »Komm, setz dich, willst du ein Glas Limonenwasser?«, fragte er.

»Oh, ja gerne, es ist sehr heiss an der Beach entlang zu gehen, die Sonne steht schon sehr hoch.«

Ich nahm auf der Bastmatte Platz. Der Alte schöpfte mir aus einem grossen Tonkrug mit einer Kokosnussschalenhälfte ein Glas Wasser in welches er eine halbe Limone presste und eine Prise Salz dazu rührte.

»Übrigens, ich bin Swami Sathyanandapuri man nennt mich auch Schamanen-Swami. Aber nenn mich einfach Swami«, stellte er sich vor.

»Ich heisse Eno.«

»Freut mich, dich kennenzulernen! Aus welchem Land stammst du, Eno, und was führt dich nach Indien unter diesen Baum?«

»Ich komme aus der Schweiz. Diesen Baum kenne ich von früher her, unter ihm habe ich vor einigen Jahren zusammen mit einer australischen Touristin eine wunderschöne Liebesnacht erlebt. Ich dachte, da ich gerade in der Gegend bin, schaue ich wieder einmal bei unserem Liebesbaum vorbei.«

»Und dann sitzt hier, statt ein super Weib mit tollen Kurven«, grölte der Swami, mit der Hand sich auf den Schenkel klatschend, »ein nackter, zahnloser, runzliger, alter Opa! Kein Wunder, dass du so erschrocken bist.«

Wir mussten beide lachen.

»Sag, mal, woher stammst du, Swami«, fuhr ich fort, »und was treibst du hier in Indien unter diesem Baum, ist das hier dein Meditationsplatz?«

»Ich wurde vor zweiundachtzig Jahren in Deutschland geboren. Seit dreissig Jahren lebe ich als Bettelmönch in Indien. Dieser Baum ist mein Zuhause, unter ihm wohne, lebe und schlafe ich seit fast einem Jahr. Sogar den Monsun habe ich hier überstanden. Ich habe einfach eine Plastikplane über die drei grossen Aeste da gespannt und dabei nicht einen einzigen Tropfen abbekommen.«

»Wow… dreissig Jahre in Indien,« staunte ich, »eine lange Zeit! Und von was lebst du, wie verdienst du deinen Lebensunterhalt?«

»Wie gesagt, ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Bettelmönch. Beim grossen Shivatempel in Tiruvannamalai findet an jedem Vollmond ein riesiges Fest statt, zu welchem oft tausende von Gläubigen aus ganz Indien hinpilgern. Dort erbettle ich jeweils so viel Geld, dass es bequem bis zum nächsten Vollmond reicht. Die Pilger sind sehr spendabel, die machen so eine Pilgerreise nur einmal in ihrem Leben.«

»Hm…seltsame Berufung für einen Europäer«, entgegnete ich sinnierend, »in Indien als Bettler zu leben.«

»Ich bin ja nicht einfach ein gewöhnlicher Bettler«, erklärte der Swami. »Ich habe hier in Indien den Status eines Swami, eines Guru, Schamanen und Yogi. Ich lebe freiwillig als Bettelmönch, es ist mein Beruf, meine Berufung, verstehst du? Welche Art von Beruf übst du aus, Eno?« fragte er mich.

»Ich habe vieles ausprobiert und angefangen, nichts konnte auf die Dauer befriedigen, alles wurde mit der Zeit langweiliger Trott, Routine und grauer Alltag. Zuletzt arbeitete ich als Bühnentechniker an einem Stadttheater. Eine Zeit lang war ich Sänger einer Popband und Kunstschaffender. Die Band hat sich aufgelöst, meine Bilder wollte keiner haben...Kurzum, Swami, ich bin auf der Suche nach dem Sinn, der Berufung und der Liebe meines Lebens.«

»Alles klar«, meinte der Swami kopfnickend. »Du weisst wenigstens, was du suchst! Bist du alleine unterwegs hier in Indien, oder wartet da in irgend einem Hotelzimmer oder einem Strandbungalow eine Frau auf dich?« wollte er wissen.

»Nein, ich bin solo unterwegs, es gibt da eine Frau in der Schweiz - Erica heisst sie. Seit zwei Jahren sind wir mehr oder weniger zusammen…Die Liebe ist eine komplizierte Geschichte. Wie sieht's bei dir aus, Swami, mit der Liebe, hast du sie gefunden?«

»Ich kann nicht klagen,« meinte er schmunzelnd, »Du hast wohl gedacht, so ein alter Yogi lebt im Zölibat. Ich bin seit sieben Jahren mit Lisa zusammen, einer Amerikanerin. Lisa ist vor zwei Wochen nach Calcutta abgereist, sie besucht dort für die nächsten drei, vier, Monate eine Yogaschule.«

Im Geist sah ich ein altes, zahnloses, lustiges Weibchen dem Swami ähnlich, mit filzig grauen Dreadlocks, an einem Alters-Yogakurs.

»Willst du ein Bild von ihr sehen?«, fragte er mich und reichte mir ein Foto, das er in einem Buch zwischen den Seiten aufbewahrte.

»Wow.., Swami, entfuhr es mir, »wo hast du denn die aufgerissen?«

»Da staunst du, was Eno? Du dachtest wohl, ich bin mit einer alten, keifenden Hexe zusammen.«

»Das nun auch nicht gerade, aber dass du mit einem dreissigjährigen Super-Model zusammen bist, hätte ich nicht gedacht, Swami.«

»Lisa ist dreiunddreissig Jahre alt, wir haben uns vor sieben Jahren beim grossen Shivatempel in Tiruvannamalai kennengelernt. Ich hatte eigentlich mit den Weibsbildern abgeschlossen - doch im Leben kommt es oft anders als man denkt.«

»Wohnt sie auch hier unter dem Baum?«, fragte ich.

»Du willst alles ganz genau wissen, he«, rief der Swami.

»Nein, sie hat noch ein Zimmer in der Stadt. Sie wohnt mal hier, mal dort. Lisa ist eine tolle Lady«, schwärmte er.

»Wahnsinnstyp«, dachte ich, »lebt in Indien als Bettelmönch, zählt zweiundachtzig Lenze und hat so eine Frau!«

Da ich mit meinem Freund Angelo in der Stadt zum Mittagessen verabredet war, musste ich schon bald los und mich vom Swami verabschieden. Als ich ihm einen 100-Rupien-Schein spenden wollte, lehnte er dankend ab.

»Du warst mein Gast, Eno, von Gästen nehme ich kein Geld an. Es war schön, dich kennengelernt zu haben.

Komm wieder einmal vorbei. Du bist jederzeit bei mir und deinem Baum willkommen.«

Ich bedankte mich für die Gastfreundschaft und versprach, wieder einmal vorbeizuschauen.

Weil ich etwas spät dran war, nahm ich einen kleinen Fusspfad direkt zur Strasse hoch, welche ein paar hundert Meter weit weg lag. Mit einer Motor-rikscha liess ich mich direkt nach Pondicherry zum Restaurant Ashok chauffieren, wo Angelo schon bei Tisch sass und mich erwartete. - Angelo ist ein alter Freund aus meiner Heimatstadt. Gemeinsam starteten wir vor zwei Monaten diese Indienreise. Weil Angelo noch etwas länger in Calcutta bleiben wollte, hatten wir uns für eine Zeit lang getrennt und stiessen in Pondicherry wieder zusammen.

Wir bestellten uns ein Fischcurry mit Reisbeilage, Chapatis und ein kühles Kingfisher-Bier. Beim Essen berichtete ich ihm von meiner Begegnung mit dem Schamanen-Swami.

»Du bist ein Glückspilz«, meinte er begeistert, »so einem Swami-Schamanen läuft man nicht alle Tage über den Weg. Es ist bestimmt kein Zufall, dass du ihm gerade unter deinem alten Liebes-Baum begegnet bist – das ist ein besonderes Zeichen, bestimmt kein Zufall, es sieht ja schon fast so aus, als ob du bestellt gewesen wärst und er auf dich gewartet hat.«

»Meinst du? Klingt ein bisschen weit hergeholt…aber wer weiss…mich erinnert dieser Swami am ehesten an einen alten Hippie aus den Sechzigern, der irgendwie in Indien hängen geblieben ist. - Erstaunlich, dass der Alte mit einer so jungen Frau zusammen ist…aber Osho war ja auch mit Shila…«

»Da siehst du, Eno, der Typ ist ein Magier, Tantriker, Guru, Schamane und Swami, der Typ ist bestimmt weise und erleuchtet«, meinte Angelo enthusiastisch.

»Naja…« entgegnete ich skeptisch, »offensichtlich, der Alte hat eine Menge durchgemacht in seinem langen Leben, sicher ist er auf seine Art ein weiser alter Mann – doch allwissend und erleuchtet ist er wohl kaum.«

»Vielleicht aber, Eno, ist er nahe dran. Du solltest diesen Swami auf jeden Fall noch mal besuchen.«

»Das werde ich sicher tun…bei dieser Gelegenheit werde ich herausfinden, wie nahe er dran ist.«

Angelo und ich blieben den ganzen Nachmittag über im selben gemütlichen Dachgarten-Restaurant unter Sonnenschirmen bei Kaffee, Lassis und Kuchen sitzen. Wir diskutierten über die Liebe, das Leben, die Berufung, über Gott und die Welt. Dabei kamen wir zum Schluss, dass die wahre Liebe und die wahre Berufung wohl das Erstrebenswerteste im Leben sind.

Wir realisierten jedoch auch, wie wenige Menschen diese Ziele wirklich erreichten.

»Eno, wie du weisst, besuche ich seit einer Woche eine Yogaschule, es sind noch Plätze frei, hast du nicht Lust mitzutun? Der Yogalehrer ist ein super Typ, der hat's voll drauf, Vijai heisst er, einer der Besten!«

»Hm…ich weiss nicht so recht. Yoga würde mir bestimmt ganz gut bekommen, doch irgendwie fehlt mir die Motivation dazu oder vielleicht ich bin einfach nur zu faul. Wie sieht's mit den Frauen aus? Gibt's in eurer Yogaklasse ein paar tolle Weiber?«, wollte ich wissen.

»Du bist immer noch der Alte, Eno – immer hinter den Weibern her! Sicher, da gibt es ein paar tolle Frauen, die sind so beweglich, gegen die bist du eine steife Stange!«

»Das ist ja genau was die brauchen – eine steife Stange«, witzelte ich und lachte.

»Verschone mich mit deinem Chauvi-- und Machogehabe«, winkte Angelo grinsend ab und gab mir einen leichten Boxer auf den Oberarm. »Ich geh mal los«, meinte er, »In einer Stunde fängt der Yogakurs an, ich muss vorher noch unter die Dusche.«

Wir verabschiedeten uns. Ich begab mich auf mein Zimmer in der Amala-Lodge, wusch dort einige Wäschestücke und ruhte mich ein wenig aus. Das Nachtessen nahm ich im Indian-Coffeehouse ein, wo ich eine riesige Masala Dosa verdrückte. Zum Nachtisch genoss ich relaxt und zurückgelehnt einen Kaffee. Die Ventilatoren drehten dabei gemütlich ihre Kreise. Die Fliegen flogen brummend ihre Kurven und die Kellner schlurften mit Silbertabletts um die Tische. Vor dem offenen Eingangsportal standen ein paar zerlumpte Bettler. Auf der staubigen Strasse bewegte sich ein stockendes Chaos von Autos, Rikschas, Fussgängern, Fahrrädern und heiligen Kühen.

Einige Tage später, beim Einkaufen auf dem Früchtemarkt, kam mir spontan die Idee, den Swami zu besuchen und ihm einige Früchte mitzubringen. Auf dem Früchtemarkt herrschte ein grosses Gedränge, es war hektisch und laut. Als einziger Westler fiel ich dementsprechend auf. Die Marktfrauen schrien, lachten, winkten und schnatterten um meine Gunst. Ich feilschte an etwa fünf Ständen gleichzeitig und war am Schluss ziemlich gestresst und genervt. Die Marktfrauen hatten ihre helle Freude. Als Trost schenkte mir eine der Frauen drei Limonen, eine andere legte eine kleine Blumengirlande um meinen Hals. Ich war gerührt, der Stress war vergessen. Bei der nächsten Cyclestore mietete ich mir ein Fahrrad, damit fuhr ich die fünf Kilometer der Strasse entlang, den schmalen Fusspfad runter direkt zu Swamis Baum.

»Guten Tag, Swami, hallo«, begrüsste ich ihn, »hoffentlich komme ich nicht ungelegen. Ich habe gedacht, ich schaue mal vorbei und bringe dir ein paar Früchte mit.«

»Mensch, Eno – du kommst wie gerufen, sei willkommen. Ich wollte gerade hoch zum Weiler um mir Bananen und Limonen zu kaufen. Komm, lass uns doch einen Fruchtsalat zubereiten!«

Der Swami holte einen Alutopf, Messer, Löffel und zwei Teller, dann begann er sorgfältig, die Ananas, die Papaya, Aepfel und Bananen zu schälen. Ich schnitt sie zu Scheibchen, Rädchen und Würfeln. Am Schluss träufelten wir Limonensaft darüber, mischten etwas Zucker sowie Kokosraspel dazu. Der Fruchtsalat schmeckte köstlich. »Götterspeise«, befand der Swami.

Ich erzählte ihm von meiner Diskussion mit Angelo, bei der wir herausgefunden hatten, dass man ohne wahre Berufung, ohne wahre Liebe nie wirklich glücklich sein konnte, dass es eigentlich das Wichtigste im Leben wäre, danach zu streben und zu suchen.

»Alle Achtung«, nickte der Swami anerkennend, »da habt ihr ja eine ganze Menge herausgefunden. Das sind doch immerhin schon zwei Drittel der Essenz.

Zur wahren Liebe und zur wahren Berufung kommt noch die wahre Wahrheit hinzu – aller guten Dinge sind drei!«

»Wo und wie finde ich die wahre Wahrheit, Swami?

Es gibt so viele Wahrheiten, Ideologien, Religionen und Weltanschauungen, wie soll da einer noch den Durchblick behalten? - Jeder meint er hätte die Wahrheit für sich gepachtet!«

»Frag das mal einen Detektiven, der gerade einen verzwickten Kriminalfall bearbeitet, auch er sucht in seinem Fall die Wahrheit, auch er muss – ähnlich wie ich – Spuren sichern, Lügen aufdecken, Indizien sammeln und Beweise erbringen. Auch er darf sich nicht mit Hypothesen, Halb- oder Teilwahrheiten abfinden.

Es existiert in jedem Fall – auch zu grossen Fragen – nur eine einzige Wahrheit! Es kann nicht mehrere Wahrheiten geben! Das wäre ja ein Widerspruch. Zu allen Fragen gibt es nur eine richtige Antwort und somit eine einzige Wahrheit. Die gesamte Wahrheit oder die Summe aller Wahrheiten, setzt sich aus vielen einzelnen Teilen oder Fragmenten zusammen, ähnlich einem Puzzlespiel. Das gesamte Spiel zusammenzusetzen ist eine hohe Kunst!

In Andersons Märchen, "Die Eiskönigin" steht: "Der Spiegel der Wahrheit ist vor langer Zeit kaputtgegangen. Die Scherben wurden dabei auf der ganzen Welt verstreut. Jeder Glassplitter ist ein Teil der Wahrheit."

Unsere Aufgabe, Eno, ist es, die Scherben zusammenzusuchen und den Spiegel der Wahrheit wieder zusammenzusetzen. Auch in Herrmann Hesses Buch "Das Glasperlenspiel" geht es um dieses Thema. «

»Hast du denn die Glassplitter gefunden, Swami, und den Spiegel der Wahrheit wieder richtig zusammengesetzt?«

»Noch nicht ganz, es fehlen mir dazu noch ein paar kleinere Stücke. Ich kann jedoch einen grossen Teil der Wahrheit erkennen.«

»Wo und wie soll ich denn die Wahrheit suchen, Swami? Sie liegt ja nicht überall einfach so offen herum.«

»Du kannst überall Teile der Wahrheit finden, Eno. Du musst sie nur sehen wollen, offen sein dafür. Das Ganze ist bei weitem nicht so kompliziert und schwer wie du denkst. Wenn du dich eine Weile damit beschäftigst, entsteht eine Eigendynamik. Du lernst zu analysieren, zu unterscheiden und zu kombinieren um den Spiegel richtig zusammenzusetzen. Ein Teil ergibt den andern.«

Der Swami musterte mich mit zusammengekniffenen Augen.

»Eno, du siehst so aus, als wärst du ziemlich weit herumgekommen in der Welt?«

»Das kann man wohl so sagen, Swami, Ich habe ein Jahr in Amerika gelebt sowie ein Jahr in Berlin, bin durch ganz Asien und Südamerika gereist. In Indien verbrachte ich, alle Reisen zusammengezählt zwei Jahre. Ich habe eine Menge erlebt und durchgemacht auf diesen Reisen. Ich war da nicht einfach in den Ferien.«

»Wow«, staunte der Swami, »das ist ja allerhand, das habe ich vermutet, ich hab’s dir angesehen. Mir scheint, du bist so der Forscher, Abenteurer und Entdeckertyp. Was sind deine nächsten Pläne, Eno, was hast du vor in naher Zukunft?«

»Hm…ich weiss noch nicht so recht – noch ist alles offen, im Moment habe ich keine grossen Pläne. Ich will hier in Indien überwintern, das Leben geniessen und eine tolle Zeit haben. Später, wenn das Wetter im Norden wärmer ist, reise ich vielleicht mit meinem Freund Angelo nach Rishikesh. Auf jeden Fall suche ich mir ein Zimmer oder ein Haus in Strandnähe, die Amala-Lodge ist mir einfach zu zentral, zu teuer und zu laut. Danach werde ich weitersehen.«

Der Swami schwieg eine Weile und sagte dann: »Eno, es existiert nicht nur die äussere Welt, es gibt auch noch eine innere Welt, eine geistige Welt. Du hast einen grossen Teil der äusseren Welt bereist, von der inneren, geistigen Welt hast du jedoch noch nicht so viel entdeckt. Hast du nicht Zeit und Lust, die unentdeckten Kontinente deiner geistigen Welt zu entdecken, zu erforschen und zu bereisen?

Ich, Swami Sathyanandapuri, bin einer der besten Tourguides auf diesem gottverdammten Planeten! Ich mache dir einen Vorschlag, zieh doch einfach hierher zu mir unter den Baum, es ist genug Platz für uns beide da. Dieser Baum ist der exklusivste Natur-Strandbungalow der Welt. Auf dem Reisfeld da drüben gibt es eine Elektropumpe, die zur Bewässerung dient, dort kannst du dich waschen und duschen, die Toilette befindet sich da hinten im Wäldchen. Zu Essen bekommst du beim Weiler an der Strasse oben – was willst du mehr? Du solltest allerdings nur das Allernötigste an Kleidern und persönlichen Sachen mitbringen. Die Fischer sind so arm, die stehlen dir, wenn es sein muss, sogar deine alte Zahnbürste oder die letzte Seifenkante. Es ist jetzt allerdings schon lange nichts mehr weggekommen. Am Anfang, die erste Zeit hier, war es schlimm, die klauten sogar einen alten Slip von Lisa den sie zum trocknen an einen Ast gehängt hatte.

Dann hat der Feuerbestatter ein Machtwort gesprochen, den Fischern die Leviten gelesen. Seither habe ich meine Ruhe.«

»Was für ein Feuerbestatter?«, wollte ich wissen.

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal, Eno, was hältst du von meinem Vorschlag?«

»Hm…ich weiss nicht so recht…aber wieso eigentlich nicht. Ich wollte ja sowieso umziehen – mit Angelo geht das klar, wir sind uns ja nicht verpflichtet. Wir reisen mal zusammen, mal getrennt. Jeder hat so seine Ziele und Wünsche. Er möchte unbedingt nach Cape Comorin und zu dem Guru Sai Baba, darauf habe ich ohnehin nicht so grosse Lust… okay, Swami, ich nehme deinen Vorschlag an. Mein Hotel ist bis morgen bezahlt, ich werde also übermorgen bei dir einziehen, wenn's dir recht ist.«

»Komm, wann immer du willst, Eno, du bist hier jederzeit willkommen.«

Nach meinem Besuch radelte ich zurück nach Pondicherry, fuhr schnurstracks zum Park Hotel, hoffend, dort Angelo anzutreffen. Ich hatte Glück. Er sass auf der Hotelveranda, in einem Buch lesend.

»Hallo, Angelo, du alter Yogi«, begrüsste ich ihn, »ich war gerade zu Besuch bei diesem Swami unter dem Baum. Mann, ich sag dir, der Typ ist voll drauf, voll abgefahren. So jemanden habe ich noch nie getroffen.

Ich dachte immer, Achtzigjährige sind senil. verkalkt und konservativ. Stell dir vor, der Alte hat mich eingeladen, eine Weile lang bei ihm unter dem Baum zu wohnen…ich habe zugesagt! Ich wollte ja sowieso an den Strand umziehen.

»Siehst du, Eno, ich hab's dir gleich gesagt, deine Begegnung mit dem Swami unter deinem alten Liebesbaum ist ein besonderes Zeichen. Das ist bestimmt kein Zufall! Ich finde es eine tolle Idee, dorthin zu ziehen. Ich meinerseits werde in ein, zwei Wochen nach Cape Comorin reisen, von dort hoch nach Kerala und danach zurück nach Pondicherry, mir gefällt es hier.

Wir können uns ja in zwei Monaten hier wieder treffen und dann zusammen in den Norden reisen, nach Rishikesh.«

»Abgemacht, das machen wir! Du musst unbedingt, bevor du wegfährst, den Swami und mich besuchen kommen.«

Mit einem Kugelschreiber zeichnete ich die Lage unseres Baumes auf eine Serviette. Im Schatten plaudernd, verbrachten wir den Rest des Nachmittags auf der Hotelveranda und assen zusammen zum Abendessen im Aristo ein Palak Panier.

Am nächsten Tag checkte ich aus der Amala-Lodge.

Mein Gepäck stellte ich auf unbestimmte Zeit gegen eine Gebühr im Lockroom unter.

Lediglich mit einer Hose, drei T-Shirts, ein paar Baumwolltüchern, Sandalen, Bastmatte, Decke und einer Handvoll Toilettenartikel zog ich beim Swami unter dem Baum ein.

»Eno, hallo…da bist du ja – herzlich willkommen an Bord unseres Raumschiffs«, begrüsste er mich. »Wie ich sehe, hast du nicht viel mitgebracht, das ist gut so! Je weniger man besitzt, umso freier ist man – Besitz ist Ballast! Ganz am Ende können wir sowieso nichts mitnehmen. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen. Es schadet also nichts, wenn wir das Loslassen schon zu Lebzeiten ein wenig üben.«

Ich rollte meine Bastmatte im hinteren Teil des Raumes auf dem Sandboden aus, legte meine Decke darauf und hängte den Baumwollbeutel mit meinen Habseligkeiten an einen Ast. Den Reisepass, die Cash-Dollars und das Rückflugticket vergrub ich heimlich - als der Swami gerade auf Toilette war - in einer Plastikdose, die ich extra für diesen Zweck mitgenommen hatte, im Sand unter dem Baum. Ich traute zwar dem Swami – aber sicher ist sicher, denn ich hatte auf meinen Reisen in Indien schon viele schräge Vögel, Freaks und gestrandete Existenzen angetroffen. Das Vergraben hatte auch den Vorteil, dass ich die Wertsachen nicht ständig auf mir tragen und darauf achten musste.

Der Swami selber lebte absolut spartanisch, er besass praktisch nichts. Seine Kleider bestanden aus einigen Stringtangas und Tüchern. Zudem besass er eine Decke, eine Petroleumlampe, eine Taschenlampe, etwas Essgeschirr, drei Bücher, Schreibzeug, ein paar Bogen Papier sowie einen Umhängebeutel mit allerhand Krimskrams drin.

Unser Baum stand auf einem wunderschönen, palmenbewachsenen Areal. Zweihundert Meter vor uns glitzerte das türkisblaue Meer. Ein paar Schritte seitlich erstreckte sich ein kleines Reisfeld in fluoreszierendem Frühlingsgrün. Nicht weit, auf der anderen Seite, sah man ein Fichtenwäldchen. Zum Weiler Kottakuppam an der Strasse waren es wenige hundert Meter einen Fusspfad entlang, vorbei an einem Ziehbrunnen und zwei kleinen Bauernhäusern. An der Strasse im Weiler gab es drei kleine Foodstalls, wo man einfache, indische Mahlzeiten bekam. Es gab auch eine Art Kiosk, der vom Bindfaden bis zum Bonbon alles führte sowie einen Früchtestand – was wollte ich mehr? Es war alles da!

Am Nachmittag genoss ich ein ausgiebiges Baden, Schwimmen, Planschen und Bodysurfen im Meer.

Anschliessend testete ich im Reisfeld die elektrische Wasserpumpendusche. Aus einem armdicken Rohr klatschte mir in einer Fontäne das kühle Nass entgegen, – was für ein Luxus in Indien. Ich hatte selten schöner geduscht. Als Krönung trank ich unter unserem dem Baum eine grosse, grüne Trinkkokosnuss.

»Hey, Swami, ich habe mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Ich finde, es ist fantastisch hier.«

»Eines noch fehlt dir zum grossen Glück«, warf der Swami ein, »nämlich eine schöne Lady in einem sexy Bikini.«

»Daran habe ich im Moment überhaupt nicht gedacht, jedoch jetzt, wo du mich drauf bringst, muss ich gestehen, das wäre natürlich nicht schlecht – ich bin ja kein Kostverächter! Caroline, die Australierin, mit der ich vor ein paar Jahren hier war, hat mega sexy ausgesehen, Mann! Wenn ich daran denke…Wir erlebten unter diesem Baum eine traumhafte Zeit voller Ekstase und Schönheit! Wir sind im Meer geschwommen wie die Delfine, in der Nacht haben wir uns unter diesem Baum geliebt wie ein Götterpaar. Caroline war eine wahnsinnig tolle Frau, einmal hatten wir uns sogar im Taj Mahal geliebt.«

»Du meinst, ihr hattet Sex im Taj Mahal?!

»Sex, ist in diesem Fall zu billig ausgedrückt, Swami, es war eine Dimension mehr.«

»Wow!« staunte der Swami. »Das klingt ja sagenhaft, los erzähl, dass interessiert mich, ich bin gespannt wie eine Feder.«

»Also…Nach sechs holprigen Stunden Busfahrt von New-Delhi herkommend, erreichten wir am Abend, es war schon dunkel, die Stadt Agra wo das berühmte Taj Mahal steht. Wir checkten in einem Hotel ein und assen eine Kleinigkeit in einem nahen Restaurant. Caroline wollte unbedingt noch an diesem Abend zum Taj. Da ich angenommen hatte, wir würden das Taj erst morgen bei Tageslicht besichtigen, war ich über diese Idee etwas skeptisch, zeigte keine grosse Lust…ich lies mich dann doch überreden – Frauen halt…? Wir holten aus dem Hotelzimmer unsere Taschenlampen, da es draussen etwas kühl war, hängte sich Caroline noch eine Decke über die Schulter. An der Hotel-Reception fragten wir wo das Taj zu finden sei.«

»Fünfhundert Meter die Strasse hoch, sie laufen direkt darauf zu.«

Wir machten uns auf den Weg. Auf der sehr spärlich beleuchteten Strasse waren kaum Passanten anzutreffen. Nach ein paar hundert Metern gab es überhaupt keine Beleuchtung mehr und keine Häuser. Nur der Mond und die Sterne spendeten ein wenig Licht. Offensichtlich waren wir an den Stadtrand gelangt. Wir schalteten unsere Taschenlampen ein und gingen langsam weiter. Keine Menschenseele war zu sehen nur ein paar Ziegen in der Nähe meckerten einsam durch die Nacht.

Plötzlich…Wham, erblickten wir vor uns, wie aus dem Nichts eine riesige, majestätische, schwarze Silhouette vor dem Sternenhimmel ragen… Das Taj Mahal – Das Mausoleum der ewigen Liebe!

Langsam, entlang einem Brunnen-Bassin bewegten wir uns darauf zu. Keine Security, keine Wärter, keine Touristen, keine Besucher. Wir waren vollkommen alleine! Ehrfürchtig schritten wir durch das Hauptportal und gelangten in die Krypta wo der Kaiser und seine Gemahlin beigesetzt sind. In der Mitte standen nebeneinander die beiden Sarkophage des Kaiser-Ehepaares. Die stille Anmut, Schönheit und Erhabenheit dieser Krypta berührte und ergriff uns sehr.

Danach schlenderten wir vorsichtig durch die Gänge und Galerien. Unsere schwachen Taschenlampen vermochten die riesigen Dimensionen des Taj kaum auszuleuchten. Auf einem der Balkone im zweiten Stockwerk setzten wir uns auf Caterinas Decke, rauchten einen Joint und genossen die Ruhe und den Blick zum Sternenhimmel.

Nach einer Weile legte Caroline sanft eine Hand um meinen Nacken und gab mir einen langen, innigen Kuss…in der Art und Weise wie das Frauen tun, wenn sie noch mehr im Sinn haben…Auf diese Idee war ich nicht gekommen - da war sie mir voraus – Aber wieso eigentlich nicht. Das Taj ist ja keine Kirche! Ich zerstreute meine Bedenken und gab mich dem Liebesspiel hin…es war berauschend!

Man stelle sich vor, wir befanden uns im bekanntesten, berühmtesten Wahrzeichen Indiens, in einem der bedeutendsten Gebäude der Welt…Im Mausoleum der ewigen Liebe.

Unser Liebesabenteuer im Taj war absolut magisch, ekstatisch und wunderschön. Diese einzigartige Location, dieses einmalige Erlebnis beflügelte uns beide.

Zum Ausklingen rauchten wir noch einmal einen Joint, anschliessend machten wir uns auf den Weg zurück ins Hotel. Am nächsten Morgen besuchten wir bei Tageslicht noch einmal unser Taj Mahal. Es war eine ganz andere Atmosphäre als in der Nacht. Hunderte von Besuchern und westliche Touristen schlenderten oder standen herum. Auf unserem Balkon konnten wir uns ein stilles Lächeln nicht verkneifen…Wenn all die Leute wüssten…?

(Heutzutage wäre diese Geschichte nicht mehr möglich. Das Taj Mahal wird heute in der Nacht von riesigen Flutlichtern taghell beleuchtet und vierundzwanzig Stunden überwacht Das Gelände ist mit einem zwei Meter hohen Eisenzaun umgeben. Am Eingang muss jeder Besucher durch einen Metalldetektor).

Der Swami fand meine Geschichte sehr amüsant und war sichtlich beindruckt.

»Wie lange ist das her, dass du mit Caroline unter diesem Baum warst,« wollte er wissen

»Hm…warte mal – das muss jetzt sieben Jahre her sein, damals war es auch Ende Januar. Ich würde sagen, es ist fast auf den Tag sieben Jahre her.«

»Was denkst du, hat diese Genauigkeit eine Bedeutung für dich?«, fragte er weiter.

»Ich weiss nicht, Swami, eigentlich nicht, ich würde meinen – Zufall eben.«

»Eno, du weisst ja, wer meint und glaubt – nämlich jene, die nicht wissen! Zufall, meinst du? Ich glaub's ja nicht! Die PC-Generation glaubt noch an die Darwinsche Lehre der Zufälle. Ja meinst du, die Welt sei zufällig entstanden? Ich kann dir versichern, die Welt wurde geplant, designt, entworfen und programmiert.

Du denkst wohl, die Sonne hat rein zufällig genau den richtigen Abstand zur Erde, he? Ich kann dir sagen, gemessen an den Billionen Kilometern an Unendlichkeit wurde die Sonne verdammt genau aufgehängt – auf den Millimeter genau! Ein paar Kilometer näher und wir hätten 70 Grad im Schatten, ein paar Kilometer weiter würden wir uns den Arsch abfrieren.

Es gibt keinen Zufall, alles hat seine Regel und sein Gesetz. Nichts passiert rein zufällig, alles hat seinen Grund, seine Absicht. Das Chaos hat seine Ordnung!

Diese scheinbaren Zufälle sind genau getimte Parallelitäten, die synchron zeitlich aufeinandertreffen. Diese zufälligen Ereignisse und Geschehnisse enthalten eine Message und Information, Du solltest dich fragen, warum und wieso passiert mir ausgerechnet dieser Zufall? Wieso fällt mir etwas zu? Der Zufall ist auffällig – sonst würde er gar nicht auffallen – er wäre ein bedeutungsloses Ereignis.

Und wenn du jetzt immer noch denkst, dass du vor sieben Jahren rein zufällig hier warst und jetzt, genau sieben Jahre später wieder zufällig hier bist, zufällig mich triffst und ich zufällig dich, nur weil wir beide nichts Gescheiteres zu tun haben, irrst du dich.

Wenn mehrere Zufälle aufeinander treffen spricht man von einer Verkettung von Zufällen. Ich habe vor genau sieben Jahren Ende Januar von meinem Bruder einen Brief bekommen. Darin schrieb er, ich sei ein gestrandeter, irrer, verblödeter Hippie, ein Sozialfall – Er war sein ganzes Leben ein biederer, verklemmter Beamter und musste seinen Lebensfrust an mir auslassen. Dieser Brief hat mich tief getroffen und verletzt…

Genau einen Tag nach diesem traurigen Brief haben Lisa und ich uns beim Shivatempel kennengelernt. Sie wiederum bekam am selben Tag von ihrem Vater, einem millionenschweren amerikanischen Juden, einen Brief, darin teilte er ihr mit, dass er ihr in Zukunft alle Unterhaltszahlungen verweigern und sie enterben würde, weil sie als Jüdin zum Hinduismus konvertiert sei und als Amerikanerin in einem unzivilisierten Land wie Indien leben würde.«

»Es ist schon eigenartig, Swami, am Tag vor der Begegnung mit Caroline erhielt ich Post von meiner damaligen Freundin – sie hatte sich in einen anderen Typen verliebt und gab mir den Laufpass. – All diese Ereignisse fanden vor genau sieben Jahren statt – was das wohl alles zu bedeuten hat?«

Der Swami dachte eine Weile konzentriert nach.

»Eno, ich hab's.« Er klatschte sich auf den Oberschenkel, blickte um sich, als könnte uns jemand beobachten. »Eno«, sagte er leise, »Ich weiss jetzt, warum ich seit zehn Monaten unter diesem Baum sitze, ich habe auf dich gewartet und du hast mich gesucht, genauso ist es und nicht anders!«

»Hm…wenn das deine Schlussfolgerung ist, Swami, dann bin ich froh, dass ich dich gefunden habe. Was denkst du ist der Sinn und Grund dieses Zusammentreffens?«

»Das, Eno, wirst du unter diesem Baum erfahren und herausfinden!«

Mittlerweile war es Abend geworden, mir knurrte so langsam der Magen. Seit dem Frühstück hatte ich ausser zwei Bananen nichts mehr gegessen.

»Swami, ich geh zum Weiler hoch zu einem dieser Foodstalls. Hast du Lust, mich zu begleiten, oder soll ich dir vielleicht etwas mitbringen?«

»Ich denke, ich bleibe heute hier, ich esse selten ein Abendbrot. Du könntest mir jedoch einen Kaffee mitbringen, in der Thermoskanne da, sowie ein paar Coco-Cookies.«

Ich begab mich zum Weiler, dort setzte ich mich in den Delight-Foodstall. Diese Foodstalls sind winzige Restaurants in Garagengrösse, die man überall in Indien sieht, sie bieten etwa acht bis zehn Personen Platz. Das Mobiliar ist klein und einfach. Aus dem Delight's plärrte aus einem voll aufgedrehten Radio dröhnender Hindi-Pop. An der niederen Decke surr-te ein Ventilator bei höchster Tourenzahl. Ich bestellte mir ein klassisches Indian-Thali, das auf einem grossen grünen Bananenblatt serviert wurde. Das Thali schmeckte ausgezeichnet. Der Koch freute sich und offerierte mir zum Dessert einen Betelnuss-Pan, den ich mir hinter die Backe schob und genüsslich kaute.

Am Schluss liess ich die mitgebrachte Thermoskanne mit Kaffee auffüllen, kaufte eine Tüte Coco-Cookies und bezahlte die Rechnung.

»Du sein ein Freund von die Swami?« fragte der Koch.

»Ja ich bin ein Freund von Swami.«

»Swami sein guter, heilige Mann. Ich habe sehr gerne.

»Aus welche Land du kommen?« fragte er.

»Ich komme aus der Schweiz.«

»Oh, Schweiss sein ein reiche Land. India sein arm.

Wie du heissen?«

»Ich heisse Eno, und wie heisst du?«

»Mein Name sein Amukaram.«

»Hat mich gefreut, Amukaram, du bist der beste Koch in ganz Indien, bis ein andermal, gute Nacht.

»Good nigth, thank you, Sir«, erwiderte er strahlend.

Zurück beim Baum genossen wir im Schein der Petroleumlampe den Kaffee und die Coco-Cookies. Wenig später wünschte ich dem Swami eine gute Nacht und rollte mich in meine Decke – meine erste Open-Air-Nacht unter dem Baum. Der Swami schmökerte noch ein wenig in einem seiner Bücher, während ich mich vom fernen Sound der Wellen in den Schlaf wiegen liess.

Als ich aufwachte, stand die Sonne dunkelorange knapp über dem Meeresspiegel. Ich hatte sehr gut geschlafen, viel besser als in der stickigen, lauten Amala-Lodge auf dem viel zu kurzen Bett. Ich fühlte mich wie neu geboren.

Der Swami war schon wach. Er sass meditierend im Lotossitz auf seiner Bastmatte. Ich versuchte es ihm gleichzutun, indem ich meine Beine kreuzte und die Augen schloss.

»Konzentriere dich nur auf deinen Atem«, sagte er nach einer Weile, »atme tief, langsam und bewusst, schalte alle deine Gedanken aus.«

Ich tat wie geheissen - nach ein paar Minuten überkam mich eine schwebende Leichtigkeit. Für einige Momente lang verschmolz ich mit meinem Atem und dem Herzschlag. Nach der Meditation tat der Swami noch einige Yogaübungen, auch diese versuchte ich nachzuahmen.