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Geisteswissenschaftliche Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts wie etwa die Phänomenologie, Hermeneutik oder Lebensphilosophie führten Ernst Cassirer zu der fragenden Annahme, ob man sich vielleicht schon auf dem Weg zu einer Anthropologie befinde. Philosophische Anthropologie gab es damals bereits, also was konnte Cassirer damit meinen? - Dieses Buch versucht eine Anthropologie als Abhandlung der Sprache, als Darstellung relevanter Begriffe und basiert dabei wesentlich auf persönlichen Erfahrungen des Autors, die aber für den Inhalt keine Rolle spielen. Und es wendet sich an Menschen mit verschiedensten Interessen, ob lebenspraktisch, spirituell oder einfach nur sprachlich-theoretisch.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Familie
25. März 2020
31. März 2020
10. April 2020
2. Mai 2020
28. Mai 2020
18. Juni 2020
08. Juli 2020
30. Juli 2020
10. August 2020
23. September 2020
07. Oktober 2020
Es ist der fünfte März 2021 und draußen ist es kalt und grau. Auf der Fichte gegenüber sitzt eine Taube ganz oben links am Wipfel und dreht ihr Köpfchen. Ganz leicht scheint es zu schneien, aber der Boden wird nicht mehr weiß. Ich denke an Thomas von Aquin.
Im Vorjahr habe ich einen Text hin getippt, eine Anthropologie, und jetzt muss ich noch eine kurze Hinführung dazu verfassen. Was soll ich schreiben? Der Text ist an Mikaela Shiffrin adressiert in Form von fiktiven Briefen. Sie ist mir schon bei ihren ersten Siegen aufgefallen im Jahr 2012 oder 13. Warum, weiß ich nicht. Aber jedenfalls ist es schon ein Cross-over von der Philosophie zum Schisport, und vielleicht erhöht es ja auch die Auflagenzahl, wenn man einen weltbekannten Spitzensportler mit einbezieht! Ein wenig Bauernschläue muss man mir schon zugestehen! Aber Mikaela hat in jüngsten Interviews angedeutet, dass sie sich auch für die Sprache interessiert, vielleicht sogar damit arbeitet – aber mein Englisch ist nicht gut genug für derartige Interpretationen …
Also, worum geht es dann? Nach diversen, persönlichen Erfahrungen hatte ich mir Gedanken gemacht über Begriffe, die mit dem Menschen zu tun haben. Sie bilden mehr oder weniger den Inhalt der Briefe. Und ich könnte einen Bogen ziehen anhand von nur zwei Wörtern, der Sprache und der Natur. Menschen sind „auf der Welt“, um ihre Sprache zu lernen, und das Ganze wird umfasst oder getragen von der Natur. Die Religion kann dem Menschen dabei helfen, eine Orientierung bieten, nicht nur in ethischer Hinsicht. Aber im Grunde muss der Mensch versuchen, mit seiner Sprache fertig zu werden, und etwa Erfahrungen „veränderter Bewusstseinszustände“ können dafür zum Impulsgeber werden. Man versäumt andererseits auch nichts, wenn man sich nie darum kümmert, denn der Prozess des Sterbens führt einen ohnedies zurück zur Natur. Näheres dann in den folgenden Seiten!
Viel Spaß beim Lesen – und haltet die Ohren steif!
Liebe Mikaela,
bitte verzeih, wenn ich Deine Zeit etwas in Anspruch nehme! Ich habe etwas gefunden, das ich Dir unbedingt mitteilen möchte, weiß aber nicht so genau, wie, und das heißt, ich werde einige Briefe lang dazu brauchen!
Wer ich bin? Eigentlich ein Niemand, der nicht einmal über sein Alter so genau Auskunft geben kann! Spaß beiseite, ich habe Philosophie studiert, schreibe ganz gerne, und mache mir so meine Gedanken über das menschliche Leben. Und ich interessiere mich für Sport, obwohl ich selbst nie auf den Gedanken kommen würde, so etwas professionell zu betreiben! Also, ich bewundere Dich und was Du in so kurzer Zeit alles erreicht hast, aber es ist nicht nur das: Du scheinst jemand zu sein, der auch noch andere Interessen hat, und deshalb, ja ganz einfach deshalb schreibe ich Dir diese Briefe!
Worum es geht? Wie gesagt, das ist nicht so einfach zu beschreiben, und ich würde Dich vielleicht etwas abschrecken, wenn ich mich gleich in medias res stürzte: Es gibt da so einen Ausdruck, ‚conditio humana‘, wörtlich übersetzt der „menschliche Zustand“, also die Grundbedingungen der menschlichen Existenz und ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein, das Gemüt, die Seele. Ich würde ja meinen, die Conditio humana besteht in der menschlichen Sprache und deren Auswirkungen auf die Wirklichkeit, was wiederum ein Auftrag wäre, die eigene Sprache ab und an auch mal zu reflektieren. Aber als Motivation ist das wohl nicht ganz ausreichend! Daher etwas anders formuliert: Es geht um die Freiheit, das innere Bewusstsein, endlich einmal ans Ziel kommen zu können, Frieden zu finden als Belohnung für all die Anstrengungen des Lebens. Die Philosophie hat ja den Ruf, eine gute Einschlafhilfe zu sein, und vielleicht möchte ich genau das Gegenteil beweisen! Man kann auch durchaus etwas Interessantes erfahren, was sich diesem Gebiet zuordnen lässt!
Was ist eigentlich Philosophie? Auch diese Frage lässt sich nicht so einfach – falls überhaupt – beantworten, und daher führe ich nur meine eigene Meinung dazu an: Philosophie ist der Versuch, etwas über den Geist zu sagen. Der Geist wiederum entsteht im einzelnen Menschen, wenn er Dinge kennenlernt im Laufe seiner Entwicklung, welche ihrerseits Ergebnisse von Konventionen sind, mithin der Kultur. Der Geist aber lässt den Menschen andererseits auch nicht zur Ruhe kommen, selbst wenn er das verdient hätte. Er bildet eine ständige Spannung im Bewusstsein, stichelt gegen die Natur, obwohl er selbstverständlich auch von dort herkommt, trägt eher zu Verdruss als zur Zufriedenheit bei. Aber er ist nur sehr schwierig zu fassen, eigentlich nur über die innere Zeit, wenn man diese genau trifft. Doch damit gehe ich schon zu sehr ins Detail! Soviel sei aber schon vorweggenommen: Man kann den Geist auch auflösen, einfach so, sodass er verschwindet, ohne jemals wieder zurückzukommen! In der Praxis ist das aber alles andere als einfach, und auch davon werden meine Briefe handeln.
Apropos handeln: Eine zweite Bestimmung des Wortes Philosophie ist meiner Meinung nach der Bezug zur persönlichen Ethik: Philosophie ist die Reflexion auf das eigene Handeln. Das kann aber logischerweise nicht an der Universität verlangt werden und öffnet das vage Gebiet der Philosophie andererseits aber auch für viele Menschen, die sich nicht kognitiv so sehr damit beschäftigen. Hier kommt es aber, wie sofort klar wird, zu Überschneidungen etwa mit der Religion und im weiteren Sinne auch mit der Psychologie. Ethik ist ein weites Gebiet, heute sehr wichtig und lässt sich aber meiner Meinung nach auf einen einzigen Grundsatz reduzieren: Ehrlichkeit zu sich selbst.
Und damit kommt auch schon die Sprache ins Spiel, einerseits die Dauer als deren Voraussetzung und andererseits die Gemeinschaft als Träger der Sprache. Das Ich ist der bewegliche, hin und her flitzende Bezugspunkt, der den Raum der Sprache im Bewusstsein auslotet und beleuchtet. Und dazu steht dem Ich auch noch der größere Raum des Unterbewusstseins zur Verfügung, allerdings ist dieser dem bewussten Planen entzogen. Der Mensch fokussiert auf das Ich und geht damit auch implizit eine Verpflichtung ein, sich sozusagen den Regeln der Allgemeinheit weitgehend anzupassen. Er strebt ja auch nach Anerkennung durch die Gemeinschaft.
Und dann möchte ich noch eine letzte Bestimmung des Ausdrucks Philosophie anführen: Die Erfahrung des Todes ist der Anfang des Philosophierens. „Tod“ ist ja wohl ein Wort, bei dem man erschrickt oder je nachdem andere Gefühle hat. In Zeiten der Coranavirus-Krise braucht man dazu wohl nichts weiter zu sagen! Man kann den Tod anderer Menschen erleben, den eigenen Tod kann man jedoch nicht vorwegnehmen. Und dennoch gibt es Erlebnisse, welche das eigene Bewusstsein ein wenig verändern können und damit auch die Struktur des Ichs beeinflussen, etwa ein Unfall, eine schwere Erkrankung, eben der Tod eines Angehörigen, aber auch andere veränderte Bewusstseinszustände wie zum Beispiel das in den vergangenen Jahrzehnten bekannter gewordene Phänomen der Nahtoderfahrungen. Ganz genau genommen ist jede weitere Erfahrung oder Wahrnehmung in gewisser Weise ein „Tod“ des Ichs, weil im Prozess der Natur kein folgender Moment dem vorhergehenden vollständig gleicht. Die Dauer, die neben der Sprache die wichtigste kognitive Struktur des Verstandes ist, wäre also letztlich von vornherein eine Illusion.
Ich hatte auch ein paar solche Bewusstseinserlebnisse, welche ich mir zum Teil damals gar nicht erklären konnte, die ich aber hier nicht im Einzelnen darstellen will. Nur so viel: Ich sehe mir jetzt die Sprache an und schreibe die Ergebnisse auf. Das ist sozusagen mein Dienst an der Allgemeinheit.
Aber, um oben anzuschließen, selbstverständlich kann ich nicht behaupten, die Strukturen der menschlichen Psyche zu durchschauen, doch scheint mir etwa der Faktor Besitz so ziemlich am Beginn der inneren Verwicklungen zu stehen, und das völlig unbewusst! Ein Kleinkind hat noch keinen Besitzanspruch, möchte aber dennoch irgendetwas haben, mit dem es vielleicht gerade zu tun hat. Und es verkehrt dabei die realen Besitzverhältnisse ins Gegenteil. Verallgemeinert: Der Mensch glaubt, die Natur zu besitzen, und dabei wäre es eigentlich umgekehrt! Und das ist nicht nur eine unnötige Augenauswischerei, denn die Kognition Zeit leitet sich direkt aus diesem Missverhältnis ab! Mit der Akzeptanz von Zeit sind wiederum latente Schuldgefühle verbunden, welche einen Bewusstseinsbereich etablieren, der kaum jemals zu Bewusstsein kommt, das Unbewusste also, und dort muss sich wohl eine inkorrekte Verbindung zwischen dem Einzelnen und dem durch alle Konventionen suggerierten, unbestimmten Kollektiv abspielen, mithin ein Knoten, den der Verstand gar nicht wahrnehmen oder thematisieren kann! Das geht nur durch den „Tod“ des Bewusstseins oder eben die Auflösung des Geistes, denn Letzterer ist ein Produkt der Konventionen im Singulären, in der jeweils konkreten Gegenwart.
Mit der menschlichen Kultur ist wohl auch so etwas wie die Lüge in die Welt gekommen, und Welt meint wohl in erster Linie die innere Repräsentation der äußeren Realität. Lüge ist einerseits vielleicht nichts weiter als Ungenauigkeit, welche durch den dauerhaften Charakter der Worte schon einmal grundgelegt ist, und andererseits stellt das Ich eine paradoxe Selbsteinbeziehung in die Lüge dar verbunden mit der ständigen Furcht, in einen eben dadurch vorgestellten, fiktiven Abgrund der Lüge zu stürzen. Das Ich muss also, bildlich vorgestellt, ständig „hüpfen“, um nicht mit einem Boden in Berührung zu kommen, vor dem es sich zu Unrecht fürchtet – eine ziemlich seltsame, auf die Dauer aber wohl auch einigermaßen anstrengende Situation! Und vielleicht gibt es ja auch gar keinen solchen Boden, vielleicht sind wir ja alle von Gottes Hand gehalten oder schweben in Buddhas Universum …
Mikaela, ich glaube, es wird deutlich, dass es hier genügend Sachen gibt, auf die man näher eingehen kann! Ich kann leider nicht versprechen, dass diverse Gedankensprünge immer einfach nachzuvollziehen sein werden, manchmal komme ich ja selber kaum nach! Aber ich werde mir Mühe geben, Inhalte, die es wert sind, auch irgendwie zu transportieren! Und ich freue mich, wenn jemand wie Du sich die Mühe macht, das auch noch zu lesen!
Herzliche Grüße,
Erich Maier
Liebe Mikaela,
wir alle sprechen eine Sprache.
Wenn ich diesen einfachen und, wie ich zugebe, nicht sehr aussagekräftigen Satz nehme und die einzelnen Worte interpretiere, worin ich nicht sehr gut bin, so ergeben sich jeweils verschiedene Schattierungen. Eine Sprache kann bedeuten: zumindest eine, aber auch eine ganz bestimmte, unter Umständen dieselbe; wir bezieht sich auf Menschen – Tiere haben ja auch eine Sprache, Pflanzen auch, ja vielleicht sogar Steine –, kann aber auch eine bestimmte Volksgruppe meinen usw.; sprechen kann die allgemeine Tatsache meinen, so wie braunes Haar, kann aber auch eine konkrete, vorsätzliche Handlung sein; alle kann die Mitglieder einer kleinen Gruppe bezeichnen, zumindest zwei, kann aber bis zur Menschheit ausgedehnt werden und eine bestimmte Eigenschaft derselben bezeichnen, eben die menschliche Sprache als wesentliches Konstituens des Verstandes und damit zugleich auch die Vorannahme, dass das jeweilige Bewusstsein der einzelnen Personen mehr oder weniger vergleichbar ist oder wäre. Und Sprache möchte ich mir in dieser unvollständigen Aufstellung zunächst ersparen!
Man könnte noch viele weitere Bedeutungsnuancen dieses Satzes anführen, aber das ist ohnedies nichts weiter als eine Spielerei! Dennoch handelt dieses ganze Buch von der Sprache, und es wäre an dieser Stelle ein Inhaltsverzeichnis angebracht. Bei Briefen ist das aber wohl nicht üblich, und deshalb liste ich hier nur ganz kurz ein paar Wörter auf, um die es im Folgenden immer wieder gehen wird: Sprache, Ich, Bewusstsein, Geist, Leben, Denken und Verstand, Dauer, Existenz, Seele, Selbst, Natur, Gefühle, Emotionen, Liebe, Angst und Stolz, Nichts, Welt, Wille, Verantwortung, Wahrheit, Wirklichkeit, Zeit, Subjekt und Objekte, Ehrlichkeit, Ethik. Auch noch ein paar andere Themen werden erörtert oder kurz gestreift werden wie etwa das Sein, selbstverständlich die Religion, aber auch der ganz konkrete Alltag soll nicht zu kurz kommen!
Wenn ich mir jetzt einen Menschen vorstelle oder sein Bewusstsein, dann kann dieses in verschiedene Schichten unterteilt werden, welche zu einem Ganzen verbunden sind. In Religionen, in der Spiritualität gibt es dazu verschiedene Modelle, und ich habe mir, was ich als Privatperson ja darf, mein eigenes daraus gebastelt. Nur muss ich das halt dazusagen! Und all diese Schichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl sprachlich beschrieben werden können, als auch, sozusagen in der Innenansicht, bestimmte Funkionen im Hinblick auf die Sprache der jeweiligen Person haben.
Also, da wäre einmal der Körper eines Menschen, seine natürliche Ausstattung oder, wie ich das auch bezeichnen würde: sein Selbst. Die nächste Schicht sind die allerersten, natürlichen Empfindungen, also die Gefühle, Diese können in der Innenperspektive bereits einfach ausgedrückt werden; „Ich bin hungrig“ oder so. Später in der Entwicklung kommen hier auch noch die Emotionen dazu, aber dafür bedarf es bereits des Beherrschens der Sprache. Die dritte Schicht ist wohl am leichtesten mit ‚abstrakte Strukturen‘ zu beschreiben, von ganz einfach – man erkennt zum Beispiel eine Linie als horizontal oder gerade – bis etwa hin zum komplexen Aufbau des Versicherungswesens. Und die vierte Schicht, um es kurz zu machen, ist die Sprache selbst.
Hier kommt es dann zu einem kleinen Umschlag, denn geht man durch diese vierte Ebene hindurch, erhält das Ganze eine andere Qualität: quasi von der Theorie zur Praxis, von der Kognition zur Wirklichkeit. Die fünfte Ebene ist die des Handelns, der Verantwortung und, um ein religiöses Wort zu verwenden: der Bereich der Seele. Man sollte nicht vergessen, dass auch hier die Sprache wirksam ist, obwohl deren eigene Domäne bereits „darunter“ liegt! Die sechste Schicht umfasst dann die Innenrepräsentation des persönlichen Umfelds eines Menschen, also mich und die anderen. In der spirituellen Literatur wird auf diese Schicht als das „Selbst“ Bezug genommen, und dem schließe ich mich gerne an. Da ich das Selbst aber bereits für den Körper, also die Natur genommen habe, ergibt sich daraus einfach der Schluss, dass jenseits oder ‚über‘ der Sprache ebenfalls wieder eine Tendenz hin zur Natur stattfindet, diesmal jedoch unter Einbeziehung und Akzeptanz der Sprache selbst. Die Betonung liegt dann auf dem natürlichen Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen des eigenen Umfelds. Und die siebte Schicht zum Abschluss ist dann die Wiederherstellung der Natur unter Einbeziehung der Kultur, sozusagen zugleich die Krone und das Nichts, zustande gekommen durch das Erlöschen des Geistes, eine kurzfristige Unterbrechung der Dauer des Bewusstseins, wahrgenommen als Leere und dann wieder als Fülle, als berückende Freude, weil das Ziel der Existenz erreicht ist.
Ich brauche nicht zu beschönigen, dass dieses Modell nur ein vorläufiges ist, lückenhaft, unscharf, keinesfalls wie der fertige Rohbau eines Gebäudes. Und ich darf dabei auf eine prominente spanische Mystikerin verweisen, Teresa von Avila, welche in ihrem Buch „Innere Burg“ betont, dass die sieben Kammern, von denen dort die Rede ist, flexibel angeordnet sind und sozusagen ihren Status verändern können. Die indische Spiritualität kennt Systeme mit sieben Chakren, die jüdische Mystik ein Modell mit 10 Sefirot, die in sieben Ebenen angeordnet sind, und im Zen-Buddhismus oder auch schon im indischen Buddhismus gibt es die Geschichte von der Zähmung eines Rindes, welche in acht oder zehn Bildern dargestellt wird, als Metapher für die Zähmung und das Erlöschen des Geistes.
Man könnte aber einfach auch zur geläufigen Unterteilung der menschlichen Ganzheit in Körper, Geist und Seele zurückkehren, wenn man zwei Schichten des obigen Modells jeweils zusammenfasst. Diese Unterscheidung bezeichnet jedoch den Prozess des Bewusstseins, das heißt, solange noch daran gearbeitet wird, und ein Bewusstsein, das alle Nuancen der Sprache fühlt, kann rasten! Im Grunde verändert es sich dann auch nicht mehr, denn was könnte ein Mensch an der Natur perfektionieren?
Müßig zu erwähnen, dass auch alle anderen spirituellen Richtungen ihre eigene Symbolik entwickelt haben, ihren eigenen Ausdruck für im Grunde denselben Bewusstseinsprozess, Sufismus, tribal religions – aber eine solche Aufzählung kann nicht vollständig sein! Und sogar im traditionell nicht so religionsaffinen chinesischen Denken gibt es ein Modell von drei „Zinnoberfeldern“, feuerartig aktivierten Bereichen des Innenlebens, welche einerseits zur Läuterung führen können und andererseits auch bestimmte Eigenschaften eben dieser Bereiche und dieser Person zum Vorschein bringen. Es brennt sozusagen, aber das Feuer erlischt auch immer wieder, denn der erhöhte Energieverbrauch kann nicht auf Dauer durchgehalten werden.
Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, hier aus meiner bescheidenen Erfahrung zu erzählen, aber ich möchte auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, esoterisch allzu interessiert zu erscheinen! Wie gesagt, mir geht es hier um Philosophie, und diese ist schon schwierig genug zu definieren, aber manche Erfahrungen können das Bewusstsein „bereiten“ oder in bestimmte Richtungen beeinflussen, in erster Linie in Richtung Natur, auch wenn das im Gewand der Religion oder Spiritualität daherkommt.
In meiner Kindheit war ich religiös sehr interessiert, wenn ich mich selbst auch nicht als übertrieben fromm bezeichnen würde, aber die ethischen Geschichten des Neuen Testaments haben mich beispielsweise schon sehr beeinflusst. Die Bewusstseinserlebnisse der damaligen Zeit, in den Grundschuljahren oder davor, waren zum Teil aber gar nicht so religiös, ich erinnere mich etwa an intensive Träume, in denen ich in der Luft schweben konnte, wie auf einem Sessel mit einer Vorrichtung zum Steuern, sodass ich einen Überblick über die nähere Umgebung unseres Hauses gewinnen konnte. Die Betonung lag dabei vielleicht auf der Perspektive, dem Boden enthoben, in gewisser Hinsicht sicher, relaxt und zugleich aufmerksam, in einer eigenen perspektivischen Nische sozusagen. Ich habe dabei nicht allzu viel erspäht oder erfahren, aber das Gefühl war doch eine Spur realer als eine Fantasie oder ein gewöhnlicher Traum, das Gefühl, mit dem Bewusstsein auch woanders sein zu können, vielleicht auch, ohne dabei entdeckt zu werden …
Gar nichts Besonderes also, und deshalb gleich weiter zum nächsten Eindruck, bei dem sich auch eine Verbindung zur Philosophie herstellen lässt. Etwa zur selben Zeit nutzte ich mitunter die Dämmerungsstunde der warmen Jahreszeit, um im Freien, im Hof unseres landwirtschaftlichen Anwesens, meine Kreise zu ziehen. Dabei versuchte ich nach innen zu gehen, beinahe meditativ, kindlich natürlich, aber ich kam mir dabei schon recht selbständig vor. Und worum es dabei ging, war vor allem, eine passende, die richtige oder geeignete Sprache zu finden für diverse kleine Alltagsereignisse, die sich nicht ganz zufriedenstellend entwickelt hatten, oder so. Auf gut Deutsch: Ich empfand die Möglichkeit von Schuldgefühlen und versuchte nun, die richtige Sprache für diese Situation zu finden. Den Hintergrund bildeten dabei die Geschichten des Neuen Testaments, religiöse Ethik also, aber auch das natürliche Empfinden von richtig oder falsch. Und da ich die Ergebnisse ja mit mir selbst abgleichen musste, achtete ich auch auf meine inneren Wahrnehmungen.
Und hier „eröffnete sich“, was ich ja beinahe als mystisch, jedenfalls aber als sehr persönlich verstehe, eine Art innerer Raum im Bauchbereich, wohl in der Nähe des Schwerpunkts, also prosaisch gesagt mitten in den Gedärmen, welcher sich als dunkle innere Höhle mit einer hohen Ausstrahlung von Geborgenheit oder Sicherheit zu erkennen gab. Für mich war diese Wahrnehmung jedenfalls sehr attraktiv, und sie erwies auch eine relative Konstanz über zehn Minuten oder länger hinweg. Ich trabte also etwa im Kreis, dachte an eine unangenehme Situation und fühlte dabei im Inneren eine völlig andere Wahrnehmung, einen beinahe unantastbaren, inneren Ort, der vor allem Wärme vermittelte, ansonsten aber keinerlei Inhalt hatte, ein leerer, dunkler Raum, von dem ich nur hoffte, dass er nicht sogleich wieder verschwand, und der auch scheinbar über keine festen Grenzen verfügte.
Bei meinem Versuch, eine Lösung für konkrete Alltagsprobleme zu finden, welche auch als allgemein akzeptierbar erschien, war mir dieser Raum jedenfalls eine sehr große Hilfe, denn wenn ich etwa eine gefundene Phrase dort platzierte, und sie wurde aufgenommen, es veränderte sich nichts, dann konnte ich diese Lösung als eine richtige nehmen, sozusagen als zukunftstauglich verbuchen. Andernfalls verblasste der Raum zum Beispiel und ich ärgerte mich, bedauerte es zumindest.
Diese Vorstellungen mögen nun als sehr kindlich erscheinen, für mich waren sie aber in einer Phase, einem Zeitraum von ein bis zwei Jahren sehr wichtig, auch als eine Art geistiger Intimbereich, den ich nur für mich selbst hatte. Jetzt, viel später, fällt mir dazu ein philosophischer Begriff ein, und zwar gleich ein ziemlich hochgestochener, nämlich die Dialektik. Abseits von Hegel und den mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten, aber doch ein wenig von dessen Geist inspiriert, scheint mir Dialektik einfach eine Verortung von Begriffen in der Wirklichkeit zu bedeuten, an diesem Beispiel noch dazu mit einer starken, ethischen Komponente. Ich mag hier nicht allzu sehr ausholen, aber es geht dabei um eine Auseinandersetzung zwischen dem Sein und dem Nichts mit den Mitteln des Denkens und dem Ziel der Wirklichkeit. Und das Nichts wird durch die Intuition, das Gefühl des Raumes vertreten. – Von all dem hatte ich als Kind selbstverständlich keine Ahnung, aber dafür hatte ich sozusagen den praktischen Zugang!
Wie gesagt, es geht hier nicht um meine Person! Man kann Persönliches nicht verallgemeinern und wohl auch nicht spirituelle Erfahrungen. Vielleicht darf ich hier einen meiner philosophischen Lieblingssätze einbringen: Wahrheit ist die Vergangenheit einer subjektiven Wirklichkeit. Alles ist eben relativ! Und dafür ist Ehrlichkeit umso wichtiger, vor allem zu und wohl auch für sich selbst!
Etliche Jahre später, ich absolvierte gerade die siebente Klasse der Mittelschule und wohnte in einem religiös geprägten Internat, hatte ich ein weiteres Erlebnis, das noch dazu völlig unerwartet und überraschend auftrat: die Wahrnehmung einer beinahe feuerartigen Energieaktivierung im oberen Brustbereich zum Hals hin. Und das Ganze war nur in der Innenperspektive zu erkennen! Beim ersten Mal war ich innerlich völlig aus dem Häuschen, durfte das aber nicht zeigen, weil die Internatsklasse gerade an einem Aufsatz zum Thema der persönlichen Zukunftsperspektive, oder so, arbeitete, was etwas heikel war, weil man da ja auch Farbe bekennen sollte hinsichtlich der Frage, ob man sich einen geistlichen Beruf für sich vorstellen konnte. Ich wollte das nicht ausschließen, musste es aber ehrlicherweise offenlassen. Und ich verlegte mich auf einen Schwerpunkt der Dankbarkeit, dass mir die Laufbahn bis hierher ermöglicht worden war, und so weiter. Und dabei kam ich auch auf den Punkt, für die übermittelte Sprache dankbar zu sein, und das ging allerdings nur voll und ganz, wenn ich diese auch akzeptierte. Im Zuge der intensiven Konzentration auf diese Thematik aktivierte sich, wie gesagt, diese ‚Energiekugel‘ im Brustbereich, ein Phänomen, von dem ich zuvor keinerlei Kenntnis gehabt hatte. Der erste Gedanke galt wohl meiner geistigen Gesundheit und der zweite dem Umfeld und der Frage, ob man etwas davon bemerkte. Doch dann akzeptierte ich es einfach und schrieb den Aufsatz zu Ende, allerdings doch etwas aufgeregt oder aufgewühlt. Ich erfuhr gerade etwas, dessen Existenz mir völlig unbekannt war.
Das ging dann irgendwann während des Schreibens zu Ende, stellte sich aber im Laufe des folgenden Jahres mehrmals wieder ein, und zwar, wenn ich mich richtig erinnere, meist in Situationen aufmerksamer Kommunikation mit einem Mitschüler. Es erforderte auch viel Energie, und ich erinnere mich an einen Fall, in dem meine innere Wahrnehmung quasi dreigeteilt wurde zwischen meinem Denken, der Energie im Brustbereich und dem Gegenüber in seiner für mich wahrnehmbaren Ganzheit. Natürlich hielt so ein Zustand nicht lange an, meist kam er zu Ende, wenn ich auf irgendeinen Begriff stieß, der mir bedrohlich oder zumindest nicht ausreichend geklärt erschien.
Nach mehrmaliger Wiederholung wurde mir also klar, dass ich da auf etwas gestoßen sein musste, was einerseits keinen Schaden anrichtete, im Gegenteil offenbar durchaus förderlich sein konnte sowohl für mich als auch für einen etwaigen Beteiligten, andererseits kostete es aber beträchtliche Anstrengung und ich wusste nicht, wohin das noch führen könnte.
So verbrachte ich dieses Schuljahr, und es fiel mir dabei auf, dass mir vieles etwas leichter von der Hand ging: Ich fühlte mich auf unmerkliche Art mehr respektiert, etwas souveräner, der Alltag fügte sich einfacher, es stellte sich sozusagen eine Leichtigkeit des Seins ein, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Da und dort glaubte ich zwar auch eine neue Gegnerschaft wahrzunehmen, die ich aber eben dem neuen Respekt und dem damit verbundenen Gewicht meiner bescheidenen Schülermeinungen zuschrieb. Und immer schwebte dabei auch die Frage im Raum, wie viel davon für die anderen wahrnehmbar war oder nicht. Im Nachhinein interpretiert, befand ich mich damals auf der Ebene des Selbst, immer wieder unterbrochen durch seelische Aktivierungen, und, was mir noch auffiel, der Begriff Spiel ging mir damals öfters durch den Kopf, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass mir die neue Selbstverständlichkeit eine innere Distanz ermöglichte und ich den Alltag oder auch die zwischenmenschlichen Konstellationen verstärkt unter dieser Perspektive sah.
Zu Beginn der Maturaklasse hatten wir kaum Hausaufgaben, und so ging ich entgegen meiner Gewohnheit während der ersten Studierzeit in den Tagraum, wo gerade ein Kollege am Billardtisch trainierte. Ich schloss mich ihm an, und es entstand ein intensives Spiel, wobei sich wieder diese Feuerkugel aktivierte. Das Spiel gewann für mich auch ethischen Charakter, was bei einer Billardpartie wohl nicht selbstverständlich ist, und die Intensität der Aktivierung steigerte sich diesmal über das übliche Maß noch hinaus: Es wurde nicht nur der obere Brustbereich aktiviert, sondern die brennende Energie stieg auch noch in den Kopf und dehnte sich in den Bereich der Arme aus. Ich erinnere mich, dass ich mir die Frage stellte, ob es ethisch ist, so ein Spiel, bei dem es um nichts weiter ging, zu verlieren, nur weil es der Situation des anderen seinen unmerklichen Signalen nach so am besten entsprochen hätte. Ich verlor ohnedies und plötzlich schien es der andere eilig zu haben und verließ den Raum mit den Worten: „Ich hab noch etwas zu tun!“ oder so. Eine völlig unbedeutende Situation also, aber als er die Tür hinter sich schloss, stürzte sozusagen mein Bewusstsein ab, und ich hatte es für Momente schwarz vor den Augen. Die Aktivierung war vorüber, aber jetzt fürchtete ich einen Augenblick lang um mein Leben oder zumindest, hinzustürzen, ehe ich wieder etwas sah. Gleich darauf fuhr mein Bewusstsein, Gott sei Dank, wieder hoch und es stellte sich intensive Freude ein, ein intuitives Gefühl, ans Ziel des existenziellen Strebens gekommen zu sein.
Wie es dann bei mir weiterging? Naja, ich maturierte mit ausgezeichnetem Erfolg, absolvierte später ein Kolleg für Sozialpädagogik, studierte schließlich noch Philosophie und Psychologie, was ich ebenfalls ausgezeichnet abschloss. Aber innerlich brauchte ich ziemlich lange, um wieder meine alte Sicherheit zu finden, um mich zu orientieren. Es hatte sich etwas grundlegend verändert, und mir fehlten die kognitiven Informationen dazu. Während des Studiums las ich sehr viel aus dem Bereich Spiritualität und Mystik weltweit, lernte Begriffe und ihre Konnotationen kennen, aber in gewisser Hinsicht musste ich mit meinem eigenen Sprachverständnis wieder von vorne beginnen, was dann sozusagen eine Zeitdifferenz um mein Leben vor dieser Erfahrung bewirkte. Heute würde ich einfach sagen, mein Geist hatte sich aufgelöst und das Unbewusste dazu. Erst später wurden mir Begleiterscheinungen oder Auswirkungen dessen bewusst und heute bin ich mir schon einigermaßen sicher, damals den richtigen Weg gegangen zu sein.
Mein Hauptinteresse richtete sich seit damals intuitiv auf die Sprache und die Frage, ob sie sich als konsistent erweisen würde hinsichtlich meines eigenen Zustands. Ich kaufte mir eine Schreibmaschine mit Bildschirm, wie sie in den Achtzigerjahren aufkamen, und begann, Kurzgeschichten zu schreiben, verfasste Gedichte, einfach um wieder ein Gefühl für die Sprache zu bekommen oder um mich der Sprachbeherrschung zu vergewissern. Nach dem Studium kam ich auf die Idee, versartige Sätze mit einer bestimmten Silbenzahl zu sammeln, welche die philosophischen Inhalte, die mir so durch den Kopf gingen, in klarer und prägnanter Weise formulierten. Ich ging also in der freien Zeit durch den Wald und irgendwie stiegen mir ab und an aus dem Unterbewusstsein oder besser „aus dem Nichts“ solche Sätze ins Bewusstsein, die zu bestimmten Themen passten oder Begriffe umschrieben, meist relativ kunterbunt und für mich jedes Mal etwas überraschend. Ich überprüfte sorgfältig die Silbenzahl und memorierte die Sätze dann öfters, um sie nicht zu vergessen, bis ich sie daheim aufschrieb.
Auch diese Sache ist wohl etwas ungewöhnlich, aber nicht mystisch, oder so. Sie zeigt nur, dass das menschliche System imstande ist, an etwas zu arbeiten, auch wenn dieses nicht vor dem Auge des Bewusstseins erscheint. Allerdings kann man es dann wohl auch weniger beeinflussen!
Und was ist nun der Sinn, der Inhalt meiner Bemühungen? Erstens möchte ich gerne weitergeben, was ich selbst erfahren habe, was wiederum voraussetzt, es in eine sinnvolle Form zu bringen, und das heißt in der Philosophie, Dinge so zu formulieren, dass sie nachvollziehbar sein können. In meinem Fall ist das etwas komplizierter, weil es um die Sprache selbst geht, andererseits aber auch wieder nicht, weil diese „natürliche“ Logik die Sprache einfach an der persönlichen Wirklichkeit überprüft. Um es anders auszudrücken: Mein Anteil daran ist mehr oder weniger verschwindend klein, beschränkt sich sozusagen auf die Energie, welche dieser Aufgabe zur Verfügung steht.
Zweitens geht es um den Nachweis, dass das menschliche System, also der Verstand, das Gedächtnis, das Gemüt, Gefühle, Strukturen und Pläne imstande sind, auch ohne Geist auszukommen, dass dies im Gegenteil sogar effizienter und leichter passiert.
Und drittens geht es selbstverständlich auch um den sachlichen Inhalt, um die Darstellung wesentlicher Bereiche des Menschseins in der Perspektive eines natürlichen oder ‚geistlosen‘ Bewusstseins unter Berücksichtigung teilweise veränderter Begriffskonnotationen. Man braucht nicht das Rad neu zu erfinden, die Sprache existiert schon länger, aber vielleicht ist es einigermaßen neu, diese kleinen Perspektivenänderungen einmal systematisch darzustellen zu versuchen. Dass dies in Briefform geschieht, habe ich Dir zu verdanken, Mikaela, dem Mozart des Schifahrens. Und ich kann nicht versprechen, dass es wirklich so systematisch abläuft, da ich nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis zustande bringe!
Herzliche Grüße,
Erich Maier
Liebe Mikaela,
Illusion ist die Einstimmung auf die Möglichkeit eines Wir. Dieser lapidare Satz, diese Behauptung müsste erst begründet werden. Ein Hinweis dazu: Es handelt sich um künstliche Beziehungen, nicht um natürliche. Und das Wort Möglichkeit: Es ist eine Prolongation des Scheiterns, der Nicht-Erfüllung, die ein menschlicher Verstand auch auf die eigene Person anwenden kann, was dann einen eigenen Bereich konstruiert, das Unbewusste, ebenfalls mit der Sprache verbunden und persönlich.
Im Feld oder auf der Ebene, in der Struktur der Sprache treffen das Natürliche und das Künstliche exemplarisch aufeinander, was sich in einem tiefen inneren Spalt manifestiert. Die Person ist einmalig, beruht auf der Natur, dem Leben eines bestimmten Menschen, die Sprache dagegen ist eine ‚Konvention', ein sich allmählich herausgebildet habendes Produkt menschlicher Gemeinsamkeit, ein paradigmatisches Existenzial der Kultur. Die Person ist eine Verbundenheit dieses bestimmten Menschen mit der Sprache, diesem Kulturgut, und wird auch als solche respektiert. Und das Wort „ich“ stellt für die Person diese Verbindung her.
Abgesehen davon, dass bei Konventionen stets auch eine konnotative Nuance des Todes mitschwingt, wird bei der Sprache also nachgedoppelt. Zu ohnedies bestehenden natürlichen Beziehungen kommt noch eine künstliche hinzu, die aber ihrerseits nun wieder für Irritationen sorgen, die natürlichen Beziehungen unter Umständen belasten kann, und das über eine scheinbar neutrale, kollektive Struktur, die Sprache. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann muss jeder erwachsene Mensch auch Verantwortung für die Form der Sprache übernehmen, in wie bescheidenem Ausmaß ein Einzelner dazu auch fähig ist – wobei nicht die grammatikalische Struktur gemeint ist, denn die lässt sich ohnedies nicht manipulieren!
Ich möchte das hier nicht allzu theoretisch darstellen, aber ein oftmals wenig beachtetes Objekt wie die menschliche Sprache hat es ganz schön in sich! Als Schüler kämpft man schon mal mit der Rechtschreibung oder Grammatik, aber das ist nicht gemeint. Über das Medium Sprache wird die Wirklichkeit eines Menschen verschlüsselt, und das ist nicht in erster Linie die Realität, sondern die Grundlage oder der persönliche Hintergrund seines Handelns, Entscheidens, des Lebens schlechthin. Wie kann ich Verantwortung für etwas übernehmen, das ich von klein auf übernommen habe, zu dessen Form oder Struktur ich so gut wie nichts beitragen kann, das durch Tatsachen oder Ereignisse, Objekte geprägt wurde, die größtenteils im Dunkel der Geschichte oder in der langen Periode der Vorgeschichte verschwunden sind?
Es scheint, dass hier der Fluchtpunkt zu einem Generalproblem menschlicher Existenz führt, nämlich der Zeit: Worte sind Anwendungen der Vergangenheit auf die Gegenwart, oder anders formuliert: Das Mysteriöse, das Worten implizit anhaftet, ist Zeit. Die Gültigkeit der Sprache manifestiert überdies eine Dauer, mit welcher der menschliche Verstand sein Leben lang kämpft. Die persönliche Sprache ist ein Teil meiner Ganzheit, meines Systems, aber ich sterbe und die Sprache gilt weiter. Der Verstand möchte auch etwas von dieser Dauer haben, zumal er ja zu einem wesentlichen Teil aus dem Material der Sprache besteht. Und die Zeit wiederum bildet den innersten Kern des Geistes. Der Geist, ein schillernder Begriff!
Mikaela, was ich hier versuche, ist eine kurze Ansprache der Problemstellung, ein Aufriss des Problems, das im Wesentlichen in kollektiven, konventionellen Strukturen besteht, welche jeder Einzelne übernimmt. Wenn ich oben bereits das Wort Dialektik gestreift habe als Verortung der Begriffe in der Wirklichkeit, dann ist in dieser kurzen Phrase bereits ein unlösbares Problem enthalten, wenn die folgende Bestimmung mit einbezogen wird: Jeder Ort ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Der Einzelne sieht sich mit einer Aufgabe konfrontiert, die nach den gültigen Regeln gar nicht gelöst werden könnte oder kann. Es gäbe noch einige weitere Perspektiven oder Herangehensweisen, die zu diesem Punkt hinführen, aber die werden jeweils an hoffentlich geeigneter Stelle dargestellt. Spitzt man das Problem im Einzelnen jedoch zu, dann stößt man auf den Begriff der Zeit, der subjektiven oder allenfalls auch noch persönlichen Zeit als primärer gedanklicher Strukturierung der Wahrnehmung, welche sich allmählich zu mehr oder weniger festen „Wahrnehmungsanordnungen“ herausbildet, bewusst oder unterbewusst, gelernt oder selbst erfunden. Um die Zeit herum wabert der Geist. Und wenn Du erlaubst, möchte ich mich in diesem Brief ein wenig näher mit ihm auseinandersetzen!
Um noch einmal auf die Dialektik zurückzukommen: Die Wirklichkeit ist nicht im selben Sinn Ort wie etwa die geophysische Erdoberfläche, klar! Und damit wäre oben skizziertes Problem nur ein Scheinproblem mit drei Komponenten: Einzelner, Sprache, Kollektiv, wobei das Kollektiv der schwächste Punkt wäre. Aber selbstverständlich kann nicht jeder Einzelne tun, was ihm so beliebt! Es gibt eben Regeln, und die haben wiederum kollektiven Charakter. Und dreht man dann den Richtungspfeil sozusagen wieder um, hat man den Geist: Der Geist ist ein Produkt der Konventionen im Singulären. Anders formuliert, die Konventionen werden von vielen gemacht, Normen, Regeln, Gesetze und so weiter, der Einzelne kann aber die „Vielheit“ der vielen nicht nachvollziehen, wodurch in seinem Inneren ein Raum entsteht, der vom Geist ausgefüllt werden kann, ein Raum der Möglichkeiten, welcher sogar verborgen, unbewusst bleiben kann. Vielleicht ist das ja auch die Art von Dunkelheit, vor der wir uns fürchten und aus der dann auch die Horrorfilme Kapital schlagen?
Aber hier müsste man sofort wieder abschwächen. Der Geist hat durchaus auch liebenswürdige Seiten, auch wenn er stets ein klein wenig destruktiv auftritt! Und die Illusion ist für den Menschen nicht nur Betrug oder eine Falle, sondern jeder Einzelne profitiert auch in vielfältiger Weise von – ganz streng betrachtet – Illusionen, also Konventionen im weitesten Sinn. Ein Kind, das heranwächst, verdrängt etwa den Gedanken an den Tod, und das zu Recht, denn unter allen Menschen seines Umfelds hat es vermutlich die größte Distanz zum Tod. Es übernimmt wahrscheinlich von der Sprache das Strukturmerkmal der Dauer, wenn man es aber fragt, wird es wahrscheinlich bereits wissen, dass es auch einmal sterben wird. Aber das Gemüt trennt hier nicht so scharf, lässt für den Moment etwas offen …