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»Ich bin kein Opfer, ich bin ein Überlebender.«
Die Entführung von Johannes Erlemann gehört zu den spektakulärsten Verbrechen der Nachkriegszeit. Der Sohn des international agierenden Investors Dr. Jochem Erlemann ist elf Jahre alt, als er im März 1981 von drei Männern überfallen und brutal in ihre Gewalt gebracht wird. Schnell vermutet die Polizei in den Tätern Geschäftspartner seines berühmten Vaters, der mit seinen cleveren Konzepten Finanzgeschichte schrieb und die Bundesregierung mitunter schon mal zu Gesetzesänderungen nötigte. Denn kurz vor Johannes Entführung wird sein Vater mit dem Verdacht auf Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft festgesetzt. Johannes Erlemanns einzige Hoffnung: Er selbst. Er gibt nicht auf und kämpft sich durch unvorstellbare Abgründe seines kleinen Lebens. Nach Zahlung der höchsten Lösegeldsumme, die jemals in Deutschland für eine Kindesentführung bezahlt wurde, kommt er frei.
40 Jahre später begibt sich Johannes Erlemann auf die Suche nach seiner verlorenen Kindheit. Die schonungslose Konfrontation lehrt ihn einen versöhnlichen Umgang mit dem Schicksal. Erstmals erzählt Erlemann nun in bewegenden Worten von seiner lückenlosen Aufarbeitung dieser einzigartigen Kriminalgeschichte. Und davon, warum er heute sein Leben mit allen Höhen und Tiefen gegen nichts eintauschen würde. Eine inspirierende Geschichte, die Hoffnung und Mut im Umgang mit schweren Krisen macht. Aber auch eine spannende Zeitreise, ein echter Wirtschaftskrimi und ein Gesellschaftsportrait zugleich.
Mit 16-seitgem Bildteil
Jetzt auf RTL+: Der Spielfilm »Entführt - 14 Tage Überleben« und die Dokumentation »Lebenslänglich Erlemann«
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2024
»Ich bin kein Opfer, ich bin ein Überlebender.«: Wie ein Schicksalsschlag zum Wendepunkt eines Lebens werden kann.
1981: Johannes Erlemann ist elf, als er überfallen, entführt und für zwei Wochen festgehalten wird. Schnell vermutet die Polizei in den Tätern Geschäftspartner seines Vaters, der wegen seines glamourösen Lebensstils und seiner krummen Geschäfte so berühmt wie berüchtigt ist und zu diesem Zeitpunkt bereits in U-Haft sitzt. Johannes Erlemanns einzige Hoffnung: Er selbst.
Die Erlemann-Entführung gehört zu den spektakulärsten Kriminalfällen in der BRD-Geschichte. Nach über 40 Jahren erzählt der Mann, dessen Kindheit damals ebenso abrupt endete, wie das Jet-Set-Leben seiner Familie, davon, was es heißt, auf sich allein gestellt zu sein. Aber Erlemann erzählt auch davon, wie er über die Jahre gelernt hat, aus Tragik Hoffnung zu schöpfen und warum er heute sein Leben mit allen Höhen und Tiefen gegen nichts eintauschen würde.
Johannes Erlemann, geboren 1970, wuchs auf als Sohn des international agierenden Investors Jochem Erlemann, der Anfang der 1980er-Jahre für Steuerhinterziehung verurteilt wurde. Nicht nur endete mit dem Urteil das glamouröse Leben der Familie Erlemann, es führte 1981 auch zur Entführung seines 11-jährigen Sohnes, dessen Kidnapper die Situation der Familie nutzen wollten, um ein hohes Lösegeld zu erpressen. Johannes Erlemanns Entführung hielt die BRD in Atem, bis er nach zwei Wochen Gefangenschaft befreit wurde. Seit damals hielt Erlemann sich bedeckt und spricht jetzt erstmals ausführlich über seine Erlebnisse.
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JOHANNES ERLEMANNmit Christian Lütjens
Wie ich als Kind entführt wurde und was ich dabei über das Leben gelernt habe
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Copyright © 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Margret Trebbe-Plath
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Umschlagfotos: oben: © Boris Breuer; unten: © Stephan Pick
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30949-7V001
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Für Mami
Prolog: Action!
Buch 1: Gefährdet
»Wenn mir eines zuwider ist, dann ist es Provinzialität.«
»Gnädige Frau, Ich würde Sie gerne kennenlernen!«
»Die Freiheit ist noch nicht ausverkauft!«
»Let The Sunshine In.«
»Der Schnucki macht das schon.«
»Ich hab’s überwunden, find ich!«
»Astrid! Ich glaube, ich werde verhaftet.«
»Können Sie auch auf fünf Millionen rausgeben?«
Buch 2: Entführt
Die Bank
Die Kiste
»Ihr Kind ist bestimmt in einem dieser vornehmen Spielkeller.«
»Ein Erlemännlein liegt im Walde …«
»Ich komme wegen des entführten Johannes.«
»Ich weiß leider nicht, wo ich bin.«
»Wir sind überzeichnet.«
»Es kommt alles auf Montag an.«
»Ein Nervenkrieg beginnt.«
»Hast du mich gesehen?«
»Ein Fehler? Aus.«
»Tschüss.«
»Banges Warten beginnt.«
»Sie haben vielleicht von mir in der Zeitung gelesen.«
Der Bademantel
Buch 3: Gejagt
»Wir glauben dir kein Wort!«
»Der Fall ist drehbuchreif.«
»Denk bloß nicht, dass du jetzt was Besonderes bist!«
»Johannes! Hast du einen dieser Männer gesehen?«
»Das Leben geht weiter.«
»Die schwirren hier irgendwo rum.«
Buch 4: Befreit
»Shine On You Crazy Diamond.«
»Ich bin kein Opfer, ich bin ein Überlebender.«
»Heute geben wir uns die ganze Geschichte.«
»Ich werde euch alle therapeutisch missbrauchen.«
»Das ist jetzt das Gespräch, das wir nie geführt haben.«
Epilog: Cut!
Danke
Bildteil
Bildnachweis
Es war dunkel. Meine Hände waren gefesselt. Ich lag auf dem Rücken und die Kälte der Nacht kroch durch meine Klamotten. Die bedrohliche Stille ließ die Stimmen aus der Ferne umso deutlicher bei mir ankommen. »Los! Fahr drüber. Fahr den Jungen tot, fahr ihn tot!«, waren die mörderischen Worte der Männer. Ich erstarrte …
Dass sich diese Szene auf einem Acker im Nirgendwo abspielte, ist einundvierzig Jahre her. Eine Ewigkeit. Und doch ein Wimpernschlag. Denn jetzt liege ich wieder hier. An derselben Stelle. Gefesselt. Aber diesmal habe ich mir das selbst ausgesucht. Und es fühlt sich total richtig an. Ich bin am Set von Entführt – 14 Tage Überleben, einem Film, in dem ich selbst als Co-Produzent die Geschichte meiner Entführung erzähle. In der Auseinandersetzung mit dem Thema geht es nicht in erster Linie um mich. Es geht um grundsätzliche Fragen: Was macht so ein katastrophaler Albtraum mit einem Kind? Wie kann man mit solchen Erfahrungen umgehen? Findet man jemals wieder in die alte Spur zurück? Nein. Man kann es nur so gut wie möglich versuchen.
Seit ich vor zehn Jahren begonnen habe, meine Entführung zu rekonstruieren, bin ich vielen Menschen mit teilweise erschütternden Schicksalsschlägen begegnet. Es ist mir oft gelungen, eine Art heilsamen Dialog mit ihnen entstehen zu lassen. Auch wenn niemand die Narben auf der Seele heilen kann, so habe ich dennoch das große Privileg, einen prospektiven Umgang mit ihnen vermitteln zu können. Als Überlebender habe ich es zu keiner Zeit zugelassen, als Opfer stigmatisiert zu werden. Ersatzweise habe ich mich auf die Überwindung von Krisen fokussiert. Dass ich damit helfen kann, hat mich den Entschluss fassen lassen, meine Geschichte aufzuschreiben und zu teilen. So ist ein Projekt entstanden, dass zu einer bemerkenswerten Unternehmung wurde. Neben diesem Buch wurde ein vierteiliger Podcast und eine zweieinhalbstündige Dokuserie produziert. Und: der Spielfilm, den wir hier gerade drehen.
»Pass auf, Cito, du bleibst so lange mucksmäuschenstill liegen, bis das Auto weg ist. Dann drehst du dich auf die Seite und ruckelst mit den Handgelenken, bis du die Fesseln abbekommst. So, siehst du? Danach richtest du dich auf und ziehst dir das Gaffer Tape vom Kopf.«
Cecilio, der Film-Johannes, der mit jedem Drehtag mehr zur Kopie meines kindlichen Ichs wird und den wir alle Cito nennen, hört konzentriert zu und prägt sich jede meiner Bewegungen genau ein. Regisseur Marc Rothemund und Kameramann Ahmet Tan stehen daneben und verfolgen aufmerksam die Szenerie. Im Vorfeld der Dreharbeiten haben wir viel über die Ereignisse von damals geredet. Dass ich alles, was wir hier nachstellen, tatsächlich erlebt habe, brauche ich Cito also nicht mehr zu erklären. Ebenso wenig, dass diese Straße im Nirgendwo vor Mönchengladbach ein Originalschauplatz ist.
Es ist nicht der erste, an dem wir arbeiten. In den letzten Wochen haben wir schon deutlich düsterere Orte meiner Lebensgeschichte aufgesucht: die kleine Bank am Waldrand zum Beispiel, an der mich damals drei Männer mit brachialer Gewalt vom Rad zerrten, mit einem Chloroformlappen vorm Gesicht im Unterholz auf den Boden warfen, um mich dann in einer winzigen Holzkiste im Frachtraum eines Transporters fortzuschaffen. Bis zu einer Baracke im Nichts, in der sie mich in einem abgesenkten sargähnlichen Verschlag an beiden Händen anketteten.
Die Bank, die Kiste, der Verschlag – das sind die Koordinaten, die den »Entführungsfall Johannes Erlemann« ausmachen. Die Koordinaten eines Verbrechens, das in der Presse der Achtzigerjahre als eine der spektakulärsten Kindesentführungen der Nachkriegszeit gehandelt wurde. Und es sind die Koordinaten der Geschichte, die ich hier erzählen will. Für mich ist es keine durchweg düstere Geschichte, sie hat auch ihre skurrilen, unterhaltsamen und absurden Seiten. Sie ist wie das Leben selbst. Nur eben mit ein paar sehr harten Ausschlägen nach oben und unten. Apropos hart: Langsam wird’s ungemütlich auf dem kalten Betonboden hier.
»Kann mir bitte mal irgendwer die Fesseln losbinden?«, sage ich.
Sofort geht Cito ans Werk. Wenig später liegt er selbst auf der Straße und macht nach, was ich ihm gezeigt habe. Ein großartiger kleiner Kerl. Leidenschaftlich. Mit vollem Einsatz bei der Sache. Während er mit Marc ein letztes Mal die Szene bespricht, gehe ich ein Stück auf den Acker raus, zünde mir eine Zigarette an und sehe hoch zum Himmel. Ich denke daran, wie ich damals nach dem ersten Versuch, aufzustehen, sofort wieder zusammengeklappt bin. Zwei Wochen ohne Bewegung in dem engen Verschlag hatten mich dermaßen geschwächt, dass sowohl mein Kreislauf als auch meine Beine streikten. Nach dem Zusammenbruch lag ich bestimmt eine Viertelstunde regungslos auf der Straße und sah zum Himmel hinauf. Dort drehten sich die Sterne wie ein Karussell aus kreisenden Lichtern. Sie drehten sich natürlich nicht wirklich. Das gaukelte mir nur mein zerstörter Kreislauf vor. Aber macht das einen Unterschied? Es wird so oder so einer der ganz besonderen Momente meines Lebens bleiben.
Heute ist die Nacht ebenfalls wolkenlos und klar. Es ist ein seltsamer Gedanke, dass das da oben dieselben Sterne sind, die auch schon das Geschehen der echten Befreiungsnacht mitangesehen haben. Sie hätten eine Menge zu berichten. Aber Sterne sind ja bekanntlich schweigsam. Also erzähle ich meine Geschichte lieber selbst. Zigarette aus, zurück zu den anderen, Erinnerungen marsch und: »Action!«
Wie die Siebziger mein Lebensgefühl prägten und die Leibwache von Staatsminister Wischnewski mir das wahre Gesicht meines Vaters zeigte.
Ennio Morricones »Spiel mir das Lied vom Tod« tönt aus den Lautsprechern. Papi läuft rüber und dreht die Anlage mit ordentlich Druck voll auf. Jetzt dauert es nur noch wenige Sekunden und schon fliegt die erste Smirnoff-Flasche an ihm vorbei. Sie kracht mit wildem Getöse in die Cimbali-Espressomaschine. Das ging daneben. Aber egal. Die nächste Wodkaflasche ist schon unterwegs und rauscht über die Theke, die sich einmal quer durch die Bar in den Katakomben des ehrwürdigen Jagdschlosses Kühtai erstreckt.
Wir sind in Tirol auf 2020 Höhenmetern. Es ist fünf Uhr morgens in einer jener Nächte, die nicht enden dürfen. Nur noch die engsten Freunde sind da, man ist unter sich und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommen würde, die Schallplatte mit dem Soundtrack zu Spiel mir das Lied vom Tod aufzulegen. Sobald diese Musik läuft, weiß jeder, was er zu tun hat.
Während der Kellner eilig versucht, das wertvollste Interieur in Sicherheit zu bringen, holt der Barchef reihenweise Sechserkisten mit Wodka aus dem Lager. Prinz Michael von Preußen packt schon mal die Flaschen aus den Kisten. Papi hat bereits mit strengem Blick seine John-Wayne-Haltung eingenommen und Mami ihre Position am anderen Ende der Theke. Sie ist die »Fängerin«. Das heißt, sie schnappt die Flaschen, die über die Theke hinausfliegen, und feuert sie über den Handlauf am Tresen wieder zurück zum Absender. Das kann sie unheimlich gut.
Mainhardt Graf von Nayhauß, ein bedeutender Journalist und Bundesverdienstordenträger aus Bonn, versucht sich derweil davonzustehlen. Ihm ist dieses Spiel peinlich.
»Maini! Bleib hier!«, ruft Gräfin Plettenberg oder besser gesagt »Bügelhügel«, wie wir sie liebevoll nennen. Bügelhügel zieht einmal kräftig an ihrer verlängerten Zigarettenspitze und ergänzt mit tiefrauchiger Stimme: »Du willst mich doch nicht mit diesen Verrückten hier alleinlassen.«
Was wohl Kaiserin Sissi zu alledem gesagt hätte? Die war vor rund achtzig Jahren noch Hausherrin des Jagdschlosses aus dem 17. Jahrhundert. Nun ist ihr Urenkel, Graf Carl zu Stolberg-Stolberg, der Chef im Haus. Er hat es in den Fünfzigerjahren in ein ganz besonderes Hotel verwandelt. Viele Gäste wurden zu Freunden, darunter meine Eltern. Papi konnte ihn davon überzeugen, uns das Dachgeschoss zum liebevollen Ausbau und als eine Art zweiten Wohnsitz zu überlassen.
Die Musik erreicht ihren Höhepunkt und Papi ist mal wieder in Bestform. Nun schießen die Wodkaflaschen Schlag auf Schlag über den Tresen und werden mit nahezu akrobatischer Leichtigkeit von Mami aufgefangen und zurückgeschossen. Die Gäste sind außer sich. Papi genießt ihre Aufmerksamkeit. Allerdings auch die des Habsburger Gemüts, Graf Carl, der plötzlich im Türrahmen auftaucht und wie üblich zwischen aristokratischer Empörung und anerkennender Zustimmung (wegen der morgendlichen Umsätze) zu schwanken scheint. Am Ende winkt er ab und geht wieder schlafen. Auch er kennt das Spiel und außerdem ist er seit Jahren mit meinem Vater befreundet.
Papis kontinuierliches Engagement im Sellraintal hat ihn zum Präsidenten der Skischule, Förderer der nationalen Rennmannschaft und zum Ehrenmitglied der Tiroler Kaiserjäger gemacht. Seine Leidenschaft für die einzigartige Gebirgswelt hatte bei ihm schließlich den Wunsch geweckt, hier ansässig zu werden. Dank seiner hervorragenden Verbindungen zu der zuständigen Gemeinde klappte das und so wurde auch ich im Alter von sechs Jahren zum österreichischen Staatsbürger. Das war in Ordnung. Doch wirklich heimisch fühlte ich mich an der Côte d’Azur.
Seit meiner jüngsten Kindheit reisten wir in die gesegnete Region an der Französischen Riviera. Anfangs ins alte Grimaud, einen charmanten Weinbauort oberhalb des Golfs von Saint-Tropez, dessen Geschichte bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht. Dort wohnten wir zunächst im Hotel Le Kilal vis-à-vis des Restaurants Les Santons, das für mich bis heute eines der besten und nettesten Restaurants der Gegend ist. Später waren wir im Hotel Byblos zu Füßen der Zitadelle und 1976 kauften meine Eltern einen alten provenzalischen Bauernsitz am höchsten Punkt der Route de Tahiti direkt neben dem Château de la Messardière.
Mami baute das Haus mit viel Liebe zum Detail zu unserem persönlichen Paradies auf Erden aus. Sie nannte es »La petite fleur«. Es war von einem mediterranen Pinienwald umgeben und vom azurblauen Pool aus hatte man einen traumhaften Blick auf die Bucht von Canoubiers, an deren Strand das Haus von Brigitte Bardot liegt. Ebenso das Anwesen von Marie Christine von Opel, genannt »Putzi«. Seit 1978 wurde die beeindruckende Villa mit dem eigenen kleinen Hafen allerdings nicht mehr bewohnt, weil die Urenkelin von Adam Opel dort Drogen im Wert von acht Millionen Mark gehortet hatte, was erst ihre Verhaftung durch die Gendarmerie und dann eine zehnjährige Gefängnisstrafe zur Folge hatte. Daran konnte auch ihr Cousin Gunther Sachs nichts ändern. 1981 wurde sie vorzeitig entlassen, aber des Landes verwiesen. Seitdem schlummerte das Anwesen in der Meeresbrandung der Côte d’Azur vor sich hin.
Die Nachbarn von »La petite fleur« waren unsere lieben Freunde Peter und Cordy Thomas. Peter hatte als Komponist weltbekannte Filmmusik von Edgar Wallace bis Raumpatrouille, von Winnetou bis Der letzte Mohikaner komponiert. Cordy schrieb zu einigen Melodien ihres Mannes Liedtexte. Vor allem aber lieferte sie als Gesellschaftsreporterin sehr persönliche Porträts über interessante »Tropezienner« an Bunte, Quick und Co., denn die Adorfs und Beckenbauers, von Karajans und von Bohlen und Halbachs gaben sich in der Villa Thomas die Klinke in die Hand. Was da los war, besonders wenn sich Peter zeitweise im Tessin oder in Kitzbühel aufhielt, sucht seinesgleichen. Internationale Bankdirektoren und Vertreter des Hochadels, die in den Metropolen Europas noch im Nadelstreifenanzug in ihre Privatjets geklettert waren, stiegen am kleinen Flughafen La Môle mit High Heels, Stringtanga und übergroßen Sonnenhüten aus und anschließend bei Cordy ab. Der Rest ist Geschichte.
Apropos La Môle: An einem sonnigen Tag im Frühjahr 1977 hatte auch ich dort ein unvergessliches Erlebnis. Die mit 800 Metern extrem kurze Landebahn des Flughafens versteckte sich in einer kleinen Talsenke des provenzalischen Gebirges. Nicht jede Landung klappte dort. So pflanzte Niki Lauda seine Cessna hier höchstpersönlich ins Gebüsch. Bei Franz Josef Strauß ging es dagegen gut aus. Der saß an jenem Frühlingstag im Jahr ’77 bereits in René Raynals Restaurant L’Auberge de la Môle. Bis vor ein paar Jahren war der zweckmäßige Bau noch eine Tankstelle gewesen. Die Zapfsäulen standen noch. Aber im Innern war ein ganz besonderes Restaurant untergebracht.
Die zwei Beamten der örtlichen Behörden, die das gesamte Flughafenpersonal darstellten, hatten sich in den Schatten unter dem alten Wellblechdach des Terminals geflüchtet. Oben flimmerte die Mittagshitze, unten tranken die Herren Pastis, rauchten und spielten Karten und ich stand nervös am Rand des Rollfelds, das diesen Namen eigentlich gar nicht verdiente, und wartete auf meinen Einsatz. In der rechten Hand hielt ich eine Flasche Moët & Chandon, in der Linken Mamis Hand, während nach und nach immer mehr Freunde und Bekannte aus Saint-Tropez eintrafen und mich mit der immer gleichen Phrase, »Du bist aber groß geworden, Johänneschen!«, begrüßten.
Doch ich musste mich auf etwas Wichtigeres konzentrieren. Wie war das noch mal? DELTA? LIMA …? Oh Mann, hoffentlich brachte ich da nichts durcheinander? Inzwischen waren rund hundert Gäste da, die eigentlich auf einen Empfang im L’Auberge de la Môle spekuliert hatten, da Papi dort regelmäßig größere Gesellschaften bewirten ließ. Diese Veranstaltungen genossen inzwischen einen legendären Ruf. Niemand wollte sie sich entgehen lassen. Doch nun stießen die Gäste nur auf die beiden Zollbeamten, die sich teilnahmslos Pastis nachschenkten. Egal wohin man blickte, überall traf man auf irritiertes Stirnrunzeln und fragende Gesichter. Bis zu dem Moment, als der brachiale Sound zweier startender Rolls-Royce-Turbinen die träge Stille des Mittagsidylls durchbrach. Den Beamten fielen die Gauloises aus den Mundwinkeln, den Gästen die Kinnlade herunter und ich dachte nur: »Bloß nicht den Champagner fallen lassen. Ganz schön schwer, so eine extragroße Flasche.«
Das Turbinenrauschen wurde derartig laut, dass man sich hätte anschreien können und trotzdem nicht gegen den Lärm angekommen wäre. Alle Blicke waren auf die angrenzende Scheune gerichtet, bei der sich nun langsam die großen Flügeltüren öffneten. Ich fand das eine gute Idee. Nicht nur, weil ich den Eindruck hatte, dass die altersschwache Hütte jeden Moment in sich zusammenfallen könnte, sondern auch, weil es nun wirklich mal losgehen konnte mit meinem Einsatz.
In Schrittgeschwindigkeit schob sich die weiße Nase eines Jets aus der Scheune – eines Learjets. Das Flugzeug mit den beiden charakteristischen Wingtip-Tanks an den Flügelspitzen war eine Weiterentwicklung eines Kampfjets und damals eines der schnellsten Düsenflugzeuge. In den Jahren zuvor hatte Papi eine solche Maschine bereits für private und geschäftliche Reisen genutzt, jetzt hatte er eine gekauft. Dafür war eigens die JetFlight GmbH gegründet worden, damit er das Investment steuerlich nach seinem Geschmack gestalten konnte. Das Design des Flugzeugs hatte Papis Stiefvater Benno geliefert. Der war ein ausgezeichneter Maler und Grafiker und gestaltete alle Designs für die Erlemann-Unternehmen. Family Business.
Also los! Wie angewurzelt stand ich unter den gespannten Blicken der Gäste an meiner Markierung, während der Jet in unverminderter Geschwindigkeit direkt auf mich zurollte. Ich vertraute blind darauf, dass er rechtzeitig stoppen würde. Das tat er auch. Zehn Zentimeter vor mir. Die wild tosende Sinfonie der Triebwerke klang aus. Nun war ich dran: »Ich taufe dich auf den Namen DELTA-CHARLIE-OSCAR-OSCAR-LIMA und wünsche dir allzeit guten Flug.«
Diese Worte meinte ich wirklich von ganzem Herzen. Denn tragischerweise war unser alter Mietjet ausgerechnet bei seinem ersten Einsatz, nachdem wir ihn abgegeben hatten, mit sechs Personen an Bord vom Himmel gefallen. Wir waren dem Schicksal also nur knapp entkommen. Deshalb war ich einsichtig, als unsere Piloten meinen Vorschlag, die Champagnerflasche an der Nase des Jets zerkrachen zu lassen, mit lautem »Um Gottes willen« abtaten. Dann ließ ich den Champagner eben nur über seine Nasenspitze laufen. Auch okay. D-COOL und ich waren damit einverstanden.
Am nächsten Tag ging es zurück nach Deutschland. Eigentlich wollte ich nicht, aber am Montag war Schule. Ich würde mir wieder mal etwas einfallen lassen müssen, wenn Frau Hoffmann, meine Klassenlehrerin in der Goethe-Schule Rodenkirchen, alle Kinder wie jeden Montag einzeln dazu aufforderte, von ihren Wochenenderlebnissen zu berichten.
Das Zuhause meiner Kindheit lag in der Stadt meiner Geburt. In Köln. Genauer gesagt im Hahnwald, Osterriethweg 13. Dorthin zog ich mit Mami, Papi und meinem vier Jahre älteren Bruder Andreas Anfang der Siebzigerjahre. Eigentlich ist der Hahnwald ja ein Missverständnis. Er gilt zwar heute als eines der teuersten Wohnviertel Deutschlands, verdankt seine Beliebtheit letztlich aber nur einer Handvoll Stadtprominenter, die ihn Anfang der Sechzigerjahre ungeachtet seiner trostlosen Einsamkeit für sich entdeckten.
Damals war es noch der »alte« Hahnwald mit nichts als einigen vereinzelten Häusern und hier und da ein paar Ponys, die auf den umliegenden Wiesen weideten. Für uns Kinder war er ein Paradies. Ich denke gerne an die intensiven Jahreszeiten zurück, an die heißen Sommer mit dem kräftigen Weizenduft über den bestellten Feldern und an die strengen Winter mit den stets verschneiten Straßen. Wir waren immer draußen, bei jedem Wetter. Von Anfang an dabei: mein heute noch bester Freund Dirk. Wir verbrachten unglaublich viel Zeit miteinander und entdeckten die Welt des Hahnwalds jeden Tag neu. Dort galten nicht die Gesetze der Erwachsenen, sondern unsere eigenen. Das hieß auch, dass wir Verbote auf unsere ganz eigene Weise auslegten. Eine Regel gab es allerdings: Wenn die Straßenlaternen ihr Licht entzünden, ab nach Hause! Das war aber auch schon alles.
Besonders hatten es uns die alten Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg angetan, waren sie doch eine hervorragende Kulisse für unsere nachgespielten Agentendramen. Fast scheint es mir heute wie ein kleines Vorzeichen, dass eines Tages plötzlich die rostige Eisentür hinter mir zuschnappte und ich mich in völliger Dunkelheit im kniehohen Wasser des Bunkers wiederfand. Nur mit viel Mühe schaffte ich es, den zweiten Ausgang zu ertasten und vor allem auch zu öffnen. Doch der Vorfall war schnell vergessen.
Meine Kindheit war ziemlich bunt. In Kühtai lernte ich mit drei Jahren im zielorientierten Einzelunterricht das Skifahren, das mich später beinahe in den Kader des Deutschen Skiverbands gebracht hätte. In Saint-Tropez hatte ich ein Motorrad, eine Enduro, auf der ich das tolle Gefühl grenzenloser Freiheit kennenlernte. Schon als Siebenjähriger fuhr ich mit der Maschine in den Ort zum Salon de glaces von Alfredo, um mir ein Eis zu kaufen, oder an die Strände von Pampelonne zum Segelunterricht. Betrachten wir es mal als Tribut an die unbekümmerten Siebzigerjahre, dass ich dabei weder einen Führerschein noch eine Zulassung, dafür aber Badelatschen an den Füßen hatte. Ich wurde in dieses Leben hineingeboren und bin sehr dankbar für die zahlreichen Privilegien, die ich als Kind durch meine Eltern erleben durfte.
Ich hing derart an der kleinen Motocrossmaschine, dass ich Mami und Papi so lange auf die Nerven ging, bis sie mir erlaubten, die Maschine mit nach Köln zu nehmen. Also schön, rein damit in den neuen Jet. Unser Chefpilot, Herr Robatsch, verdrehte ungläubig die Augen, als er sah, wie wir das gute Stück eher schlecht als recht im mit Full-Grain-Leder und Walnussholz-Interieur ausgestatteten Flugzeug festbanden. Trotzdem versuchte er mit möglichst wenig Schub zu starten. In La Môle quasi unmöglich. Noch vor dem Abheben lösten sich die Verzurrungen und das Motorrad krachte gegen die Innenverkleidung im Heck der Maschine. Danach musste erst mal eine neue Holzvertäfelung bestellt werden. Tut mir leid, Papi.
»Du fährst mit dem Ding in Köln aber nur im Garten, Johannes«, war Mamis Anweisung. Ich hielt mich tatsächlich einen ganzen Tag lang daran.
Unvergessen ein Abend im Januar 1979. Tagelanger Schneefall hatte dem Hahnwald ein bizarres winterliches Antlitz verliehen. Wunderschön. Mami und Papi waren mit den Golds, den Eltern von Jens und Nils aus der Nachbarschaft, zum Dinner verabredet. Was das bedeutete, war für mich und meinen Bruder genauso klar wie für Jens und Nils: sturmfrei! Hüben wie drüben. Für den Rest bedurfte es noch nicht mal einer vorherigen Absprache.
»Sind sie weg?«, flüsterte Andreas aus der Dunkelheit seines Schlafzimmers am Anfang des Kindertrakts.
»Ich glaube schon«, antwortete ich, horchte aber noch mal aus dem Fenster des Spielzimmers, um sicherzugehen, dass der unverkennbar kreischende Sound des Boxermotors sich aus der Garage in die Finsternis der Nacht entfernte. Nicht das beste Auto für dieses Wetter, dachte ich mir. Hatte sich der Wagen doch schon in der Vergangenheit als falsche Wahl erwiesen, als Papi ihn auf der alten Mautstraße nach Kühtai bei Sankt Sigmund im Sellraintal versenkte. Aber das war jetzt egal.
»Ja, sie sind weg!«, rief ich in voller Lautstärke durchs Haus. Danach ging alles ganz schnell. Weiße Bademäntel über den Schlafanzug, rein in die Stiefel, Handschuhe an und los! Raus ins wilde Schneetreiben und zu zweit rauf auf die Maschine. Die Luft war eisig, unser Atem dampfte, alles war tief verschneit. Gefroren haben wir trotzdem nicht. Dafür waren wir zu sehr in Action. Das Licht der französischen Scheinwerfer tauchte die Schneeflocken in einen warmen Gelbton und wies uns den Weg zu Jens und Nils. Die waren schon startklar. Ebenfalls in Schlafanzug und Bademantel.
»Hast du das Seil?«, rief Andreas und Jens nickte. »Okay, dann lass uns das schon mal festzurren.«
In der Zwischenzeit holte Nilsi den Schlitten aus dem Geräteschuppen und ich mopste schnell noch ein bisschen Sprit vom Rasenmäher. Damit waren wir einsatzbereit. Zwei aufs Motorrad, zwei auf den Schlitten. Abfahrt! Der Motor hatte ganz schön zu kämpfen, aber nachdem wir erst mal in Schwung gekommen waren, konnte uns nichts mehr aufhalten. Was für ein Spaß! Gegen jede Vernunft bretterten wir durch die Gegend. Vier Kinder im Alter von neun bis dreizehn Jahren rasten in Schlafanzug und Bademantel mit einer Motocrossmaschine als Schlittenzug durch das nächtliche Schneetreiben des Hahnwalds. Born to be child!
Im Sommer darauf bekam ich in Saint-Tropez eine neue Yamaha zum Geburtstag und von nun an konnte die gesetzeswidrige Enduro-Höllenmaschine endgültig in Köln bleiben. Das schonte das Interieur von Papis Jet. Wir Kinder bauten derweil unser »Transportunternehmen« aus, für das inzwischen auch Dirki große Begeisterung entwickelt hatte. Er glänzte durch Ideenreichtum. So weiteten wir das Schlittenprinzip in den Sommermonaten auf die brandneuen Rollerskates aus, die Papi uns aus New York mitbrachte. Es war nur eine Frage der Zeit, dass das Ganze irgendwann schiefging. Wir wurden immer schneller, unvorsichtiger und vor allem immer lauter, denn das Bike machte einen beachtlichen Krawall. Der fiel wohl irgendwann den Sicherheitsleuten des damaligen Staatsministers Hans-Jürgen Wischnewski auf, der nur zwei Straßen weiter wohnte. Prompt schwärmten die Polizisten aus und wir fuhren ihnen direkt in die Arme. Sie waren außer sich und rangen nach Worten, brachten am Ende vor lauter Empörung aber nur ein barsches »Absteigen! Sofort! Wo wohnt ihr?« heraus.
Danach mussten wir vor einem der Beamten herlaufen und das Motorrad nach Hause schieben. Er war sehr um Strenge bemüht und mahnte schroff: »Kein Wort mehr!«
So marschierten wir mit hängenden Köpfen die lange Auffahrt zu unserem Haus hinauf. Oben angekommen, ließ sich erst mal niemand blicken. Es war Sonntag und ich wusste, dass es bei meinen Eltern am Abend zuvor ein bisschen später geworden war. Doch dann öffnete sich die Haustür und Papi stand vor uns. Im weißen Bademantel. Dieses Kleidungsstück war bei den Erlemanns damals offenbar das große Ding.
Sofort hatte Papi die Situation umrissen und donnerte: »Das kann doch nicht euer Ernst sein!« Aber das war nur der Anfang. Danach kam er erst richtig auf Temperatur: »Johannes! Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Mach dich auf vier Wochen Hausarrest gefasst. Die Maschine wird in Ketten gelegt …«
Mit jeder weiteren Drohgebärde wechselte der strenge Blick des Polizisten ein Stück weiter von autoritär Richtung mitleidig.
»Herr Dr. Erlemann«, beschwichtigte er irgendwann. »Betrachten wir das Ganze ausnahmsweise als Lausbubenstreich.« Damit packte er seinen Notizblock wieder ein, fügte noch hinzu: »Die Sache scheint mir geklärt zu sein«, und verließ gemächlich über die lange Einfahrt unser Grundstück. Was blieb, war Stille.
Mein Vater sah dem Ordnungshüter hinterher, bis er weg war. Ich machte mich auf ein erneutes Donnerwetter gefasst, doch stattdessen kam nur: »Wartet eine halbe Stunde. Dann könnt ihr weiterfahren!«, und die Haustür schlug vor unserer Nase zu.
Diese kleine Geschichte sagt viel über Papis Wesenszüge aus. Jochem Erlemann besaß eine große Autorität und konnte ziemlich furchteinflößend sein, wenn er wollte. Aber in seinem Innern war er ein Freigeist, der seinen eigenen Regeln folgte und von seiner Autorität nur dann Gebrauch machte, wenn die äußeren Umstände es erforderten. Einen eigenen Kopf fand er wichtiger als blinden Gehorsam – und ein findiges Ausreizen der bestehenden Ordnung interessanter als pure Gesetzestreue.
Er sagte immer: »Wenn mir eines zuwider ist, dann ist es Provinzialität.« Und nach diesem Motto war sein ganzes Leben ausgerichtet – beruflich wie privat. Er wollte immer hoch hinaus. Und da kam er auch hin. Meine Mutter sagte derweil: »Wenn man weiß, wie’s richtig geht, kann man ruhig mal was falsch machen.« Dieser Grundsatz vertrug sich gut mit dem freiheitlichen Geist meines Vaters. Was das betrifft, passten die beiden ziemlich gut zusammen. Die Geschichte ihres Kennenlernens spricht für sich.
Wie sich ein junger Käferfahrer ein VW-Cabrio angelte und dabei die große Liebe fand.
Sommer 1963. Mein Vater war glücklich, wieder in Köln zu sein. Die ersten Semester seines BWL-Studiums hatten ihn nach Hamburg und München verschlagen, aber jetzt war er endlich wieder zu Hause und konnte sich voll und ganz seiner Karriere widmen, die damals mit einer aussichtsreichen Stelle bei Karstadt begann. Da sein MG-A wie immer kaputt war, fuhr er mit seinem betagten Käfer auf der Aachener Straße stadtauswärts.
»Moment mal! Da hinten wehen aber besonders schöne Haare im Wind. Ganz schön flott unterwegs, das Fräulein, das muss ich mir genauer ansehen.«
Das Schicksal spielte mit. Die Ampel sprang auf Rot und er konnte sich in seinem Wagen ganz in Ruhe an das fabrikneue schneeweiße Käfer-Cabriolet mit der hübschen jungen Frau am Steuer anpirschen. Ihr entgingen die neugierigen Blicke nicht, also gönnte sie meinem Vater einen winzigen Augenblick ihrer Aufmerksamkeit, um sich dann wieder mit betörender Gleichgültigkeit dem Straßengeschehen zuzuwenden.
»Donnerwetter«, dachte Papi und als die Ampel auf Grün wechselte, gab es für ihn nur einen Gedanken: hinterher!
Drei Ampeln später kamen die beiden erneut nebeneinander zum Stehen. Jetzt oder nie. Papi sprang aus dem Wagen und lief zu ihr rüber: »Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, ich würde Sie gerne kennenlernen.«
Verblüfft sah sie ihn an und erwiderte schlagfertig: »Etwa hier auf der Straße?«
Die freche Gegenfrage ließ Papi zögern. Aber nur kurz: »Äh, nein. Aber ich möchte gerne mit Ihnen das Auto tauschen. Und morgen tauschen wir zur gleichen Zeit im Café Reichard zurück.«
In diesem Moment sprang die Ampel symbolträchtig auf Grün und die gnädige Frau aus dem Wagen. Sie huschte vorbei und sagte im Umdrehen: »Der Schlüssel steckt.« Dann setzte sie sich in Papis Auto ans Steuer und fuhr davon.
Fasziniert stand mein Vater auf der Straße und sah seiner Klapperkiste hinterher. Die anderen Autofahrer gaben das Hupen irgendwann auf und lenkten ihre Fahrzeuge um ihn herum.
Am nächsten Tag folgte tatsächlich ein Kennenlernen mit der jungen Frau. Sie hieß Margarethe. Die Liebelei hielt nur für ein paar Wochen, bis Margarethe eines Tages Familienbesuch in ihrer Wohnung hatte: »Darf ich vorstellen? Meine Schwester Gabi aus Saarbrücken. Sie wird in Köln Kunst studieren und hat eine Zusage für …«
Papi hörte schon nicht mehr zu. Er sah einfach nur Gabi an. Die erwiderte seinen Blick aus ihren schwarzbraunen Augen. So folgte auf den Autotausch ein Schwesterntausch. Zwei Jahre später wurde geheiratet, drei Jahre später mein Bruder Andreas geboren. Und sechs Jahre später dann ich. Ja, es war viel los in den Swinging Sixties.
Mit ihrer klugen Bedächtigkeit und ihrer ausgleichenden Empathie war meine Mutter ein guter Gegenpol zu meinem Vater. Sie stammte aus Saarbrücken und kam aus einem Elternhaus, in dem sich strikte Ordnung und ein gewisser Nonkonformismus die Waage hielten. Ihre Mutter, meine Omi, war ein Ausbund an Tatkraft und Selbstbestimmtheit und fuhr in den Fünfzigern und Sechzigern erfolgreich Autorennen. Der Vater, Dr. Leonard Thelen, dagegen war zwölf Jahre älter als seine Frau, Arzt und sehr diszipliniert. Im Zweiten Weltkrieg hatte er eine schwere Verletzung davongetragen, durch die er im Alter halbseitig gelähmt war. Seine Praxis führte er trotzdem mit eisernem Willen weiter. Die Töchter Margarethe und Gabi wurden dort schon früh zum Assistieren eingespannt, besonders als sich Ende der Fünfzigerjahre der Gesundheitszustand des Vaters immer weiter verschlechterte.
Nach Dr. Thelens Pensionierung zogen meine Großeltern nach Baden-Baden. Etwa zur gleichen Zeit gingen die Töchter zum Studium nach Köln. Margarethe an die Uni, meine Mutter an die Werkschule, denn sie wollte bildende Künstlerin werden. Das Studium schloss sie letztendlich aber nicht ab. Die Hochzeit mit Papi kam dazwischen. Und kurz danach die Geburt von Andreas. Beides erlebte ihr Vater, den ich nicht mehr kennengelernt habe, noch mit. Die Hochzeit fand sogar in seinem Haus statt. Die Feier war klein und fast ein bisschen bieder, mit Spitzenkleid, schwarzen Anzügen und Kuchenanschneiden auf der Terrasse. Aus heutiger Sicht ziemlich untypisch für meinen Vater. Aber die Schwäche für den ganz großen Auftritt sollte sich bei ihm erst Anfang der Siebzigerjahre entfalten, als sein durchgreifender Aufstieg begann und Dr. Thelen bereits nicht mehr lebte. Danach war keine Zeit mehr für das Studium oder die künstlerischen Ambitionen meiner Mutter. Jochem hätte auch nicht gewollt, dass sie einen Job hat. Das fand er unfein. Eine Frau Erlemann arbeitete nicht.
Mami fügte sich dieser Ansage auf ihre Weise. Einerseits gab sie für Papi ihre künstlerischen Ambitionen auf, andererseits genoss sie die Vorzüge, die sein Lebensstil mit sich brachte, in vollen Zügen und schaffte sich eigene Freiräume. Regelmäßig reiste sie in ihre Lieblingsstadt New York, sie hielt den Freundeskreis zusammen und managte Häuser, Familie und Partys mit einer Entschiedenheit, die niemand in Zweifel zog. Was das angeht, hatte sie dann doch einiges von der resoluten Rennfahrerinnen-Mentalität ihrer Mutter abbekommen.
Ich weiß, wovon ich rede, denn meine Großmutter habe ich im Gegensatz zu meinem Großvater sehr wohl noch kennengelernt. Sie war sehr witzig, eloquent und hat ihre Autoleidenschaft nie aufgegeben. Bis zum Schluss hatte sie die Pokale der gewonnenen Rennen im Wohnzimmer stehen und gondelte mit ihrem Citroën DS 21, einem Riesenschiff, durch die Gegend, um ihre Immobilien-, Bank- und Aktiengeschäfte zu regeln. Oder um Erdbeeren in Rastatt zu kaufen, weil sie dort günstiger waren als in Baden-Baden. Ich habe sie geliebt.
Omi bekam von Papis geschichtsträchtigem Aufschlag in den Siebzigern noch jede Menge mit. In ihrer konservativen Finanzbetrachtung hinterfragte sie »diese modernen Provisionsunternehmungen«, die er machte, allerdings kritisch und sagte zuweilen: »Wenn er bei Karstadt geblieben wäre, wäre er jetzt ein gemachter Mann.«
Aber sie wusste auch, wie wichtig der Beitrag war, den ihre Tochter bei aller Zurückhaltung zum markanten Image des Medienlieblings Jochem Erlemann leistete. Sie war weit mehr als nur »die schöne Gabi«, als die sie in der Presse bezeichnet wurde. Sie war die Architektin unserer Familie und für uns Söhne sowieso der emotionale Hafen. Denn sie war immer für uns da – im Gegensatz zu meinem Vater, der im Zuge seiner immer größer werdenden Geschäfte irgendwann kaum noch zu Hause war. Aber um das und den ganzen dramatischen Rest zu verstehen, müssen wir erst mal klären, was es mit diesen Geschäften überhaupt auf sich hatte.
Wie das Wirtschaftswunder Erlemann den Finanzbeamten das Blut in den Adern gefrieren ließ und mein Vater zum »Spezialitätendoktor« wurde.
Die Stücke meines Urgroßvaters Gustav kann man sich noch heute auf Spotify anhören. Vielleicht habe ich von ihm meine Leidenschaft für Musik geerbt. Er war Komponist und Kirchenmusiker aus Trier. Als Max-Bruch-Schüler sorgte er dafür, dass in Deutschlands Bistümern einheitlich gesungen wurde. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts unterschieden sich die Text- und Melodiefassungen der Kirchenlieder in den Diözesen des Landes enorm. Diesem Durcheinander bereitete mein Urgroßvater ein Ende, und zwar nachhaltig: Die Kompositionen seiner vereinheitlichten Choralgesänge sind bis heute aus keinem katholischen Gesangsbuch wegzudenken. Für sein umfangreiches Orgelwerk wurde er zudem vom Papst zum »Ritter vom Heiligen Grab« geschlagen. Die Erlemannstraße in Trier erinnert noch heute an ihn.
Sein Sohn wiederum, Papis Vater Dr. Edmund Erlemann, war seinerzeit Wegbereiter des Rufs von Düsseldorf als Modestadt Nummer eins. In den Fünfzigerjahren gründete er die Interessengemeinschaft Damenoberbekleidung, kurz Igedo, und entwickelte daraus die größte Modemesse der Welt. Ich selbst erlebte ihn als Grandseigneur alter Schule. Stets makellos gekleidet mit maßgeschneiderten Hemden, Manschettenknöpfen, und alles saß immer perfekt. Unter der Woche lebte er in Düsseldorf und war neben der Modemesse auch als Teilhaber des legendären Nachtclubs Sam’s sehr umtriebig. Das Wochenende war derweil seiner Familie in Oldenburg vorbehalten.
Hinter seiner Contenance war ein Blitzen in den Augenwinkeln zu entdecken, das verriet, dass er sich sein inneres Kind bewahrt hatte. Ich habe diesem alten Herrn eine Menge zu verdanken. Nicht zuletzt, weil er im Entführungsfall Johannes Erlemann eine Schlüsselrolle spielte, die exemplarisch war für sein feines Wesen, seinen Großmut und seine Zurückhaltung. Er war ein echter Ehrenmann, den ich sehr geliebt habe.
Und dann kam mein Vater: Jochem Erlemann, ein charismatischer Mann von analytischer Intelligenz und mit einem ausgeprägten Sinn für große Gesten, rhetorische Finessen und geistreichen Humor. Hinzu kam eine leicht pathetische John-Wayne-Western-Manier, denn Wayne war eins seiner großen Idole. Ich habe ihn nie gefragt, ob er es bewusst darauf anlegte, sein Leben als modernen Western zu zelebrieren, aber wenn ja, hat er es gut hinbekommen. Große Triumphe, bittere Niederlagen, Duelle, Erpressung und – nun ja – Entführung … Es war alles dabei. Dass er im späteren Verlauf seiner Wirtschaftskarriere tatsächlich irgendwann Ranchland in Südkalifornien verkaufte, freute ihn mit Sicherheit riesig. Aber erst mal musste diese Karriere, die letztendlich die Grundlage für alles war, in Schwung kommen. Das tat sie Anfang der Siebzigerjahre.
Den erwähnten Posten bei Karstadt, den Papi nach seinem Wirtschaftsdiplom ergatterte, ließ er schon nach drei Jahren wieder sausen. Stattdessen gründete er gemeinsam mit Dr. Jürgen Amann die BROKER Dr. Amann Deutschland GmbH. Amann gehörte, genau wie Papi sowie die Studienkollegen Erwin Walter Graebner und Dr. Dieter Quast, zu einer Truppe junger Hochschulabsolventen, die als Hilfsrepetitoren aus der »Werkstatt« von Dr. Karl Braunschweig hervorgegangen waren. Sie alle sind Mitbegründer der sogenannten »Kölner Schule«, die in den folgenden fünfzehn Jahren steuerbegünstigte Investitionen von über hundert Milliarden Mark auf den Weg brachte. Die Vertreter dieser neuen Generation von Finanzexperten waren teilweise Freunde und beinharte Konkurrenten zugleich. Ihr ständiges Wetteifern trieb die Entwicklung vieler neuer Ideen voran, von denen besonders eine die gesamte Steuerlandschaft in Deutschland verändern sollte: das Bauherrenmodell.
Eine einseitige Anzeige, die damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für das Modell warb, erklärte es vereinfacht folgendermaßen:
»Der Kaufpreis einer Eigentumswohnung wird aufgespalten. Zinsen, Provisionen, Garantiekosten, etc. können steuerlich abgesetzt werden: Nach unserem Beispiel für einen Kaufpreis von exemplarisch 200 000.– DM setzt der künftige ›Bauherr‹ im ersten Jahr 60 000 Mark von seinem Einkommen ab, er muss also 60 000 Mark weniger versteuern. Das bedeutet, dass er bei 50 %iger Steuerbelastung 30 000 Mark spart. Wenn man 30 000 Mark Anzahlung nimmt und 170 000 Mark persönlichen Bankkredit vermittelt, dann ist die Steuerersparnis genauso hoch wie das Eigenkapital. Die ›Bauherren‹ bauen also Wohnungen ohne Eigenkapital. 30tsd kommen per Saldo vom Finanzamt zurück. 170tsd von der Bank. Vereinfacht ausgedrückt: Das Finanzamt erstattet die Anzahlung. Und die Miete aus der Wohnung tilgt den Kredit. Am Ende gehört einem die Wohnung zum Nulltarif.«
Diese Vermögensbildung aus eingesparter Steuer war natürlich nur dem gehobenen Mittelstand oder darüber vorbehalten. Aber der schlug dafür kräftig zu. Nach Abdruck der FAZ-Anzeige glühten die Telefondrähte im BROKER-Büro und der Briefträger lieferte die schriftlichen Anfragen der Kunden wäschekörbeweise. Mit dieser Erfindung war das Kapitel Dr. Amann für Papi aber auch schon wieder beendet. Er wollte nicht der Ideengeber bleiben, kaufte sich ein Büro am Theodor-Heuss-Ring 28 und baute eine gigantische Vertriebsmaschinerie für sein eigenes Unternehmen auf: die Europäische Treuhand AG & Co. KG. Der Name war Programm. Denn jetzt wurde es international.
1973 wurde feierlich das World Trade Center eingeweiht, David Bowies »Space Oddity« erreichte die US-Radiocharts und Präsident Nixon vereinbarte einen Waffenstillstand mit Nordvietnam. Meine Eltern flogen in diesem Jahr oft mit der Concorde von Paris nach New York – jenem Überschallflieger, der später wie die Zwillingstürme des Trade Centers ein- beziehungsweise abstürzen sollte. Mami erlag der unvergleichlichen Anziehungskraft der Stadt und traf sich dort gelegentlich mit ihrer Schwester Margarethe, die inzwischen glücklich verheiratet war und mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Richmond, Kanada, lebte.
Papi importierte derweil sein Bauherrenmodell in die USA und baute seinen ersten Wolkenkratzer in Manhattan, unterstützt vom Gouverneur des Bundesstaates New York und den Direktoren der großen Banken. So entstand am East River, direkt gegenüber des UN-Gebäudes, The Plaza, ein Wolkenkratzer mit Büros und einhundertneunundfünfzig Eigentumswohnungen.
Als Frederick Christ Trump von der Sache hörte, trat er mit der Bitte an Papi heran, seinen Sohn Donald in dem Projekt unterzubringen. Der Junge solle endlich mal was Gescheites arbeiten, fand der Immobilienunternehmer und Multimillionär. So sollte sich der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, der damals noch keine dreißig Jahre alt war, für meinen acht Jahre älteren Vater auf Provisionsbasis um den Vertrieb der Wohnungseinheiten in The Plaza kümmern. In der Folge initiierten die beiden noch ein paar weitere Projekte in Amerika. Eins davon war der Börsen-Kabelkanal DJ-TV, ein Abschreibungsprojekt, dessen Anfangsbuchstaben Assoziationen zum Dow-Jones wecken sollten, in Wahrheit aber für die Initialen von Donald und Jochem standen.
Aber die Deals mit dem Trump-Clan waren nur der Anfang. Sein nächstes Erfolgsprojekt verwirklichte den Cowboytraum des mittelständischen Unternehmers. Ab in den Wilden Westen hieß es dabei und der Prospekt titelte: »Die Freiheit ist noch nicht ausverkauft!«
Mit seinem Seniorpartner Larry Oppenheimer, der im Zweiten Weltkrieg als Brigadegeneral gedient und unter anderem die Universal Studios in Los Angeles mitgegründet hatte, kaufte Jochem Erlemann hektarweise Ranchland in Südkalifornien, umzäunte es, installierte Bewässerungsanlagen und verpasste der dürren Gegend so einen hohen Nutzwert. Mit diesen Grundstücken machte er aus deutschen Steuerzahlern bevorteilte »Rancher« in Südkalifornien. Investitionsvolumen: 100 Millionen D-Mark. Und allein mit 19 Millionen Mark dabei: Aenne, Franz, Frieder und Hubert Burda. Der Verlegerfamilie hatte es die Missouri-Ranch bei St. Joseph, nahe Kansas City, besonders angetan. Bald brauchte mein Vater mehr Land. Larry lieferte es. Das US-Geschäft brummte.
Zurück in Köln zog Papi sich immer gerne in sein Treppchen zurück, ein historisches Gasthaus im Kölner Süden, nicht weit entfernt vom Hahnwald. Wenn er zuweilen amerikanische Gäste hatte, erklärte er immer: »You know, this restaurant is older than your whole country!« Und das war tatsächlich so. Schon im 17. Jahrhundert hatte das Fachwerkgebäude mit den roten Fensterläden als Pferdetränke und Rastplatz für fahrende Händler und Rheinschiffer gedient. Inzwischen war es dank seiner traumhaften Lage am Rhein und seiner urigen Atmosphäre ein beliebter Treffpunkt der Kölner Society und der Politprominenz der Bonner Republik. Helmut Schmidt und Walter Scheel waren ebenso regelmäßige Gäste wie der Journalist der legendären Fernsehsendung Internationaler Frühschoppen, Werner Höfer, und unser Nachbar, Staatsminister Wischnewski.
Für Papi war das Treppchen mehrfach die Keimzelle von Einfällen, die, genau wie er selbst, direkt aus dem Leben gegriffen waren. So auch an einem Tag im Jahr 1973. Über das, was sich da zusammenbraute, schrieb Die Zeit später, dass es den »Finanzbeamten noch heute das Blut in den Adern gefrieren lässt«. Man könnte allerdings auch einfach sagen: Es schlug dem Fass den Boden aus.
Joe Dohmen, der damalige Eigentümer des Treppchens, koordinierte gerade die Anlieferung neuer Bierfässer der Mainzer Aktien-Bierbrauerei. Papi, der gut mit Joe befreundet war, beobachtete das geschäftige Treiben eine Weile, dann fragte er: »Sach mal, Joe, musst du eigentlich die ganzen Fässer da kaufen?«
»Ja wat denkst du denn, Jochem?«, war die Antwort. »Geschenkt gibt’s die nicht.«
Papi nickte verständig, nahm einen Schluck aus seinem Krug und wandte sich in aller Ruhe wieder ab. Aber dann überschlugen sich seine Gedanken, die schon die ganze Zeit um die Machbarkeit einer wilden Idee kreisten: Wenn eine Anlegergruppe beispielsweise für 10 Millionen Mark Bierfässer zum Preis von bis zu 800 Mark pro Stück kaufte und im Leaseback-Verfahren direkt wieder an die Brauereien zurückvermietete, dann galten diese Fässer im Steuerrecht als unbewegte, geringwertige Wirtschaftsgüter. Das hieß, sie waren sofort voll absetzbar. Wenn die Anleger vier Millionen Mark an Eigenkapital beisteuerten und sechs Millionen aus einem Bankkredit schöpften, aber sofort die gesamten zehn Millionen vor dem Finanzamt geltend machen konnten, ergab sich dadurch ein Steuervorteil von 250 Prozent. Wenn sich dann noch zwei verschiedene Anlegergruppen die Fässer immer wieder gegenseitig hin und her verkauften, verselbstständigte sich das System. Nur für den Staat wären die Auswirkungen fatal: Der ginge irgendwann pleite!
Durch eine verbindliche Genehmigung der Oberfinanzdirektion in Düsseldorf ließ Papi sich diese »Lücke« in der Gesetzeslage bestätigen. Das »Erlemann-Konzept« war geboren und wurde im Frühjahr 1974 nach bewährtem Prinzip in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beworben.
Die Wirtschaftspresse stand Kopf und berichtete rauf und runter über das Bierfässer-Leasing mithilfe des Finanzamtes. Es dauerte nicht lange, bis die ersten zwei Millionen Mark Kapital eingesammelt waren. Aber auch bei der Steuerbehörde wurde die Tragweite des Modells schnell bemerkt. Dort rauchten die Köpfe. Aus Sorge vor einer möglichen Flut von Nachahmern raunte Dr. Klotz von der Oberfinanzdirektion mit berechtigter Verzweiflung: »Das Gesetz muss sich ändern!«
Mit Dr. Josef Augstein, dem Bruder des Spiegel-Herausgebers, im Aufsichtsrat der Europäischen Treuhand AG und den honorigen Investoren betrachtete man das Vorgehen als Frontalangriff auf den Staat. Nach endlosen Sitzungen beschloss die Finanzdirektion, dass der Bundesfinanzminister sowie Staatssekretär Dr. Böhme in der Angelegenheit tätig werden mussten. Und das wurden sie dann auch. So brachte die clevere Idee meines Vaters den Bundestag seinerseits auf die Idee zu einer schnellen Gesetzesänderung. Im Prinzip konnten die Herrschaften im Finanzministerium dankbar sein: Der Erlemann hatte die Schwachstellen ihres Finanzsystems gefunden und sie mussten sie nur noch schließen. Doch stattdessen galt nach dem Vorfall bei der sozialdemokratischen Regierung insgeheim die Maxime: »Der Erlemann muss weg!«