Begehrenswert - Jule Govrin - E-Book

Begehrenswert E-Book

Jule Govrin

0,0

Beschreibung

Begehren und Wert erscheinen auf den ersten Blick als Gegensätze. Während Ersteres auf das Persönliche und Intime abzielt, beschreibt Letzteres die abstrakte Beurteilung. Doch der Gegensatz wird brüchig, sobald wir im Begehren das beständige Auf- und Abwerten anderer entdecken, und im Wert das unablässige, affektgeladene Spiel der Bewertungen. Jule Govrins fulminanter Essay Begehrenswert fragt danach, wie Begehren die wirtschaftlichen Wertordnungen durchdringt und sich ökonomische Bewertungsmuster feinstofflich in soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen einschreiben – in Semantiken des Selbstwerts, auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen und unique selling points, um sich von anderen abzuheben. Der Streifzug durch die Gegenwart geht mit Abstechern in die Kapitalismus- und Sexualitätsgeschichte einher, um aufzuzeigen, wie sich Begehren an Waren, Menschen und Werte bindet. Im Dreieck von Wert, Begehren und Authentizität ergründet Begehrenswert die Matrix unserer Gegenwart – und weist zugleich im alle verbindenden Begehren nach anders gelagerten, solidarischen Beziehungsweisen den Fluchtpunkt einer emanzipatorischen Perspektive auf. 

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 156

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Begehrenswert

Fröhliche Wissenschaft 223

Jule Govrin

Begehrenswert

Erotisches Kapital und Authentizität als Ware

Inhalt

Vorwort

1. Wert

2. Begehren

3. Authentizität

Schlussbemerkungen

Danksagung

Anmerkungen

Vorwort

Werten und Bewerten takten unser Verlangen und Verhalten. Die kleinen, feinen Werturteile, die wir tagtäglich treffen, äußern sich in affektiven Akten, die nicht vom kühl kalkulierenden Geist, sondern vom Begehren beflügelt werden – durch körperliche Reflexe, die blitzschnell auf Anreize antworten. Im Begehren geben wir unsere intimsten Wünsche preis und setzen so aufs Spiel, was uns wesentlich ist. Wir treten aus uns heraus, entäußern und entgrenzen uns. Ebendeshalb macht uns unser Begehren empfänglich für die Werturteile anderer, es exponiert uns, macht uns verwundbar. Geschmack, Stil, Aussehen, Persönlichkeit – alltäglich und allgegenwärtig sind wir aufgerufen, einander abzuschätzen. Und wir begutachten uns selbst im Blick der anderen. Der prüfende Blick auf mich bemisst, wie begehrenswert ich bin. Dieses Blickregime entspricht der Logik des Selfies. Selbstausdruck und Selbstwert spiegeln sich in Bewertungen mit Likes und Emoticons. Je standardisierter und so bewertbarer Inszenierungen des Individuellen werden, umso stärker der Darstellungsdruck. Je mehr wir uns im Selbstbild stilisieren, desto kostbarer das Antlitz, das in der Selfie-Spiegelung aufblitzt. Und doch suchen wir unser Antlitz zuallererst in anderen, wir sehnen uns im spiegelbildlichen Spiel des Sozialen nach ihrem Begehren, ihrer Anerkennung, ihrer Wertschätzung.

Sinnlichkeit-Test: Wie begehrenswert fühlen Sie sich? Authentisches Auftreten – Kompetente Wirkung. Begehrenswert sein – so optimieren Sie Ihre Ausstrahlung. Liebt er mich noch? So bleiben Sie für ihn begehrenswert! Du willst authentisch sein? – 3 Tipps für mehr Authentizität. 5 Merkmale begehrenswerter Frauen. Brand Desire: Was Marken begehrenswert macht. Ausstrahlung: Mit diesen Tricks und Tipps zu mehr Ausstrahlung Attraktivität Anziehungskraft Autorität und authentischem Charisma! So überzeugen Sie wirklich jeden! Inkl. Profi Strategien. Onlinekurs ›Authentisch erfolgreich‹. Erfolgreich und begehrenswert durch gesunde Haare. Authentisch sein: Eine Anleitung. Um begehrenswert zu sein, soll man authentisch wirken. Bei der Castingshow Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum wetteifern junge Frauen darum, als Model unter Vertrag genommen zu werden. Jede Runde müssen sie Proben bewältigen, meist Fotoshootings und Catwalk-Performances. Die Leistung auf dem Laufsteg bildet den Höhepunkt, hier fällt die Entscheidung, wer in die nächste Runde kommt. Heidi Klum, Role Model, Moderation und Richterin, lässt »ihre Mädels« antreten, um sich ihr Urteil abzuholen. Unsicher treten die Kandidatinnen vor Klum, oft noch im Catwalk-Outfit, dessen Glamour in grotesken Gegensatz zum nervösen Gefühlszustand der Geprüften gerät. Heidi Klum bewertet die von den Models mit Catwalk-Expert*innen eingeübte Choreografie äußerst streng. Jeder Schritt, jede Geste, jedes Lächeln muss sitzen. »Du warst da nicht ganz authentisch«, bemängelt sie: »Das musst du noch weiter einstudieren.« In Klums Kritik zeigt sich der Appell des Authentischen: Vor dem Spiegel studieren ihre Kandidatinnen authentischen Ausdruck ein, den sie später scheinbar spontan und natürlich in Szene setzen sollen.

Der Drang dazu, das eigene Selbst zu bearbeiten, zu stilisieren und zu vermarkten, drückt sich auch im Konsumverhalten aus. Welcher Gesichtsausdruck und welches Hashtag, welche Kleidungsstücke und Accessoires, welche Schokoladensorten und Kaffeeröstungen, welche Selbstsorgen und Sportarten geben unser Wesen wieder? Authentischsein erscheint als Stilfrage. Die Performanz der Einzigartigkeit wird daraufhin bewertet, ob sie den Maßstäben entspricht, anhand derer Menschen als sympathisch oder unsympathisch, als attraktiv oder unattraktiv, als interessant oder uninteressant wahrgenommen werden. Während Kleidungsstücke und Restaurantbesuche einen bezifferbaren Preis haben, scheint es eine Wertform zu geben, die nicht direkt darauf abzielt, monetären Wert zu schöpfen. Dieser Wert bestimmt Subjektivierungsweisen, ohne in der ethischen Kategorie des Selbstwerts aufzugehen. Und da diese Wertform mit Bewertung einhergeht, formt sie offenbar nicht bloß individuelle Wahrnehmungsweisen, sie beeinflusst maßgeblich soziale Beziehungen. Schließlich zielt jede Selbststilisierung auf soziale Sichtbarkeit und die Anerkennung anderer.1 Der Blick auf sich selbst ist stets durch die Blicke der anderen bestimmt. Das Selbstverhältnis ist ein soziales Verhältnis. Indem uns Begehren in Bezug zu anderen setzt, werden wir zu sozialen Wesen.2 Es gibt kein Selbst ohne soziale Beziehungen, die ihrerseits vom Begehren gestiftet sind. Und Begehren wird mit Wert besetzt. Deshalb handelt dieses Buch mit einer Wertform, die sich am Begehren bemisst und mit symbolischem Kapital spekuliert, die Körper regiert und Affekte anreizt. Dieser Wertform gilt es nachzuspüren.

Die »Attraktivitätsmärkte«3 der digitalen Plattformen machen vor, wie der merkantile Wettbewerbsgeist Begehren mitregiert. Aufmerksamkeitsökonomisch sind User dazu angehalten, Likes zu erringen und Follower zu gewinnen, wodurch ihre Beliebtheit quantitativ messbar wird. Diese Gegenwartslage sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Praktiken des Bemessens und Bewertens eine lange Geschichte bergen. Bereits Friedrich Nietzsche bestimmte Menschen als wertsetzende Wesen, die mit Werturteilen aggressive Affekte ausagieren.4 Allgemein gesprochen spekuliert kapitalistisches Wirtschaften mit Wert, gleichsam kalkuliert es mit Wünschen, darauf machen uns Gilles Deleuze und Félix Guattari aufmerksam.5 Ökonomischer Wert und soziale Wertschätzung spielen subtil ineinander – in Praktiken der Distinktion und Differenzierung. Eben hier liegt der Einsatzpunkt des Authentischen. Um die Zusammenhänge zwischen Wert, Begehren und Authentizität nachzuzeichnen, ist Letztere in ihrem Inszenierungscharakter zu untersuchen. Wie wirkt Authentizität als affektive Projektionsfläche gesellschaftlicher Sehnsüchte? Sie scheint, so die Vermutung, soziale Bewertungsmechanismen zu befördern. Wie wird sie eingefordert, wie wird sie in Szene gesetzt? Wie durchwirkt Begehren wirtschaftliche Wertordnungen und wie schreiben sich diese als Bewertungsmuster in Beziehungen ein? Diese Fragen legen nahe, im Unterfangen einer feministischen Ökonomiekritik bei Körpern und Begehren zu beginnen und den Kapitalismus als Begehrensökonomie zu betrachten, die sich nicht bloß an Bedürfnissen ausrichtet, sondern mit Wünschen und Begehrlichkeiten kalkuliert. Begehren und Authentizität, Bewertungspraktiken und Aufmerksamkeitsökonomien entwickeln sich in enormer Geschwindigkeit. Deshalb bedarf es einer Kritik der politischen Ökonomie des Begehrens in Form einer Genealogie der Gegenwart. Begehren ist viel zu flüchtig, um es in einer festen Wertformel einzufangen. Stattdessen führt der Streifzug leichtfüßig durch eine Fülle von Phänomenen der Gegenwart und ihrer Geschichten, um die Bindungen von Begehren und Wert im Konkreten und Kleinteiligen zu entdecken, in vertrauten Alltagspraktiken und in bestaunten Ausnahmeerscheinungen des Warenkonsums und der Selbstvermarktung, die oft mehr teilen, als es den Anschein hat.

Das erste Kapitel verschreibt sich der Geschichten der Wertkritik und der Warenwelt. Das zweite Kapitel handelt vom Begehren in den verschlungenen Strängen der Sexualitäts- und Kapitalismusgeschichte. Das dritte Kapitel bietet eine Gegenwartsgeschichte der Authentizität. Im Analysefokus liegen die narrativen und algorithmischen Bewertungsraster, bereitgestellt von der Konsumkultur, um einander abzuschätzen – es geht also weniger um das konkrete Erleben als um diskursive Muster, die ökonomische Wertigkeiten in soziale Beziehungen einschreiben. Obwohl das kapitalistische Wertgesetz global gültig ist, bezieht sich die Analyse auf westeuropäische, insbesondere deutschsprachige Kontexte. Schließlich sind Vorstellungen von sozialen Werten und authentischem Selbstausdruck stark kontextgebunden und kulturgeschichtlich verschieden. Anstatt allzu verallgemeinernde Aussagen aufzustellen, wird eine philosophische Praxis verfolgt, die sich in ihrer Gegenwart verortet und angesichts gesellschaftspolitischer Phänomene kritische Begriffsarbeit betreibt. Erster Einsatzpunkt ist ein Wertbegriff, der all die affektive und ästhetische Arbeit umfasst, die Menschen an sich leisten.

1. Wert

Gebrauchswert. Geschäftswert. Geldwert. Gegenwert. Grenzwert. Liebenswert. Lebenswert. Liquidationswert. Marktwert. Mehrwert. Messwert. Menschenwert. Neuwert. Normwert. Nominalwert. Sachwert. Schrottwert. Selbstwert. Spekulationswert. Seltenheitswert. Arbeitswert. Tauschwert. Unternehmenswert. Orientierungswert. Durchschnittswert. Distinktionswert. Richtwert. Realwert. Zeitwert. Zeichenwert. Symbolwert. Sachwert. Inszenierungswert. Erlebniswert. Eigenwert. Wahrheitswert. Barwert. Börsenwert. Bezugswert. Begehrenswert. Wie die Wertform beziffern, von der die Rede ist, wenn wir über affektive und ästhetische Wirkungsweisen von Wert und Bewertung sprechen? Anscheinend handelt es sich weniger um direkten Geldwert, der – einem Preisschild gleich – Waren angeheftet wird, und mehr um eine symbolische Wertform, die mit Wunschbildern spekuliert und darauf einwirkt, wie wir wahrnehmen und begehren.

Gemäß Pierre Klossowski bildet der Wert eine »dem Genuß innewohnende Strategie«.6 Wert entspringt dem Begehren, weil der Akt des Bewertens eine Handlung des Begehrens ist. Das kapitalistische Wirtschaften schreibt dem Begehren seinerseits seine Wertlogik ein, die auf Verknappung und Tausch beruht. Diese bemächtigt sich der Lüste und Sehnsüchte, formt Fantasien in flimmernden Werbebildern und strukturiert Begehrensbeziehungen. Für Klossowski ist das »Vermarktungsprojekt der wollüstigen Emotion«7 im Erotischen angelegt. Die begehrliche Wertungsform, die sich in Vorlieben verwandelt, ist monetären und moralischen Werten vorgeschaltet. Angelehnt an Gebrauchs- und Tauschwert unterscheidet Klossowski zwischen erotischem Wert und kapitalistischem Wert.8 Während erotischer Wert auf sinnlichen Genuss abzielt, entbehrt der kapitalistische Wert Sinn und Sinnlichkeit, da er als steriler Geldwert operiert. Klossowskis Idee eines ursprünglichen Begehrens und erotischen Werts als unmittelbarer Sinnlichkeit ist irreführend, ist doch Begehren seinerseits immer schon sozial vermittelt. Bestechend ist jedoch die Beobachtung, dass Begehren und Wert unauflöslich verbunden sind. Während für Klossowski Begehren dem Wert vorgelagert ist, situiert Georg Simmel Wert und Begehren in einem Korrelationsverhältnis: Für Simmel bildet Begehren den subjektiven Ausdruck und sein Korrelat, der Wert, ist dessen objektiver Ausdruck.9 In dieser Perspektive bezieht sich Wert auf das Allgemeine der Gesellschaft und Begehren auf das Partikulare des Individuums. Wert verweist auf die sachlichen Verhältnisse der Dinge, Begehren bezeichnet die affektiven Verhältnisse der Menschen. Wert steht für Rationalität, Begehren bedeutet Affektivität – so Simmels Bilanz. Statt von solch starren Gegensätzlichkeiten auszugehen, werden im Folgenden affektive Wertwirkungen ausgehend vom Begehren betrachtet, wie es Klossowski vorschlägt. Doch während dieser Begehren als übergeschichtliche Kraft fasst, wird seine Einsicht radikalisiert und das Wechselspiel von Begehren und Wert in ihren kapitalismusgeschichtlichen Wandlungswegen verfolgt.

Wertgesetz und Beziehungsweisen

Um sich dem Begriff des Begehrenswerts anzunähern, führt der Weg zu den Arbeitsweisen von Wert, Mehrwert und Warenform und ihren Auswirkungen auf soziale Beziehungen. Erste Konturen nimmt das Konzept des Begehrenswerts im Gang von Karl Marx’ Wertkritik zu Bini Adamczaks Konzept der Beziehungsweise an.

In seinen Anfängen verstehen liberale Philosophien wie die von Adam Smith den Markt als Ort demokratischer Gleichheit, an dem Gleiche unter Gleichen vertraglich geregelten Geschäften nachgehen. Allerdings übersieht dieses marktliberale Ideal den Umstand, dass das wettbewerbsorientierte Wirtschaftssystem systematisch Armut und Ungleichheit erzeugt. Marx weist dafür auf die verheerenden Auswirkungen der Industrialisierung in England im 19. Jahrhundert hin. Er beschreibt, wie die Enteignung des Kommunalen, der Allmende, die Besitzlosen in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zwang, die damit nur formell frei waren.10 Die geleistete Lohnarbeit entspricht nicht dem gezahlten Gehalt, da die Produktivität der Arbeit höher ist als deren Entlohnung, daraus entsteht Mehrwert. Der Akkumulationsantrieb des Kapitals begründet sich in der Mehrwertlogik, die Produktions-, Konsum- wie Lebenssphären durchdringt. In wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen finden sich zwei zentrale Denkrichtungen, die subjektiven und die objektiven Werttheorien. Subjektive Werttheorien bestimmen Wert durch Nutzen oder Nachfrage, objektive Werttheorien durch Arbeitskraft und -zeit, die in die Ware investiert werden. Für Marx, Vertreter der Arbeitswerttheorie, bildet Wert die Schlüsselkategorie des Kapitalismus, da Wert als gespenstische Abstraktion arbeitet und gleichwohl materiell wirkmächtig ist. Hierzu nimmt er die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert auf: Der Gebrauchswert bezeichnet den praktischen Nutzen eines Gegenstandes, der Tauschwert den ökonomischen Zweck der Gewinnerzielung. Der Wert einer Ware, ihr Tauschwert, entsteht aus der Zeit, die Arbeiter*innen aufwenden, um diese herzustellen. Im Kapitalismus gilt das Primat des Tauschwerts, betont Moishe Postone: »Gebrauchswerte werden nur produziert, weil und insofern sie Träger von Wert sind. Das Ziel der Produktion ist also nicht nur der Gebrauchswert, sondern es ist der Wert – genauer gesagt: der Mehrwert.«11 Waren erhalten durch ihre Preise ein allgemeines Äquivalent, ihre Wertform besteht in der Geldform. Nach Marx schreibt sich die Wertform tief in Gesellschaftsverhältnisse ein, schließlich ist sie »die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise« und somit auch »eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion«.12 Das Wertgesetz, durch das Geld zum allgemeinen Äquivalent wird, lässt Tauschwerte als quasinatürliche Eigenschaften erscheinen. Sie nehmen eine »phantasmagorische Form« an,13 die soziale Beziehungen bestimmt. Daher sieht Postone im Wert keine reine Kategorie des Marktes, sondern des Gesellschaftlichen. Während traditionelle marxistische Lektüren die Kategorie des Wertes auf die Produktionssphäre beschränken, formt Wert im Kapitalismus gesellschaftliche Verhältnisse – und wird durch diese hervorgebracht. Daher sollte nach Postone die »Marxsche Theorie […] auch als Versuch gesehen werden, die Grundlagen einer Gesellschaft zu analysieren, die durch die universelle Austauschbarkeit der Produkte charakterisiert ist«.14 Die Wertlogik ist in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zu betrachten. Denn Wert bezieht sich nicht allein auf Waren, zuvorderst weisen Menschen einander Wert zu, angefangen bei der Inwertsetzung ihrer Arbeitskraft.

In diesem Sinne deutet Marx’ Wertkritik die soziale Dimension des Begehrenswerts an, der sich als Bewertungslogik in Beziehungen einzuschreiben scheint. Darauf weist ebenso sein Konzept des Warenfetischs hin. In den kapitalistischen Konsumwelten scheinen Restbestände des Religiösen fortzuwirken, sie lassen die künstliche Gemachtheit von Wert in Vergessenheit geraten. Der sakrale Schimmer der Waren ist für den Begehrenswert bedeutend. Die moderne Marktgesellschaft bildet sich mit der aufklärerischen Säkularisierung heraus, doch sie bleibt von religiösen Vorstellungen beeinflusst, was Marx’ mit seinem Konzept des Warenfetischs ironisch kommentiert. Während sich die Bürger seiner Gegenwart rühmten, gänzlich aufgeklärt zu sein, unterstellten sie den Menschen in Kolonien religiöse, animistische Rituale. Marx greift diesen überheblichen Gestus der Europäer auf und wendet ihn gegen sie, immerhin erliegen sie im Marktsystem dem Glauben an eine Natürlichkeit der Produktionsverhältnisse. Dieser Glaube an eine lenkende Macht des Marktes lädt künstliche Wertverhältnisse religiös auf.15 Diese quasireligiöse Illusion des Warenfetischs verdeckt die Künstlichkeit von Wert und Warenform, naturalisiert das Wertgesetz und lässt vergessen, dass es sich um ein menschengemachtes Gesetz handelt. Im Zuge dessen erscheint der Preis nicht mehr als Effekt der Produktionsverhältnisse, stattdessen werden den Gütern der Status als Ware und mithin der monetäre Wert als dingliche Eigenschaften zugeschrieben.16

Wert, Warenform, Warenfetisch – Marx’ ökonomiekritische Konzepte lassen Konturen des Begehrenswerts als Wertform hervortreten. Genauso wie der Tauschwert beruht der Begehrenswert auf materieller Ausbeutung. Beim Begehrenswert von Waren ist offenkundig, dass deren Produktion auf ausgebeuteter Arbeitskraft beruht – etwa Modeartikel, die in den Maquilas in Mexiko hergestellt werden. In Bezug auf die soziale Dimension des Begehrenswerts stellt sich das schwieriger dar: Wer beutet wen durch symbolische Wertformen aus, wie schreibt sich Ungleichheit fort? Diese Fragen sollten wir im Hinterkopf behalten. Immerhin legt Marx’ Kritik der Warenform offen, wie sich ökonomische Wertverhältnisse in soziale Bewertungen übersetzen, welche über Inwertsetzungen hergestellt werden. Derweilen muss man Marx’ ökonomiekritische Perspektive entschieden erweitern, um die differentiellen Wirkungsweisen von Wert zu verstehen. In seiner Ausbeutungsanalyse berücksichtigt er die Besitzlosen, die englische Arbeiterklasse, weitgehend unbeachtet bleiben koloniale Ausbeutung und die Stellung unbezahlter Reproduktionsarbeit. In seiner Gegenwart wird der Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft und das Fortschrittsversprechen des Marktes hochgehalten, während der nationalökonomische Wohlstand auf kolonialwirtschaftlichen Erträgen beruht, die man durch todbringende Gewalt eintreibt.17 Nach Achille Mbembe bildet die koloniale Plantagenwirtschaft ab dem 17. Jahrhundert eine protoindustrielle Produktionsstätte, wobei die tödlichen Gewaltexzesse durch die Plantagenbesitzer und Sklavenhändler weit über ein wirtschaftliches Kalkül hinausgehen und rassistische Vernichtungsfantasien ausagieren.18 Diese nekropolitische Ausbeutung geht einher mit der Ausbeutung feminisierter Arbeit. In der Marktgesellschaft entsteht das Leitbild der bürgerlichen Kernfamilie, sie organisiert sich entlang der Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit.19 Die Sorge-, Erziehungs- und Haushaltsarbeit, die gemeinhin Frauen zufällt, wird entwertet, da sie nicht als Arbeit anerkannt wird. Auf diese Weise garantiert die bürgerliche Ordnung des Begehrens die Reproduktion der Arbeitskraft bis in die Gegenwart. Obwohl das Ernährermodell kaum mehr gültig ist, leisten Frauen weiterhin den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit, und zwar zusätzlich zu ihrer Lohnarbeit.

Die Begehrensordnung der bürgerlichen Familie ist als »gesellschaftliche Beziehung«20 geregelt, die sich an der Wertlogik der Waren ausrichtet. Um dies besser zu begreifen, bietet sich Bini Adamczaks Begriff der Beziehungsweise an, den sie an Marx’ Konzept der Produktionsweise anlehnt. Anders als bei der Produktionsweise, übersteigt der Begriff der Beziehungsweise »die abgegrenzte Sphäre des Ökonomischen«, deshalb kann er »die Trennungen reflektieren, die genealogisch in der Konstruktion der Ökonomie als eigenständiger Disziplin und Sphäre anwesend sind«.21 Im Kern kapitalistischen Wirtschaftens steht die Warenbeziehung, durch die Menschen ihre Arbeitskraft als Ware veräußern müssen.22 Da sie »die komplexen Beziehungsweisen des Geldes, des Kredits, des Kapitals voraussetzt und in sich aufnimmt, erscheint« sie als eine Beziehungsweise, die »Menschen verbindet, indem sie sie trennt«.23 Immerhin »verknüpft sie die Bewohnerinnen der Erde in globalem Maßstab und setzt sie in ein Verhältnis allseitiger Abhängigkeit«, durch globale Waren- und Arbeitsketten, etwa »von Nahrungsmittel[n], Kleidungsstücken und Pflegekraft über Wasserversorgung, Elektrizität und Schienennetz bis zu Smartphone, Mailserver und Onlinedienst«.24 Trotz dieser allumfassenden Abhängigkeit »stellt die Warenbeziehung« diese »nicht in Form einer kollektiven Aushandlung über die arbeitsteilige Befriedigung der Bedürfnisse her, sondern in Form eines verdinglichten Verhältnisses, nicht in Form eines gemeinsamen Miteinanders, sondern in Form einer individuellen Unabhängigkeit voneinander. Warenbeziehung erschafft Warenmonaden.«25 Dergestalt »verwandelt sich das gemeinschaftliche Miteinander […] in rivalisierenden Kampf gegeneinander«.26 Im Blick auf Begehren und Begehrenswert zeigt sich Verknappung und Vereinzelung bei gleichzeitiger Abhängigkeit zu konkurrierenden Körpern in einer künstlich erzeugten Mangelökonomie, die Menschen soziosomatisch regiert und ihr Begehren reguliert:27 Wie die Lohnarbeit, die »auf der Konkurrenz der Arbeiterinnen unter sich« gründet, beruht die »Liebesarbeit« auf Wettstreit.28 Denn der »Liebesmarkt – nur paradigmatisch verräumlicht in Club, Kneipe, Netz, Party – basiert auf der Konkurrenz der Liebenden zueinander, wie jeder andere Markt einzig auf der Konstruktion von Knappheit«.29 Dieser »spürbare Mangel […] ist aufwendig installiert«, und zwar in »monetärer Oekonomie durch die Trennung von Produktionsmitteln und Produzentinnen, durch die Institution des Privateigentums« und in »sexueller Oekonomie durch die Institutionen Heterosexualität, Monogamie, Individu(alis)ierung/Singlierung usw.«.30 Adamczaks Analyse der kapitalistischen Begehrensökonomie, in der die monogame Ordnung der romantischen Zweierbeziehung Lüste verknappt und Körper warenlogisch in begehrenswert und nichtbegehrenswert teilt, deutet auf die Logik des Begehrenswerts hin, der allmählich Gestalt annimmt. Er beschreibt die Mehrwertlogik des Kapitals in Begriffen des Begehrens. Während das Wertgesetz eine allgemeine Vergleichbarkeit schafft, hebt der Begehrenswert einer Ware deren scheinbare Singularität hervor, indem er diese semiotisch auflädt. Er bemächtigt sich der Konsumierenden mithilfe der Verheißung, dass die Anziehungskraft der Ware auf sie übergehe. Da die Wertform Beziehungen bedingt, schreiben sich Subjekte einander Begehrenswert zu. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich drei Formen ab: erstens der Begehrenswert einer Ware, zweitens der Begehrenswert, der von der Ware auf die Käufer*in übergeht, drittens der Begehrenswert, den Menschen einander zuweisen.

Während der Wert einer Ware auf Makroebene den Preis bestimmt, prägt ihr Begehrenswert auf Mikroebene das feinmaschige Netz von Geschmacksurteilen. Er fasst folglich das Verhältnis zwischen Ware und Mensch. Seine Wirkung besteht darin, Waren begehrenswert erscheinen zu lassen – und ebenso ihre Konsument*innen. Beispielsweise fungiert ein berühmtes Gemälde in Privatbesitz als monetäres Spekulationsobjekt und als ästhetisches Kontemplationsobjekt. Sein ästhetischer Wert erhöht den Status der Eigentümerin. Ergo macht Begehrenswert Waren wie Menschen begehrenswert. Insofern entlehnt sich die Kategorie des Begehrenswerts dem Tauschwert, da er sich an keinen ursprünglichen Gebrauch rückkoppeln lässt, genau wie der Tauschwert, der sich im Gegensatz zum Gebrauchswert allein aus dem Handel mit Waren ergibt. Doch während der Tauschwert einer Ware monetär bezifferbar ist, bildet der Begehrenswert eine Wertkategorie, in der sich pekuniäre und affektive Wertigkeiten verschränken. Mithin umfasst er dingliche Waren, soziale Beziehungen und deren Wechselwirkungen. Somit gehen die Wirkungsweisen des Begehrenswerts über die Warenwelt hinaus und bedingen Beziehungen zwischen Menschen, die sich vermarkten und ihren Mitmenschen Wert zu- oder absprechen. In diesem Sinne gehen Sein und Haben ineinander auf: Wer begehrenswert wirkt, besitzt Begehrenswert, weil er ihn von anderen zugewiesen bekommt. Indem sich Menschen Begehrenswert beimessen, fungiert er als sozialer Bewertungsmaßstab. Diese Einschätzungen der Einzelnen richten sich nach ästhetischen und affektiven Vorgaben, anhand