Beinschuss - Hermann Grabher - E-Book

Beinschuss E-Book

Hermann Grabher

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Beschreibung

Eine Familie - Mutter, Vater, Tochter - flieht während den Kriegswirren im Jugoslawien-Krieg 1991 aus Bosnien, um das nackte Leben zu retten und findet zufällig Zuflucht in der Schweiz. Die Migrantenfamilie kann sich durch Fleiss und Disziplin einen soliden Lebensstandard im neutralen Land erarbeiten. Dennoch haben sie Sehnsucht nach ihrer alten Heimat, die sie aus der Ferne in überhöht verklärter Weise verehren. Dies nicht zuletzt, weil ihnen die dortige Kultur und die muslimische Gemeinschaft, so wie sie im Heimatland gelebt wird, in ihrem westeuropäischen Umfeld fehlen. Als die Tochter nach ihrer Ausbildung versucht in eigenbestimmender Weise ihren persönlichen Weg zu gehen, reagieren die Eltern panikartig. Sie glauben, dass es ihre heilige Pflicht sei, für die Tochter Fatima einen Ehemann aus dem eigenen Kulturkreis suchen zu müssen. Damit beginnen Turbulenzen mannigfaltiger Art. Wir findet Einblick in das reale Leben von Menschen, die infolge Migration ihren eigenen neuen Weg finden müssen. Während sich die erste Generation nur schwer von den einstigen Traditionen des Heimatlandes lösen kann, findet die zweite Generation nach Wirrungen und Prüfungen den Sinn für die Realität. Die dritte Generation findet Erfüllung im Sport.

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Seitenzahl: 202

Veröffentlichungsjahr: 2025

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www.tredition.de

Hermann Grabher

BEINSCHUSS

Roman

© Copyright by HERMANN GRABHER

Buchsatz von tredition, erstellt mit tredition Designer

ISBN Softcover

978-3-384-49483-4

ISBN Hardcoper

978-3-384-49484-1

ISBN E-Book

978-3-384-49485-8

Druck und Distribution im Auftrag des Autors durch:

tredition GmbH, Halenreie 40-44,

D-22395 Hamburg

Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgt im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung «Impressumservice»,

Halenreihe 40-44, D-22359 Hamburg / Deutschland

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

1. Uns wurde ein Kind geboren

2. Attentat in New York

3. Die junge Familie erhält den Schweizer Pass

4. Eine arrangierte Ehe

5. Ein Todesfall in der Familie

6. Beerdigung in der Heimat

7. Geheimnisse und Indiskretionen

8. Militärdienst

9. Das Leben ist kein Kinderspiel

10. Auf dem Weg zum Berufssoldaten

11. Hana hat eine Idee

12. Brevetierung

13. Wie das Leben so spielt

14. Eine schreckliche Erkenntnis

15. Das Leben muss weitergehen

16. Schockierende Nachricht

17. Fragen über Fragen

18. Mutter und Sohn und Vater

19. Eine persönliche Begegnung

20. Positionen klären sich

21. Begegnungen

22. Eine positive Optik

23. Auszeichnung, Hammerschlag, Zukunftsvision

24. Pokerspiel

25. Treuesiegel für die Ewigkeit

26. Fussball, Fussball, Fussball

27. Die gesteckten Ziele erreicht

Beinschuss

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Titelblatt

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1. Uns wurde ein Kind geboren

27. Die gesteckten Ziele erreicht

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Uns wurde ein Kind geboren

Das Kind hatte vor kurzem zum ersten Mal das Licht der Welt gesehen, den ersten Schrei seines Lebens ausgestossen, als sein Vater einen ersten Blick auf seinen Nachwuchs warf und in der Folge voller Entsetzen die Kindsmutter fragte, ob er tatsächlich sein Erzeuger sei. Die Frau – erschöpft wie sie war – zuckte die Achsel und stellte eine Gegenfrage: «Wie kommst du dazu zu bezweifeln, dass du nicht sein Vater bist?»

«Die krummen Beine dieses Kindes, sie sind entsetzlich! – Kannst du dich an den Anfang unserer Ehe erinnern, als du meine langen, geraden Beine bewundert hast?»

Die Mutter, in den Kissen des Bettes liegend, liess sich durch die eigenartigen Fragen ihres Ehegatten nicht aus der Ruhe bringen. In diesem ersten Ehejahr hatte sie seine eigentümlichen Marotten sattsam kennengelernt Andererseits war sie selbstbewusst genug, sich durchzusetzen, was auch immer geschah.

«Alle Babys haben nach der Geburt krumme Beine. Dies ist eine natürliche Folge der verkrümmten Position während der neun Monate im Bauch der Frau!»

Dem bärtigen Mann schienen Nebensächlichkeiten wichtiger zu sein als Hauptsachen. Da war kaum eine Spur von Freude zu erkennen, dass eben ein gesundes Kind zur Welt gekommen war und erst noch ein männlicher Nachkomme. «Mit diesen Beinen wird er niemals ein Fussballer werden! Er wird für sein Leben verdammt sein, als Buchhalter auf einem Bürostuhl die Zeit tot zu schlagen, um dabei dem Allmächtigen die Zeit zu stehlen!»

Fatima, seine Frau, war sich sicher, dass diese Aussage keinesfalls als Scherz gedacht, sondern im Gegenteil bitterernst gemeint war. Ihr Gatte hatte ungefähr zwei Leidenschaften. Fussball war eine davon.

Die Tür ging auf und die Pflegerin streckte den Kopf ins Zimmer der Wöchnerin. «Wünscht jemand Kaffee, oder Tee? Herr Durstević, auch Sie sind zu einer Erfrischung eingeladen. Wir in unserem Haus betrachten den Vater als ebenso wichtig und willkommen wie die Mutter! – Wenn ein Kind zur Welt kommt, waren schliesslich zuvor stets zwei Menschen zu Werk!»

Die Frau blieb stumm, während der Mann die Hand hob. «Für mich ein Bier, bitte!» Durstević hatte immer Durst. Dies konnte jeder bestätigen, der ihn kannte.

«Bier? – Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen! Das haben wir nicht!»

Der Mann verblieb weiter in seinem humorlosen Modus. «Tee?» Er schüttelte sich. «Ich bin ja nicht krank, nur weil ich Vater wurde! – Okay, bringen Sie mir bitte einen Kaffee, ohne Milch und ohne Zucker!».

Seine Frau dachte: Immerhin hat er bitte gesagt. Ein minimaler Erfolg meiner Erziehung.

Während die Pflegerin die Tür zum Gang wieder schloss und verschwand, wandte sich der Mann erneut seiner Frau zu: «Das Kind – welchen Namen schlägst du vor?»

Die Frau rollte die Augen.

Die Wahrheit war, dass der Junge sie überrascht hatte. Ausnahmslos alle hatten vorausgesagt, dass es ein Mädchen würde, selbst die Ärztin hatte sich diesbezüglich aufs Glatteis hinausbegeben. Auf einen Untersuch mit Ultraschall hatten die Eltern bewusst verzichtet. Fatimas Mutter Hana, die Grossmutter des Neugeborenen, hatte dringend davor gewarnt, weil die Strahlen das Kind vielleicht schädigen würden. Ein modernes Teufelsding eben, wie die Frau befunden hatte. Dies habe sie gelesen, sagte sie.

Wäre es wie erwartet ein Mädchen geworden, hätte sie drei Namen parat gehabt. In jenem Fall, der jetzt nicht war, hätten sie sich auf einen einigen müssen, was allerdings auch nicht ganz einfach gewesen wäre. Denn jeder dieser drei Namen vereinigte einzigartige Voraussagen auf sich. Es wäre problematisch geworden, sich zu einigen! Der Mann und die Frau waren sich in den meisten Fällen uneinig, wenn es um Entscheidungen ging.

Fatima sagte: «Lasst uns nicht lange weiter diskutieren darüber. Nur eines ist mir wichtig: Es soll keiner dieser schrecklichen Schweizer Namen sein! – Urs! Beat! Ruedi! – Nein danke! Mein Vorschlag lautet: Der Junge soll Dragan heissen, wie mein Vater! Ich möchte, dass wir auch in dieser Beziehung weiterhin mit unserer Tradition eng verbunden bleiben!»

Die Worte der Mutter klangen in diesem Moment bestimmt. Sie strich sich die feuchte Locke aus der Stirn und ein Lächeln huschte nun sogar über ihr Gesicht «Lassen wir unser Bosnien hochleben!»

Klang ein Streifschuss von Spott aus ihrer Betonung?

Zoran Durstević lächelte nun ebenfalls, nickte zustimmend. Er erkannte, dass sein Drill in der Zeit seit der Hochzeit vor einem Jahr offensichtlich erste Früchte getragen hatte. Wobei man das nicht unbedingt als Drill bezeichnen konnte, was er mit ihr gemacht hatte. Man konnte es eher als konsequente Überzeugungsarbeit bezeichnen! Seine Meinung war: Auch wenn man in einem Gastland lebt, kann man sich doch weiterhin mit seinen alten Wurzeln verbunden fühlen!

Sowohl Zoran wie auch Fatima hatten die Hälfte ihres Lebens in der Schweiz verbracht, waren hier entscheidende Jahre zur Schule gegangen und das Schweizerdeutsche, die Sprache der Eidgenossen, kam inzwischen weit besser über ihre Lippen als die Sprache der Eltern – Bosnisch, genauer gesagt Stokavisch.

Zoran wie auch Fatima fühlten sich nicht besonders stark von typisch schweizerischen Eigenheiten angezogen. Muslim zu sein, darauf sei er stolz, sagte er. Dabei ging es ihm nicht mal so sehr um die Religion als solche, sondern viel mehr um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, der er sich aus Tradition verbunden fühlte. So wie man eben auch treuer Anhänger eines Fussballvereins ist und diese Treue niemals auf den Prüfstand kommen lässt, was auch immer geschehen würde.

Trotz dieses Verbindenden war Fatima anders gepolt als Zoran: Bosnien als Herkunftsland ihrer Familie und die muslimische Gemeinschaft waren ihr wichtig, nicht aber die Religion, der Islam. Diese ihre Einstellung war keine Koketterie der jungen Frau. Sie vertrat die Meinung, dass jede Religion, egal welche, zu absolut sei, zu besitzergreifend, somit freiheitsraubend. Damit werde eher Unfrieden erzeugt statt Frieden gestiftet. Sie bezeichnete sich ausdrücklich als antireligiös, dies zum Leidwesen ihrer Eltern. Fatimas Eltern fanden das ausgeprägte Selbstbewusstsein ihrer Tochter grundsätzlich nicht falsch. Hinsichtlich des Glaubens aber war ihr Kind unglücklicherweise vom rechten Weg abgekommen. Sie baten Allah täglich, er möge helfen, dass Fatima wieder zurück zur Wahrheit finde, um dereinst ins Paradies eingehen zu können. Dabei fühlten sich die Alten zumindest mitschuldig an der religiösen Fehlentwicklung ihrer Tochter. Dies war nun wohl der Preis, den sie zu zahlen hätten, weil sie ihrer Heimat – Bosnien – einst den Rücken gekehrt hatten. Allerdings führten sie als schuldmindernd ins Feld – und darauf legten sie Wert, dass der damalige Entscheid nicht freiwillig und ohnehin nicht leichtfertig getroffen worden war, sondern in grosser Not gefällt werden musste. Um das eigene Leben und das Leben der ganzen Familie zu retten.

Auch Ehemann Zoran gefiel die religiöse Ausrichtung seiner Frau nicht. Er bezeichnete Fatimas Haltung nicht als antireligiös, sondern abschätzig als gottlos. Und diesem Satz hängte er gerne noch das Wort hirnlos an. Doch er fand es immerhin besser gottlos zu sein als christlich. Seine diesbezügliche Meinung war dezidiert. Sie lautete, dass jene andere Religion grundsätzlich unehrlich sei. Viele in seiner Umgebung verstanden nicht, was er damit meinte. Denn er drückte sich eher ausweichend aus. Nur einmal erklärte er, was es in seinen Augen hiess: Die Christen würden sich als Monotheisten bezeichnen, aber drei Gottheiten anbeten, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist. Ob dies konsequent sei, hatte er damals gefragt, logisch sei es ja wohl ohnehin nicht. In ihrer Religion werde der Prophet Mohammed auch hoch verehrt. Deswegen sei er aber noch lange keine Gottheit!

Grundsätzlich gingen die Leute seines Bekanntenkreises nicht davon aus, dass Zoran in theologischen Fragen eine grosse Nummer sei, vielleicht sogar eher das Gegenteil. Sie vertraten die Ansicht, dass er auf diesem Gebiet ein zu Fanatismus neigender Heisssporn sei, vielleicht gar ein Wirrkopf, der sich von irgendwem indoktrinieren lasse. Die Frage lautete: Steht hinter ihm ein Einflüsterer? Und wenn ja, wer ist es? Wo ist er? Und mit welchem Zweck? Dies fragte sich insbesondere auch Fatima. Zorans Hirn war auch für sie weitgehend unzugänglich.

Zorans Freunde waren sich einig, dass es besser sei, das Thema Religion in seiner Anwesenheit nicht anzuschneiden. Der Mann konnte sich in eine zügellose Wut reden, sogar auch mal handgreiflich werden, wenn ihm der Gegenwind zu steif ins Gesicht wehte.

Die Mitmenschen seiner Umgebung waren seine Fussballkollegen einerseits, aber auch und vor allem seine Arbeitskollegen, Angestellte der Schweizer Bundesbahnen. Seit mehr als zwei Jahren übte Durstević diese Tätigkeit aus: Zur Nachtzeit, wenn normale Bürger schliefen, reinigten er und seine Kumpel, Männer wie Frauen, die Zugwaggons des Bahnunternehmens, aussen und innen. Zorans Tätigkeit war die Bedienung der Waschanlage. Rotierende Bürsten, die entlang der Waggons in Verbindung mit Wasser arbeiteten, sorgten auf der Aussenhülle für Sauberkeit. Die Bahn versuchte den Mitarbeitern dieser Abteilung das Selbstverständnis zu vermitteln, dass sie für die Visitenkarte des Unternehmens zuständig seien, also wichtig. Die Arbeit war hart, insbesondere im Winter, aber gut bezahlt! Zoran galt bei seinen Vorgesetzten als zuverlässig. Voraussetzung für diesen Job war, dass man mit eher wenig Schlaf zurechtkommen konnte. Dafür genoss die Nachtcrew das Privileg, einen grossen Teil des Tages für private Tätigkeiten verfügbar zu haben. Einst hatte Durstević eine Lehre als Metzger absolviert. Doch dann hatte er diesen Beruf an den Nagel gehängt, nicht weil er ihn nicht mehr mochte, im Gegenteil. Aber bei seiner jetzigen Tätigkeit generierte er ein höheres Salär.

Fatimas Handy brummte. Ihre Mutter Hana meldete den Besuch in der Klinik an. Für Zoran war dies der richtige Moment das Feld zu räumen. Er konnte seine Schwiegermutter Hana nicht besonders gut leiden. Sie hatte für seinen Begriff weit zu offene Augen und Ohren und vor allem eine lose Zunge, wie er befand. Ausserdem eine zum Überborden neigende Fantasie! Mit ihrer Dominanz, man konnte es – aus seiner Sicht – wohl schon Herrschsucht nennen, eckte sie ab und zu an, nicht nur bei ihrem Schwiegersohn.

Zoran war kein Mensch mit der Neigung, sich über alles und jegliches grosse Gedanken zu machen. Doch jetzt ahnte er, dass mit der Existenz eines neuen Menschen eine Familie entstanden war, wodurch sich zwangsweise einiges ändern würde. Einstweilen würde Fatima ihren Mutterschaftsurlaub geniessen können, Ferien, wie er es nannte. Doch wie würden sie es später einrichten, wenn die Frau wieder ihrer regulären Arbeit nachgehen müsste? Dass die Schwiegermutter einspringen würde für die Betreuung des Kindes, war ihm ein Graus, doch wahrscheinlich würde dies unausweichlich sein, vielleicht die einzige Lösung für dieses Problem.

«Was wirst du heute zu Mittag kochen, Zoran? Es hat noch Resten im Kühlschrank, die du aufwärmen kannst!»

Als ob er nicht würde für sich selbst schauen können! Ihre Fürsorge hasste er, sie ging ihm auf die Nerven.

«Ich werde heute zu McDonald’s gehen. Ausnahmsweise!» Er grinste und sein Gesichtsausdruck nahm einen leicht verwegenen Ausdruck an, so als hätte er eben eine geplante Untat verraten. »Am Abend werde ich nochmals vorbeikommen, bevor ich zum Dienst einrücken werde! Bis später!»

Er trank den inzwischen kalt gewordenen Kaffee aus, hob flüchtig seine Hand in Richtung Fatima und drückte sich zum Zimmer hinaus, ohne nochmals einen Blick auf das schlafende Kind zu werfen. Er freute sich schon jetzt auf die Arbeit in der kommenden Nacht, die ihn ablenken würde. Er musste sich wohl erst in die Rolle des Vaters einleben, dachte er, sich an die neuen veränderten Umstände gewöhnen.

2

Attentat in New York

Zoran Durstević legte sich daheim etwas aufs Ohr. Dies gestand er sich regelmässig nach dem Dienst zu. Auch ein Nachtarbeiter braucht seine Schlafstunden! Doch schon nach kurzer Zeit wachte er wieder auf. Die Geburt seines Kindes - seines Sohnes - wühlte ihn nun doch etwas auf, obwohl er den Geburtsvorgangs nicht miterlebt hatte. Er musste sich eingestehen, diesbezüglich eine Memme gewesen zu sein. Er hatte sich während ihrer schweren Stunden vom Spital ferngehalten mit der Begründung, er könne kein Blut sehen, keinen Schmerz ertragen. Er hatte sich eingeredet, dass Fatima damit wohl ganz gut allein klarkommen würde Und dies tat sie auch. Doch angesichts seines gelernten Berufs, war dies eine fade Ausrede.

Zoran knipste aus Langeweile den Fernseher an, dies noch bevor er ausrückte, sich den geplanten Hamburger zu genehmigen. Was er in diesem Moment zu Gesicht bekam, war der helle Wahnsinn: Ein Verkehrsflugzeug war in einen der zwei Wolkenkratzer des World Trade Centers in New York geflogen, und dieses Gebäude stand nun in Flammen. Eine Rauchfahne hatte sich über der Stadt gebildet. Dem nicht genug: Ein weiteres Verkehrsflugzeug prallte nun in den anderen Turm und die Welt war dabei, dem makaberen Schauspiel live via Television beizuwohnen. Nach einiger Zeit stürzten die Hochhäuser in sich zusammen und begruben anscheinend viele Menschen unter sich. Der Kommentator sprach davon, dass dies kein normales Unglück sei, sondern Terrorismus. Dahinter würde eine militante Vereinigung von Muslimen stecken mit ihrem Anführer Osama Bin Laden. Die Organisation nenne sich Al-Qaida. Ein Bekennerschreiben sei aufgetaucht.

Zoran Durstević war fasziniert. Er spürte mit niemandem Mitleid. Im Gegenteil: Er war angetan von der Idee, dass mit dieser Tat offensichtlich endlich jemand im Begriff war ein starkes Zeichen zu setzen gegen die allgemeine Unterwerfung vieler Muslime in der weiten Welt, einer Art Islamophobie. Die Menschen mussten aufgerüttelt werden! Sie mussten auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam gemacht werden, die insbesondere in Ländern des Nahen Osten passierten, aber auch anderswo, in Asien, in Afrika, stets mit tatkräftiger Unterstützung der Amerikaner!

Diese Amerikaner! Ihnen grollte Zoran besonders, weil sie die Welt beherrschen würden, wie er meinte. Weil sie insbesondere auch alles, was einen muslimischen Anstrich hatte, niederdrückten. Kam ihm ein Witz in den Sinn, der ihm einst sein Grossvater mütterlicherseits erzählt hatte, als er ein Kind war. Dieser Grossvater stammte ursprünglich aus Damaskus, war also Syrer, amtete als Imam in Bosnien. Der Witz lautete wie folgt: Ein alter Araber wohnte schon seit Jahrzehnten in einem Stadtteil von New York. Finanziell kam er nur schlecht über die Runden. Also entschloss er sich, Kartoffeln im Gärtchen zur Strasse zu pflanzen. Rasch merkte der gebrechliche Mann, dass er zu schwach war, um die Erde umzugraben. Also fragte er seinen Sohn, der in Kairo wohnte, was er ihm in dieser Situation rate. Die Antwort kam schnell: «Vater, rühre auf keinen Fall etwas im Garten an. Denn dort habe ich «die Sachen» versteckt». Wenige Stunden später herrschte Aufruhr im Quartier. Die Strasse, in welcher der alte Araber wohnte, wurde abgesperrt. Die US-Armee, die Marine, das FBI und die CIA umstellten das Haus des Arabers und eine Horde Uniformierter pflügte den Garten gründlich um, jedoch ohne etwas zu finden. Noch am selben Tag meldete sich wieder der Sohn aus Kairo: «Ich nehme an, dass der Garten nun umgegraben ist, bereit um die Kartoffeln zu pflanzen!»

Zoran konzentrierte sich auf den Bildschirm. Die nun folgenden heftigen Anklagen gegen Terroristen des Kalibers von Osama Bin Laden, welche von unterschiedlichen Kommentatoren und Politikern mit theatralischem Pathos vorgetragenen wurden, empfand Zoran als lächerlich, eigentlich blanker Hohn. Kein einziger Mensch sprach von der eigentlichen Ursache, die eine Verzweiflungstat dieses Kalibers irgendwann auslösen musste. Weshalb liess man Israel freie Hand, den Palästinensern das Land zu stehlen und sie fortwährend zu knebeln?!

Auch Zoran persönlich sah sich als Opfer dieser weltweiten Hexenjagd auf ihresgleichen. Wurden doch er und seine Familie 1992 aus Bosnien vertrieben, so wie es tausenden anderen Familien auch ergangen war. Er war damals ein Kind. Aber auch ein Kind kann die politischen Zusammenhänge verstehen, wenn man es ihm anschaulich erklärt. Und auch ein Kind kann insbesondere Recht und Unrecht unterscheiden. Ein Kind kann Schmerz und Trauer empfinden, wenn die eigene Heimat, die eigene Kultur aufgegeben werden muss. Dies aus Gründen, für die es und seine Familie keine Schuld trägt, es sei denn, sie gehörten zufällig einer missliebigen, vermeintlich falschen Volksgruppe an. Einst hatten Zorans Eltern ihm diese traurige Wahrheit vermittelt und er hatte sie verinnerlicht. Sie bedrückte ihn fortwährend. Mehr noch, vor allem machte sie ihn wütend.

Nun ja, damals hatten sie – er und seine Familie - trotz allem Glück im Unglück gehabt, indem sie zufällig in ein freies Land gespült worden waren, während zur gleichen Zeit in Bosnien tausende unschuldige Menschen - Muslime, auch Kinder - massakriert wurden. Und Blauhelme hielten Abstand, schauten tatenlos zu.

Doch jetzt war er es, der zuschaute, der mit einer nicht geringen Portion Genugtuung registrierte, wie der Pendel eindrücklich zurückschwang. Dass auch dieses Mal unschuldige Opfer zu Tode kamen, empfand Zoran als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Sein Herz war kalt.

Zoran ass im McDonald’s seinen Hamburger und trank ein grosses Bier, was ihm schon seit Stunden in Appetit anregenden Farben vorgeschwebt war. Dass er als Moslem Alkohol trank und Schweinefleisch ass, gestand er sich selbst freizügig zu. Halal? Ramadan Fasten? Beiwerk ohne Bedeutung! Als Vertriebener in der Diaspora glaubte er dieses Privileg beanspruchen zu dürfen. Kam ihm erneut ein Witz seines Grossvaters mütterlicherseits, dem Imam, jenem aus Damaskus, in den Sinn: Zwei christliche Pilger schleppten sich durch die Wüste, waren nahe am Verdursten und Verhungern, als sie in der Ferne eine Moschee erblickten. Der eine Pilger sagte zu seinem Kollegen: Wir dürfen uns nicht als Christen zu erkennen geben. Es könnte sein, dass sie uns dann wegschicken. Ich werde mich Mohammed nennen. Der andere meinte, dass ihm sein Gewissen verbiete, sich derart zu verstellen. Bei der Moschee angekommen, empfing sie der Imam freundlich, fragte, wie sie heissen. Der eine antwortete, dass er Michael heisst, der andere nannte sich Mohammed. Nun wurde Michael fürstlich verpflegt, während der Imam zum anderen sagte: «Du musst warten bis zum Abend, du weisst, wir haben jetzt Ramadan!»

Neben Zoran verdrückte eine zufällig anwesende Arbeitskollegin ihren Imbiss im Schnellrestaurant. Das Gespräch zwischen Zoran und dieser Frau drehte sich nicht um den heute verübten Terroranschlag in New York, nicht um die Geburt seines ersten Kindes in der vergangenen Nacht, nicht um die offensichtlich gravierenden Probleme der Frau mit ihren Teenagerkindern, so schrecklich wie sie angeblich auch waren - doch waren wir besser? - sondern es ging vorwiegend um den verweigerten Lohnaufschlag durch die Geschäftsleitung der Bundesbahnen. Zorans Kollegin meinte, dass man diesen Halunken mit den grossen Köpfen mal eine tüchtig auf die Birne geben sollte. «Am besten einen Monat einsperren bei Wasser und Brot! Keine Luxusvilla mehr! Keinen Mercedes mehr!».

Zoran grinste hintergründig. Ihm war bewusst, dass er möglicherweise gewisse Untugenden besass, aber Neid auf andere, das war ihm fremd. Andererseits war es ihm nicht unangenehm, wenn andere auf ihn neidisch waren. Die Arbeitskollegin konnte sich unmittelbar keinen Reim auf seinen eigenartigen Gesichtsausdruck machen. Ihr war offensichtlich nicht bekannt, dass auch Zoran einen Mercedes sein Eigen nannte, S-Klasse. Es handelte sich zwar um ein älteres Modell, mehr als zehnjährig, mit dreihunderttausend Kilometern auf dem Tacho, aber hingebungsvoll gepflegt, nachtschwarz, Hochglanz poliert, gediegen anzusehen. Dieses Auto war für ihn insofern wichtig, weil er beabsichtigte in Zukunft mindestens jährlich einmal nach Bosnien zu fahren, um seine Verwandtschaft zu besuchen. Dies mit dem hintergründigen Vorsatz, mit seiner Luxuskutsche seine zahlreichen Cousins zu beeindrucken. Jetzt, da sich die politische Situation im Land zunehmend entspannte, glaubte er, dies in absehbarer Zukunft wagen zu können.

Wieder zuhause versuchte Zoran eine Geburtsanzeige zu kreieren, die er an die Verwandten versenden wollte. Seine Idee des Textes lautete: ZORAN IST VATER GEWORDEN. Leider fehlte in Momenten wie diesen Fatima sehr. Sie hätte ihn mit Sicherheit auf seinen Denkfehler aufmerksam gemacht, hätte wohl ihre eigene Idee eines geeigneteren Textes eingebracht, nämlich: Fatima und Zoran haben heute am 11. September 2001 Nachwuchs bekommen. Der Bub heisst Dragan. Die Eltern und das Kind sind wohlauf!

Noch vor seinem Arbeitsantritt in der Nacht schaute Zoran im Kantonsspital vorbei. Fatima und Dragan waren wohlauf. Die junge Mutter steckte eben im Prozess, dem Kleinen die Brust zu geben, ein für sie neuer Vorgang, mit dem sie erst vertraut werden musste. Jetzt fand Zoran die Beinchen von Dragan etwas weniger krumm als noch am Morgen. Wer weiss, vielleicht würde aus dem Jungen doch noch ein Fussballer werden! Nun ja, über Fussball konnte sich Zoran auch noch heftig ereifern. Auf diesem Gebiet sah er sich als Experte, wenngleich er persönlich nur in einer niederen Amateurliga aktiv mitkickte. Seiner Meinung nach würden Amateurfussballer zu wenig ernst genommen. Denn auch sie trainierten hingebungsvoll, auch sie versuchten zusammen mit dem Trainer seriöse Strategien zu entwickeln, um zu gewinnen, nicht anders als die Profis.

3

Die junge Familie erhält den Schweizer Pass

Es ging gegen Weihnachten zu, ein Fest, das sie beide - Zoran und Fatima - als Nichtchristen aktiv ignorierten. Gerne akzeptierten sie andererseits die Gratifikationen ihrer Arbeitgeber. Von einem Teil davon kauften sie sich ausserordentliche Gadgets. Fatima leistete sich ein neues Handy, Zoran ein neues Autoradio, weil das alte im Mercedes das Zeitliche gesegnet hatte. Fatima erklärte, dass ihr Geschenk an sich selbst keines zu Weihnachten sei, sondern eines zu ihrem 23. Geburtstag Ende November. Zoran war fünf Wochen zuvor ebenfalls dreiundzwanzig geworden.