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Im neuen Buch von HERMANN GRABHER mit dem Titel DIE ZOFE DES HERRN SALOMON hat der Autor reale Zeitgeschichte der Jahre 2014 bis 2020 in einen Roman voller Dramatik und Spannung verwoben. Der Generationenwechsel in einer Schweizer Unternehmerfamilie vollzieht sich mit Nebengeräuschen. Er gelingt schlussendlich, weil taffe Frauen resolut das Ruder in die Hand nehmen. Am Ende spielt die Corona-Pandemie eine entscheidende Rolle.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Hermann Grabher
Die Zofe des Herrn Salomon
Roman
© 2021 Hermann Grabher
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-28952-9
Hardcover: 978-3-347-28953-6
e-Book: 978-3-347-28954-3
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Samstag, 8. März 2014 Das erste Kapitel
Vom Ende des Anfangs
Ms. Salomé Salomon (65) war müde, abgespannt und übel gelaunt, als sie die Kabine der Businessclass der Boeing 777 der Malaysia Airline mit Flugnummer MH 370 betrat. Abflüge um Mitternacht oder gar noch später betrachtete die Dame in jedem Fall als eine Zumutung, eigentlich noch eher eine Anmassung, mit einem Wort ein Ärgernis. Aber Ms. Salomon war erfahren genug zu wissen, dass es manchmal unumgänglich ist solche Flüge zu buchen. An diesem Tag litt Madame zudem unter Migräne, einer Unpässlichkeit, die sie üblicherweise kaum kannte. Ms. Salomon war am Vortag von Zürich nach Kuala Lumpur gereist, hatte mit seiner Exzellenz Sheikh Muszaphar Sukor eine Geschäftsunterredung wegen des Kaufs von medizinischen Testgeräten aus der Produktionspalette der Firma, die von ihr und ihrem Gatten betrieben wurde. Das Ziel dieses Fluges war Peking.
Ms. Salomon wies das Glas Champagner der Flugbegleiterin zurück und bat diese, ihr sofort nach Abschluss des Steigfluges das Bett zurecht zu machen. Die Dame erklärte ausserdem, dass sie auf jegliches Essen verzichten wolle.
Zwischenzeitlich war man schon im neuen Tag angelangt, dem 8. März 2014.Der Jet hob um 00.42 Uhr Ortszeit ab mit Kurs Nord-Ost. Das Flugzeug war mit 227 Passagieren besetzt. Das Abfertigungsprozedere war normal verlaufen, genauso wie der Start der Maschine. Um 01.07 Uhr gab der Kapitän der Maschine, Zaharie Ahmad Shah (52), ordnungsgemäss die ACARS Meldung an die Flugkontrolle durch. Die für 01.37 Uhr vorgesehene Meldung an die Flugsicherung erfolgte nicht. Hingegen waren einige Meldungen über sehr unterschiedliche Flughöhen durchgekommen, die keinen Sinn ergaben, zumindest ungewöhnlich waren. Irrtümliche Meldungen dieser Art kommen selten vor, man misst ihnen nicht sehr grosse Bedeutung bei, weil sie in den weitaus meisten Fällen auf Fehlmessungen beruhen. Das Ausbleiben der 01.37-Uhr-Meldung von Flug MH 370, einem verpflichtenden Signal, verursachte in der Flugüberwachung dann allerdings weit grössere Beachtung. Noch grösser wurde die Aufregung, als Flug MH 370 nirgendwo mehr geortet werden konnte und insbesondere, weil alle weiteren Rückmeldungen von allen im Bereich befindlichen Peilstationen ausblieben. Hierfür gab es nur eine Erklärung: Entweder war das Flugzeug abgestürzt oder aber es wurden die Transponder missbräuchlich ausser Funktion gesetzt. Möglich waren auch technische Probleme, wodurch die Datenübermittlungen in der Folge nicht mehr funktionierten.
Am Morgen dieses Tages – Stunden später, gab Malaysia Airlines bekannt, dass die Boeing 777 des Fluges MH 370 vermisst sei und niemand eine Ahnung habe, ob ein Unglück geschehen sei. Allerdings müsse man tragischerweise von einem Absturz ausgehen. Denn die Maschine sei nirgendwo gelandet und die Kerosinration an Bord längst aufgebraucht.
Der Ehegatte der Passagierin Ms. Salomé Salomon, Mr. Salomon S. Salomon (70), ein massiger Kerl mit Gardemass (195 cm) und kahlem Schädel, wurde um zirka 6 Uhr früh Schweizer Zeit durch einen Telefonanruf auf sein Mobiltelefon geweckt. Herr Salomon war aufgebracht und beschwerte sich lautstark über die frühmorgendliche Störung, dies, ohne abzuwarten, wer der Anrufer sei und worum es gehe. Am anderen Ende der Leitung war der Station Manager der Malaysia Airways in Zürich, der von einem eventuellen Unglück sprach und von der tragischen Möglichkeit, oder noch eher Wahrscheinlichkeit, dass Ms. Salomé Salomon vielleicht nie mehr nachhause zurückkehren werde.
Von einer Sekunde zur anderen war Herr Salomon hellwach. «Nein!» schrie er. Er hoffte inständig, dass dies ein böser Traum sei. Er flehte Gott an, dass er helfend eingreifen möge… – Wann hatte Salomon das letzte Mal Gott um einen Gefallen gebeten…!? Dann überkam Salomon nicht nur Verzweiflung, sondern auch Wut, Wut über alles, was so unfassbar plötzlich in dramatischer Weise in sein Leben hereinzubrechen drohte. Er schrie: «Weshalb musste Salomé genau dieses Unglücksflugzeug nehmen? Weshalb? Weshalb nur!?»
Doch einige Zeit später keimte wieder Hoffnung in Salomon auf. Er klammerte sich an den kleinen Strohhalm, dass die Maschine vielleicht irgendwo notgelandet sei, Passagiere und Crew heil wären und sich alles als voreilige Panikbotschaft erweisen würde. Dass man die Maschine vielleicht gekapert hatte und Piraten ein Lösegeld fordern würden.
Xenia Ionescu (51), die rumänische Hausangestellte des Ehepaars Salomon, von Herrn Salomon seine Zofe genannt, ein Begriff, der von Xenia als despektierlich empfunden wurde und deshalb nicht geschätzt wurde, klopfte an die Zimmertür, fragte mit gedämpfter Stimme: «Alles ok, Herr Salomon?»
«Nein!» brüllte Salomon in einem Modus der Verzweiflung, «nichts ist in Ordnung, schreckliches ist passiert!»
Die Haushälterin öffnete von aussen die Tür zu Salomons Schlafgemach – ein Vorgang, den sie zuvor noch nie je gemacht hatte, wenn der Hausherr in der Kammer war. Xenia glaubte aus Salomons Stimme herauszuhören, dass überaus ungewöhnliches geschehen sein musste. In der Tat hatte Xenia ihren Chef noch nie je in einer auch nur annähernd ähnlichen Verfassung des Elends gesehen. In sich zusammengefallen sass er an der Bettkante. Er hatte die Contenance verloren, er weinte. Die Emotionen hatten ihn gepackt, sein Körper wurde von Zuckungen geschüttelt. «Das Flugzeug mit Salomé an Bord ist verschollen… irgendwo in Asien! Wahrscheinlich abgestürzt!»
Das war in der Tat eine dramatische Nachricht, die auch Xenia erschreckte. Allerdings hielt sich Xenias persönliche Anteilnahme in Grenzen und dies betraf sowohl Salomé als auch Salomon. Xenia war schon seit Jahren für die Herrschaften tätig, konnte aber weder den Chef noch die Chefin gut leiden.
Xenia hatte beim Ehepaar Salomon schon seit längerer Zeit keine echte gegenseitige eheliche Zuneigung mehr spüren können. Also deutete die Haushälterin Herrn Salomons Emotionen weniger als ein Zeichen von ehrlicher Trauer ob des Verlustes seines liebsten Menschen, als eine Art Selbstbemitleidung, als eine Reaktion des Bedauerns, weil der Mann offensichtlich erkannt hatte, dass ihm gerade eben etwas Wertvolles für immer abhandengekommen war. Er schien im Begriff zu sein zu realisieren, dass Salomés Tod für ihn der grösstmögliche materielle Verlust darstellte, der ihm überhaupt widerfahren konnte. Er sah sich seiner wichtigsten wirtschaftlichen Komponente beraubt. Denn in Salomons Wertegefüge war Salomé der Hauptpilar, eine sozusagen unverzichtbare Grösse. Dieses Wertegefüge meinte im Wesentlichen die Firma, die er einst zusammen mit seiner Gattin gegründet hatte und nun seit Jahren bis dato erfolgreich aufgebaut und geführt hatte.
Andererseits hatten die Chefin und Xenia seit längerer Zeit ein angespanntes Verhältnis miteinander, was nachvollziehbar war: Die beiden Frauen sahen sich in einem gewissen Sinn als Konkurrentinnen. Salomon hatte keine Skrupel sich bei Abwesenheit seiner Gattin hin und wieder mit Xenia sexuell zu vergnügen - nicht aus Zuneigung oder Liebe von dieser oder der anderen Seite, sondern nur zur Abreaktion des männlichen Triebs, vielleicht auch als exzessiver Ausdruck seines nur zu bekannten gebieterischen Machtgehabens. Fünf Minuten dauerte ein solcher Akt, kaum länger. Im Anschluss daran steckte Salomon dann Xenia jeweils eine oder gar mehrere Banknoten zu, welche die Frau nötig gebrauchen konnte - nicht für sich selbst, nur für ihre Familie in Rumänien. In Xenias Heimat warteten ein chronisch arbeitsloser Gatte und vier aufwachsende Kinder darauf finanziell versorgt zu werden. Salomé hatte von der immer wieder stattfindenden Untreue ihres Gatten Kenntnis, stellte dafür aber nie ihren Mann zur Rede, sondern ausschliesslich Xenia, die Haushälterin – Salomons Zofe. Fallweise war Salomé so wütend geworden, dass sie mit einem ihrer Schuhe oder einem Kleiderbügel tätlich auf Xenia losgegangen war und auf sie eingeschlagen hatte. Xenia wusste sich in solchen Situationen zu verteidigen, indem sie sich in ihr Zimmer einschloss und wartete, bis sich der Rauch verzogen hatte.
Xenia hatte Verständnis für Salomés Zornausbrüche. Andererseits empfand Xenia wenig Skrupel in ihrem Tun. Dies umso eher als Xenias Ehemann diese Unmoral nicht nur duldete, sondern seine Frau noch dazu aktiv antrieb. Für Xenia war Salomon, ihr Arbeitgeber, ein gepflegter, attraktiver, aber sehr skrupelloser Mann, den sie wegen seiner eher miesen Charaktereigenschaften verachtete, ja fallweise sogar hasste, wegen seiner Grosszügigkeit andererseits schätzte. Immerhin wandte Salomon niemals Gewalt an, wenn ihn die Lust überkam. In jedem Fall der Fälle hatte er sie zuvor in einer sonderbaren Form von Pflichtbewusstsein gefragt, ob sie bereit sei für das Abenteuer, wie er es nannte. Und sie war stets bereit gewesen, hatte ihn nie abgewiesen. Auf diese Weise garantierte Salomon der Hausangestellten Xenia und ihrer Familie ein überdurchschnittlich gutes Überleben. Es gab niemand in Xenias Familie in Rumänien, der auf diesen etwas höheren Komfort verzichten mochte.
Xenias Gatte zuhause in Rumänien mit Name Adonis war ein blöder Kerl, im Grunde ein armes Schwein mit einer niederen Stirne und demnach auch bescheidener Hirnmasse. Adonis war einer, der immerzu forderte, selbst aber nicht bereit war etwas Substantielles dem Familienbudget beizusteuern, um damit für ein menschenwürdigeres Leben der Familie zu sorgen. Die halbe Zeit seines Erwachsenendaseins hatte Adonis innerhalb von Gefängnismauern verbracht, weil er betrogen hatte, weil er geschmuggelt hatte, weil er vom Wildern nicht ablassen konnte, weil er seine Gattin und alle seine Kinder, von der Grössten bis zum Kleinsten, wiederholt windelweich geschlagen hatte, wenn er betrunken war. Unglückseligerweise war er oft betrunken gewesen. Xenia war aus diesem Grunde froh nun schon seit vielen Jahren auf Distanz zu ihrem Gatten leben zu können, nämlich in der Schweiz. Einmal, manchmal zweimal im Jahr reiste die Frau nach Rumänien. Sie gestand ehrlich ein, dass es nicht die Sehnsucht nach ihrer Familie war, die sie jeweils nachhause gedrängt hatte, schon gar nicht diejenige nach ihrem Gatten, sondern nur ihr persönliches Pflichtbewusstsein. Die Kinder waren zwischenzeitlich aus dem Dreck, der Kleinste Ion – 20-jährig, die anderen drei alle älter. Sie hatten sich ihre Wege allein gebahnt, jede und jeder für sich. Die älteren beiden Söhne hatten ihre Existenzen in Deutschland aufgebaut, der Jüngste war an einer Arbeitsstelle bei einem Gärtner in der Schweiz. Nur die Älteste – Dana - war in Rumänien geblieben. Sie hatte einst ein Stipendium ergattert und Medizin studiert, arbeitete seit Kurzem in einem Krankenhaus in Constanza. Dass den Kindern in all den vielen Jahren die Mutternähe gefehlt hatte, war eine Tatsache, die niemand abstreiten oder gar verleugnen konnte und auch niemand verharmlosen wollte. Es schmerzte alle Beteiligten. Und dies gegenseitig. Doch alles hielt sich in Grenzen, weil es eine energievolle, resolute, aber gerechte Grossmutter gab – Xenias Mutter. Diese versuchte mit Xenias regelmässigen Finanzleistungen einerseits und mit einer selbstlosen persönlichen Hingabe andererseits das Fehlende zu kompensieren. Und das gelang der Frau passabel. Xenias Mutter, eine Witwe mit 60 Euro Rente im Monat, war eine Frau mit Herz und Verstand, eine vernünftige Frau. Sie sagte im Tone grösster Selbstverständlichkeit: Im Leben muss man stets Prioritätensetzen. Xenias Ziel war es in jeder Phase die Familie materiell zu versorgen und sie schaffte dies. Ich fragte nie, wie sie das macht, weil ich es gar nicht wissen wollte! Wenn eine Tochter partout einen Nichtsnutz zum Ehegatten wählt, ist dies einfach so und nicht zu ändern!
Xenias Beobachtung in Bezug des Ehepaar Salomon war nicht falsch: In der Beziehung von Herrn und Frau Salomon herrschte seit längerer Zeit Flaute, die gegenseitige Zuneigung schien weitgehend abgenutzt. Echte Liebe sieht anders aus, stellte Xenia nüchtern fest und wandte als trauriges Beispiel ihre eigene Ehe an. Xenia vermutete, dass das vornehmlich materielle Streben von ihm wie auch von ihr alle sensiblen Gefühle füreinander mit den Jahren abgetötet hatte. Immerhin hatte der gelebte Hedonismus des Paares den gegenseitigen Respekt nicht zum Erliegen gebracht. Soweit es die geschäftliche Ebene betraf, herrschte bei Salomon und Salomé Eintracht. Salomon S. Salomon (S Punkt für Joseph, oder eben Sepp) schätzte seine Gattin Salomé wegen ihrer Geschäftstüchtigkeit, ihrer Zuverlässigkeit, ihrer Loyalität, im Besonderen auch wegen ihrer Kreativität. Salomon betonte es oft und wiederholt, wie er seine Ehefrau diesbezüglich bewundere. In der Tat war Salomon zwar der Chef, Salomé aber viel mehr als nur Salomons rechte Hand, auch mehr als die linke und rechte Hand zusammen. Sie war die Ideengeberin und die Entwicklerin von immer neuen Geräten und Vorrichtungen. Salomon war dann für die konkrete Umsetzung dieser Neuentwicklungen zuständig.
Für Salomon bedeutete diese neue Situation, der Verlust von Salomé, den Anker des Lebens zu verlieren. Salomons Leben war gleichgestellt, ja gleichgeschaltet mit seinem Geschäft. Seine Firma bedeutete für ihn der Mittelpunkt seines Daseins. Salomon war ein typisches Exemplar eines selbstherrlichen, selbstverliebten Narzisses, wie sie in der Geschäftswelt in grosser Zahl vorkommen, nie ausgerottet werden können.
Jetzt machte sich der Mann ernsthafte Gedanken, wie es mit seiner Company weitergehen sollte ohne sie, den Spiritus Rektor. Die trüben Aussichten verdüsterten sein Gemüt, verdunkelten seine Seele. Sie drohten ihn aus der Balance zu bringen, ihn seiner sonst mentalen Stärke zu berauben.
Salomon erhob sich von der Bettkante. Er wischte sich eine Träne aus den Augen, die keine der Trauer war, sondern eine der Wut. «Xenia, meine Zofe, bringen Sie mir einen Kaffee!»
Trotz der gegebenen Portion Intimität verkehrten Salomon und Xenia nicht per Du miteinander. Xenia bestand darauf, dass diese virtuelle Barriere nicht fallen dürfe. Das gebot ihr der eigene Stolz, der trotz allem nicht abhandengekommen war.
«Ich muss die Kinder informieren – ein verdammter Job ist das!» Salomon fand in kleinen Schritten zu seinem sonst üblichen, dem bekannten Gehabe zurück. Der Ton seiner Stimme wurde wieder rauer. «Xenia, wo bleibt der Kaffee, verdammt». Dass Salomon laut sprach, ja oft sogar brüllte, hatte durchaus Methode. Er vertrat schon seit je die Ansicht, dass die Stimme eines Chefs laut sein müsse, um nicht der Gefahr anheim zu fallen, überhört zu werden.
Als Erstes wählte Salomon die Handynummer seines jüngsten Kindes Alex (30) – der grosse Versager, wie sich Salomon bei jeder passenden und vor allem jeder unpassenden Gelegenheit ausdrückte. Alex war Clown, oder präziser gesagt Pantomime-Künstler. Er hatte bei Dimitri gelernt, war – wie man hörte - eine grosse Nummer im Geschäft geworden. Alex hatte regelmässig Engagements in Las Vegas, am Broadway in New York, in Los Angeles, Moskau, Peking, Berlin und anderswo. So wie Salomon jegliche Art künstlerischer Tätigkeit grundsätzlich geringschätzte, vielleicht noch eher verabscheute, im Besonderen diejenige seines Sohnes, war Alex stolz auf sein eigenes Können und sehr glücklich mit seinem Leben. Vor allem war er glücklich darüber, durch seine Lebensart den Fängen seiner Eltern entkommen zu sein. Er hätte ihre Nähe, die Brutalität ihrer kalten, berechnenden Dominanz nicht ausgehalten. Salomon brüllte in sein Handy: «Alex, bist Du es? Ich habe eine schlechte Nachricht: Die Mutter ist tot!»
Keine Antwort von der Gegenseite.
Man hätte jetzt denken können, dass dies die normale Reaktion eines Pantomimen sein würde. So dachte aber Salomon nicht. Und überdies war wohl die Situation zu ernst, um auf Gedanken dieser Art zu kommen. «Bist Du da, Alex?»
«Ja, Vater, ich bin da! - Aber ich kann nicht glauben, was Du sagst. Ich will es nicht glauben!»
«Mutters Flugzeug ist verschollen. Man nimmt mit grösster Wahrscheinlichkeit an, dass es ins Meer abgestürzt ist. Irgendwo in Asien. – Alex, ich bin verzweifelt! Ich bin am Boden zerstört! Kannst Du das verstehen!?»
«Soll ich nachhause kommen, das aktuelle Engagement absagen?» Die Stimme des Sohnes erstarb. «Es wäre schwierig, aber ich würde es tun, weil ich es der Mutter, uns allen schuldig bin!»
«Alex, ich weiss nicht, wo Du aktuell bist. – Doch, wo immer Du bist, bleib dort! Du könntest mir nicht helfen, uns nicht helfen, wärst Du hier. Aber ich danke Dir für den guten Willen! - Ich liebe Dich, mein Sohn!»
Salomon hörte, wie sein Sohn weinte.
«Ich werde Dich weiter auf dem Laufenden halten. Mach es gut, Alex!»
«Ich bin bei Dir, Vater!»
Salomon trank den Kaffee, den Xenia ihm hingestellt hatte. Er tat dies in kleinen hastigen Schlucken. Dann arrangierte er einen Conference-Call über Skype mit seinen beiden Töchtern Cintia (34) und Sarah (32). Er überbrachte ihnen beiden gemeinsam die Unglücksnachricht. Danach glaubte Salomon zu vernehmen, dass eine oder gar beide seiner Mädels weinten, was ihn erstaunte. Denn seine Töchter waren nicht eben bekannt dafür, übermässig Emotionen zu zeigen in welcher Situation immer. Die beiden Frauen hatten offensichtlich realisiert was diese Situation bedeuten würde. Es ging dabei nicht nur um die Trauer über den Verlust der Mutter, sondern auch um die Zukunft der ganzen Familie und nicht weniger um die der Firma. Bis jetzt hatten sich die Eltern hartnäckig gesperrt eine Strategie auszuarbeiten und mitzutragen, wie die Firma in die nächste Generation zu führen sei. Die beiden jungen Frauen glaubten grundsätzlich die Fähigkeit zu besitzen, die Firma in der nächsten Generation weiterführen zu können. Andererseits war ein Test, bei dem Cintia vor einem Jahr vorübergehend versucht hatte in der Firma Fuss zu fassen, kläglich gescheitert. Der Grund des Fiaskos war einzig und allein der Umstand, dass der despotische Patriarch nicht bereit war eine Nebengöttin zu dulden. Und auch Salomé, die Mutter, hatte verzweifelt wenig Bereitschaft zur Kooperation gezeigt.
Cintia fragte ihren Vater: «Welche Art Hilfe können wir Dir anbieten?»
«Ich brauche keine Hilfe!»
Damit verblieb man beim Status Quo, so wie er seit Jahren bestand. Doch da war hier und jetzt ein gravierender Unterschied: Ab jetzt würde der aktive Part der Mutter fehlen. Vielleicht würde sich über kurz oder lang doch noch was verändern!
Salomon war froh, dass dies ein Samstag war und er sich nicht vor seinem Personal zeigen musste. Dazu wäre er an diesem Tag kaum imstande gewesen. Dies musste er sich selbst eingestehen.
*
Montag, 10. März 2014 Kapitel 2
Geschäft ist Geschäft und Geschäft bleibt Geschäft
Die Firma Salomon & Salomon Swiss Medical Devices AG (kurz S&S SMD) existierte seit über 25 Jahren, wurde einst vom Ehepaar Dipl. Ing. ETH Salomon S. Salomon und seiner Gattin Dr. med. Salomé Salomon, geborene Salathé, gegründet. Die Chirurgin Salomé lieferte die Ideen, wie medizinische Werkzeuge und Geräte zu verbessern oder neu zu konzeptionieren wären, ihr Gatte setzte diese Ideen in die Praxis um. Das Resultat dieser Verbindung war eine schnell prosperierende Firma. Anfänglich liess Salomon S. Salomon die Bestandteile für seine Geräte und Vorrichtungen extern nach seinen Zeichnungen fertigen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde eine eigene Produktionsstätte eingerichtet, wodurch das Unternehmen unabhängiger und auch leistungsfähiger wurde. Die Firma beschäftigte aktuell gegen 300 Mitarbeiter. In den letzten Jahren hatte sich die S&S SMD AG vornehmlich zum Spezialisten von technisch komplexen automatischen Analysegeräten und -Systemen entwickelt. Die Nachfrage nach solchen Systemen bei medizinischen Labors insbesondere von Spitälern war weltweit gross und noch immer zunehmen. Der Bedarf zur Bestimmung von Virenarten oder für DNA-Analysen war unbestritten, nicht nur im medizinischen Bereich, sondern zum Beispiel auch in der Kriminalistik.
Wie immer verliess Salomon S. Salomon sein Haus auch diesen Morgen um Punkt Siebenuhrdreissig mit seinem Auto Marke Cadillac. Seit Salomons USA-Aufenthalt vor Jahrzehnten liebte er amerikanische Autos. Nie hatte er in dieser Zeit ein anderes Auto gefahren, kein europäisches, kein asiatisches. Wie immer trug er einen massgeschneiderten schwarzen Anzug, dieses Mal nicht mit einer roten oder blauen Krawatte wie sonst bevorzugt, sondern mit einer schwarzen.
Noch am Sonntag hatte er jedem seiner Mitarbeiter eine Nachricht per E-Mail zukommen lassen, um über das tragische Ereignis am Vortag zu informieren. Die Belegschaft war somit vorbereitet. Dennoch war Salomon unruhig. Nie je in seinem bisherigen Leben war er mit einer auch nur annähernd ähnlichen Situation konfrontiert gewesen.
Salomon befahl seiner Sekretärin alle leitenden Mitarbeiter zu einer Sitzung um 9 Uhr zu zitieren. Um 11 Uhr wünschte Salomon seinen Anwalt zu sprechen.
Die Kadersitzung verlief kaum anders als üblich, mit einem Unterschied: Die Herren und Damen sprachen ihrem Chef einerseits ihr Beileid aus, andererseits versprachen sie ihm ihre bedingungslose Solidarität. Dr. med. Thomas Sauter, der bisherige Stellvertreter von Salomé, wurde zum Direktor befördert. Salomon befahl, dass Sauter per sofort jenes Büro zu übernehmen habe, das bislang von Salomé besetzt war. Damit wollte der Chef verhindern, dass sich eine Lücke in der Führungsetage auftat. Kontinuität war ihm wichtig und er wollte diese auch entsprechend dokumentieren.
Bei der Sitzung mit seinem Anwalt ging es um zwei Themen:
A) Abklärung der künftigen Besitzverhältnisse nach dem Ausscheiden von Salomé, insbesondere auch in Bezug der Erbansprüche der Kinder. Man müsse insbesondere zwischen dem Privatvermögen und der Firma unterscheiden, wurde moniert.
B) Wie konnte man Malaysia Airlines belangen, zum Beispiel mit einer Schadenersatzklage?
In beiden Fällen empfahl der Anwalt seinem Klienten Geduld und Ruhe zu bewahren. Das Thema Erben würde erst auf den Tisch kommen, wenn für Salomé eine Bescheinigung ihres Todes vorliegen werde. Zuerst müsse man aber das Flugzeug finden, wenn möglich auch die Leichen identifizieren. Eine Verschollenheits-Erklärung würde kaum ausreichen, um einen Erbgang initiieren zu können. Der Anwalt war der Ansicht, dass ein solcher Vorgang Jahre in Anspruch nehmen könne.
Salomon war über diese Antwort seines Anwalts beruhigt. Eine Schadenersatzklage gegen die Airline würde er – der Anwalt – zu gegebener Zeit anstreben. Es sei schon klar, hier gehe es um Zig-Millionen, bemerkte der Jurist. Der Anwalt betonte, dass er sich an einer Sammelklage ohnehin nicht beteiligen würde. Denn der Klagewert für Madame Salomé würde wohl viel höher ausfallen als für die meisten der anderen zu Tode gekommenen Passagiere. Man müsse in diesem Fall wohl etwas egoistisch sein und die Ellbogen ausfahren. Salomon nickte. Der Anwalt befand sich mit seiner Lagebeurteilung exakt auf der Linie seines Klienten.
Freitag, 14. März 2014 Kapitel 3
Wenn die Nerven flattern, läuft der Mensch Gefahr zu erstarren
Keinerlei Neuinformationen in Bezug des Absturzes von MH 370! Es schien eine Situation, wie sie die Fliegerei der Moderne noch nie je zuvor erlebt hatte: Ein Flugzeug hatte sich aus dem Blickfeld aller Kontrollen ausgeklinkt und war in der Region der Andamanensee verschwunden, nachdem es einen geheimnisvollen Kurswechsel vorgenommen hatte, auf jeden Fall nicht den vorgegebenen Kurs nach Peking eingehalten hatte. Gab es technische oder gesundheitliche Probleme der Besatzung? Wenn ja, weshalb informierte der Pilot nicht darüber? Wurde die Maschine durch Kriminelle oder Politgangster gekapert? Oder hatte der Pilot Suizid begangen und dabei das Flugzeug mit allen Passagieren in den Tod gerissen? Welche Rolle spielte dabei der Copilot?
Tatsache war, dass der Chefpilot erfahren waren und als mental stark und besonnen galt. Beim Copiloten hätte es der letzte Flug auf dem Piloten-Nebensitz sein sollen.
Man tappte im Dunkel.
Auf jeden Fall gaben die Ermittlungsbehörden keine weiteren Informationen aus. Auch Boeing schien wenig zur Aufhellung der Situation beitragen zu können. Der Flugzeughersteller schien sicher zu sein, dass es sich nicht um ein technisches Problem handeln könne. Aber wie immer würde der Flugschreiber Aufschluss geben. Doch zuerst musste das Flugzeug gefunden werden.
Salomon S. Salomon war noch immer aufgewühlt, am Tag wie auch in der Nacht. In der Nacht hatte er vor allem Zeit sich mit dem Unglück zu beschäftigen. Oder vielleicht noch eher beschäftigte sich das Unglück mit ihm. Meist fand er nur mittels Chemie zu seiner Ruhe.
Im Geschäft versuchte der Firmenchef den normalen Geschäftsgang zu demonstrieren, was ihm nach aussen überzeugend gelang. In der Tat schien der Ausfall von Salomé das allgemeinde Geschäftsgeschehen vorerst überraschend wenig zu beeinflussen.
Die beiden Töchter mit ihren Familien meldeten ihren Besuch beim Vater an. Aber Salomon S. Salomon bat davon abzusehen. Er müsse persönlich, für sich selbst zur Balance zurückfinden. Aus diesem Grund befanden Cintia und Sarah den Vater in Ruhe zu lassen, wie er dies wünschte. Der Mann sei und war schon seit je ein eigensinniger Holzkopf, der sich wenig beeinflussen liess, wurde im Familienrat befunden. Daran schien auch das Unglück mit dem Verlust der Mutter nichts geändert zu haben.
*
Sonntag, 16. März 2014 Kapitel 4
Wer dient der herrscht
Xenia hatte eine Idee. Sie beschloss aus der gegebenen Situation – soweit möglich - auch einen Vorteil für sich selbst zu verschaffen. An diesem Samstag besuchte sie einen Schönheitssalon der Stadt. Natürlich nannte sich dieses Etablissement dem heutigen Trend folgend anders, nämlich Beauty Care Salon Happy Women. Zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt gönnte sich Xenia ein persönliches Vergnügen dieser Art. Die Dame des Hauses versuchte bei ihrer neuen Kundin fürs erste das Selbstbewusstsein zu heben. Sie betonte, dass 51 Jahre in der heutigen Zeit auch für eine Dame kein Alter darstelle. Da würde - im Gegenteil - ein noch wichtiger Teil des Lebens vor einem liegen. Und den gelte es zu geniessen, dies in seiner ganzen Fülle! Mit allen Möglichkeiten! Eine nicht mehr ganz junge Frau habe in der Regel eine viel grössere Ausstrahlung als ein junger Mensch. Mit diesem Alter habe man Persönlichkeit. Die Ausstrahlung von Selbstsicherheit könne beeindrucken – auch und gerade die Männer! In diesem Alter habe man Erfahrung, man lasse sich nicht mehr so schnell an der Nase herumführen, sich nicht mehr so rasch überrumpeln, in eine Ecke drängen. Mit einem Wort: Frau wisse was sie wolle!
Die Tönung der Haare, die neue Frisur und das Permanent-Makeup kosteten 299 Franken, worüber Xenia sehr erschrak. Dabei erwähnte die Dame des Salons ausdrücklich, dass dies ein Spezialpreis für Neukundinnen sei. Also musste Xenia annehmen, dass eine nächste Behandlung wohl eher noch teurer zu stehen kommen würde.
Xenia respektierte die Ratschläge der Lady des Etablissements, sie war voll entschlossen diese umzusetzen. Sie sagte sich selbst: Ich bin mir das Wert. Mir steht das zu. Ab jetzt möchte ich zuerst kommen.
Als Xenia am Sonntagmorgen dem Hausherrn das Frühstück servierte und die Sonntagszeitung danebenlegte, guckte Salomon S. Salomon zweimal, ja eigentlich sogar dreimal. So hatte der Mann die Hausdame, seine Zofe, noch nie realisiert. Mit einiger Verwunderung stellte Salomon fest, dass diese Xenia eigentlich eine richtige Schönheit war. Er fragte sich, weshalb er dies noch nie je in früherer Zeit entdeckt hatte. Vielleicht würde es mit dem adretten Kleid zusammenhängen, überlegte er, welches er das erste Mal an ihr zu sehen glaubte.
Xenia ihrerseits staunte ebenfalls, nämlich darüber, dass dieser Mann, dieser Salomon S. Salomon sie offensichtlich zum ersten Mal als Persönlichkeit, als Mensch, als Frau realisiert hatte und nicht als einen Gegenstand, eine Sache, die man konsumieren konnte, eine personifizierte Dienstleistung, eine Dienstleisterin, die auch ohne weiteres und problemlos ausgewechselt werden konnte.
Noch in derselben Stunde war Xenia ihrem Gebieter in privater Weise zu Diensten. Dabei zeigte sich Salomon grosszügig wie nie je zuvor: Er legte fünfhundert Franken auf das Tischchen. Und das hatte sich die Frau auch redlich verdient. Denn der Akt hatte dieses Mal länger als die sonst üblichen 5 Minuten gedauert. Man konnte ihn in diesem Fall nicht mehr als eine Unterwerfung bezeichnen.
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Freitag, 30. Mai 2014 Kapitel 5
Ist die Moral mal abgeschmiert, lebt sichs ziemlich ungeniert
Salomon hatte an diesem Tag an einem Ärztekongress in Hamburg teilgenommen, an dem er ein Referat gehalten hatte. Es ging bei Vorträgen dieser Art weniger darum das eigene Ego zu streicheln, als die Produkte der Firma in Fachkreisen noch bekannter zu machen. Eigentlich war es reine Promotion, die nicht unwichtig war.
Einmal mehr war Salomon aufgefallen, dass ihm das Fehlen von Salomé wesentlich mehr ausmachte, als er bislang bereit war sich dieses selbst einzugestehen. Denn in der Vergangenheit war seine Gattin stets dabei, wenn Kongresse besucht wurden. Auch umgekehrt, wenn Salomé auf Vortragsreise war, befand sich Salomon stets in ihrem Gefolge. Als anerkannte Wissenschafterin war sie weit bekannter als er, hatte weit mehr öffentliche Auftritte als er, auch im Fernsehen und in der Presse. Es gab eine Zeit, da oblag Salomé eine Professur an der Universität in Zürich, die sie später aus Zeitmangel wieder abgegeben hatte. Dennoch wurde sie nach wie vor oft als Frau Professor angesprochen.
Soweit sich Salomon jetzt zurückerinnerte, hatten sie stets eine gute Zeit miteinander, er und Salomé, wenn sie zusammen auf Reisen waren. Sie assen gerne zusammen in Restaurants mit gutem Namen, gönnten sich exklusive Weine.
Es befiel ihn Wehmut.
Nach Kongressende fuhr Salomon mit dem Mietwagen zum Flughafen. Auf einer schwach belebten Seitenstrasse lief eine Person unvermittelt vom Gehsteig in sein Auto. Die Frau wurde wuchtig in die Büsche am Strassenrand geschleudert. Für Salomon stand sofort fest, dass dies ein Selbstmordversuch dieser Person war. Er stieg aus seinem Wagen, beugte sich über die ältere Frau, die keine Lebenszeichen mehr von sich gab. Salomon führte ein Selbstgespräch, wie er dies oft tat: „Offensichtlich wolltest du den Tod. Also sollst du haben was du wolltest! Der Friede sei mit dir. - Ungünstig nur, dass du ausgerechnet mich dazu auserwählt hast näher zum Himmel zu gelangen!“
Salomon S. Salomon lief um den Mietwagen herum und stellte fest, dass sein Fahrzeug erstaunlicherweise weder eine Beule noch einen Kratzer abbekommen hatte. Er erkannte, dass sich aktuell kein Mensch in dieser Gegend befand und er beschloss die Frau dem Schicksal zu überlassen. Er entschied sich einfach weiterzufahren. Salomon fühlte sich in keiner Schuld bewusst. Er war nicht alkoholisiert und die Person hatte, wie es schien, die Kollision mit dem Fahrzeug aktiv gesucht.
Salomon scheute vor allem die möglichen Kalamitäten mit der Polizei, das zu erwartende Gerichtsverfahren, die Umstände, vielleicht auch etwas, das künftig an ihm hängen bleiben konnte, seinen Ruf beschädigen würde. Vor allem aber hatte er ausserdem Angst eventuell den Führerausweis zu verlieren. Als Mensch in kritischem Alter hat man doppelt aufzupassen! Man weiss, wie es ist, wenn einem älteren Autolenker ein Unfall passiert. Finger zeigen schnell auf ihn: Muss es sein in diesem Alter noch ein Auto zu lenken? Wie gut sind seine Augen, seine Reaktion noch?
Selbst Autofahren zu können, war Salomon wichtig. Er liebte Autolenken seit seiner Jugend.
Und Salomon wollte den Flug zurück nach Zürich nicht verpassen.
Salomon entnahm seiner Aktentasche mehrere Feuchttüchlein und reinigte die Flanke des Autos an jener Stelle, wo die Kollision mit der Frau vermutlich stattgefunden hatte. Die Tüchlein entsorgte er später in der Toilette des Flughafens.
Die Rückgabe des Fahrzeugs am Flughafen erfolgte problemlos, war eine Formsache. Der Angestellte hatte das Auto inspiziert, vier Fotos geschossen und anstandslos als okay befunden. Der Mann hatte ausserdem ein entsprechendes Protokoll verfasst, welches von beiden Seiten unterschrieben wurde. Salomon hatte darauf bestanden, dass ein solches Papier zu erstellen sei. «Ungewöhnlich» hatte der Mann von Hertz befunden. «Ein Protokoll wird üblicherweise nur erstellt, wenn es etwas zu beanstanden gibt! Und dies ist hier nicht der Fall!»
Schon auf dem Rückflug im Flugzeug hatte Salomon den Unfall schnell vergessen und in seinem Bewusstsein als erledigt abgehakt. Das gegerbte Gewissen des Mannes liess es zu über Geschehnisse solcher Art easy hinweg zu kommen. Salomon war der festen Überzeugung, dass ein Geschäftsmann der heutigen Zeit diese Mentalität besitzen müsse, um erfolgreich sein zu können.
*
Freitag, 6. Juni 2014 Kapitel 6
Kein Beweis ist ein sanftes Ruhekissen
Salomon S. Salomon hatte eine Vorladung von der Polizei bekommen. Er wurde aufgefordert an diesem Freitag um 10 Uhr vormittags bei der Polizeistelle des Ortes vorzusprechen.
Der Polizeibeamte war einer von der freundlichen Sorte. Er fragte Salomon, ob er sich vorstellen könne, weshalb er diese Vorladung bekommen habe.
Die Antwort von Salomon S. Salomon war nicht eindeutig: „Vielleicht, weil Sie mir Neuigkeiten mitteilen wollen, die den Flugzeugabsturz betreffen?“
„Nein, ganz was anderes! – Sie waren am 30. Mai im Raume Hamburg mit einem Mietwagen Marke Volvo der Firma Hertz unterwegs. - Können Sie sich noch erinnern, wo Sie sich um zirka 16.30 Uhr befanden, wo Sie durchfuhren?“
Salomon blickte zur Decke. Dann sagte er in langsam ausgesprochenen Worten: „Ich denke, dass ich zu dieser Uhrzeit auf dem Weg vom Hotel zum Flughafen Fuhlsbüttel war!“
„Ist Ihnen bei dieser Fahrt etwas aufgefallen?“
Salomons Antwort war eine dreiste Lüge: „Nicht, dass ich mich an etwas erinnern kann! – Doch ich muss zugeben, dass ich mich in einem emotionalen Gefühlszustand befand, weil ich meine verstorbene Gattin sehr vermisste! – Sie sollten wissen, dass ich in Hamburg an einem Ärztekongress war, wo ich ein Referat hielt. Wir, meine Frau und ich, machten früher alle Reisen dieser Art gemeinsam. Dies war meine erste Reise ohne sie und ich vermisste sie sehr!“
„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Herr Salomon! Ich kann Sie sehr gut verstehen!“
Nach einer kleinen Pause fragte Salomon: „Können Sie mir den Grund nennen, weshalb ich mich an diese Autofahrt erinnern sollte?“
„Eine Frau wurde von einem Autofahrer angefahren und der Autofahrer beging Fahrerflucht. Der Fahrer kümmerte sich nicht um die verletzte Person. Er entfernte sich in strafbarer Weise, nahm in Kauf, dass man der Person nicht die notwendige Hilfe in der kürzest möglichen Zeit angedeihen lassen konnte!“
„Wo passierte das?“
„In einer Strasse, die auch Sie in der entsprechenden Zeit passiert haben! Die Strasse liegt in der Lüneburger Heide. – Deshalb die Frage: Haben Sie etwas Besonderes, etwas Auffälliges gesehen?“
Salomon schien ziemlich erstaunt: „Weshalb wissen Sie, dass ich auf dieser Strasse durchgefahren bin?“
„Eine Kamera hat Ihr Mietauto erfasst. Das Autokennzeichen ist eindeutig. Sogar Sie als Fahrer sind gut erkennbar! Es wurde ermittelt, dass Sie kurz zuvor beim Hotel ausgecheckt hatten und mit dem Auto weggefahren sind!»
„Und Sie glauben, dass ich am Unfall beteiligt war?“
„Nein, das meinen wir nicht! Die Kamera erfasste den Tatort nicht direkt. Gemäss Rapport von Hertz haben Sie das Fahrzeug in unbeschädigtem Zustand zum Vermieter zurückgebracht. Eine Kopie des Rückgabe-Dokuments liegt mir vor. Ich habe ausserdem vier Fotos vorliegend, die belegen, dass der Mietwagen völlig unbeschädigt dem Vermieter zurückgegeben wurde. – Herr Salomon, ich mache hier nur meine Pflicht! Ich führe diese Befragung im Auftrag der Hamburger Polizei durch. Das ist alles!“
Salomon spürte Oberwasser und er wurde dreist: „Ich gehe davon aus, dass Ihre Hamburger Kollegen des forensischen Dienstes den Mietwagen ziemlich genau begutachtet haben». Und nach einer kurzen Pause schob er noch nach: «Offensichtlich nichts Verdächtiges gefunden! Also komme ich wohl für den Unfall und die Führerflucht nicht in Frage!»
Der Polizist räusperte sich. «Leider ist etwas Aussergewöhnliches passiert. Am Tag, nach dem Sie dieses Fahrzeug benützten, verunglückte eine junge Frau mit dem Volvo tödlich, wobei das Auto totalzerstört wurde. Die Frau kollidierte auf einem unbewachten Übergang mit der Eisenbahn. Es geschah in Polen. Die Überreste des Autos sind dort unter Verschluss! Im Moment haben die Hamburger keinen Zugang dazu! Bei der Polizei in Polen hat - wie man sich vorstellen kann – ihr eigener Fall Priorität!“
Salomon war beruhigt. Die Sache schien für ihn gelaufen zu sein. „Wenn Sie gestatten, verabschiede ich mich jetzt! Ich habe um 11 Uhr einen wichtigen Termin!“
„Ich bedanke mich dafür, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Herr Salomon!“
Salomon eilte erhobenen Hauptes aus der Polizeistation. Er war sich sicher, dass ihn diese Geschichte nicht mehr weiter aufhalten würde. Ob die angefahrene Frau tot war oder noch lebte, interessierte ihn nicht.
*
Freitag, 27. Feb. 2015 Kapitel 7
Die Bilanz bringt es an den Tag, wer den Rappen ehrt
Die Jahreshauptversammlung der Firma S&S Swiss Medical Devices AG stand in diesem Jahr unter keinem glücklichen Stern. Der Verlust der Chefin Salomé Salomon drückte sich in mannigfaltiger Weise negativ aus. Er schlug nicht nur aufs Gemüt, sondern eben auch auf das nackte Resultat, wie man aus den Zahlen des Jahresabschlusses für das Jahr 2014 herauslesen konnte. Woche für Woche, Monat für Monat durch das Geschäftsjahr hindurch war immer noch offensichtlicher geworden, was die Frau über all die verflossenen Jahre zum Nutzen der Firma geleistet hatte. Sie war es gewesen, welche die unzähligen persönlichen Verbindungen zu den Kunden gehalten hatte. Und diese Kunden vermissten nun den persönlichen Kontakt zu Salomé und die Bindung zur Firma S&S SMD AG schwächte sich ab. Die Folge: Eine sukzessive Ausdünnung des Auftragseinganges, was schliesslich auch ursächlich war für den Niedergang des Umsatzes und des Gewinns.
Es existierte ein schmerzliches Vakuum, das der neue Direktor Dr. Thomas Sauter unmöglich auf die Schnelle ausfüllen konnte, wie sehr sich der grundsätzlich fähige Mann auch bemühte.
Die Jahresversammlung war ein kleiner Event, weil nur die Aktionäre, der kaufmännische Direktor Sauter und der Treuhänder teilnahmen. Weil sich alle Aktien im Besitz von Mitgliedern der Familie Salomon befanden, waren nur Salomon S. Salomon als Hauptaktionär und Mitgründer, sowie die zwei Töchter des Gründerehepaares, Cintia und Sarah, als Aktionäre anwesend. Sohn Alex fehlte, weil er erstens kein Interesse am elterlichen Geschäft hatte und sich – nach Ansicht des Vaters – störrisch weigerte Firmenaktien anzunehmen. Und zweitens war Alex ohnehin unabkömmlich infolge seines künstlerischen Engagements in Übersee. Der Grund, weshalb die andere Hauptaktionärin – Salomé – bei diesem Anlass fehlte, war so bekannt wie traurig.
Zu Beginn der Versammlung erhoben sich die fünf Personen von ihren Sesseln und gedachten während einer stillen Minute Salomé, von der ein Porträtfoto auf dem Tisch aufgestellt war.
Der Treuhänder war sichtlich bestrebt die Versammlung professionell und schnell abzuwickeln, so wie es schon in all den vorhergehenden Jahren der Fall war. Es schien gar so zu sein, als hätte dem Mann das übliche, der Versammlung nachfolgende Mittagessen der reichen Art so sehr am Herzen gelegen, dass er übertrieben schnell, ja überhastet vorwärts und zum Ende drängte. Doch schon beim Traktandum der Präsentation der Jahresabschlusszahlen für das abgelaufene Jahr 2014 sorgten Salomons zwei Töchter für Unruhe. Denn der Umsatz war in diesem Jahr gegenüber den Vorjahren um fast einen Viertel eingebrochen und der Gewinn gar um fünfzig Prozent tiefer. Sie, die Damen, die nicht aktiv im Geschäft tätig waren – nicht, weil sie nicht wollten, oder weil sie dazu nicht fähig gewesen wären, sondern eben weil ihr Vater Salomon aus Sicht der Töchter aus absolut nicht nachvollziehbaren, wohl selbstsüchtigen Gründen sich dagegen sperrte, ihre aktive Tätigkeit ablehnte – verlangten explizit Hintergrundinformationen, eine entsprechende Aufklärung. Sie verlangten nach Gründen, und zwar auf den Tisch gelegt, weshalb dieses schlechte Resultat passieren konnte. Dabei fixierten die zwei blondhaarigen Frauen mit kalten, schon beinahe herausfordernden Blicken gemeinsam ihren Vater. Tatsächlich hatte die eine wie die andere eine grosse Portion des kalten Teils ihrer beiden Eltern vererbt bekommen, während Alex, der Bruder, der nicht zugegen war, in Gänze mit dem warmen Teil von Mutter und Vater von der Natur beschenkt worden war.
Salomon S. Salomon schnipste mit den Fingern, nickte fast bewegungslos mit seinem kahlen Kopf in Richtung seines Direktors: «Thomas, erklär es ihnen!»
Sauters Erklärung fiel unbeholfen aus, weil er auf diese Situation nicht vorbereitet war, weil ihn alles überforderte. Er faselte etwas von schwieriger Marktsituation, von veränderten, negativen Marktbedingungen und technischen Schwierigkeiten bei der Abwicklung von Exportaufträgen, weil einerseits Exportzulassungen nicht termingerecht erbracht werden konnten und Importlizenzen bei den Empfängerländern verschleppt worden waren. In diesem Jahr würde man aber einen grossen Teil des Umsatzes wieder wettmachen können und er sei zuversichtlich, dass man so wieder in die Balance käme, man zurück auf die Erfolgsstrasse finden würde.
Es schien nun allerdings so, als dass Dr. Sauters Erklärungsversuche die zwei Frauen wenig interessierten. Cintia ergriff das Wort: «Vater, wie uns berichtet wurde, bist Du seit dem Fehlen der Mutter nur noch unregelmässig im Werk anwesend. Du bist in einem Alter, wo Dir dieser Freiraum redlich zusteht. Du hast genug gearbeitet, genug geleistet. Sarah und ich denken, dass die Zeit reif ist, das Szepter der nächsten Generation zu übergeben. Wir sind bereit zu übernehmen!»
Der Treuhänder blickte erstaunt auf, während Dr. Sauter von einer Sekunde zur anderen in sich zusammenzufallen schien. Das Geschehen überforderte ihn immer noch mehr. Auf der anderen Seite des Tisches reckte sich Salomon S. Salomon empor, doch unmittelbar fehlten ihm die Worte. Begriffe wie feindliche Übernahme, kalte Abservierung durch die eigene Familie und ähnliches schwirrten durch seinen Kopf. Doch schnell fand er zurück zu seinem ihm angeborenen Selbstbewusstsein. Seine Antwort war ein Wutausbruch, wie das bei ihm nicht selten geschah. Salomon schrie: «Wollen mich meine Töchter oder vielleicht gar die Herren Schwiegersöhne entmündigen!? Wie kommen sie zu einem solchen Ansinnen bei den wenigen Aktien, die sie besitzen!? Von der mangelnden Kompetenz möchte ich gar nicht reden. Alles ist nur lächerlich!»