9,99 €
Ein Jugendlicher, geschätzt 15-jährig, wird von der Schweizer Grenzpolizei an der Grenze zu Österreich aufgegriffen. Da der junge Mann taubstumm ist, dazu schwer sehbehindert, scheint eine Kommunikation ausgeschlossen. Es ist ein Afrikaner, der auffällt, weil er ein Albino mit heller Haut und hellen Haaren ist. Er hat weder Gepäck, noch Papiere bei sich, auch kein Handy und kein Geld. Er hat auch keinen Namen. Bald wird ersichtlich, dass er eine geheimnisvolle Vergangenheit hat - und dass er ungewöhnlich intelligent ist. Die junge Tochter des Verwalter-Ehepaars des Asylantenheims findet, dass es jeder Mensch verdiene einen Namen zu haben, sie nennt ihn Albino. Allmählich lichtet sich der Schleier der Vergangenheit. Albino nimmt sein Leben resolut in die eigenen Hände, versucht es mit Intelligenz, List und Glück in eine erfolgreiche Richtung zu bringen. Das Leben von Albino nimmt Fahrt auf, wird immer dynamischer, entwickelt sich abenteuerlich. Wir verfolgen Albinos Leben über eine Zeitdauer von 10 Jahren, von 2010 bis 2020.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Hermann Grabher
Ein Migrant ohne
Namen
Roman
© 2021 Hermann Grabher
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-52692-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-52694-5
ISBN E-Book: 978-3-347-52695-2
ISBN Großdruck: 978-3-347-52696-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
1 Im äussersten Osten der Schweiz
2 Das Haus Sonnenhügel
3 Das Leben im Asylheim Sonnenhügel
4 Einst Hotel Sonnenhügel, dann Asylantenheim
5 Ein Knalleffekt mit Folgen
6 Wunder
7 Es lebe die Hoffnung
8 Ein Student mit Talent
9 Namensgebung
10 Blick zurück in die Vergangenheit
11 Mit dem Herz in der Hand
12 Wunder, Wunder
13 Sohn und Kindes Sohn
14 Sommer der Entscheidungen
15 Versuch sich frei zu strampeln
16 Verkehrte Welt
17 Wenn sich der Dunst senkt, klärt sich die Sicht
18 Ein Vater sucht seinen verschollenen Sohn
19 Einen Job gefasst
20 Das A und O
21 … danach würde das richtige Leben beginnen
22 Der bittere Blick zurück
23 Zumindest eine gute Nachricht
24 Haftanstalt Thorberg, ein unangenehmer Ort
25 Eine schicksalshafte Begegnung
26 Aufarbeitung älterer Pendenzen
27 Ein Ausbruch von Gewalt
28 Dinge selbst in die Hand zu nehmen
29 Und weiter tickt das Metronom des Lebens
30 Die Angebetete ist anders als einst angenommen
31 Zwischenlandung in Atlanta
32 In Atlanta
33 Noch immer in Atlanta
34 Salt Lake City
35 Wunderwelt Parcels by Air Inc.
36 Rückreise
37 Eine Mutter in Sorge
38 Wenn sich Ereignisse überstürzen
39 Traue sich, wer sich getraut
40 Ein Visum für den Eintritt ins gelobte Land?
41 Neue Heimat im Abendschein
42 Kein Weihnachtsfest wie jedes Jahr
43 Eine unerwartete Weichenstellung
44 Ungeliebter Grossauftrag
45 China-Geschäfte, Chance oder Risiko?
46 Neue Generation gibt Grund zu Optimismus
47 Stiller Dank für ein erfolgreiches Jahr
48 Covid 19
1 Im äussersten Osten der Schweiz
Sommer 2010
Der Postenchef des Schweizer Grenzwachtkorps III, Hans Gerber, rief den Verwalter des Asylantenheims Sonnenhügel mit Namen Meinrad Meier an. Gerber, ein senkrechter Mann mit karger Wortwahl vertrat die Ansicht, dass dies zum Stil eines sich vorbildlich gebenden staatlich angestellten Kontrollbeamten gehöre. Kurz und korrekt, so lautete seine Devise.
„Hast du noch Platz für einen Neuen?“
„Nur einen oder sind es mehrere?»
„Es ist nur eine Person. Er ist allein. - Ja, du hast recht, dies ist sehr aussergewöhnlich! In der Regel klammern sich stets mehrere wie Kletten aneinander! Sie halten es mit den Wölfen. Die fühlen sich in der Meute auch am sichersten!»
«Woher kommt er? Hat der Mann Papiere vorzuweisen? Wie alt ist er?»
«Es ist ein UMA* ohne Papiere! Der Junge hat nicht mal einen Rucksack bei sich! Keine Tasche! Kein Handy! Ich schätze ihn etwa fünfzehnjährig, möglicherweise ein oder zwei Jahre älter! Vielleicht auch etwas jünger! Wir haben ihm die Fingerabdrücke genommen. Er ist in keinem System zu finden, ein unbeschriebenes Blatt!»
«Ein grosses Kind eben, auf jeden Fall minderjährig! - Wir werden ihn unter diesen Umständen sehr wahrscheinlich nicht zurückschicken können…!»
«Der Kerl ist in jeder Hinsicht sonderbar: Ein weisser Neger!»
«Neger…! Hans, bitte halte dich zurück in deiner Wortwahl! Wie dir bekannt ist, sind wir unter Dauerbeobachtung!» Er räusperte sich. «Wie soll ich deine Andeutung verstehen?»
«Er hat helle Haar mit einem Goldschimmer drin, sehr sonderbar anzusehen. Und er hat eine helle Haut, die heller ist als deine und meine. Und trotzdem entspricht sein Aussehen dem eines Negers! - Ich kann unter diesen Umständen wohl kaum von einem Schwarzen sprechen!»
Meier hüstelte. «Ist er ein Albino?»
«Ja, es scheint so. In Afrika gibt es mehr solche Menschen als anderswo. Dies habe ich einmal gelesen. Und sie werden in ihren Ländern entweder verfolgt oder vergöttert, mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen.»
«Bis jetzt ist mir noch kein Mensch mit Albinismus unter die Augen gekommen!»
Hans Gerber pflichtete seinem Kollegen bei: «Das ist auch bei mir der Erste dieser Sorte. Doch dies ist noch nicht alles: Der junge Mann ist völlig taub, kann wohl nicht sprechen, welche Muttersprache auch immer er hätte. Und er scheint nur sehr reduziert sehen zu können. Scheint nahezu blind zu sein!»
Nun entstand eine längere Pause. Dieser Tobak schien etwas gar stark für den Asylheimleiter Meier. Schliesslich meinte er: «Ziemlich viele Hypotheken! Eine solche Person dürfte nicht lange bei uns im Heim bleiben. Wir sind nicht für Behinderte eingerichtet. Dürfte wieder einmal eine grössere Aufgabe für unsere Spezialisten werden, die sich hiermit verwirklichen können!»
Hans Gerber war nicht zu Spässen aufgelegt. Er führte zwar insbesondere während der Arbeit, wenn er im Dienst war, nach aussen eine raue Schale zur Schau, hatte aber grundsätzlich ein sanftes, menschenfreundliches Gemüt. «Dein Heim ist spezialisiert auf Jugendliche! Also bist du gewiss die richtige Adresse als erste Station. Da ist der Junge vorerst mal gut aufgehoben! – Ich bin dir sehr verbunden, Meinrad. Du hast ein Herz für Menschen in Not, so wie ich auch! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was der arme Junge wohl schon alles durchgemacht hat, bis er hier war! Wie kann man nur Kinder ohne Begleitung, schutzlos, in solche nur allzu oft tödliche Abenteuer schicken!? Und dann ausserdem noch behindert! Nun, es wird einmal mehr deine Aufgabe sein, den Burschen so zu betreuen, dass möglichst keine traumatischen Schäden bei ihm zurückbleiben werden!»
Wieder entstand eine kleine Pause, ehe Meier antwortete: «Ok, Hans, ich nehme ihn. Wir werden sehen, ob wir zumindest vorübergehend Freunde werden können!»
«Ich danke dir!»
*) UMA: In der Amtssprache unbegleiteter jugendlicher Asylant
2 Das Haus Sonnenhügel
Sommer 2010
Noch am selben Tag, einige Stunden später, fuhr ein dunkelblauer Kastenwagen beim Asylantenheim Sonnenhügel vor. Dieses Auto war mit einer auffälligen gelben Beschriftung versehen: BORDER CONTROL. Jedermann im Haus Sonnenhügel kannte dieses Fahrzeug, weil es oft vorfuhr. Es wurden damit jeweils neue Heimbewohner hergeführt oder eben solche weggebracht. Die zwei uniformierten Beamten überbrachten in diesem Fall einen neuen Gast, der offensichtlich nichts hören konnte und auch nicht sprechen konnte, der überdies sichtlich grosse Mühe mit dem Sehen bekundete.
Die Heiminsassen standen zusammen, tuschelten, als sie die Ankunft dieses Neuen registrierten: Ein Afrikaner mit heller Haut und hellem Haaren. Eine höchst sonderbare Gestalt!
Eine derart grosse Mühe hatte Heimleiter Meinrad Meier noch nie je bekundet bei der Registrierung eines Neuankömmlings. Weil wortwörtlich Nullkommanull Kommunikation zustande kam. So war auch nach dem Interview - das eigentlich eben keines war - weder sein Name noch sein Alter und auch nicht seine Nationalität bekannt. Des Weiteren hatte man keine Ahnung, welches seine Muttersprache sei. Möglicherweise hatte der junge Mann gar keine, denn er war offensichtlich taubstumm. Weitere wichtige Umstände, die sonst stets abgefragt wurden und auf dem Registrationsblatt eingetragen wurden, blieben in diesem Fall ebenfalls im Dunkel. Zum Beispiel die Frage, weshalb er sein Heimatland verlassen habe und auf welcher Route er einlangte. Ob er Familie zuhause habe und es noch immer einen Kontakt zu ihr gebe. Und eine eminent wichtige Frage musste angekreuzt werden: Wollen sie in der Schweiz einen Asylantrag stellen? JA oder NEIN. Meinrad Meier kreuzte von sich aus ein JA an, was grundsätzlich kein korrektes Vorgehen war, eigentlich eine Missachtung von existierenden Vorschriften bedeutete. Meier nahm diese Übertretung bewusst in Kauf, um den jungen Asylanten vor zusätzlichen Problemen zu bewahren.
Bei jungen Flüchtlingen bedeutet ihr mobiles Telefon üblicherweise ihr ein und alles. Aus ihren Handys können die Behörden wichtige Informationen herausholen. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, kommen Lügen wie auch Wahrheiten ans Tageslicht. In diesem Fall war nichts zu holen, weil der junge Mann kein Handy besass.
Sowohl der zuständige Immigrationsbeamte des Kantons mit Namen Ilg wie auch der Amtsarzt Dr. König, die ebenfalls für diese Registration herbeigerufen wurden, schüttelten resigniert ihre Köpfe. Weil auch sie noch nie je ähnliches erlebt hatten. Kommunikationsprobleme sind zwar Alltag in diesem Geschäft, denn wer spricht schon fliessend Afar, Nara oder Tigrinya, ausser eben Eingeborene in Eritrea!? Wer versteht Bomu, Bozo oder Bambara, Sprachen, die man nur in Mali kennt!? Aber meistens sind auch einige Brocken Englisch oder Französisch hier wie dort dabei, vor allem aber auch Hände und Füsse, die sinnerklärend auf beiden Seiten eingesetzt werden können, wie auch Gesten mit den Augen, dem Gesicht, vor allem auch und nicht zuletzt mit dem Körper.
Der Immigrationsbeamte Anton Ilg bemerkte: «Wir können nicht erwarten, dass es in afrikanischen Staaten viele Spezialschulen oder Ausbildungsstätten für Taubstumme gibt, wo sie die Gebärdensprache und das Lippenlesen lernen können. Ohnehin nicht, wenn ein Mensch noch dazu mit einer Sehschwäche belastet ist, wie es bei ihm der Fall ist. Es ist wohl davon auszugehen, dass insbesondere auf dem Land Menschen mit Behinderungen dieser Art vielleicht kaum anders als Tiere aufwachsen. Man überlässt sie sozusagen sich selbst und damit dem Schicksal. Also ist es nur logisch, dass sie sich entsprechend verhalten! So wie es den Anschein macht, dürften wir hier mit einer grossen Aufgabe konfrontiert werden, wenn es darum geht, ihn zu sozialisieren, zu fördern und möglichst gut zu integrieren!»
Nachdem der Arzt Dr. König die Untersuchung des Neuen abgeschlossen hatte, verlautete er: «Der Mann trägt saubere Kleider, ist bei bester Gesundheit – mit Ausnahme seiner offensichtlich angeborenen multiplen Behinderung! Das von dir geschätzte Alter – etwa 15-jährig, könnte stimmen. Ich habe keinerlei Zeichen von Unterernährung, Erschöpfung oder körperlicher Misshandlung feststellen können! – Ganz zum Unterschied vieler seiner Leidgenossen, die ja nur zu oft in einem erbärmlichen Zustand hier bei uns stranden! Ich frage mich: Wie ist so etwas möglich!?»
Meinrad Meier, der Heimleiter, stellte nüchtern fest: «Was ich bis jetzt in diesen zwei Stunden, seit er hier ist, festgestellt habe: Es fehlt ihm offensichtlich massiv an Erziehung, auch an Anstand und Rücksicht. Er hat keine Kultur. Dabei hat ein solches Verhalten eigentlich nichts mit seiner afrikanischen Herkunft zu tun. Denn auch dort haben die Menschen Kultur, wenn auch eine andere als wir hier. Auch dort weiss man was Korrektheit, Anstand und Rücksicht ist. – Ich habe Bedenken, dass es für uns ein echtes Problem werden könnte, ihm beizubringen, wie man sich in unserer Gesellschaft, innerhalb unserer Gemeinschaft zu verhalten hat!»
Der Arzt hörte aufmerksam zu. «Meinrad, ich bin erstaunt! Wie kommst du dazu nach dieser kurzen Zeit ein solch vernichtendes Urteil über seine Sozialkompetenz abzugeben? – Wie sollen wir dies verstehen?»
«Folgendes hat sich zugetragen in der Zeit seit seiner Ankunft bis jetzt: Als meine Frau Pia ihn begrüsste, hat er ihre ausgestreckte Hand ignoriert und stattdessen ihr einen Klaps mit seiner flachen Hand auf ihren Hintern gegeben! He, der Bursche ist vielleicht fünfzehn! Wer tut das in diesem Alter, in seiner Situation? Und er hat an die Hauswand gepinkelt, obwohl wir ihm gerade Minuten zuvor die Toilettenräumlichkeiten gezeigt hatten. Zur Begrüssung erhielt er eine Dose Cola. Als er diese in drei Zügen leer getrunken hatte, warf er die leere Dose zum offenen Fenster hinaus in den Garten. Und er spuckt jede zweite Minute überall auf den Boden, egal wo er sich befindet, auch innerhalb des Gebäudes! Ein solches Verhalten ist nicht tolerierbar, das geht einfach nicht! Es ist furchtbar!»
Nachdenklich schob Meinrad Meier noch nach: «Doch wer weiss, vielleicht sind wir naiv und er clever. Vielleicht ist es sein Versuch uns zu testen. Vielleicht hat er mehr drauf, als wir aktuell vermuten und er provoziert uns, aus welchem Grund auch immer! Ähnliches habe ich auch schon erlebt. Aber natürlich stets nur von Männern, bei denen alle Sinne intakt waren.»
Der Amtsarzt König seufzte. «Ich habe einen schlimmen Verdacht! Könnte es vielleicht sein, dass der junge Mann gar nicht ein Migrant aus Afrika ist, sondern in Europa aufgewachsen ist, zum Beispiel in Frankreich? Und weil die Betreuung dort zu aufwendig wurde, weil sie ihn nicht mehr bändigen konnten oder wollten, haben ihn seine Eltern oder vielleicht sogar Behördenvertreter einfach über die Grenze zu uns rübergeschoben, sozusagen entsorgt! Nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn! Vielleicht auch weil allgemein bekannt ist, dass wir Behinderte gut unterstützen, gut schulen? Damit kann man das eigene öffentliche Sozialwesen finanziell wirksam entlasten!»
Der Heimleiter Meier und der Immigrationsbeamte Ilg schreckten auf, schienen konsterniert ob der These des Arztes.
Dr. König brummte: «Wie auch immer, er ist ein Mensch, der vielleicht Schlimmes hinter sich hat. Er benötigt unsere Hilfe, unsere Unterstützung. Also lasst uns vorurteillos an die Arbeit gehen! Als erstes braucht er eine Brille. Damit kann man ihm schon eine verbesserte Lebensqualität verschaffen!»
Weil auch der Heimleiter Meier für den Moment keine andere Alternative zu erkennen vermochte, blieb auch ihm nichts anderes übrig als vorerst seinen Hauptfokus auf die Nächstenliebe zu setzen. «Es ist unsere Pflicht, unsere Verpflichtung den uns anvertrauten Menschen zu helfen, so gut wir dazu in der Lage sind!»
In der Folge wechselte Meier nun die Tonart. «Wenden wir uns dem Praktischen zu: Wie sollen wir ihn nennen? Er sollte ja wohl einen Namen haben!»
«Geben wir ihm eine Nummer!»
«Eine Nummer, nein, furchtbar, wie im KZ bei den Nazis!»
«Sollte es tatsächlich so sein, dass die Franzosen oder die Italiener ihn uns untergejubelt haben, könnten wir ihn zum Beispiel Franco oder Italo nennen!»
«Spässe dieser Art sind in diesem Moment nicht angebracht, mein Freund!»
«Seine Familie stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Sahelzone. Also nennen wir ihn Sahel!»
Alle Anwesenden lachten erneut, obwohl der Vorschlag absolut nicht als unterhaltender Witz gedacht war.
Nun mischte sich die Tochter des Heimleiters ein, die dreizehnjährige Selina. Sie hatte die eigenartige, ungewöhnliche Prozedur auf Distanz mit einigem Interesse mitverfolgt. Als der Arzt den völlig nackten Mann hinter dem Vorhang untersuchte, konnte es das Mädchen nicht lassen, das Tuch - unbemerkt von allen - etwas bei Seite zu schieben. Und sie hatte pragmatisch festgestellt, dass an diesem Jungen alles dran war, was zu einem Mann gehört, auch wenn er äusserlich zugegebenermassen schon etwas sonderbar aussah. Insbesondere wenn man in Betracht zog, dass es sich um einen Afrikaner handelte, die erfahrungsgemäss von Gott nicht nur mit einer braunen, sondern oft sogar mit einer fast rabenschwarzen Haut versehen werden. Selina sagte: «Jeder Mensch braucht vor allem auch einen Vornamen. - Ich hätte einen Vorschlag: Nennen wir ihn Albino! Das klingt doch zumindest einigermassen melodisch!»
Die Erwachsenen lachten erneut.
Der Migrant wurde nun langsam unruhig und er machte Anstalten nächstens vielleicht gar auszubüxen. Seine Geduld schien am Endpunkt angelangt zu sein.
Selina gab dem jungen Mann spontan die Hand und sagte: «Ab sofort heissest du Albino Sahel! Das ist doch gewiss ein netter Name!»
Albino lächelte das erste Mal, seit er hier war. Offensichtlich hatte er erkannte, dass zumindest dieses junge Mädchen ihm wohlgesinnt war.
Als auch die drei Männer ihm ihre Hände entgegenstreckten, schien dies für den Jungen eine sichtliche Erleichterung.
Der Arzt zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn: «Du, Albino!» Und er wiederholte es mehrere Male, sprach das Wort Albino mit deutlicher Lippenbewegung aus.
Schliesslich verstand der junge Migrant diese Geste, zeigte auf sich und versuchte ebenfalls mit seinen Lippen das Wort Albino zu formen, was nach mehreren Anläufen sogar einigermassen gelang.
Alle katschten.
«Er hat es verstanden! Er hat es echt verstanden. Er ist lernfähig! Er ist zumindest kein elender Idiot!» Selinas Begeisterung war echt.
3 Das Leben im Asylheim Sonnenhügel
Sommer 2010
Das Leben im Asylantenheim Sonnenhügel gestaltete sich auch in diesem Sommer nicht anders als in den Jahren zuvor. Kurz gesagt: Es war alles andere als einfach. Heimleiter Meinrad Meier, ein auf Gerechtigkeit bedachter, etwas knorriger Bergler und seine schöne, etwas zu Fülle neigende Gattin Pia, in Gemeinschaft mit dem Personal, hatten alle Hände voll zu tun, den Frieden im Haus zu bewahren. Immer wieder aufkeimende Händel zwischen einzelnen Heimbewohnern oder Gruppen waren eine Gefahr für die angestrebte Harmonie. Oft lagen die Nerven der Gäste blank. Die unterschiedlichen Nationalitäten, Ethnien, Individualitäten, Mentalitäten und nicht zuletzt auch Religionen bildeten eine ideale Voraussetzung den Kessel zum Kochen zu bringen, beziehungsweise am Kochen zu halten. Es ging der Heimleitung darum, alles zu unternehmen, dass der Kessel möglichst nicht überkochte. Vorteilhaft war, dass in diesem Heim nur Männer untergebracht waren. Nachteilig war, dass es vornehmlich junge Leute oder sogar Jugendliche waren, die naturgemäss schneller in Rage kommen können, die unvermittelter nicht mehr im Stande sind sich zu kontrollieren, die fallweise gewaltbereit sein können, insbesondere wenn sie nichts oder zumindest wenig zu verlieren haben.
Meinrad Meier wollte sich die Probleme lieber nicht ausmalen, wären auch Frauen im Haus.
Das Ehepaar Meier mit Personal stellte alle erdenklichen Anstrengungen an, damit es möglichst nicht zu tätlichen Handlungen kam. Denn wenn jeweils Blut floss, gab es nicht nur wegen der medizinisch notwendigen Versorgung die entsprechende Aufregung. Dann rückte – ausser der Ambulanz – eben auch immer wieder die Polizei an und Befragungen und oft auch Verhaftungen folgten. Dies kostete nicht nur Nerven, sondern vor allem auch Zeit und Energie. Und die Aktionen beschworen zusätzliche Emotionen herauf, auf die man lieber verzichtete.
Dann waren da ausserdem noch die typischen Nebenschauplätze, die ausnahmslos in jedem Fall zu Verhaftungen führten: Drogenhandel. Handel mit Alkohol. Handel mit Waffen. Diebstähle. Verfehlungen dieser Art waren eher selten, aber sie kamen vor und mussten erst aufgedeckt werden.
Inmitten dieses alltäglichen Trubels, der unsere reale Welt im Kleinformat abbildet, hatten sich auch die zwei Töchter des Leiterehepaars Meier zurecht zu finden: Die bald 14-jährige Selina und die bald 13-jährige Ladina. Denn die Familie hatte ihre Wohnung im Heim. Dabei floss Privates und Berufliches oft nahtlos ineinander, ohne dass dies angestrebt wurde. Der Erziehungsaufwand von Vater und Mutter Meier für ihre beiden Töchter war umständehalber auf das Nötigste beschränkt. Doch weil die Kinder vernünftig waren, konnten sich diese recht gut selbstverantwortlich managen. Die Empfehlung der Eltern Meier an ihre Töchter lautete: Freundlich zu den jungen Männern zu sein – aber stets auf Distanz zu bleiben. Weil die Mädels gute Schülerinnen waren, brauchte es auch diesbezüglich keine weiteren elterlichen Ermahnungen, dass die täglichen Schulaufgaben zuhause seriös zu erledigen seien. Selina und Ladina waren sich bewusst, dass sie sich mit gewissenhaftem Arbeiten und nachfolgenden positiven Leistungen vor allem selbst belohnten. Ihnen stand stets vor Augen, dass damit das Fundament für künftige berufliche Pläne gelegt würde. Und diese Pläne existierten durchaus schon in den Köpfen der beiden jungen Menschen.
Im Asylantenheim Sonnenhügel regulierten Vorschriften das tägliche Leben. Diese mussten von allen Bewohnern ausnahmslos befolgt werden. Zum Beispiel war im Haus weder der Genuss von Alkohol noch von Nikotin erlaubt, Drogen ohnehin nicht. Wer Rauchen wollte, musste dies im Freien tun. Der Besitz gefährlicher Gegenstände wie Messer war strikte verboten. Jegliche Art von Waffen tabu. Jeder Heimbewohner hatte zu den fixierten Essenszeiten pünktlich anwesend zu sein. Ab 22.30 Uhr herrschte Nachtruhe. Die Bewohner wurden zu Arbeitseinsätzen eingeteilt, womit man auch versuchte der Eintönigkeit und Langeweile zu begegnen. Zum Beispiel Reinigungsarbeiten im Haus. Mithilfe in der Wäscherei oder der Küche. Gartenarbeiten und ähnliches. Wer sich über diese Vorschriften hinwegsetzte, wurde sanktioniert. Die Strafen waren zum Beispiel der Entzug von Freigang, der Ausschluss bei sportlichen Aktivitäten oder die Verweigerung von Nachtisch, der am Ende jeder Hauptmahlzeit stets ein Highlight für die Leute darstellte. Denn Süsses mochten sie alle.
Nun denn, die Frage stand im Raum: Wie würde es möglich sein, dem kommunikationsresistenten Outsider Albino Sahel diese Vorschriften beizubringen? Die Sache schien vorerst kompliziert zu sein. Denn wenn immer der junge Mann keine Lust für etwas hatte, stellte er sich stur und mimte den Arglosen, der nichts kapieren wollte. Doch Meier und sein Personal erkannte sehr schnell, dass Albino wohl ein ziemlich intelligentes Schlitzohr war. Wenn der Kerl den Trottel, den Nixverstan zur Schau stellte, tat er dies, um für sich damit nach Möglichkeit einen Vorteil herauszuholen. Meier gab die harte Devise an das Personal durch, dass keiner der Migranten, auch Albino nicht, niemandem der Belegschaft auf der Nase herumtanzen dürfe. Andernfalls eine Strafe fällig sei.
Albino spielte narrisch gerne Fussball, obwohl er als Behinderter arg handicapiert war, weniger durch seine Gehörlosigkeit, mehr durch seine Sehschwäche. Denn beim Fussballspielen musste er seine neue Brille aus naheliegenden Gründen ablegen. Dennoch trocknete er auf dem Spielfeld dank seiner technischen Fertigkeit alle seine Kollegen mit hinten links ab, sobald er den Ball an den Füssen hatte. Weil er ein solch exzellenter Fussballer war, stieg sein Status bei den Kollegen merklich an.
Es war schon nach kurzer Zeit ersichtlich, dass Albino friedlich war. Wenn es Raufhändel gab und Albino die Notwendigkeit sah einzugreifen, war er trotz seiner Einschränkungen und seiner Jugendlichkeit meist der Grösste und Kräftigste. Und er zögerte nicht zuzupacken, wenn es darum ging Streit zu schlichten. Niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen.
Die kommunikative Verständigung zwischen Albino und den anderen Asylanten war gar nicht so hoffnungslos. Mit Zeichen und Gesten wurde mehrheitlich jenes rübergebracht, was rüberzubringen war. Weil auch die anderen Migranten von unterschiedlichen Herkunftsländern stammten und somit unterschiedliche Muttersprachen hatten, mussten sich auch diese untereinander nicht selten mit Deuten, mit Zeichen und Gesten behelfen.
Aufgrund dieser Konstellation erlangte Albino erstaunlicherweise schon nach kurzen Wochen im Haus eine Art Leithammel-Position, obwohl er der jüngste Asylant im Haus war. Das Personal des Sonnenhügels erkannte: Albino hatte schon nach kürzester Zeit die Regeln des Hauses lückenlos intus. Und weil der Kerl die entsprechenden Strafen bei Übertretungen hasste und somit zu meiden versuchte, gebärdete er sich schon bald als Musterknabe und Vorbild. Albino lag viel daran das Dessert nach jeder Mahlzeit verdient zu haben. Und vom Fussballspiel ausgeschlossen zu werden, wäre für ihn einer Katastrophe gleichgekommen.
Selina hatte ein Hobby, das schon beinahe eine Art Leidenschaft war: Das Schachspielen. Sie setzte sich an den Tisch zum Brettspiel, wann immer sie freie Zeit hatte und sie einen Spielpartner fand. Meist spielte sie mit ihrer Schwester Ladina, die allerdings keine ernsthafte Gegnerin war. Sie spielte auch mit ihrem Vater, den sie in den meisten Fällen besiegte. Manchmal fanden sich auch Leute des Personals, die versuchten, sich mit ihr zu messen, eher selten Heiminsassen. Nur wenige der Asylanten kannten dieses Brettspiel überhaupt. Wer auch immer sich wagte gegen Selina anzutreten, war kaum je in der Lage sie ernsthaft in Verlegenheit zu bringen.
Einmal beobachtete Albino ein Spiel während einer Stunde mit grosser Aufmerksamkeit. Als Selina und ihr Gegner das Game beendet hatten, deutete Albino, er wolle Selina herausfordern. Selina war sehr überrascht. «Kannst du etwa Schachspielen?» Albino verstand Selinas Frage ohne Worte und antwortete mit einem Lächeln.
Albino stellte Selina innerhalb einer halben Stunde Schachmatt.
Selina war nicht mal besonders wütend über ihre Niederlage, sondern eher tief beeindruckt. Sie eilte unverzüglich zu ihrem Vater: «Albino hat mich im Schach geschlagen! Dabei ist er ein totaler Anfänger! Es scheint, als war es das erste Spiel seines Lebens!» Sie schüttelte den Kopf, seufzte: «Er muss ein einmaliges Genie sein!»
Für Meinrad Meier war dies nicht unbedingt eine gute Nachricht. Er griff unverzüglich zum Telefon und berichtete das Geschehen Anton Ilg vom Migrationsamt. «Nun bin ich ziemlich sicher, dass er kein Flüchtling aus Afrika sein kann. Denn dort haben die Leute andere Sorgen als Schach zu spielen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kerl ein Anfänger ist. Kein Mensch kann ohne fundamentale Einführung und entsprechendes Üben Schachspielen. Niemand kann das einfach so. Und ein Anfänger ist ohnehin nicht in der Lage Selina zu schlagen. Was ich sagen möchte: Vieles deutet darauf hin, dass er wohl in Europa aufgewachsen sein dürfte! Unsere Kultur ist ihm kaum fremd. Der Kerl mag intelligent sein. Doch es scheint wahrscheinlich, dass er wohl eher ein Scharlatan ist, der mit uns ein Spiel treibt!»
Ilg: «Aber taubstumm ist er wohl schon!»
«Daran besteht kein Zweifel. Und halbblind ist er auch! Dafür sind alle seine anderen Sinne messerscharf!»
«Ist dir bekannt, Meinrad, dass sein Asylantrag eben akzeptiert wurde. Begründung: Wir schicken keine behinderten Flüchtlingskinder zurück! Der Junge hat ein Recht auf Förderung wie alle Behinderten in diesem Land!»
Meier seufzte. «Ich habe bei ihm ein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich, weil er so geheimnisvoll ist! - Immerhin heisst das auch, dass Albino uns bald verlassen wird und er in eine Behindertenschule kommt. Darüber bin ich echt erleichtert!»
4 Einst Hotel Sonnenhügel, dann Asylantenheim
Spätsommer 2010
Die Bevölkerung jenes Dorfes in der Ostschweiz, in dem das Asylantenheim Sonnenhügel liegt, war in Aufruhr.
Weshalb?
Was war geschehen?
Die Vorgeschichte ist die folgende: Zur Jahrtausendwende war das Berghotel Sonnenhügel aus den in dieser Branche üblichen Gründen in Konkurs geraten: Allgemeine Misswirtschaft, Überschuldung und der Niedergang der Infrastruktur waren damals die Treiber. Die Feriengäste meldeten immer höhere Ansprüche an, welche ein Hotel – unmittelbar in der Nachkriegszeit erbaut – nicht mehr befriedigen konnte. Geld für eine gründliche Sanierung war nicht da und niemand war bereit gewesen etwas einzuschiessen, weder Private noch Banken. Schliesslich kaufte der Kanton das Haus mit dem Ziel, dieses keinesfalls leer stehen zu lassen, sondern zu nützen und dies ohne grösseren baulichen Aufwand. Damit war das Asylantenheim Sonnenhügel geboren. Dies gegen massiven Widerstand des Dorfes.
Kein Dorf in der ganzen Schweiz beherbergt gerne ein Asylantenheim. Weil die Einwohner grundsätzlich Angst haben vor Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund, mit einer anderen Religion, einer fremden Sprache, oft auch mit einer anderen Hautfarbe. Können sich unsere Kinder, unsere Frauen noch vor die Haustür wagen, ohne belästigt zu werden? Müssen wir fortan unsere Haustüren doppelt verriegeln? Stehlen sie Hühner oder Wäsche von der Leine?
In der damals einberufenen Gemeindeversammlung – einige Zeit zurück - waren Repräsentanten des Kantons mit ihren Argumenten nicht in der Lage, die Einstellung einer nicht unbedeutenden Minderheit der Bürger zu ändern. Der Heimleiter Meinrad Meier – kein Einheimischer, ein Bündner, wie seine Frau auch, beide zwischen vierzig und fünfzig, er näher bei fünfzig, sie nahe bei vierzig, hatte zwar einen gewissen Goodwill auch bei den Leuten, die dagegen waren. Man schätzte Meiers lautere Einstellung, seine Menschlichkeit, seine Ehrlichkeit. Dennoch zogen sowohl einzelne Vertreter der Gemeindebehörde wie auch keine kleinere Zahl von Bürger alle Register, um den Kanton zur Wende zu bewegen. Ohne Erfolg. Der Kanton machte höhere Interessen geltend. Ein Gericht entschied zu Gunsten des Kantons. Damit war ein legaler Weg, den laufenden Betrieb des Asylzentrum zu stoppen, verbaut, der Widerstand jedoch bis auf weiteres nicht gebrochen.
Nachdem das Haus mit Asylanten gefüllt war, zeigte sich in der Praxis, dass der Betrieb weniger störend war als ursprünglich von einem Teil der Bürgerschaft befürchtet. Zwar gab es immer wieder Dispute zwischen Bürgern des Dorfes und Heimbewohnern, oft wegen Kleinigkeiten, meist wegen Missverständnissen. Was von der Heimleitung als ein gewisser Vorteil betrachtet wurde, nämlich nur etwa Gleichaltrige, mehrheitlich jugendliche, männliche Insassen zu beherbergen, wurde von einem grossen Anteil der Dorfbewohner eher als mögliche Bedrohung angesehen: Junge Männer versuchen über die Zäune zu gucken! Junge Männer besitzen zu viel Testosteron! Junge Männer haben ein Handy in der Tasche aber kein Geld! Und auch junge Männer haben Heimweh, Sehnsucht nach Geborgenheit. Jungen Männern geht die Einsamkeit, die Ereignislosigkeit, die Perspektivlosigkeit, das Leben ohne Liebe und Zuwendung auf den Sack! Junge Männer sind deshalb schlecht berechenbar, können schon mal die Selbstkontrolle verlieren. Ist doch sonnenklar! Ist doch völlig nachvollziehbar. Alle diese Tatsachen aber bedeuten Gefahr!
Wenn es über die Jahre hinweg eher wenige gravierende Zwischenfälle gab, bei denen Bürger und Asylanten in Konfrontation gerieten, konnte man dies vor allem auch als ein Verdienst der Heimleiter-Familie Meier und ihrem Team zuschreiben. Die Leute waren Meister im Üben der Deeskalation, im Anziehen der Zügel und Loslassen derselben. Für die Asylanten war erkennbar, dass die Führungsleute im Haus versuchten gerecht zu handeln, vor allem auch, dass sie berechenbar waren. Wenn Strafen ausgesprochen wurden, empfand man diese meistens als angebracht, auf jeden Fall nicht als ungerecht.
In der Tat entwickelten sich die gröberen Probleme nicht zwischen Asylanten und Dorfbewohnern, sondern waren Konflikte von Heimbewohnern unter sich. Einmal geschah gar ein Mord, als ein Kollege seinen Kumpel mit einem Küchenmesser in der Küche erstach. Gemäss Gerichtsurteil war es nicht Mord, sondern – juristisch korrekt beurteilt - Totschlag. Denn der Täter hatte nicht mit Vorbedacht oder Absicht gehandelt, sondern im Affekt. Weil er in Wut geraten war, diese nicht mehr kontrollieren konnte und er gerade zufällig das Tatwerkzeug in der Hand hielt, um Gemüse zu rüsten. Und wohl auch, weil ihn der Gegner zuvor gemobbt hatte. Die tiefere Ursache für die Tat wurde nie aufgeklärt, blieb im Dunkeln.
Nun aber war ausgerechnet Albino Sahel für einen Eklat verantwortlich. Bei schwülheissem Wetter begab sich der junge Mann allein zum Fluss, um darin zu Schwimmen – ein Vorgang, wie er sich schon Dutzende Male in den Tagen zuvor während des ganzen Sommers hindurch regelmässig abgespielt hatte. Albino war ein guter Schwimmer. Meiers diesbezügliche Meinung war, dass dies ein Indiz mehr sei, dass Albino kein echter Afrikaner sein könne, denn die würden üblicherweise nicht schwimmen können. Albino zog wie immer sein Hemdchen und seine Hose aus, deponierte sein kleines Kleiderbündel unter einem Strauch – immer demselben, um die Habseligkeiten später wieder leichter finden zu können. Dann stürzte er sich nackt in die Fluten. Kein Problem, weil da nie jemand war. Einige Dutzend Meter Fluss abwärts und wenige Minuten später schwamm Albino an den Rand, stieg aus dem Wasser und schickte sich an, den Weg entlang des Flusses zurückzulaufen, dorthin, wo seine Hose und sein Hemdchen deponiert waren. Wenn sein Gehör intakt gewesen wäre und seine Augen genaues Sehen erlaubt hätten, wäre ihm Kindergekreische schon von weitem aufgefallen. Und er hätte sich leicht vorübergehend im Gebüsch verbergen können. So aber stolperte der nackte Mann mitten in die Kinderschar einer Schulklasse, welche Naturkunde im Freien abhalten wollte. Albino erschrak nicht weniger als die Lehrerin. Er machte sich so schnell aus dem Staub, als ihm dies möglich war. Während die Lehrerin in Schreck erstarrte, sahen es die Kinder eher von der humorvollen Seite: Sie lachten und spotteten, waren kaum beeindruckt.
Die Bombe platzte Stunden später: Weil die Kinder am Abend vom Vorfall an diesem Nachmittag zuhause erzählten, fanden einige Eltern dies eine gute Gelegenheit, um eine Anzeige zu erstatten wegen Exhibitionismus eines Heiminsassen.
Die Polizei erschien noch am selben Abend im Sonnenhügel. Dabei war es recht einfach den Täter zu identifizieren, denn er wurde von allen identisch beschrieben: Es war ein weisser Neger! Bei der Befragung von Albino im Beisein von Meinrad Meier gelangte man zu keinem Fazit, weil keine Kommunikation mit dem taubstummen Menschen möglich war. Albino spielte den kommunikationsresistenten Mann perfekt wie stets, wenn ihm dies vorteilhaft erschien.
Die Polizei legte die Sache ad acta. Dies vor allem auch deshalb, weil die Lehrerin darauf beharrte, dass sich dieser Mann nach ihrer Ansicht nicht als Exhibitionist betätigt hatte, sondern nur nackt im Fluss badete und dabei zufällig überrascht worden war. Doch Leute des Dorfes gaben keine Ruhe. Der Tenor lautete: In diesem Heim gibt es mindestens einen Exhibitionisten, der unsere Jugend verdirbt. Deshalb gehöre das Heim geschlossen. Einige Bürger deponierten eine Klage beim Bezirksgericht, welches wegen Arbeitsüberlastung bis auf weiteres nicht in der Lage war, den Fall zu behandeln.
Jugendliche Heisssporne warfen mit Steinen eine Scheibe des Sonnenhügels ein und säten damit Schreck. In der Dorfmitte hängten sie Transparente an die Dächer einiger Häuser mit Slogans wie Der Sonnenhügel muss geschlossen werden oder Asylanten in unserem Dorf sind unerwünscht. Refugees go home.
Besonnene Kreise stellten sich dagegen, riefen zu allgemeiner Zurückhaltung, zu Frieden und Versöhnung auf. Sie wiesen auf das harte Los der Flüchtlinge hin und insbesondere auf ihr ungewisses Schicksal in Bezug auf ihre Zukunft. Denn dieses Heim war ja nur eine Zwischenstation, ein Durchgang vor einer endgültigen Akzeptierung eines Asylantrags oder eben im negativen Fall einer Wegweisung. Und Wegweisungen würden weit mehr vorkommen als Akzeptierungen, wurde betont. Angeführt wurde die Gruppe der Besonnenen insbesondere von den kirchlichen Repräsentanten: Die protestantische Pastorin und der katholische Pfarrer spannten aktiv verbindend zusammen. Um die beiden Exponenten der Kirchen in Misskredit zu bringen, dichtete man den beiden ein Liebesverhältnis an. Der Pfarrer und die Pastorin widersprachen dieser Vermutung vehement, aus naheliegenden Gründen: Die Frau war verheiratet und hatte einen Mann und drei kleine Kinder zuhause. Der Pfarrer andererseits war als katholischer Priester dem Zölibat verpflichtet.
5 Ein Knalleffekt mit Folgen
Herbst 2010
Es wurde kühler im Land, saisonbedingt. Albino badete nun nicht mehr im Fluss. Das Klima der Konfrontation Pro und Kontra Asylantenheim im Dorf war umständehalber etwas eingeschlafen. Vielleicht auch eingefroren. Andererseits spielte Albino regelmässig das Spiel mit den sechzehn schwarzen und den sechzehn weissen Figuren auf einem Brett mit vierundsechzig Feldern. Selina und all die anderen hatten längst keine Chance mehr in Games gegen ihn.
Ein 80-jähriger Altmeister machte die Aufwartung, weil er vom Schachwunderkind Albino im Sonnenhügel gehört hatte. Der Mann, von Beruf Psychologe, fand die Begegnung mit dem taubstummen und sehbehinderten jungen Mann zumindest spannend. Auch der Meister wurde diskussionslos von Albino in die Schranken gewiesen, was in diesem Spiel Schachmatt heisst. Ein solches Resultat hatten doch alle eher nicht erwartet. Insbesondere der Champion selbst nicht. In Wahrheit bedeutete dieser Sieg für Albino offensichtlich eher wenig. Viel lieber wäre es ihm gewesen, sich im Fussball weiterzuentwickeln. Weil Fussball seine echte, seine wahre Liebe bedeutete. Doch Albinos körperliche Beeinträchtigungen, insbesondere seine Sehschwäche, sorgten dafür, dass ihm in diesem Sport unverrückbare Grenzen gesetzt waren. Das Brettspiel war für Albino eine Art Ersatz, nicht mehr.
Im Anschluss an das Schachspiel analysierte der Schachmeister Albinos Strategie. Er meinte, dass der Junge wohl nicht ein Schachgenie im eigentlichen Sinne sei, weil er viel zu wenig Praxis habe und somit wenig Erfahrung. Albino besitze eine ausgeprägte kognitive Begabung, die vielleicht gerade infolge seiner Behinderungen überhöht sei: Der junge Mann lebe abgekapselt in seiner eigenen Welt, werde weniger abgelenkt als ein Mensch, bei dem alle Sinne funktionierten. Dies sei wohl der Grund, weshalb er in der Lage sei, sich ganz intensiv zu konzentrieren und auch zu fokussieren. Albino könne sich einerseits extrem gut in die Denkweise seines Gegenübers hineinversetzen, andererseits sei davon auszugehen, dass er mit einem hohen IQ ausgestattet sei. Mit dieser intellektuellen Begabung sei er gegenüber den meisten Menschen mit normaler Begabung insbesondere im analytischen Denken im Vorteil. Dies erlaube ihm nicht nur zwei oder drei mögliche Varianten von Schachzügen vorauszudenken - auf seiner Seite, wie auch auf der Seite des Gegners, sondern eben noch mehr, vielleicht sogar fünf, sechs oder noch mehr. Albinos hohe Intelligenz werde zweifellos auch im normalen Leben für ihn hilfreich sein. «Dieser Mensch könnte durchaus Furore machen, entgegen der allgemeinen Erwartungen aufgrund seiner Einschränkungen!»
Und was der Psychologe auch noch erwähnte, zwar eher beiläufig, aber doch mit Nachdruck: Er glaube, dass der Junge einen Anflug von telepathischen Fähigkeiten besitze, die ihn wohl in die Lage versetzen könnten, in einem gewissen Sinn Gedanken, Empfindungen, Gefühle des Gegenübers zu lesen. Wobei Lesen wohl ein falscher Begriff sei, weil Albino ja weder des Lesens noch des Schreibens kundig sei. Erkennen, sei wohl ein besserer Begriff für jenes was er meine. Gehörlose Menschen würden oft ein besonderes Sensorium besitzen, das ihnen ermögliche, Schwingungen, die von anderen Menschen ausgehen, zu empfangen, ohne Verwendung der biologischen Sinnesorgane. Telepathie eben.
Die Analyse des greisen Schachmeisters und Psychologen wurde von Meier und seiner Frau gemeinsam aktiv ignoriert, aber immerhin nicht auf unhöfliche Art. Meinrad flüsterte zu Pia: «Er ist und bleibt ein alter Spinner!»
Selina und Ladina wandten sich ab, weil die zwei Mädchen überhaupt nichts von jenem verstanden, was der Mann versucht hatte zu erklären.
Andererseits hatte Meinrad Meier eine freudige Botschaft zu verkünden: Für Albino wurde ein Platz in einer Schule für Hörbehinderte frei. In wenigen Tagen würde der Junge sein Bündel packen können und in ein Internat in der Zentralschweiz umziehen dürfen. Hier würde er die so notwendige Unterstützung finden, um dereinst in einem Leben mit Selbstverantwortung und vor allem auch Selbstbestimmung bestehen zu können.
Insgeheim war der Heimleiter froh, einen zwar friedfertigen, aber doch eher komplizierten Kunden damit loszuwerden. Des Weiteren glaubte das Ehepaar Meier bemerkt zu haben, dass sich Selina etwas gar gut mit Albino verstand, das Mädchen sich wohl in ihn verguckt hatte. Offensichtlich und wohl – aus Sicht der Eltern - auch glücklicherweise, ohne dass Albino dies realisiert hatte. Auf jeden Fall schien die Sympathie doch eher einseitig zu sein. Mit dem Abschied von Albino würde sich dieses Problem damit von selbst erledigen.
Selina feierte am Abend vor Albinos Abreise ihren 14. Geburtstag. Eine riesige Torte wurde angeschnitten und jeder im Haus konnte sich mit einem Stückchen bedienen.
An diesem Abend gebärdete sich Albino aussergewöhnlich unruhig. Der Junge hatte wohl gut verstanden, dass er vor einem Umzug stand und dass es nun in einen Lernprozess gehen würde, der ihn fordern würde, ihn aber gleichzeitig auch auf einen neuen Level hieven würde, um schliesslich im Leben bestehen zu können. Doch das Neue, das vor ihm stand, die Ungewissheit der Zukunft schien Albino zu bedrücken.
Schliesslich weigerte er sich an diesem letzten Abend zu essen und er wollte auch nicht in seinem Bett in seiner Kammer schlafen. Er deutete an für diese letzte Nacht im Keller des Hauses am Boden übernachten zu wollen. Dabei war es ihm nicht möglich den Grund für dieses eigenartige Ansinnen zu artikulieren.
Meinrad Meier sah darin eine blöde Flause, die es auszutreiben gelte und er befahl gebieterisch mit entsprechenden Gesten: «Das ist dein Zimmer und da schläfst du! Basta! Keine Widerrede! Bitte keinen unnötigen Krach an diesem letzten Abend!»
Weit nach Mitternacht, als alle Hausbewohner in ihren Betten lagen, ereignete sich eine gewaltige Explosion im äusseren Bereich des Hauses Sonnenhügel, welche nicht nur die Bewohner des Heims aufschreckte, sondern das gesamte Dorf erschütterte.
Schon nach kurzer Zeit waren Ambulanzfahrzeuge, die Feuerwehr und auch die Polizei vor Ort, von den Gaffern nicht zu reden. Der Ort des Grauens wurde weiträumig abgesperrt. Danach langten auch Kriminaltechniker und Spezialisten der Forensik aus der Kantonshauptstadt ein. Und geraume Zeit später griffen Experten ins Geschehen ein, wie sie stets von der Bundesanwaltschaft geschickt werden, wenn Sprengstoff im Spiel ist. Das Feuer konnte rasch geortet und gelöscht werden, zum Glück gerade noch zeitig genug, bevor sich dieses das ganze Haus zum Frasse vornehmen konnte. In einem Zimmer fanden die Feuerwehrleute einen Toten und einen Schwerverletzten. Der Schwerverletzte war Albino, der Tote sein bester Kollege im gleichen Zimmer, der aus Eritrea stammte.
Selina weinte, war untröstlich, als man die verstümmelte Leiche in den Sarg legte und man den bewusstlosen, am Kopf stark blutenden Albino notmässig verarztete und anschliessend hektisch in den Krankenwagen schob. Das grosse Kind verstand die Welt nicht mehr. «Welche Menschen können so viel Bosheit in sich tragen, um eine solche Tat ausführen zu können!? Und weshalb? Dieser Geburtstag wird ewig in meiner Erinnerung bleiben!»
Selinas Mutter sprach: «Beten wir für die Unglücklichen. Beten wir für den Verstorbenen, der bei uns leider sein Glück nicht finden konnte. Er hat hiermit sein schwieriges Leben abgeschlossen und ist hinüber gegangen ins Reich der himmlischen Freuden! Beten wir aber vor allem auch für Albino, den die Mediziner im Spital hoffentlich wieder gesund machen können!»
Meinrad Meier verkopfte sich: «Kann es sein, dass Albino eine Vorahnung hatte vom Schrecklichen, das diese Nacht passieren würde? Weigerte er sich deshalb, in seinem Zimmer, in seinem Bett zu schlafen?»
Meier beschäftigten diese Gedanken. Sie bedrückten ihn. Sie wollten nicht mehr aus seinem Hirn weichen.
6 Wunder
Herbst 2010
Aufgrund des bedauerlichen Vorfalls, wie es in der amtlichen Verlautbarung hiess, nämlich der Explosion im Bereich des Asylheims Sonnenhügel, wurde das Haus unverzüglich geschlossen und alle Insassen noch am selben Tag in andere Asylunterkünfte umgesiedelt. Dem Kanton als Besitzer des Hauses erschien ein unmittelbares Weiterbetreiben des Hauses unter den gegebenen Umständen nicht sinnvoll. Zuerst musste die Instandstellung der erheblich beschädigten Liegenschaft erfolgen. Ausserdem liefen die Untersuchungen weiter. Und diese liessen sich ohne die Anwesenheit der Asylanten zweckmässiger bewerkstelligen. Ziel war es, so schnell als möglich die Ursache der Explosion, die Umstände, beziehungsweise eine Täterschaft zu finden, sollte es eine solche geben. Der Verwalterfamilie Meier wurde ausnahmsweise erlaubt bis auf weiteres in der intakt gebliebenen Verwalterwohnung im Haus zu verbleiben. Ihr Vertrag lief weiter.
Meinrad Meier verpflichtete sich, die vorerst notwendigen Aufräumarbeiten zu organisieren, beziehungsweise zu überwachen. Und er signalisierte auch bei einer künftigen Sanierung den Support zu leisten. Das übrige Personal wurde vollständig freigestellt, sprich entlassen. Es war ein Fiasko. Denn nun realisierten die Bürger des Dorfes, dass in diesem Heim über zwanzig Arbeitsplätze bestanden hatten, die nun von heute auf morgen wegfielen, die Angestellten wegen der Kündigung auf der Strasse standen. Der Zeithorizont für eine Wiederaufnahme des Betriebes stand in den Sternen.
Die Kardinalfrage, die sich stellte, lautete: Handelte es sich bei dieser Explosion um ein Unglück, oder war es ein Anschlag, ein