Benjamin Constant (illustrierte Ausgabe- 1909) - Josef Ettlinger - E-Book

Benjamin Constant (illustrierte Ausgabe- 1909) E-Book

Josef Ettlinger

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Beschreibung

Von allen mehr oder minder großen Franzosen, deren Gebeine unter der Kuppel des Pantheons die letzte Ruhestatt gefunden haben, darf kaum ein anderer gerade dem deutschen Interesse näher stehen, als Benjamin Constant, der geistreichste Mann seit Voltaire, wie ihn Chateaubriand, der »premier esprit du monde«, wie ihn im Enthusiasmus einst Frau von Staël genannt hat. Denn ob auch seine Wiege in Waadtland stand und in Frankreichs Erde sein Grab liegt, so verband ihn doch zeitlebens ein großer Teil seiner geistigen und persönlichen Interessen mit Deutschland, daß er schon aus diesem Grunde ein Anrecht hätte, auch diesseits des Rheines besser gekannt zu sein, als er es bisher war.

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Josef Ettlinger

Benjamin Constant

Der Roman eines Lebens

Meiner Frau

Benjamin Constant (1830)
Nach einer Zeichnung von Eugène Dèvèria
2020

Inhalt

Vorwort

I.  Verlorene Kindheit
II.  Frau von Charrière
III.  Braunschweig
IV.  Scheidewege
V.  Zwischen zwei Frauen
VI.  Frau von Staël
VII.  In Lebensfluten
VIII.  Das Tribunal
IX.  Weimar
X.  Zwischenspiel
XI.  Charlotte
XII.  »Wallstein«
XIII.  Trennung
XIV.  Göttingen
XV.  Madame Récamier
XVI.  Die Hundert Tage
XVII.  »Adolphe«
XVIII. Letzte Jahre
XIX.  Rückblick

Vorwort

Von allen mehr oder minder großen Franzosen, deren Gebeine unter der Kuppel des Pantheons die letzte Ruhestatt gefunden haben, darf kaum ein anderer gerade dem deutschen Interesse näher stehen, als Benjamin Constant, der geistreichste Mann seit Voltaire, wie ihn Chateaubriand, der »premier esprit du monde«, wie ihn im Enthusiasmus einst Frau von Staël genannt hat. Denn ob auch seine Wiege in Waadtland stand und in Frankreichs Erde sein Grab liegt, so verband ihn doch zeitlebens ein großer Teil seiner geistigen und persönlichen Interessen mit Deutschland, daß er schon aus diesem Grunde ein Anrecht hätte, auch diesseits des Rheines besser gekannt zu sein, als er es bisher war. Deutschen Hochschulen und deutschen Wissensquellen dankt er ein gutes Stück seiner reichverzweigten Bildung, manche Fäden freundschaftlicher Art knüpften sich zwischen ihm und der zeitgenössischen deutschen Intelligenz, in erster und zweiter Ehe war er mit deutschen Frauen vermählt, dem deutschen Drama war er auf französischem Boden einer der ersten Vermittler; er kannte zudem Deutschland nicht nur aus jahrelangem Aufenthalt, er liebte es auch und fühlte sich in manchem entscheidendem Zuge deutschem Wesen verwandt und verpflichtet.

All das dürfte schon rein äußerlich den Versuch rechtfertigen, ein deutsches Lesepublikum für diesen Träger ungewöhnlicher Lebensschicksale stärker zu interessieren, auch wenn nicht seine problematische Persönlichkeit dem psychologischen Forschungstriebe unserer Zeit ein so ungemein lohnendes Objekt darböte.

In Frankreich selbst hat das Interesse für Benjamin Constant bereits vor einigen Jahrzehnten stärker eingesetzt und sich seither in dem Grade gesteigert, als man durch die Veröffentlichung von Selbstbekenntnissen und Briefen sein vom Zwielicht des Vorurteils und falscher Überlieferung nur mangelhaft erhelltes Charakterbild schärfere und bestimmtere Linien gewinnen sah. Drei Jahre nach seinem Tode, 1833, hatte zuerst Loëve-Veimars in der »Revue des deux mondes« dieses Charakterbild noch in wesentlich sympathischem Sinne zu zeichnen versucht; ein Jahr darauf erschien an derselben Stelle ein entzückter Aufsatz Gustave Planches über den kleinen Roman »Adolphe«. Erst nach einem weiteren Jahrzehnt bemächtigte sich Sainte-Beuve des dankbaren Gegenstandes zunächst mit einer umfangreichen Darstellung von Benjamin Constants verfehlter Jugend und seinen Beziehungen zu Frau von Charrière, und dieser Bellac des vornehmen Faubourg Saint-Germain ließ es sich in der Folge noch in einer Reihe anderer Veröffentlichungen angelegen sein, mit eben soviel Voreingenommenheit als Gesinnungshochmut Constants Charakter zu schwärzen und von der einseitig-ungünstigsten Seite darzustellen. Sein für mehr als eine Generation maßgebendes Urteil bestimmte auf Jahrzehnte hinaus die öffentliche Meinung über den Verfasser des »Adolphe«, trotzdem bessere Kenner der Wahrheit, wie der ritterliche Louis de Loménie, dem einflußreichen Montagskritiker entgegentraten; in welchem Grade dessen Urteilsfällungen wirkten, zeigt etwa der Artikel in Michauds »Biographie Universelle« (die zu ihren Mitarbeitern einst Benjamin Constant selbst gezählt hatte), dessen Verfasser Antoine Madrolle freilich als wenig klassischer Zeuge erscheint, da er einer von Constant vor 1830 politisch scharf bekämpften Partei angehörte.

Erst mit den Achtzigerjahren begann der Bannspruch Sainte-Beuves seine Macht zu verlieren. 1881 erschien die Sammlung der Briefe Benjamin Constants an Madame Récamier, aus deren Nachlaß von ihrer Nichte Amélie Lenormant herausgegeben, nachdem ein eigenmächtiger Versuch Louise Colets, diese Korrespondenz schon 1849 in der »Presse« zu veröffentlichen, in seinen Anfängen durch ein gerichtliches Verfahren erstickt worden war. 1887 konnte Dora Melegari in der von ihr begründeten »Revue internatioale« den Teil des »Journal intime« seiner Verborgenheit entziehen, der die Jahre 1804–16 umschließt. 1888 fand eine große Zahl von Briefen Constants an seine Familie in einem starken, von Frau I.-H. Menos besorgten und eingeleiteten Bande den Weg in die Öffentlichkeit. 1895 wurde das »Journal intime« auch als Buch herausgegeben und durch einen Nachschub von Briefen an die Verwandten und an Frau von Charrière ergänzt. Einen Teil der Korrespondenz mit Frau von Charrière hatte schon in den Vierzigerjahren Professor Gaullieur in Neuchâtel in einer schweizerischen Zeitschrift publiziert; weiteres daraus konnte in neuester Zeit Philippe Godet in seine große und kenntnisreiche Biographie von Constants geistvoller Jugendfreundin mit einflechten. Die späte Bekanntschaft von dessen Autobiographie, die er 1811 in Göttingen niederzuschreiben begann, aber nur bis zum zwanzigsten Lebensjahre führte, danken wir seiner Großnichte Baronin L. Constant de Rebecque, die dieses »Cahier rouge« zuerst in der »Revue des deux Mondes«, dann auch als besonderen Band 1907 herausgab. Gleichzeitig unternahm es eine Urgroßnichte von Constants zweiter Frau Charlotte, Baronin Elisabeth von Nolde, geb. Marenholtz, die von ihr aufgefundenen letzten Briefe der Frau von Staël an Benjamin, mit ausgiebigem Kommentar unterlegt, zum Gegenstand eines Buches zu machen, das in englischer Sprache erscheinen mußte, weil der Urenkel Corinnas, Graf d'Haussonville, eine französische Publikation ausdrücklich untersagte.

Neben diesen urkundlichen Veröffentlichungen – eigentümlicher Weise gingen sie fast ausschließlich von Frauen aus – ließen es sich neuerdings auch die Essayisten angelegen sein, das Problem Benjamin Constant zu studieren und zu deuten: der alte Pont-Martin in seinen »Souvenir d'un vieux critique« (1883), Paul Bourget in dem Sammelwerk zur Jahrhundertfeier des »Journal des Débats« (1889), Emile Faguet in einer glänzend geschriebenen Studie seiner Sammlung »Politiques et Moralistes du XIX e siècle« (1891), Anatole France in seiner »Vie littéraire« (1901) und früher im Vorwort einer von ihm besorgten Neuausgabe des »Adolphe« (1889). Dem liberalen Politiker Constant galt eine größere Monographie von Georges de Lauris. Seine Briefe an Prosper de Barante gab dessen Enkel, die an Hochet Georges de Lauris, die an Karl August Böttiger Fernand Baldensperger, die an Claude Fauriel in einem Bande zusammen mit zahlreichen Dokumenten aus Constants letzten politischen Jahren Victor Glachant heraus. Auch Eduard Herriots ausgezeichnetes und reich gefülltes Werk »Madame Récamier et ses amis« (1904), sowie das Gedenkbuch, das Lucie Achard vor einigen Jahren ihrer Urgroßtante Rosalie de Constant gewidmet hat, Benjamins kluger Base und Korrespondentin (1901), lieferten ergänzende Züge mannigfacher Art. Die nach alledem längst zum Bedürfnis und für die französische Wissenschaft zur nationalen Pflicht gewordene, große abschließende Constant-Biographie zu schreiben, hat seit einer Reihe von Jahren Professor Georges Rudler (früher an der Universität Caen, jetzt an der Sorbonne in Paris) in Angriff genommen. Von seinem mit Spannung erwarteten Werke ist ein vorläufiger starker, auf gründlichster Einzelforschung beruhender Band, der sich nur mit Constants Jugend bis zum Jahre 1794, dem Zeitpunkt seiner Bekanntschaft mit Frau von Staël, beschäftigt, erst während der Drucklegung dieses Buches (März 1909) erschienen, für das er nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

In Deutschland ist irgend welche größere und abgeschlossene Arbeit über Constant bis jetzt, fast achtzig Jahre nach seinem Tode, noch nicht veröffentlicht worden. Das Verdienst, als erster auf ihn, insbesondere auf seinen »Adolphe« aufmerksam gemacht zu haben, kommt Georg Brandes zu, der in seinem bekannten Werke über die literarischen Hauptströmungen des neunzehnten Jahrhunderts eine eingehende literarisch-psychologische Analyse dieses Romans in seinem Verhältnis zu der übrigen Emigrantenliteratur gegeben hat. Wie wenig bekannt das bedeutsame kleine Werk sogar in zünftigen Fachkreisen damals noch war, lehrt die Tatsache, daß selbst Hermann Hettner, der gründliche Kenner und Historiker der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, gelegentlich bekannte, erst durch Brandes darauf aufmerksam geworden zu sein. Dessen deutscher Übersetzer Adolf Strodtmann konnte dann seinerseits in seinen »Dichterprofilen« (1879) eine Anzahl Briefe der Frau von Staël an Constant – einen Teil jener später durch Frau von Nolde im Zusammenhang veröffentlichten Korrespondenz – zuerst herausgeben und bei diesem Anlaß beider Verhältnis wenigstens oberflächlich charakterisieren. Gründlicher geschah dies wenige Jahre später 1888 in Lady Blennerhassetts monumentaler Staël-Biographie, in der den Beziehungen Constants zu der Herrin von Coppet ein breiter, wiewohl nicht genügend breiter Raum gewidmet ist. Das zu seiner Zeit mit Recht als eine bedeutende Leistung weiblicher Intelligenz und Gelehrsamkeit bewunderte Werk hat leider durch die zahlreichen neuen Forschungen der letzten zwanzig Jahre mancherlei Risse und Sprünge erlitten, die ihm eine Neubearbeitung nachgerade dringend wünschen lassen. Für die Kenntnis und Beurteilung Benjamin Constants im besonderen standen der Verfasserin gerade die wichtigsten Quellen damals noch nicht zur Verfügung: sie hält sich deshalb – auch schon im Interesse ihrer biographischen Klientin – ganz und gar im Kielwasser Sainte-Beuves und hat auf diese Weise nicht wenig, wenngleich in gutem Glauben, dazu beigetragen, dessen einseitiges Urteil auch in deutsche Leserkreise zu verpflanzen. Meiner eigenen deutschen Ausgabe des »Adolphe«, die 1898 als die erste seit mehr denn vierzig Jahren erschien, darf ich hier als eines Versuches, den Roman dem größeren deutschen Publikum näher zu bringen, der Vollständigkeit halber gedenken. Unverkennbar hat im übrigen die gesteigerte Beschäftigung mit Constant, die neuerdings in Frankreich aufkam, diesseits des Rheines weitergewirkt und manches Echo in der periodischen Tagesliteratur geweckt. Der Zeitpunkt für eine deutsche Constant-Biographie, die sich naturgemäß engere Grenzen ziehen mußte, als sie einem französischen Publikum gegenüber geboten sind, wird nach alledem zum mindesten nicht mehr verfrüht erscheinen.

Für das vorliegende Buch wurde alles näher und ferner liegende Quellenmaterial berücksichtigt, das sich in dem bibliographischen Nachweis am Schlusse des Bandes verzeichnet findet. Außerdem war es mir gestattet, die Familienpapiere aus dem Nachlasse Charlottens von Constant zu benutzen, die deren Urenkel Baron von Marenholtz auf Groß-Schwülper mir aus seinem Archiv gütigst zur Verfügung stellte, sowie von den ungedruckten Briefen Constants an Ludwig Ferdinand und Therese Huber Einsicht zu nehmen, über die Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ludwig Geiger in Berlin verfügt. Nächst diesen Herren habe ich für freundliche Auskünfte und fördernde Nachweise sowie namentlich für Unterstützung meiner Bemühungen um Beschaffung von Illustrationsvorlagen meinen wärmsten Dank zu sagen: Frau Baronin Elisabeth von Nolde in Libau, Fräulein Dora Melegari in Rom, Frau Baronin L. Constant de Rebecque im Haag, den Herren Professoren Philippe Godet in Neuchatel und Fernand Baldensperger in Lyon, dem Verleger Herrn A. Jullien in Genf, dem Notar Herrn C. Page, Maire von Genf-Plainpalais, weiter den Herren Geh. Rat Prof. Dr. Erich Schmidt in Berlin, Archivrat Dr. Paul Zimmermann in Wolfenbüttel, Prof. Dr. Carl Schüddekopf in Weimar, sowie besonders Herrn Prof. Gustave Rudler in Paris, der als gründlichster Kenner Constants und dessen offizieller Biograph meiner Arbeit ein kollegiales und bereitwilliges Interesse entgegenbrachte.

An brauchbaren Bildnissen Benjamin Constants herrscht leider empfindlicher Mangel. Es existiert außer einigen Kinderporträts aus seinen Mannesjahren nur eine leicht karikaturistisch gehaltene Silhouette, die in Colombier entstand, und ein auf Holz gemaltes Ölbild, das den Dreiundzwanzigjährigen mit dem langen rötlich-blonden Haar und den kurzsichtigen Augen immerhin charakteristisch genug darstellt. Beide Objekte befanden sich im Besitze der Frau von Charrière und sind später aus deren Nachlaß, die Silhouette in den Besitz von Professor Philippe Godet, das Ölbild in den des Notars C. Page in Genf übergegangen, der mir dessen Reproduktion als Titelbild dieses Bandes liebenswürdigst ermöglicht hat. Erst aus den letzten Lebensjahren Constants und der Epoche seiner großen politischen Popularität sind zeitgenössische Porträts, Stiche, Karikaturen ec. in großer Zahl vorhanden: das Kupferstichkabinett der Bibliothèque Nationale in Paris verwahrt ihrer allein nahezu sechzig verschiedene, darunter auch die nach Seite 230 wiedergegebene Zeichnung von Eugene Dévéria aus Constants Todesjahr.

Eine ungelöste Frage bleibt einstweilen die nach dem Verbleibe der bisher nicht veröffentlichten Tagebuch-Aufzeichnungen Constants; denn es steht fest, daß sein »Journal intime« – das Paul Bourget den Konfessionen des heiligen Augustinus, den »Bekenntnissen eines Egotisten« von Stendhal und einigen wenigen anderen Büchern dieser Gattung ebenbürtig zur Seite stellt – nicht erst im Jahre 1804, sondern schon sehr viel früher begonnen worden ist. Außer einem noch von Sainte-Beuve zitierten und benutzten Notizbuch (carnet), das nebenher als Grundlage für spätere Memoiren geführt wurde, muß nach sicheren Anzeichen ein erster Teil des »Journal intime« vorhanden gewesen sein, der sich bisher nicht hat finden lassen wollen. Ob die Besitzerin der Originalhandschrift des »Journal intime«, Baronin Pückler-Branitz geb. Constant de Rebecque, die es nachträglich bedauert haben soll, ihre Zustimmung zu der Veröffentlichung erteilt zu haben, auch jene noch unbekannte Hälfte besitzt und aus ähnlichen Bedenken der Öffentlichkeit vorenthält, entzieht sich der sicheren Feststellung. Für die ersten zehn Jahre der Beziehungen Constants zu Frau von Staël müßte dieser vermißte Teil des Tagebuches jedenfalls Aufschlüsse von größtem psychologischem Reiz enthalten: die für den Druck geretteten Abschnitte lassen den Verlust der ungedruckten besonders schmerzlich empfinden, trotzdem auch sie sich schon Abstriche und Amputationen haben gefallen lassen müssen. Das Verdienst der Herausgeberin Dora Melegari wird durch den Umstand nicht geschmälert, daß sie einzelne Teile den Jahreszahlen nach unrichtig datiert hat, Aufzeichnungen aus dem Jahr 1806 ins Jahr 1803 und einen größeren Abschnitt aus Constants Récamier-Episode, der erst im Jahre 1818 spielen kann (erst in diesem Jahre kam Frau von Krüdener mit Kaiser Alexander nach Paris) mitten unter die Bekenntnisse aus dem Jahre 1814 hat geraten lassen. Auch hier wird einer künftigen Neuauflage die bessernde Hand nicht fehlen.

Neben dem »Journal« und der in sich abgeschlossenen Selbstbiographie der ersten zwanzig Jahre bleiben Constants Briefe die reichste Fundgrube für die Kenntnis seines Lebens und seiner Persönlichkeit. Er war ein Künstler des Briefes, auch darin ein Geisteserbe des 18. Jahrhunderts und seiner hochentwickelten Briefstilkunst, und in seinen jüngeren Jahren ein passionierter Briefschreiber: diesem glücklichen Umstande ist der Besitz von rund achthundert veröffentlichten Briefen zu danken, unter denen die an Frau von Charrière, an seine Tante und Pflegemutter Frau von Nassau, an seine geistig hochstehende Cousine Rosalie de Constant und von den Freundesbriefen die an Prosper de Barante die aufschlußreichsten sind. Sie charakterisieren – was jeder gute Brief bis zu einem gewissen Grade sollte – die Adressaten fast nicht weniger wie den Schreiber, und die besten unter ihnen sind teils sprühende Springbrunnen einer geistreichen Grazie des Worts, teils dunkle Spiegelungen einer gequälten, gefangenen, vergeblich Ruhe suchenden Seele, deren Karma es war, sich selbst so wenig wie anderen zu genügen.

Auf jeglichen Apparat von Anmerkungen unter oder nach dem Text habe ich verzichtet und mich bemüht, sie entbehrlich zu machen, nicht zu meiner, sondern zu des Lesers Bequemlichkeit. Ich berufe mich dafür auf ein Wort Constants selbst, der in Weimar einmal zu Böttiger nach dessen Berichte äußerte: »Auch sei es ungemein bequem, recht viele Noten zu machen, weil man sich dadurch das Zusammenfassen und ein Abstrahieren der aus den Noten zu ziehenden Folgerungen erleichtere und diese Arbeit dem Leser selbst aufhalse.«

Charlottenburg, im März 1909

Josef Ettlinger

I. Verlorene Kindheit

(1767–1786)

Benjamin Constant (sechsjährig)
Nach einem Pastell von Piot

Die Schlacht bei Coutras, die im Herbst 1587 den Sieg des nachmaligen Heinrichs IV. gegen die Ligue und den letzten Valois entschied, sah durch einen merkwürdigen Zufall in der nächsten Umgebung des galanten Königs die beiden Stammväter, aus deren adligem Blute hundertachtzig Jahre später Benjamin Constant hervorgehen sollte. Ein Augustin Constant de Rebecque rettete damals seinem königlichen Herrn in der Schlacht das Leben; ein Antoine de Chandieu war zur selben Zeit sein Hofprediger. Beide gehörten dem reformierten Glauben an und zogen sich später – die Constants im Jahre 1607 – unter dem Drucke der kirchlichen Verfolgungen aus Frankreich nach dem kalvinistischen Waadtlande zurück, wo ihre Nachkommen seitdem am Genfersee angesiedelt blieben. Ein David Constant de Rebecque, der fast hundertjährig 1733 starb, war lange Jahre Pastor in Coppet bei Genf, Verfasser zahlreicher theologischer Werke und durch die Freundschaft seines berühmten Zeitgenossen Pierre Bayle ausgezeichnet.

Die Constant de Rebecque stammten aus dem Norden, aus dem korngesegneten Artois, die Chaudieu aus dem Dauphiné, der Hochburg des französischen Protestantismus. In der Familie Constant blieb der soldatische Beruf auch nach ihrer Auswanderung herkömmlich. Ein Urenkel jenes Augustin, der General Samuel de Constant, stand um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Kommandant eines Schweizerregiments in holländischen Diensten. Längere Zeit war er Gouverneur der Festung Hertogenbosch und unterhielt im Alter freundschaftliche Beziehungen zu Voltaire, die nachher auch auf einige seiner Söhne übergingen. Der älteste, David Louis Constant d'Hermenches, der später aus holländischen in französische Dienste überging und bis zum Maréchal de Camp emporstieg, war ein geistig bedeutender Mann, der mit Voltaire in Briefwechsel stand und mehrfach bei ihm in Ferney zu Gast war. Samuel, der jüngste, war mehr schöngeistig als militärisch begabt und quittierte schon mit dreißig Jahren als Major den Dienst. Er war selbst mit Glück schriftstellerisch tätig, und mehrere seiner Romane fanden Beachtung. Von seinen drei Söhnen folgte einer der Familientradition und trat in holländische Kriegsdienste: von den beiden Töchtern besaß die älteste, Rosalie, die eine schiefe Schulter hatte und unverheiratet bei ihrem Vater blieb, eine ungewöhnlich gescheite Person, besonders das den Constants eigene talent épistolaire in hohem Grade.

Der mittlere von General Samuel de Constants Söhnen, Juste-Arnold, war 1726 in Lausanne geboren und hatte gleich dem Vater und den Brüdern Kriegsdienste bei den holländischen General-Staaten genommen. Nach langem Junggesellenstand führte er als Vierziger seine Landsmännin Henriette de Chandieu zum Altar, eine Tochter Benjamins de Chandieu, der gleichfalls als Oberst eines Schweizerregiments den Niederlanden gedient hatte, und die Ururenkelin eben jenes Antoine de Chandieu, der Heinrichs IV. Almosenier gewesen war. Juste-Arnold de Constant war ein Mann von imponierender Erscheinung, vielem Geist und einem ziemlich schwierigen Charakter: mißtrauisch, verschlossen, leicht wechselnd in seinen Entschlüssen und Anschauungen, dabei ebenso bestechend liebenswürdig, wenn er wollte, wie verletzend in der Schärfe seiner Ironie, und dem entsprechend als Vorgesetzter wie in Gesellschaft so verehrt von den einen, wie unbeliebt bei den andern. Henriette de Chandieu hatte ihn lange geliebt, bevor er sie heiraten konnte oder wollte, aber das Glück dieser Ehe war ihm kaum zwei Jahre gegönnt, denn die Geburt seines einzigen Sohnes Henri Benjamin, der am 25. Oktober 1767 in Lausanne zur Welt kam, kostete der ebenso schönen als körperlich zarten Mutter das Leben, und ihr Verlust machte die ohnehin etwas schwerblütige Natur des Vaters noch mehr zur Verbitterung und Verschlossenheit geneigt.

Seine ersten Kinderjahre verlebte der kleine Benjamin in der Obhut seiner Großmutter de Chandieu und seiner Tante, einer geschiedenen Gräfin von Nassau: einer überaus liebevollen Obhut, wie aus seiner späteren vieljährigen Korrespondenz mit seiner Tante und Pflegemutter hervorgeht. Auf die Dauer aber erschien wohl dem Vater die nur von Frauenhänden geleitete Erziehung seines Einzigen zu weichlich, und sobald dieser sein siebentes Jahr vollendet hatte, nahm er ihn von Lausanne fort zu sich nach Brüssel, wo er damals in Garnison stand. Nicht eben zu Benjamins Wohlgefallen, denn das Leben unter fremden Menschen im fremden Lande sagte dem verwöhnten Kinde zunächst wenig zu. Oberst Constant versuchte anfangs, den Knaben selbst zu unterrichten, sah sich aber bald dazu außerstande und versuchte nun sein Heil mit einer Reihe von Hofmeistern, von denen sich einer immer ungeeigneter erwies, als der vorige. Da sein militärischer Beruf den Vater häufig von Brüssel wegrief, blieb Benjamin mehr oder minder diesen teils unfähigen, teils gewissenlosen Erziehern überlassen, was ihm bei seiner ausgesprochenen Frühreife wenig förderlich war. Daß er trotzdem rasche Fortschritte machte, dankte er seinen Fähigkeiten und einer ungewöhnlich leichten Fassungsgabe. Mit neun Jahren las er Homer, Plinius, Seneca, Cicero, hatte Musik- und Tanzunterricht und frönte einer zeitweilig bis zum Heißhunger gesteigerten Lesegier, die ihn von den materialistischen Schriften eines Lamettrie bis zu den schmutzigen Romanen des jüngeren Crébillon alles verschlingen ließ, dessen er habhaft werden konnte. Dem übermäßigen Lesen in diesen Brüsseler Knabenjahren schrieb er selbst seine frühzeitige übergroße Kurzsichtigkeit und die spätere Schwäche seiner Augen zu.

Die Briefe aus jener Zeit an die Großmutter väterlicherseits, die Generalin de Constant, – die in der Familie als Schaustücke die Runde machten und aufbewahrt wurden – sind ein Gemisch von kindlicher Anhänglichkeit und affektierter oder wirklicher Blasiertheit. »Ich sehe hier zuweilen,« schreibt er mit zehn Jahren, »eine junge Engländerin in meinem Alter, die mir lieber ist, als Cicero, Seneca und all die andern zusammen: sie lehrt mich den Ovid, von dem sie zwar nie etwas gelesen oder gehört hat, den sie mich aber in ihren Augen lesen läßt. Ich habe für sie einen kleinen Roman geschrieben, von dem ich Ihnen hier die ersten Seiten sende; gefallen sie Ihnen, sollen Sie auch das übrige haben.« Ein andermal erzählt er, daß er lateinische Verse mache und in seinen freien Stunden an einer Oper komponiere, zu der er selbst den Text verfaßt habe. Er schildert seinen Tageslauf, klagt drollig darüber, daß sein allzu rasches Blut ihm beständig Streiche spiele, und malt der großmütterlichen Leserin sehr anschaulich aus, wie er als petit-maître an zwei Abenden wöchentlich in Gesellschaft gehe. »Ich trage dann einen schönen Frack, habe einen Degen an der Seite, meinen Dreispitz unterm Arm, die eine Hand auf dem Herzen, die andere auf der Hüfte, halte mich sehr gerade und sehe so erwachsen aus als möglich. Ich beobachte und höre viel, aber bis jetzt reizen mich die Freuden der vornehmen Welt nur wenig, alle diese Menschen sehen immer so aus, als könnten sie einander nicht leiden. Nur das Spiel und das Gold, das ich dabei rollen sehe, gibt mir einige Emotion: ich möchte dann recht viel gewinnen, um mir hunderterlei Wünsche zu erfüllen ...«

Fünf Jahre währte dieser Aufenthalt in Holland, dazwischen aber nahm Oberst Constant den Jungen fast in jedem Jahr für einige Zeit nach der Heimat mit. In Lausanne wohnte nicht nur die Großmutter Chandieu, die sich zumeist auf ihrem Landgut Le Désert, eine halbe Stunde von der Stadt, aufhielt; auch die greise Mutter seines Vaters, die Generalin de Constant, hielt noch Haus in ihrem geräumigen Hotel in der Rue de Saint-Pierre, das oft nicht ausreichte, die Zahl der zu Besuch bei ihr versammelten Söhne, Töchter und Enkelkinder zu fassen. Es herrschte in jener Zeit ein ungemein reges geselliges und geistiges Leben in der alten Universitätsstadt, die dem jungen Goethe freilich bei flüchtigem Besuche als ein »leidig Nest« erschien. Da das Waadtland von Bern aus regiert wurde, hatte man sich die Beschäftigung mit politischen Dingen ganz abgewöhnt, dafür war, besonders seit Voltaire einige Jahre in Lausanne verbracht hatte, der literarische Beschäftigungstrieb allgemein geworden. Alle Welt las Romane und machte Verse, und diese Schöngeisterei war auswärts so bekannt, daß noch Jahrzehnte später der erste Konsul an eine Abordnung der helvetischen Consulta spöttisch die Frage richten konnte: Fait-on toujours des romans à Lausanne?« Hier war die Heimatsphäre der »Neuen Heloise«, die die Herzen der halben Welt bewegte, hier fand der »Werther« in d'Eyverdun seinen ersten französischen Übersetzer. Dieser – ein Freund des gleichfalls in Lausanne angesiedelten Gibbon – hatte 1772 eine Art Akademie, die »société litteraire«, gegründet, zu deren eifrigsten Mitgliedern Benjamins schriftstellernder Onkel Samuel gehörte. Theatervorstellungen, Bälle, Soupers gab es in großer Zahl, auch literarische Salons, von denen der der Madame Charrière de Bavois, einer Verwandten der Constants, der berühmteste und zugleich seiner Langweiligkeit wegen bei den jungen Leuten gefürchtetste war. Gesellschaftsspiele, Charaden, Aufführungen kleiner selbstgedichteter Stücke im engeren Kreise, Vorlesungen in Vers und Prosa bildeten neben der Konversation und den Tafelfreuden das Programm solcher Abende. Später, während und nach der Revolution, sollte dies bewegte gesellschaftliche Leben durch den Zuzug zahlreicher Emigranten noch eine weitere Steigerung erfahren. »Il y a des Suisses et des Suisses,« meinte schon Voltaire einmal von der waadtländischen Hauptstadt, »ceux de Lausanne diffèrent plus des Petits-Cantons que Paris des Bas-Bretons.«

Für Benjamin waren die Ferien in Lausanne jedesmal Festtage, denn Großmutter, Tanten, Cousinen und Vettern verwöhnten den mutterlosen, geistig reichbegabten Knaben um die Wette, der nicht minder sich wie die andern zu unterhalten wußte. Schon als Kind war er in der Familie durch seine schlagfertigen Antworten berühmt gewesen; jetzt imponierte er durch seine witzige Konversationsgabe und seine sonstigen geistigen Talente. Man amüsierte sich mit Versspielen, mit improvisierten Chansons, arrangierte kleine Familienfeste, Überraschungsscherze, Illuminationen und derlei mehr. Seine elf Jahre ältere Cousine Rosalie, die ihm zeitlebens von allen Verwandten am nächsten stand, erzählt in ihren Briefen von seinen lustigen Einfällen und Streichen. So mußte sich einmal sein Onkel David Constant d'Hermenche gefallen lassen, daß ein von ihm verfaßtes Neujahrsgedicht, in dem es elegisch hieß:

Autour de moi je sens dormir à l'aise Ceux que j'aurais tant de plaisir à voir

von seinem respektlosen Neffen zum Gaudium der Familie dahin parodiert wurde:

Et par mes vers je fais dormir à l'aise Ceux que j'aurais etc.

Äußerlich war Benjamin, der langes rötlich-blondes Haar besaß, schon mit zwölf Jahren hoch aufgeschossen von Gestalt und ein für sein Alter gewandter Reiter. »Bei einer guten und soliden Erziehung hätte ihm seine Begabung sicher viel Glück gebracht,« urteilte Rosalie de Constant in späteren Jahren, »aber seine Mutter starb bei seiner Geburt, und dieses Unglück ward für sein ganzes Leben verhängnisvoll.«

Sein Erziehungsgang ließ in der Tat nach wie vor zu wünschen übrig. Nachdem Oberst Constant es versucht hatte, ihn in Brüssel zeitweilig einer Familie in Pension zu geben, fand er endlich in einem älteren Franzosen, einem früheren Ordensbruder, der nach der Schweiz geflohen und dort Protestant geworden war, einen Erzieher, der sich brauchbarer erwies, als seine Vorgänger: er blieb über ein Jahr Benjamins Mentor, erst in Brüssel, dann in Holland und der Schweiz, bis Oberst Constant die Zeit gekommen glaubte, seinen dreizehnjährigen Sohn auf eine hohe Schule zu geben. Er brachte ihn selbst nach Oxford, mußte sich aber dort alsbald überzeugen, daß seine Absicht noch verfrüht war, und kehrte zwei Monate später, diesmal mit einem englischen Erzieher, den er an Ort und Stelle engagiert hatte, nach Holland zurück und von da nach der Schweiz. Der Zufall wollte es, daß sich um dieselbe Zeit der letzte Markgraf von Ansbach-Bayreuth in Lausanne aufhielt, der den Obersten Constant kannte, und dieser veranlaßte den um die Zukunft seines Sohnes besorgten Vater, Benjamin nach Deutschland auf die Universität in Erlangen zu geben, das um jene Zeit nicht nur Musenstadt, sondern auch noch markgräfliche Residenz war.

Der Oberst begleitete selbst seinen Sprößling nach der Regnitzstadt und führte ihn bei Hofe ein, wo man den für sein Pagenalter ungewöhnlich schlagfertigen jungen Edelmann zunächst höchst unterhaltend fand. Besonders die Markgräfin – deren Gatte Karl Alexander in Ansbach residierte und sich dort die vordem gefeierte Mademoiselle Clairon vom Théâtre français als Maitresse hielt – hatte in der gottgesegneten Langeweile ihrer kleinen Residenz großes Gefallen an seinem Konversationstalent. Mit seiner nichts verschonenden Spottlust, seiner unbekümmerten Art, den Leuten mit Grazie die unangenehmsten Dinge zu sagen, die bizarrsten Behauptungen aufzustellen und durchzufechten, brachte er so manchen gepuderten Zopf ins Wackeln und wirkte in der akademischen und Hofgesellschaft der fränkischen Kleinstadt als ein richtiges Ferment, ganz so, wie er sich fünfundzwanzig Jahre später in den einleitenden Abschnitten seines Romans »Adolphe« geschildert hat. Anfangs nahm man ihm auch weder seine Zynismen, noch die Extravaganzen seines Lebenswandels – er war damals schon ein leidenschaftlicher Pharaospieler und steckte stets in Spielschulden – übel oder zeigte es doch nicht, so lange die Gnadensonne des Hofes ihm schien; als er aber so weit ging, sich eine Person zur Geliebte zu nehmen, von der die Markgräfin früher beleidigt worden war, einzig aus Spleen (denn er verkehrte nicht einmal intimer mit der von ihm ausgehaltenen Dame) und aus Sucht, von sich reden zu machen, wandte sich alsbald das Blatt: das Erscheinen bei Hofe wurde ihm verboten, und die Dinge spitzten sich bald derart zum Skandal zu, daß Oberst Constant seinen Sohn im Frühjahr 1783 zu sich nach Brüssel zurückberufen mußte und sich entschloß, ihn nunmehr nach Schottland zu bringen.

Hier, in Edinburg, verlebte Benjamin achtzehn Monate, die er stets als die angenehmste Zeit seines Lebens bezeichnete. Hatte er in Erlangen seine Studien noch ausgiebig vernachlässigt, so betrieb er sie nun in einem Kreise gleichstrebender und intelligenter junger Leute mit ausgesprochenem Eifer und schloß einige Freundschaften, die auch seinem späteren Leben unverloren blieben. Es waren vorwiegend Sprößlinge aus den Familien der Whig-Partei, die ihm näher traten, und man hat in diesen frühesten politischen Einflüssen die Vorschule des Liberalismus sehen wollen, als dessen überzeugter Vertreter Constant in seinen reiferen Jahren wirken sollte. Zuletzt bekam ihn aber auch hier der Spielteufel beim Schopfe, er verlor wie immer große Summen und verließ das schottische Athen mit einer beträchtlichen Schuldenlast, die sein in solchen Dingen niemals pedantisch strenger Vater nachträglich bezahlte. Die Reue über diese Entgleisung kann freilich nicht allzu groß gewesen sein, denn nachdem er im März 1785 aus Edinburg nach Paris gekommen war, das um jene Zeit noch weniger als heute zur Korrektionsanstalt für einen leichtsinnigen Achtzehnjährigen taugte, begann er abermals ein ziemlich tolles Leben in Gesellschaft eines reichen Engländers, den er in seinem Hotel garni kennen gelernt hatte, derart, daß ihn sein Vater auf die an ihn gelangten Berichte hin persönlich aus der Lichtstadt fort und nach Brüssel holte.

Hier, wo er vom Sommer bis Spätherbst desselben Jahres blieb, faßte er zuerst den Plan zu einem Werke, das ihn dann in größeren und kleineren Zwischenräumen fast sein Leben lang beschäftigen sollte: einer Entwicklungsgeschichte der Religionen, ihrer Ursprünge und Zusammenhänge. Derselbe achtzehnjährige junge Mensch, für den das Leben damals schon ein Überdruß, ein Bonmot von vorgestern geworden war, und dem einzig noch der Spieltisch und die Frauen Sensationen gaben, nahm alles Ernstes und aus freiem Antrieb eines der schwierigsten Probleme der menschlichen Geistesgeschichte in Angriff, und hat es mit merkwürdiger Zähigkeit und Ausdauer länger als vierzig Jahre hindurch verfolgt: den Druckvermerk zum fünften und Schlußbande dieses Lebenswerkes erteilte er noch am Morgen seines Todestages.

In diese letzte Brüsseler Zeit fällt auch die erste tiefere Herzensbeziehung, von der sich Benjamin fesseln ließ und die sich ihm, dem frühreifen Amoroso mancher Schönen, trotz ihrer flüchtigen Dauer so fest einprägte, daß er ihrer noch ein Vierteljahrhundert später in seiner Fragment gebliebenen Autobiographie dankbar und mit Rührung gedachte. Ihr Gegenstand war eine Frau Johannot, die etwa zehn Jahre älter war als er selbst, und in unglücklicher Ehe mit einem sitten- und charakterlosen Gatten lebte. Mit diesem, der nachmals in der Revolutionszeit als Konventsmitglied eine ziemlich fragwürdige Rolle spielte, kam sie Jahre später nach Paris, wurde gezwungen, ihre Häuslichkeit mit einer Maitresse ihres Gatten zu teilen, und gab sich schließlich aus Verzweiflung durch Gift den Tod. Eine grausame Ironie des Schicksals wollte es, daß just um die Zeit, da diese Tragödie spielte, Constant selbst in Paris weilte, ohne zu ahnen, daß in seiner unmittelbaren Nähe eine Frau, die ihn geliebt hatte und der er eine warme Erinnerung bewahrte, sich elend zu Tode quälte. Das Verhältnis in Brüssel hatte erst einen Monat gedauert, als er Ende November 1785 seinen Vater in die Schweiz begleiten mußte. Kurze Zeit wurden noch Briefe gewechselt, und zwei Jahre später kreuzten sich noch einmal flüchtig beider Wege in Paris, ohne daß die Umstände eine Erneuerung der Beziehungen erlaubten, die Constant anstrebte. Aber die Erinnerung an die paar Wochen ungetrübten Glückes, die vielleicht das zarteste seiner Herzenserlebnisse umschlossen, gehörte zu den wenigen, die er im Reliquienschrein seines Herzens bewahrte.

Zum ersten Mal seit seiner frühen Kindheit war Benjamin nun wieder zu dauerndem Aufenthalt in der Heimat. Mit seinem Vater, der seiner angegriffenen Gesundheit wegen einen längeren Urlaub genommen hatte, bewohnte er ein Jahr lang das vordem den Chandieus gehörige Landgut Le Désert bei Lausanne, wo er sich mit Vorstudien zu seinem religionsgeschichtlichen Werke nicht eben angestrengt beschäftigte, desto mehr aber auf Zerstreuungen aller Art und kleine galante Abenteuer ausging. Eine der Liebesaffären, die sich hier abspielte, bleibt denkwürdig, weil sie offensichtlich später in dem kleinen Roman »Adolphe« ihre Widerspiegelung gefunden hat, zum mindesten in dessen erstem Teile. Der gesellschaftliche Mittelpunkt Lausannes in jener Zeit war der Salon einer Madame Trevor, der Gattin des englischen Gesandten am Turiner Hofe. Diese Frau von dreißig und etlichen Jahren, die in wenig glücklicher Ehe und deshalb meist ohne ihren Gatten lebte, war von einer größeren Zahl von Verehrern umschwärmt, Grund genug für Benjamin, den in der Liebe stets nur Hindernisse reizten, den Wettbewerb aufzunehmen und dem Gegenstande seiner vermeintlichen Leidenschaft schließlich in einem feurigen Briefe seine Liebe zu erklären. Madame Trevor – »voll Grazie und mit dem ruhigen Wesen und der Sicherheit ihres Standes« schildert sie noch sieben Jahre später Sofie La Roche, Wielands Freundin, in ihren schweizer Reisebriefen – wies dies jugendliche Ungestüm zunächst sanft, aber bestimmt mit dem Hinweis auf ihre ehelichen Pflichten zurück: sie erreichte aber damit nur, daß ihr junger Verehrer nun um so hitziger wurde und ihr eines Tages in ihrer Wohnung eine furchtbare Szene von mehrstündiger Dauer machte, in deren Verlauf er sich wie ein Rasender zu Boden warf und mit Selbstmord drohte, wenn er keine Erhörung fände. Durch diesen elementaren Ausbruch einer vermeintlichen Leidenschaft, die sie einem so viel jüngeren Manne einflößte, fand sich die also Bestürmte teils gerührt und beunruhigt, teils geschmeichelt, und ging endlich so weit darauf ein, daß sie seine Briefe beantwortete und ihn stundenlang allein und selbst in später Abendstunde noch bei sich empfing. Dabei aber blieb es auch, denn es gehört zu den Charaktereigentümlichkeiten Constants, daß er wohl heftig zu fordern und zu werben, aber nicht zu nehmen und zu besitzen verstand. Anders ausgedrückt: mit seiner Kühnheit in Worten verband er als Liebender – zum wenigsten in jungen Jahren – eine Schüchternheit im Handeln, die ihn mehr als einmal in ziemlich lächerliche Situationen gebracht hat. Madame Trevor ließ ihn gleichwohl mit weiblichem Zartgefühl diesen Platonismus nicht entgelten und bewahrte ihm ihre einmal gewonnene Zuneigung. Da kam Ende des Jahres 1786 der väterliche Befehl zur Übersiedlung nach Paris, wo der Oberst nunmehr seinen erwachsenen Sohn in die dortige Gesellschaft einführen wollte, und es galt Abschied zu nehmen; aber wiewohl die Scheidestunde den beiden Tränenströme entlockte und die letzte Schranke zwischen ihnen zu entfernen schien, war auch diesmal das Ergebnis nur " un chaste baiser sur des lèvres tant soit peu fanées«. Gleichwohl griff der Schmerz um die ihm und seinem Kusse Entrissene Benjamin, dessen durchaus ehrlich empfundene Gefühle vielfach nur auf einer besonderen Gabe der Autosuggestion beruhten, so heftig an, daß sein Vetter Charles, der mit ihm und Oberst Constant die Reise nach Paris gemeinsam machte, noch unterwegs für seinen Gesundheitszustand ernstlich fürchtete. Er überstand indessen die zehntägige Reise nicht schlechter, als die Trennung von der Geliebten, und schon nach wenigen Briefen, die er noch mit ihr austauschte, ward die Pariser Luft der Lethetrank auch für diese vermeintliche große Leidenschaft.

Das Jahr 1787 sah ihn somit zum zweiten Male in der Hauptstadt der Welt, die so bald nachher der Schauplatz vulkanischer Ereignisse werden sollte, und diesmal spielte er eine schon stärker bemerkte Rolle, als zwei Jahre zuvor. Seinen Umgangskreis fand er vorzugsweise im Hause des Ehepaars Suard, bei dem er auch längere Zeit gewohnt zu haben scheint. Suard war ein angesehener Publizist, Mitglied der Akademie. Theaterzensor und Herausgeber der ersten Pariser Tageszeitung »Le Journal de Paris«; seine Frau eine Schwester des berühmten Druckers Panckoucke, in dessen Offizin die Enzyklopädie erschien, und beider Salon, der an allen Montagen geöffnet war, ein Mittelpunkt angeregter geistiger Geselligkeit. Hier verkehrten Condorcet, damals Sekretär der Akademie, der Astronom Bailly, der später der erste Präsident der Nationalversammlung und ein Opfer des Schreckens werden sollte, Lafayette, Chamfort, La Harpe, der alte Ez-Abbé Raynal, Marmontel und manche andere Träger bekannter Namen. Die Aufklärungsphilosophie der Enzyklopädisten beherrschte die Atmosphäre, in den erregten Köpfen gärten und schwirrten die sozialen Ideen Montesquieus und Rousseaus, man stand im Zeichen der letzten großen Finanzkrisen, der Notabelnversammlung und ihrer Auflösung, der ersten Konflikte zwischen Parlament und Krone. Trotz seiner Jugend fand der junge Constant in diesen Kreisen schon mehr Beachtung, als mancher, der den Jahren nach sein Vater hätte sein können. Ihm kam dabei nicht sowohl seine Abkunft und die Verwandtschaft mit seinem kurz vorher als Marschall in Paris gestorbenen Oheim David Constant d'Hermenches zustatten, als seine epigrammatische Unterhaltungsgabe und die manchmal verblüffende Impertinenz seines Urteils, die ihm hier zu ähnlich zweischneidigen Erfolgen verhalf, wie ehedem in Erlangens Kleinstadtluft.

Hier in Paris, wo er die schöngeistigen Vorlesungen La Harpes im Lycée besuchte, trat der Zwanzigjährige zum ersten Male mit einer schriftstellerischen Arbeit an die Öffentlichkeit. Er hatte eine französische Übertragung von »History of the acient Greece« von Gillies in Angriff genommen und teilweise fertig, als das Erscheinen einer anderen Übersetzung der seinigen zuvorkam; um nicht alle Mühe vergeblich gehabt zu haben, gab er das übersetzte Bruchstück unter dem Titel »Essai sur les moeurs des temps héroiques de la Grèce« im Druck heraus (London und Paris 1787). Auch Gibbons damals eben abgeschlossene »Geschichte des Falls und Verfalls des römischen Reiches« gedachte er ins Französische zu übertragen, wozu ihn Gibbon selbst, der seinen Lebensabend in Lausanne verbrachte, lebhaft ermuntert hatte: aber auch hier hatte er das Mißgeschick, daß gleich zwei andere Übersetzungen des ersten Bandes schon erschienen, ehe er begonnen hatte, davon die eine keinen Geringeren als den König Ludwig XVI. zum Verfasser hatte.

Den weltstädtischen Versuchungen ging er bei alledem nicht aus dem Wege (wenn man es milde ausdrücken will); zugleich nahm er die alte Passion des Pharaospiels wieder auf, meist mit dem nämlichen Pech, das ihm am grünen Tisch auch später meistens treu blieb, und mit dem nämlichen Effekt des Schuldenmachens. Um ihn auf solidere Bahnen zu bringen, suchte ihn die ihm wohlgesinnte Madame Suard – im Einverständnis mit seinem Vater – zu einer Heirat zu bewegen, und er war in der Tat nicht abgeneigt, eine sechzehnjährige Demoiselle Jenny Pourrat, die neunzigtausend Francs Rente besaß, zu seiner Frau zu machen. Es ergab sich aber leider, daß die hübsche junge Dame – in die sich übrigens Jahr und Tag später, als sie schon die Frau eines andern war, auch André Chéniers Dichterherz sterblich verliebte – von seiner ungestümen Bewerbung nichts wissen mochte, und die Folge war natürlich auch hier, daß der Verschmähte nun erst recht seinen Kopf durchsetzen wollte, zumal die Mutter des Mädchens auf seiner Seite war. Aber nachdem er alles Mögliche in Bewegung gesetzt und sogar im Hause der Familie Pourrat einen wirklichen Selbstmordversuch mit Opium gemacht hatte, trat die bei ihm übliche plötzliche Ernüchterung ein, und er verzichtete auf weitere Bemühungen.

Ersatz für diese Enttäuschung seiner Eitelkeit sollte ihm der Umgang mit einer um vieles älteren Freundin bieten, die in ihrer Jugend schon seinem Oheim David Constant d'Hermenches nahe gestanden und deren Bekanntschaft er gleichfalls bei den Suards gemacht hatte. Es war die damals bereits siebenundvierzigjährige Frau von Charrière aus Neuchatel, die sich mit ihrem Gatten besuchsweise in Paris aufhielt und nun auf Benjamins Leben für lange einen bestimmenden Einfluß gewinnen sollte, wenn auch in anderem Sinne, als in dem bis dahin allein das Ewig-Weibliche für ihr existiert hatte.

II. Frau von Charrière

(1787–1788)

Frau von Charriére