Berauscht vom Leben - Jardine Libaire - E-Book

Berauscht vom Leben E-Book

Jardine Libaire

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Beschreibung

Alkohol verspricht Genuss und Geselligkeit. Bedeutet nicht mehr zu trinken also Askese und Langeweile? Weit gefehlt, wie uns dieses Buch so wunderbar zeigt. Die selbstbestimmte Entscheidung, nicht mehr zu trinken, verbessert nicht nur unsere Gesundheit, sie ist lebensverändernd. Kein Verzicht, sondern mehr – mehr Freiheit, Selbstbewusstsein und kreative Entfaltung. Und vor allem: mehr Lebensfreude für starke Frauen.

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Seitenzahl: 336

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Jardine Libaire | Amanda Eyre Ward

Berauscht vom Leben

Die Freiheit, nicht zu trinken

Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch

Diogenes

Amanda möchte dieses Buch all jenen lieben Menschen widmen, die sie auf ihrem Weg inspiriert haben:

Gary Davenport Brabander Ward, Larry und Barbara Meckel, Peter Westley –und ihrer Komplizin Jardine.

 

Jardine widmet dieses Buch all den Ravens, die ihr gezeigt haben, wie köstlich das Leben sein kann, und ihrer lieben Verbündeten Amanda.

Wir sind Autorinnen. Wir hatten uns verliebt in die eleganten, vom Gin beschwingten Geschichten eines Raymond Carver, von Jean Rhys, Patricia Highsmith, Dorothy Parker und Ernest Hemingway. Wir ließen uns verführen von der Prosa, die Hunter S. Thompson, Helen Garner und Paul Bowles im Drogenrausch verfassten. Unsere eigenen Kurzgeschichten entstanden stets mit einem Glas Whiskey neben dem Laptop. Wir drückten Lippenstiftzigaretten in Aschenbechern aus, geklaut in Hotels, die wir uns gar nicht leisten konnten.

Wir träumten davon, große Romanciers zu werden, hörten Johnny Thunders, Billie Holiday und Jimi Hendrix, saßen viel zu lange und weit über die Sperrstunde hinaus in Bars und wachten am nächsten Morgen mit brummendem Schädel und klopfendem Herzen auf. Wir wollten etwas Wahres und Schönes erschaffen, einen todsicheren Weg finden, dem Alltag zu entfliehen, denn wir wollten kreativ, anarchistisch und sinnlich leben.

Aber wir bissen uns die Zähne daran aus, dieses glorreiche Dasein mit zu viel Alkohol zu erreichen. Wir waren unserem Ziel damit nicht nähergekommen, sondern hatten uns immer weiter davon entfernt. Etwas musste sich ändern, und wieder suchten wir in Büchern nach Antworten. Wir fanden A Drinking Life von Pete Hamill; Drinking – A Love Story von Caroline Knapp, Blackout von Sarah Hepola und Lit von Mary Karr. Wir verschlangen die Geschichten von Künstlern, die sich um ein Haar zu Tode gesoffen und sich aber im letzten Moment doch für das Leben entschieden hatten. Nach diesen unglaublichen Büchern ahnten wir, dass es da noch etwas anderes geben könnte, und als wir von vertrunkenen Wochenenden, besinnungslosen Tagen und kaputten Familien lasen, war es für uns Zeit aufzuhören. Aber könnte so ein Ende nicht auch ein Anfang sein?

 

Wir wurden einander vorgestellt, weil wir beide Autorinnen sind, die keinen Alkohol mehr trinken. Als wir uns unterhielten, stellte sich heraus, dass wir größtenteils über dieselben Dinge nachdachten. Wir hatten das Trinken aus jeweils unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlichen Wegen aufgegeben, doch wir fragten uns beide, wie abenteuerlich man nüchtern eigentlich sein konnte. So ein selbstzerstörerisches Leben war zwar nicht immer schön, aber wenigstens romantisch und glamourös, das wussten wir aus unzähligen Filmen und Romanen. Entweder man starb an seinen Dämonen, oder man schwor ihnen ab, fertig.

Aber was kam danach?

Wir redeten stundenlang, trafen uns bei Jardine im Garten oder spazierten um den Lady Bird Lake in Austin. Amanda weinte, während Loverman, Jardines Chihuahua, zusammengerollt neben ihr lag, sein Blick ebenso flehentlich wie Amandas Stimme. Wir trafen uns mit Gleichgesinnten, gingen Mittagessen. Tranken Kaffee und immer mehr Kaffee.

Wie ist das, wenn man auf Alkohol verzichtet – für einen Monat oder ein ganzes Leben –, sich aber trotzdem nach Gefahr und Chaos sehnt, nach einem Schleichweg zum Glück? Wie findet man jene Seelenverwandten, die man sonst nur in Bekennerlaune nach einem Glas zu viel am Tresen trifft? Kann man verwegen und wild sein, ausflippen, blaumachen, durchdrehen oder sich verlieben mit einem Ginger Ale in der Hand?

 

Das Oxford English Dictionary definiert »nüchtern« als »enthaltsam gegenüber Alkohol«, aber auch als »trist, sachlich, humorlos«. Doch wir haben überhaupt keine Lust, unser Leben lang ernst, bieder und vernünftig zu sein! Dass ein abstinentes Leben so aussehen könnte, hat uns jahrelang davon abgehalten, überhaupt darüber nachzudenken, auch wenn wir vom Gefühl her schon längst hätten aussteigen wollen.

Also mussten wir das Buch selbst schreiben, das wir brauchten, aber nicht finden konnten: Eine Gebrauchsanweisung für alle, die ohne Alkohol, aber nicht ohne Rock ’n’ Roll, Intensität und Schönheit auskommen wollen. Das aufregende Leben ist nicht vorbei. Unser Leben ist nicht vorbei.

In diesem Buch soll es darum gehen, den Rausch neu zu erfinden und zurückzugewinnen. Für uns und viele andere war es eine ziemlich einsame Sache, das mit der Abstinenz hinzukriegen, aber das muss nicht so sein. Wir zeigen euch, wie man einander Gesellschaft leistet, während man den Kurs ändert. Manche Geschichten hier handeln von Alkohol oder auch von seiner Abwesenheit, die meisten aber von Orchideen, Eiskrem, Bergen, Basilikum, Sternschnuppen, Rollerskates, äthiopischem Kaffee, Sex, Vetiver, Pferden, Kostümpartys und Glitzer. Und das soll so sein.

Auch wir haben mal geglaubt, Abstinenz bedeute, ohne etwas auszukommen, etwas aufzugeben, auf etwas zu verzichten, sich einen Ersatz zu suchen. Inzwischen heißt unsere Philosophie Überschwang und Ausgelassenheit. Und da sind wir nicht die Einzigen. Nicht alle Vegetarier bereiten noch Braten aus Tofu zu, viele servieren stattdessen wahre Festessen aus sonnenreifen Tomaten, Gartenzucchini, gerösteten Pinienkernen, Süßkartoffeln mit selbstgemachter Tahinsauce, gegrilltem Halloumi und Naan-Brot, gefolgt von Ingwersorbet mit Granatapfelkernen zum Nachtisch. Sie haben die Lust am Kulinarischen von Grund auf neu erfunden. Ein Freund von uns wollte kräftiger werden, aber nicht einfach nur auf Junk-Food und Zucker verzichten – er fing mit Kickboxen an, lernte vorzüglich kochen und fährt neuerdings jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit. Inzwischen ist er nicht nur kräftiger geworden, sondern auch viel lebendiger.

 

 

Berauscht vom Leben ist kein Sittenkodex, und wir sind auch kein Club. Es ist eine lose Sammlung von Ideen und Erfahrungen, an der sich jeder gerne bedienen darf. Es geht uns nicht darum, einen Kampf von Nüchternen gegen Trinker anzuzetteln. Niemand ist entweder drinnen oder draußen.

Wir haben uns entschieden, von »wir« zu sprechen, um so viele Leser wie möglich auf diese Reise einzuladen. Ein paar Geschichten handeln jeweils von einer von uns beiden, andere können auf jeden Menschen zutreffen.

Dieses Buch soll niemandem eine Lebensweise vorschreiben oder beweisen, dass die eine Art besser ist als die andere. Es ist kein Buch gegen Alkohol – wir kennen viele, die trinken, ohne dass es in ihrem Leben dasselbe anrichtet wie in unserem. Es handelt sich vielmehr um eine Auflistung vieler wunderbarer Dinge, die wir machen (oder von denen wir träumen), um auch nüchtern kreativ und rebellisch zu sein.

Wir haben uns entschieden, mit dem Trinken aufzuhören, weil es aus ganz persönlichen Gründen einfach besser für uns ist. Ob sich jemand auch auf diesen Weg macht, ist nicht unsere Entscheidung, sie liegt bei jedem einzelnen. Wir wollen leben, wie es uns gefällt – und tatsächlich hat uns das überhaupt erst bewogen, nein danke zu Alkohol zu sagen. Scheiß auf den Gruppenzwang.

Genießen ohne Alkohol, das wollen die verschiedensten Menschen. Frauen wie Männer, alte und junge, aus allen sozialen Schichten, berühmte und anonyme Leute, manche ganz am Anfang, andere weise alte Veteranen, die uns weit voraus sind. Sie alle haben ihre ganz eigenen Gründe. Einige wollen nur mal probieren, andere sind seit Jahrzehnten nüchtern, wieder anderen geht es um Mäßigung, manche haben lebensbedrohliche Drogenkrisen hinter sich. Hier dürfen sich alle treffen. Niemand wird ausgeschlossen.

Das ist kein Buch mit allen Antworten, den richtigen Rezepten und therapeutischen Ratschlägen, und wir tun auch gar nicht erst, als wäre es eins. Wir sind Träumerinnen und Geschichtenerzählerinnen, die selbst Hunderte von Fehlern gemacht und mehr Fragen als Antworten haben. Für uns ist das Leben eine verrückte Reise, kein Zugfahrplan. Also bieten wir euch unsere Geschichten an, denn wir lieben Geschichten. Sie können Menschen zusammenbringen und manchmal sogar heilen – diejenigen, die sie erzählen, und diejenigen, die zuhören. Geschichten, die Licht ins Dunkel bringen.

Auch wenn wir hoffen, euch mit diesem Buch zu erreichen, ist uns klar, dass ein Buch – egal welches – in den meisten Fällen nicht annähernd ausreicht, um nüchtern zu werden oder nüchtern zu bleiben. Schlagt also auf keinen Fall die vielen anderen Hilfsangebote aus. Das hier ist keine Entgiftungskur und auch kein 12-Schritte-Kurs, kein Therapeut und kein Sponsor. Für uns hat der Kontakt zu Gleichgesinnten eine wesentliche Rolle beim Nüchternbleiben gespielt. Und der steht allen zur Verfügung, online oder im echten Leben.

Dieses Buch ist ein Angebot, kein Lehrwerk. Tut einfach so, als würdet ihr das erste Mal in einen Badesee springen: Tief eintauchen oder nur einmal kurz reinhüpfen. Egal an welchem Punkt ihr euch in eurem Leben befindet, wir hoffen, dass ihr etwas mitnehmen könnt. Manche Menschen kommen erst durch die sogenannten Mocktails wieder auf den Geschmack; wenn ihr das befürchtet, überspringt bitte das Kapitel »Im Glas« und auch das letzte mit den Rezepten für alkoholfreie Drinks. Schließlich wollen wir nicht unseren alten Gewohnheiten nachhängen, sondern essen und trinken einfach sehr gern. Aber so geht es uns. Wir respektieren jeden einzelnen Leser, jeden einzigartigen Weg.

 

Willkommen also, liebe Leser, in einer Geschichte, die weniger davon handelt, was wir verloren haben, als von dem, was wir dadurch finden konnten. Am Anfang erzählen wir euch, wie jede von uns dorthin gelangt ist, wo wir uns jetzt befinden. Dann geht es weiter mit lose aufeinanderfolgenden Kapiteln zu diesem und jenem, und am Ende schließen wir mit ein paar Rezepten. Keine bestimmte Ordnung oder Abfolge, keine bestimmte Stelle, an der man anfangen oder aufhören sollte.

Ob ihr hier richtig seid? Setzt euch einen Moment auf unser durchgesessenes schwarzes Samtsofa, es gibt Ginger-Beer und Kuchen, und wir legen eine Platte auf. Nehmt euch Zeit und entscheidet selbst.

Fragt ihr euch, ob ihr heute Abend ohne Alkohol vielleicht zufriedener wärt? Seid ihr schwanger und sucht neue Wege, euch zu amüsieren? Verzichtet ihr schon seit zehn Jahren auf Alkohol? Habt ihr euch vorgenommen, den ganzen Januar nichts zu trinken, oder wollt ihr einen sober October einlegen – einen Monat ohne Zucker und Alkohol? Seid ihr neugierig darauf, wie es sich ausschweifend, verrucht, wild und glamourös leben lässt – ohne den Kater und die Reue? Habt ihr Kinder und wollt mehr für sie da sein? Googelt ihr hin und wieder: »Bin ich Alkoholiker:in«? Macht ihr gerade Karriere und wisst trotzdem nicht, wo ihr im Leben steht? Seid ihr Single und habt keine Ahnung, wie man nüchtern jemanden daten soll? Oder trinkt ihr häufig zusammen mit eurem Partner? Seid ihr allein mit eurer Unsicherheit und fragt euch, ob andere Menschen über dieselben Dinge nachdenken? Seid ihr Studenten und neugierig auf euer künftiges Leben? Trinkt ihr, weil ihr keine Spielverderber sein wollt, obwohl euch gar nicht klar ist, was daran Spaß machen soll? Habt ihr Angst, noch mehr Angst zu haben, wenn ihr nicht mehr trinkt? Hört ihr in eurem tiefsten Inneren eine Stimme, die leise fragt: Ist das meine Geschichte?

Herzlich willkommen.

Für euch haben wir dieses Buch geschrieben.

Jade-Ohrringe

Amandas Geschichte

Als ich aufwachte, hatte ich immer noch mein Silvesterkleid an. Mein kleiner Sohn schlief neben mir, und meine Jade-Ohrringe waren weg. Ich schaute auf beide Nachttische, entdeckte aber nur Bücher und ein halbvolles Glas Chardonnay. Am Abend zuvor hatte ich eine Party gegeben, erinnerte mich vage, dass vor Mitternacht Feuerwerk gezündet worden war. Danach an nichts mehr.

Schlaf erfüllte das perfekte Gesicht meines Sohnes. Durch das Fenster fiel das Licht der Sonne von Colorado, es wirkte fast fahl auf dem Schnee. Beklommen versuchte ich festzustellen, wo meine Ohrringe abgeblieben waren. Sie waren groß und auffällig – triumphal. Ich hatte sie mir selbst zu Weihnachten geschenkt.

Ich warf meinen Morgenmantel über das silbrige Samtkleid, zog den Gürtel fest. Meine Haare rochen noch nach der schicken Frisur, die ich mit Aqua Net fixiert hatte, als ich mich am frühen Abend für die Party zurecht gemacht und dabei Wein aus einem großen Glas getrunken hatte. Einer meiner schwarzen hohen Schuhe lag neben dem Bett. Panik stieg in mir auf, als ich mich nach dem anderen umschaute, aber ach, da lag er ja, an der Tür.

Ich sah nach meiner kleinen Tochter, die in ihrem Zimmer zusammengerollt schlief, leise atmend. Meinen ältesten Sohn fand ich in seiner Schneehose ausgestreckt oben auf dem Stockbett. Alle drei waren sicher und wohlbehalten, mein Herzschlag beruhigte sich wieder, aber der Schrecken hielt noch über Tage an.

Diesen Schrecken hatte ich häufig gegoogelt – war es irgendeine chemische Reaktion, weil der Chardonnay in meiner Blutbahn schlecht geworden war? War ich Alkoholikerin? Musste ich mit dem Trinken aufhören? Für immer? (Am liebsten möchte ich meinem armen verzweifelten Teenager-/College-/Erwachsenen-Ich heute zurufen: Wenn du solche Fragen googelst, dann lautet die Antwort ja. Einfach ja. Du musst nicht aufhören, aber du liebe Güte, du darfst!)

Ich war neun Jahre alt, als ich einen Fragebogen auf der Rückseite einer Broschüre der Anonymen Alkoholiker beantwortete und meinem Vater anschließend erklärte, dass er Alkoholiker sei. Ich weiß noch, wie ich neben dem Schrank stand, wo er seine Jack-Daniels-Flaschen aufbewahrte. Meine beiden jüngeren Schwestern und ich hatten eine Heidenangst vor ihm: Ich wusste nie, wann er uns anschreien würde, nur weil wir mal wieder die verdammte Treppe hinaufgerannt waren; wann er mir schmerzhaft auf die Schulter klopfen und mich fragen würde, wie man sich so als Versagerin fühlt; oder wann er uns schlagen würde, weil er uns für verhätschelt hielt. In mir lebt immer noch das kleine Kind von damals. Es hat eine solche Angst vor ihm, dass mir noch heute schlecht davon wird. Manchmal zittere ich, wenn ich an diese Zeit denke. Dabei kann ich mich gar nicht mehr an so viel erinnern.

 

 

In der Küche waren meine Ohrringe auch nicht. Ich kochte Kaffee und schluckte zur Feier des Neujahrstags vier Kopfschmerztabletten. Normalerweise nahm ich jeden Abend Benadryl, um mein Gehirn zum Schweigen zu bringen und einschlafen zu können. Keine Ahnung, ob ich am Abend zuvor eine genommen hatte.

Wenn es darum ging, nach einem Blackout meine eigenen Spuren zu verfolgen, war ich eine miserable Detektivin. Was hatte ich am Abend vorher getan? Würden meine Ohrringe unter dem Bett eines Mannes auf der anderen Seite der Stadt gefunden werden? Hatte ich zu meinem Mann etwas gesagt, das er mir niemals mehr würde verzeihen können? Als ich letztens mal wieder unterwegs gewesen war, bestand ich darauf, mir vom Barmann noch einen »doppelten Chardonnay für unterwegs« geben zu lassen. Später postete jemand ein Foto von mir auf Facebook, auf dem ich der Kamera lachend mit einem großen Bierbecher zuproste. Ich erinnere mich nicht, wie das Foto entstand. Auch nicht daran, einen doppelten Chardonnay bestellt zu haben. Auf dem Bild, das bin ich, aber irgendwie auch nicht. Nur – wer ist es dann?

In den Augen der anderen ging es mir gut. Über mehrere Monate hinweg trank ich ganz normal, abends ein bis zwei Gläser Wein oder auch mal gar nichts. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, irgendwann übertrieb ich es doch wieder. Später bezeichneten abstinente Freunde dies als meinen Versuch, die »dritte Tür« zu finden – wenn man nicht aufhören will, es einem aber auch nicht gelingt, sich zu mäßigen. Als ich schließlich akzeptiert hatte, dass es für mich keine dritte Tür gibt, eröffnete sich mir ein neues Leben.

Am Neujahrsmorgen tauchte meine Tochter auf, schlang die Arme um mein Bein. »Alles gut«, sagte ich zu ihr.

Sie sah mich zweifelnd an und fragte: »Mama, können wir was lesen?«

Ich schenkte mir heißen Kaffee in einen Becher, setzte mich damit ins Wohnzimmer. Meine Tochter kuschelte sich an mich, Daumen im Mund, ihre Wange lag auf dem elfenbeinfarbenen flauschigen Besatz meines Morgenmantels. Als ich Madeleine aufschlug und vorlas, wachte erst der eine, dann auch der andere Sohn auf, und beide kamen zu uns. Und plötzlich war ich da: die Mutter, die ich so furchtbar gerne sein wollte.

Ich schwor mir, ich würde niemals, absolut nie und unter gar keinen Umständen, noch einmal mehr als vier Gläser Wein an einem Abend trinken.

Und brach meinen Schwur schon im Februar.

Und auch während ich dies tippe, habe ich Lust auf ein Glas Chardonnay.

Meine Jade-Ohrringe habe ich übrigens nie wiedergefunden.

 

Als ich fünfzehn war, wurde mein Vater trocken. Zum Schluss war sein Kampf das größte Geschenk, das er mir je machen konnte: durch die Einsicht, dass Alkohol das Herz zerstört, und indem er ein lebendes Beispiel dafür wurde, dass man in die Freiheit durchbrennen kann.

 

Am fünfzehnten Geburtstag meines ältesten Sohns hatte ich die Suche nach der dritten Tür aufgegeben und bereits seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr getrunken. Nachdem wir das mit der Familie bei einem Essen gefeiert hatten, zog ich meinen Schlafanzug an und legte mich mit einem Buch ins Bett. Ungefähr um acht Uhr tauchte mein Sohn in der Tür auf. Er trug Shorts und ein T-Shirt. »Hey Mom«, sagte er.

Ich schaute auf.

»Ich geh ne Runde laufen. Kommst du mit?«

Früher hätte ich träge erwidert: »Ich bin schon im Schlafanzug.« Außerdem hatte ich um acht Uhr abends normalerweise schon drei Gläser Chardonnay intus. Aber jetzt klappte ich mein Buch zu, verlor die Stelle, an der ich stehengeblieben war, warf die Decke zurück und sagte: »Warum nicht?«

Die Sonne stand tief am Himmel. Gerade erst war ein Gewitter über uns hinweggezogen, es war kühl, der Abend roch nach warmem Asphalt und Magnolien. Mein Sohn war Crossläufer und schnell. »Lauf ruhig vor«, sagte ich. Er nickte und fand sein Tempo.

Fünfzehn Jahre nachdem ich ihn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, sah ich ihm jetzt hinterher. Ich nahm das Tempo raus, fing an zu gehen, blieb stehen, überwältigt von einer schlichten, friedlichen Ruhe. Mein Sohn würde bis ans Ende der Straße laufen, kehrtmachen und zurückkommen. Ich würde da sein, mit heißen Wangen und Tränen in den Augen – und er würde beim Anblick seiner Mutter lächeln.

Die Angst der ersten nüchternen Monate, die anstrengende Wandlung, jemand anderer zu sein, die verwirrende Erfahrung, sich mitten im Leben ein neues Umfeld suchen zu müssen, und die Nächte, in denen ich einfach nur wahnsinnig gerne einen einzigen Schluck oder am liebsten gleich eine ganze Flasche Chardonnay hatte trinken wollen. Die unzähligen Flaschen Mineralwasser. Die Tränen auf Jardines Sofa.

Über mir tauchte der Mond auf, und ich wusste: Dafür hatte ich all das getan.

Anbrandendes Türkis

Jardines Geschichte

August auf Long Island. Ich bin sieben Jahre alt und stehe mit meiner Familie am Hafenanleger; wir steigen einer nach dem anderen auf unser Boot, um rüber nach Fire Island zu fahren und mit befreundeten Familien dort vor Anker zu gehen, den ganzen Sonntag lang zu schwimmen, Schinkensandwiches zu essen und Strandglas zu suchen. Der Himmel ist diesig, die Sonne steht tief am Himmel. Die Mütter – riesige Siebzigerjahre-Sonnenbrillen auf der Nase – zünden sich Zigaretten an, unterhalten und sonnen sich auf den Booten. Die Väter sind Cowboys, sie stehen bis zur Taille im schillernden Glanz der grauen Bucht, prosten sich mit Bierflaschen zu.

Nach dem Mittagessen spazieren alle einmal quer über die schmale Insel auf die Ozeanseite, wo wir Kinder stundenlang in der Brandung surfen, uns auf den Wellen hochtragen, fallen und herumschleudern lassen, danach luftschnappend wieder auftauchen. Als die Sonne untergeht, milchig und pink, tuckern wir auf dem dickbäuchigen alten Kahn heimwärts – jeder allein mit seinen Gedanken, müde, aber zusammen. Am Ufer stakst ein Reiher geziert durch Seetang und Treibholz in die Abenddämmerung davon. Später im Bett schließe ich die Augen und sehe nichts als den endlosen Kreislauf des türkisfarbenen Wassers, die schöne und schreckliche Brandung. An jenem Tag war ich vollkommen im Ozean aufgegangen, Teil von etwas viel Größerem als mein winziges Ich. Und so lebendig.

 

Dann bin ich fünfzehn und baue mit meinen Freundinnen ein Baumhaus im Wald. Wir wollen an diesem blauen Herbstnachmittag dort abhängen, Camel Lights rauchen und jede für sich ihr Notizbuch vollschreiben. Das Laub um uns herum ist bereits grellorange und gelb. Wir trinken noch nicht, nehmen keine Drogen, wir schreiben nur Gedichte und listen absurde Dinge auf, schreiben immer und immer wieder Prince-Texte ab, verewigen »Starfish and Coffee« mit seinen Butterscotch Clouds und unsere magisch befreiten Gedanken in unseren Tagebüchern. Meine Freundinnen und ich, in Flanelljacken, Basecaps und zerrissenen Jeans, probieren Kautabak und lachen, bis wir beinahe aus dem Himmel fallen. Wir wollen alle dasselbe: unseren Geist befreien, wild sein. Sternschnuppen werden, uns Reißzähne wachsen lassen und durch die Nacht tigern, geliebt werden, durchdrehen. Wir sind in dem Alter, in dem jedes einzelne unserer Moleküle lichterloh zu brennen scheint. Wir behelfen uns mit Charles Bukowski, Anaïs Nin und Comics, mit Witzen und Frotzeleien, wir nehmen unzählige Mixkassetten mit Songs von den Rolling Stones, Bad Brains und Joan Jett auf. Wir sind Außenseiter und anders als die anderen, aber echte Freundinnen füreinander. Nichts ist wichtig außer diesem Nachmittag unter strahlend blauem Himmel.

 

Als ich dreiundzwanzig werde, mache ich meinen Master in Literatur an der University of Michigan, bin versessen auf Bücher und möchte nichts anderes im Leben als Schreiben. Um Geld zu verdienen, arbeite ich abends in einem Jazzclub namens Bird of Paradise. Am späten Nachmittag beginne ich dort meine Schicht, und wenn ich den Staubsauger über den schmutzigen Teppich schiebe, sondert er einen schlimmen Geruch ab. Der Club wirkt deprimierend und eng. Nachts, wenn die Musiker aufbauen, die Jazzfans an kleinen runden Tischen mit rosa Tischdeckchen sitzen und ich und die andere Kellnerin Getränke servieren, die Kerzen leuchten und der Bassist sich warm spielt, wird die Bar zu einem mitreißenden Ort. Eigentlich bin ich keine gute Kellnerin, weil ich wie hypnotisiert das Trio anstarre, wie sie sich in der Musik verlieren, irgendwas von John Coltrane oder Sarah Vaughn. Hier, das wird mir bewusst, ist die Wildheit zu Hause. So verliert man den Verstand, macht sich frei, ist mit allen Sinnen wach. In diesem dunklen, schillernden Raum mit Künstlern und Zuhörern dämpfen alle ihre Stimmen, schwitzen, rauchen – erleben diesen einen Augenblick zusammen.

 

Sprung in einen anderen Club – den Bungalow 8 in New York City. Downtown, West Side. Inzwischen bin ich dreißig, und gerade ist mein erster Roman erschienen, den ich nachts schrieb, während ich in Manhattan jobbte. Heute Abend findet die Party anlässlich seiner Veröffentlichung statt, und die Leute sind in die Bar gekommen, um zu tanzen, zu trinken, zu flirten, zu lachen und mit mir zu feiern. Ein Traum ist für mich wahr geworden, oder? Besser als alles, was ich mir je hätte vorstellen können? Ich bin froh, dankbar und glücklich, oder doch nicht? Es fühlt sich an, als befände sich eine Trennscheibe zwischen mir und den anderen, ich komme mir vor wie ein Fisch im Aquarium. Oder vielleicht sind auch die anderen die Fische, und ich bin draußen, irgendwie kann ich zu niemandem so richtig durchdringen. Inzwischen habe ich eine Ahnung, was da schiefgelaufen sein könnte. Die Erkenntnis beschlich mich ganz allmählich, immer wenn ich gerade nicht aufpasste: Irgendwann in den vergangenen zehn Jahren hatte ich die Kombination aus Alkohol und Chemikalien zu meinem Rezept für Ekstase gemacht. Verschiedene Substanzen, zu viele und zu häufig. Und ja, sie stimulierten mich, schärften meinen Verstand, ich fühlte mich großartig – einen kurzen Augenblick lang. Da war die ersehnte Wildheit, und schon war sie wieder weg. Am nächsten Morgen war ich toter denn je. Und allein.

 

Mit achtunddreißig ziehe ich nach Texas. Irgendwo in meinem dumpfen Hinterkopf hoffe ich, dabei ein paar meiner Süchte hinter mir zu lassen. Mein Haus ist ein alter Bungalow, im Garten wachsen Rosen, Jalapeños, Amaryllis und Jasminsträucher. Der Duft eines Neuanfangs. Ich stehe mittendrin, der goldene Morgen berührt mein Gesicht wie die Hand einer Mutter, sagt mir, hier könnte ich glücklich sein. Ich fühle mich willkommen. Und ich tauche ein in die Stadt, ich habe wirklich Spaß und liebe diese neue Welt mit Cowboys, Motorrädern, Dancehalls und ungenierten Originalen. Aber sonst? Sonst ist alles wie immer, einfach weil ich denke, dass man das so macht. Nach wenigen Monaten ist es wieder einmal acht Uhr morgens, ich stehe seit vierzehn Stunden an der Bar, davon überzeugt, dass sich Wildheit, Lebendigkeit und Wahrheit an einem frühen Morgen hier finden lassen. Ich bin mit tollen Leuten unterwegs, großartigen Seelen – wir sind alle befreundet, aber eigentlich sind wir uns in dieser Stunde fremd; ich bin mir sogar selbst fremd. Das morgendliche Licht ist grob und gemein, die Vögel sind grausam. Ich finde in mein Bett, verschlafe mal wieder den Tag. Als ich aufwache, zeige ich im Spiegel auf mich und sage, Mach das bitte nicht noch einmal. Und dann ziehe ich los und mache es wieder.

 

Ich bin einundvierzig und arbeite ehrenamtlich in einem texanischen Frauengefängnis, wo ich der Graduiertenfeier eines Literaturstudiengangs beiwohnen soll. Drinnen sind keine Telefone erlaubt, keine Portemonnaies, keine Stifte, nicht mal Lippenbalsam, nichts außer uns selbst. Am Eingang werden unsere Ausweise kontrolliert. Die Wände sind bemalt, und es riecht nach billigem Putzmittel, nach Bohnen und Reis. Wir kommen in der Sporthalle zusammen, es gibt keine Klimaanlage, ein Ventilator dreht sich langsam, und als ich meinen Klappstuhl zurechtschiebe, hallt das Geräusch durch den riesigen Raum. Die inhaftierten Frauen kommen im Gänsemarsch herein, tragen Uniformen, wir sehen sie an, und sie sehen uns an. Körperkontakt ist verboten.

Seit beinahe zwei Jahren bin ich jetzt nüchtern und sehe alles aus einer anderen Perspektive. Was ich von diesem Tag halten soll, weiß ich allerdings noch nicht genau. Ich war noch nie in einem Gefängnis. Kenne hier niemanden. Die Seminarleiterin erhebt sich, das Mikrofon quietscht, und sie stellt die erste Rednerin vor.

Die Frau steht auf, weiße Sneaker, ein einzelnes mit Kugelschreiber beschriebenes Blatt zittert sichtbar in ihren Händen, sie räuspert sich; wir warten, im Publikum hustet jemand, dann Stille. Die Frau beginnt zu sprechen, sagt uns, wer sie ist, erzählt Geschichten über BMX-Räder und große Brüder, Eiskrem und erste Liebe, dreibeinige Katzen und Großmütter, Autounfälle und Prügeleien, Aushilfsjobs in Küchen, das Kinderkriegen, Valentinskarten und Kredite. Mein Herz klopft, im Raum wird es stickig vor lauter Leben, die Luft ist zum Schneiden, es ist heiß. Alle schwitzen unter der drückenden Erkenntnis, dass wir einander doch kennen, jede Einzelne die andere.

 

Sechsundvierzig Jahre alt, sieben Jahre nüchtern, lebe ich heute in einem kopfstehenden Wunderland aus Highways, Feigenbäumen, Kinos, Kolibris und Surfboards: Los Angeles.

Ich habe keine verfluchte Ahnung, was ich tue, aber ich tu’s. Gertrude Stein hat gesagt: »Du siehst blöd aus, wenn du tanzt. Du siehst blöd aus, wenn du nicht tanzt. Also kannst du ebenso gut auch tanzen.« Ich bin mit meinem Mann hergezogen, wir leben in einem schiefen Haus aus Stahl und Beton neben dem Elysian Park, vor der Haustür wächst ein Zitronenbaum. Ich schreibe für Film und Fernsehen, arbeite mit Regisseuren und Schauspielern zusammen, feile tage- und nächtelang wie im Fieber an Storylines und Figuren. Hier brodelt es nur so vor neuer Kunst und Möglichkeiten, alten Geschichten und mythischen Wesen.

Ich kann immer noch sehr gemein zu mir sein, grausam sogar, wegen all der vergeudeten Jahre, weil ich keine Kinder bekommen, aber andere im Stich gelassen habe, doch inzwischen bin ich besser darin geworden, das alles zu durchschauen und zur Kostbarkeit des Augenblicks zurückzukehren.

Pitch-Meeting in einem Konferenzraum aus Glas und Chrom im vierundzwanzigsten Stock, meine Nerven liegen blank. Plötzlich erzähle ich den Anwesenden eine eigenartige und dunkle Geschichte. Als würde ich einen Traum oder ein Geheimnis verraten. Die anderen kommen auch mit ihren Ideen, Sachen, die sie ganz für sich allein zusammenphantasiert haben, werden nun allgemein zur Diskussion gestellt. Wir reden und debattieren, die Unterhaltung zerfasert kurz und fügt sich dann wieder zusammen. Das Projekt wird wie ein Neugeborenes in den Arm genommen und hin und her gewiegt, es bekommt einen Namen, und jeder erklärt seine Vorstellung davon, wie man es großziehen müsste.

Während sich das Gespräch weiterdreht, blicke ich unwillkürlich auf die Panoramalandschaft, unzählige helle Gebäude, Palmen, Berge in der Ferne, Wolken, die sich nicht bewegen. Ganz schön unheimlich, so weit oben in diesem unbekannten Raum zu schweben. Aber genau hier bin ich wie elektrisiert, wild, frei. Hier erinnere ich mich mit jeder Faser meines Körpers, wie es damals war, als Mädchen auf einer schäumenden brechenden Welle zu reiten, Teil des Ozeans zu sein – ich hatte Angst und wusste nichts, aber ich war so lebendig.

Himmlische Grenzüberschreitungen

I swim in a shaf‌t of light, upside down,

and I can see myself clearly,

through and through, from every angle.

Perhaps I stand on the brink of a great discovery …

Jamaica Kincaid

Das Eisbärbad

Früher wurde der Neujahrstag häufig von dem langen übermächtigen Silvesterabend überschattet. Wir wachten um vier Uhr nachmittags auf, kratzten uns das Make-up vom Gesicht und schleppten uns zu einem späten Brunch oder frühen Abendessen mit Freunden, die noch Konfetti im Haar und wilde Geschichten zu erzählen hatten. Oder wir standen unanständig früh auf, weil die Kinder nicht zur Schule mussten und vorgelesen bekommen oder zu Freunden gefahren werden wollten. All das mit roten Augen und hektisch rotierenden Gedanken daran, was in der Nacht zuvor wohl geschehen war. Irgendwie kaputt, aber auch herrlich. Es ist eine amerikanische Tradition, dass man den ersten Tag eines funkelnagelneuen Jahres vollkommen fertig begeht. Vielleicht glauben wir an die Zerstörung des eigenen Ichs, damit sich ein neues wie ein Phönix in den fahlen Winterhimmel erheben kann. Aber verdammt, gibt’s keine andere Möglichkeit? Müssen wir, wenn wir nüchtern sind, immer höflich und vernünftig sein? Oder können wir einfach darauf pfeifen?

Eine Antwort: das Eisbärbad am Neujahrsmorgen. Man wacht klar und ausgeschlafen auf, ist sich des Neuanfangs bewusst, der noch leeren ersten Seite im Kalender. Bikini oder Badehose verschwinden unter dicken Klamotten und Karojacken, man steigt in Cowboystiefel und macht sich, ausgerüstet mit stapelweise Handtüchern und Wolldecken, gemeinsam mit seinen Lieblingsverrückten oder auch mutterseelenallein auf den Weg zum Schwimmbad, ans Meer oder an einen See. Man blickt hinaus aufs eisige Wasser, schaut sich entweder gegenseitig oder innerlich an, und genau in dem Moment, in dem man es sich anders überlegt, wird man an der Hand gepackt und springt – atemlos – wild – die Kälte wie ein Stromschlag – lachend und bibbernd und kreischend rennt man schnell wieder raus, wickelt sich in Decken, und ab zum Wagen.

Zu Hause angekommen, macht man ein Feuer. Jede einzelne Zelle des Körpers strahlt.

Früher gehörte ein bisschen Großtun zum Neujahrstag dazu, Heldengeschichten nach einer langen aufregenden Nacht, und daran ist auch nichts verkehrt. Aber mit einem Sprung in eiskaltes Wasser kann man genauso gut angeben. Beginnt den Januar mit ein bisschen Masochismus und einer großen Portion Stolz, esst danach die Reste vom chinesischen Takeaway oder von den Pfannkuchen, und ihr werdet merken, dass ihr ganz und gar nicht bezwungen seid, sondern stärker denn je. Alles kribbelt, und ihr seid bereit für das, was kommen mag.

Die Mädchen-Motorrad-Gang

Vor ein paar Jahren postete Jardines Freundin Emily ein Foto, auf dem sie mit Helm und Lederjacke neben einem großen, starken Monster von einem Motorrad zu sehen ist – das Bike und sie funkelten auf dem Seitenstreifen eines kalifornischen Highways in der goldenen Sonne, und Emily lächelte irgendwie eigenartig und schön. Sie war einem Motorrad-Club nur für Frauen beigetreten, einer Gruppe von Bikerinnen, die an jeweils einem Wochenende im Monat die Straßen eroberten, gemeinsam Ausflüge unternahmen, das Zelt im Gepäck.

Jardine horchte sie über die Einzelheiten aus. Hast du keine Angst? Wer sind die anderen Frauen? Wie hast du sie gefunden? Wo hast du Fahren gelernt? Emily muss die Ausflüge neben ihrer Arbeit einplanen und kann nur weg, wenn ihr Exmann ihre Tochter übernimmt, wodurch ihr nicht viel Spielraum bleibt. Aber es reicht. Ihr Lohn sind blauer Himmel, neue Freundinnen mit faszinierenden Geschichten und ein enormer Adrenalinkick. Sie ist zu einer Entdeckerin geworden, der die Zeit wie im Flug vergeht.

Jardine sah, was ihre Freundin da machte, und plötzlich sprang auch für sie eine Tür sperrangelweit auf. Mag sein, dass sie nicht gleich morgen loszieht und sich ebenfalls eine gebrauchte Ducati kauft, aber die Saat fiel auf den reichen Nährboden ihrer Phantasie. Vorbilder verändern sich mit der Zeit, und neue Möglichkeiten kristallisieren sich heraus. Heutzutage achtet Jardine darauf, was Bekannte, Nachbarn und Kollegen in ihrer Freizeit für verrückte Sachen machen, an welchen Abenteuern sie schnuppern, welche neuen Wege sie gehen.

Früher waren wir voller Sorge: Was sollen wir machen, wenn wir keinen Alkohol mehr trinken? Niemand wird sich mit uns abgeben wollen, wir werden allein sein und uns langweilen, ausgeschlossen von jedem Spaß. Als wir unsere Scheuklappen abnahmen, entdeckten wir plötzlich überall Menschen, die uns auf unglaubliche Ideen brachten, wir hatten sie vorher nur nicht bemerkt. Wir mussten sie erst sehen wollen.

Glamourös kaputt

Jardines liebe Freundin Justine hat ihr vieles beigebracht – aber eine Erkenntnis übertrifft alle anderen: Ein Abendkleid ist glamouröser, wenn man damit wenigstens einmal über einen Zaun gesprungen ist, oder es Flecken bekommen hat, weil man um Mitternacht unbedingt Kirschen essen musste; eine Party, über die ein Gewitter hereinbricht, kann viel prickelnder und großartiger sein, wenn sich alle ins Haus drängen und von Blitz und Donner in helle Aufregung versetzen lassen.

Mit anderen Worten: Das Nicht-Perfekte ist bezaubernd. Zu viel Kontrolle und Genauigkeit sind wie Desinfektionsmittel für die Liebe.

Das japanische Konzept des wabi-sabi gewinnt für uns immer mehr an Attraktivität. Es bestärkt uns in dem, was wir tun, weil wir damit spirituelle Blessuren und Prellungen unserer Ernüchterung akzeptieren (und möglicherweise sogar begrüßen) können. Das Konzept ist komplexer, aber im Kern bezeichnet wabi-sabi den Versuch, jeden Gegenstand als schön zu betrachten – nicht, obwohl er unbeständig ist, sondern eben, weil er es ist. Auch Kintsugi will uns etwas Ähnliches verdeutlichen: Bei dieser japanischen Methode wird beispielsweise eine kaputte Vase instandgesetzt, und zwar mit goldenem Kitt, so dass die Bruchstelle immer sichtbar bleibt und an die Vergänglichkeit des Gegenstands erinnert. Die Bruchstelle ist nichts, das versteckt werden müsste, sie zeigt vielmehr den Fortgang der Zeit und macht das Objekt wertvoller.

Manche Menschen hören vor allem deshalb mit dem Trinken auf, weil sie besser aussehen wollen. Zu denen gehören wir nicht. Wir sind glücklich und zufrieden, wenn man uns am Ende unserer Zeit auf Erden ansieht, wie abgerissen und verbraucht wir sind. Wir hätten auch nichts gegen ein kürzeres Leben, wenn es dafür ein umso tieferes, reicheres, ehrlicheres, mit Edelsteinen geschmückteres, schockierenderes (je nachdem, wohin es uns gebracht hat), vorzüglicheres (je nachdem, wen wir lieben durften und von wem wir geliebt wurden), unvollkommeneres, eigenwilligeres, ja sogar chaotischeres oder einsameres war. Wir haben mit dem Trinken aufgehört, um tiefer zu empfinden, um Risiken einzugehen. Nicht weil wir ewig leben, sondern weil wir uns lebendig fühlen wollen.

Nachthimmel

Nachdem wir jahrelang wie die Wilden bis in die frühen Morgenstunden gefeiert haben, können wir jetzt mit einem guten Gefühl die Sonne aufgehen sehen. Unglaublich. In unseren schönen Köpfen hat sich neben so einigem anderen auch festgesetzt, dass der Sonnenaufgang mit Traurigkeit verbunden ist, und irgendwann ließ sich daran nicht mehr rütteln.

Uaahhh. Manchmal wird Jardine bei der Erinnerung heute noch mulmig – dieses Gefühl, wenn man aus der Bar oder dem Club in den trüben Morgen hinaustritt und in ein Taxi steigt. Irgendwie ist es einem peinlich, dass der Fahrer einen so sieht, und dann kommt sie, die spektakulär große Woge aus Depressionen, und man will nur noch nach Hause. Auf dem Weg dorthin ist alles um einen herum bestens ausgeleuchtet, weil die gottverfluchte Sonne bereits am Himmel steht.

Schon komisch, dass etwas so Herrliches, das eigentlich spirituelle Ehrfurcht erzeugen sollte, zu etwas so Feindlichem werden konnte. Wenn Jardine nach einer langen Nacht die ersten Vögel zwitschern hörte, hatte sie die Vögel wirklich gehasst. Aber wer bitte hasst denn Vögel? Sie hat die Sonne gehasst. Den Tag. Eines Morgens musste Jardine sich in Downtown Manhattan einen Weg durch eine Armee von Radfahrern bahnen, die sich vor ihrer Haustür für eine frühmorgendliche Ausfahrt versammelt hatten. Kopf gesenkt, damit bloß niemand die verschmierte Wimperntusche auf ihren Wangen und ihre weiten Psychopupillen sah. Sie hasste die Radfahrer. Hasste deren Räder. Und das, wohin sie fahren wollten – vor allem aber hasste sie das einsame feuchtkalte Bett, in das sie gleich fallen würde, jetzt, da ihre eigene kleine Tour beendet war.

Es schien ein fairer Tausch – die Nacht gegen den Tag. Die darauf folgende Depression war nun mal der Preis für den ausgelassenen Spaß. Und manche Nächte waren es wirklich wert, kein Zweifel. Aber es gab auch viele, für die das nicht gilt.

Es dauerte Jahre, bis wir uns wieder in den Sonnenaufgang verlieben konnten, ihn nicht mehr als eine Strafe, ein Symbol unseres schlechten Gewissens oder eine vage Bedrohung betrachteten.

Jetzt kann er ein Augenblick voller Hoffnung sein. Ein Bad im Licht. Und in der Stille.

Und der Zeitpunkt ist perfekt, um konzentriert zu arbeiten. Kurz bevor die E-Mails hereinströmen, wenn die Kinder aus dem Haus und in der Schule sind, wenn es ganz ruhig ist im Haus, dann bekommen die Gedanken und Ideen Raum, sich zu entwickeln und sich auf der noch unbeschriebenen Seite zu verbreiten. Früher hatten wir Leute damit angeben hören, dass sie kurz vor Morgengrauen aufstehen, um zu schreiben, hatten dabei zähneknirschend gelächelt und gedacht: Wirklich? Wie schön für dich. Ich hoffe, du fällst tot um. Dabei war für uns allein die Vorstellung schon erschreckend, wir könnten möglicherweise unsere Gewohnheiten ändern und unsere Arbeitsleistung um das Zwanzigfache steigern. Denn im Umkehrschluss hieße das ja, dass wir jeden Tag, an dem wir dies NICHT taten, etwas verloren gaben, das wir eigentlich liebten.

Jardine hat einen Freund, ein taffer Typ mit Riesenarmen, Bart und Lederweste, der einmal im Jahr in die texanische Wüste fährt und dort drei Tage und Nächte allein und ohne Zelt verbringt, um spirituell wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Bei seiner Rückkehr spricht er immer sehr liebevoll darüber, wie es ist, wach zu sein und die Sterne zu betrachten, Nachttiere zu beobachten und dem Geruch der Luft nachzuspüren, einzuschlafen und aufzuwachen, wenn die Sonne die Dunkelheit am violett-schwarzen Horizont vertreibt. Davon, wie es sich anfühlt, wieder ein Teil von allem zu sein.

Jardine wohnte einmal im Sommer auf einer Insel vor Maine in einer Künstlerresidenz. Ein Maler dort beschloss, eine Nacht allein aufzubleiben und spazieren zu gehen, Skizzen und Fotos von den mondbeschienenen Wäldern, dem Ozean und der aufgehenden Sonne zu machen, von allen atmosphärischen Veränderungen der Landschaft. Es hatte etwas Anarchistisches, einfach Tag und Nacht zu vertauschen. Danach war er ein paar Tage ein bisschen verpeilt und kam sich komisch vor, wie neben der Spur, durcheinander. Ein kleiner Spalt hatte sich aufgetan und neue Rätsel und Ideen zum Vorschein gebracht.

Downsizing ist Punkrock

Bei einer Lesung erklärte George Saunders, ein Autor, den Amanda sehr schätzt, er habe gelernt, sich von Dingen zu verabschieden, die nicht für ihn bestimmt seien. Eine schlichte Aussage, die ihr sehr gewaltig vorkam. Seither sagt sie sich jeden Tag: Verabschiede dich von den Dingen, die nicht für dich bestimmt sind.

Wie sich herausstellte, gehörte Chardonnay dazu. Aber was noch?

Marie Kondō drängt ihre Leser, sich bezüglich jedes einzelnen Gegenstands in ihrem Besitz zu fragen, ob er »Funken der Freude schlägt«. Lautet die Antwort nein, dann weg damit.

Das ist so viel leichter gesagt als getan. Bringt uns alter Groll etwas? Alte Ängste? Alte Gewohnheiten? Du lieber Himmel, nein! Trotzdem bleiben sie wie Blutegel an uns kleben. Aus der Alkoholentwöhnung kennen wir eine ähnliche Methode: Wir betrachten genau, gegenüber wem oder was wir Abneigung empfinden, und überlegen, welche Personen und Dynamiken daran beteiligt sind, um schließlich zu begreifen, welche Rolle wir selbst in einer bestimmten Situation spielen. Aus irgendeinem Grund scheint dieser letzte Teil der Schlüssel zum Glück zu sein. Aber nur weil man keinen Alkohol mehr trinkt, werden Abneigungen nicht einfach aufgehoben, ebenso wenig wie Ängste und Gewohnheiten. Wir bekommen nur einen klareren Blick darauf und können daran arbeiten.

Manchmal bricht einem dieses Abschiednehmen auch das Herz. Viele haben schreckliche Angst, dass sie sich aus einer Ehe lösen und von lebenslangen Freunden trennen werden, wenn sie nein zu Alkohol sagen. Sie trinken nur wegen dieser Ängste jahrelang weiter. Auch wir mussten das lernen: stark sein, auf unser Herz hören, bereit sein, das Nötige zu tun. Erkennen, was für uns bestimmt ist. Wir wollen es nicht beschönigen: Das eigene Leben niederbrennen tut weh.

Aber es kann sich lohnen. Und etwas verdammt Schönes dabei rauskommen.

 

Raum schaffen bedeutet häufig auch, einem neuen Leben Platz zu machen. Vor vielen Jahren besuchte Jardine Lizzie, eine Freundin, die gespart hatte und dann für ein halbes Jahr mit nichts außer einem Bikini, ein paar Taschenbüchern, einem Kleid und einem Lippenstift in ein Hotel in Miami gezogen war – um den Kopf freizubekommen und sich genau zu überlegen, was sie eigentlich wollte. Jardine staunte, war tief beeindruckt von Lizzies Punkrock-Entscheidung, sich in dieses leere Zimmer einzumieten, ohne ihre Sachen, ohne Dinge, an denen sie sich festhalten konnte. Sie war ganz auf sich gestellt, allein mit der Sonne und dem Ozean in Florida.

Neil, Jardines Partner, hat Freunde, die in Sprinter-Vans leben, Kletterer, die in der Nähe der Berge parken und von einem Augenblick auf den anderen umziehen können.