Berghau - Angelika Waldis - E-Book

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angelika waldis

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Beschreibung

Etwas stürzt ein. Der Boden zittert. Aus einem dumpfen Poltern werden ein Dröhnen und Krachen, ein Rumpeln und Knallen. Dann: Stille. Nach einem Felssturz an einem strahlenden Julimorgen ist ein kleines Wandergebiet abgeschnitten von der Welt. Während immer mehr Gestein in die Tiefe donnert, wird eine einfache Gastwirtschaft in einer abgelegenen Berghütte zum Zufluchtsort für die unterschiedlichsten Menschen. Für zwei Tage und zwei Nächte sind sie hier auf engstem Raum eingeschlossen, ein Abstieg ins Dorf unmöglich: Der Weg ist weg. Der grüne Aktivist Erwin legt sich mit dem Klima­wandelleugner Wolf an, der Wirt Sepp geht auf den jungen Juri los. Arne liebt heimlich und hoffnungslos Lara, die Freundin seines Freundes Wolf, und Amai, mit Erwin liiert, lässt sich auf Sex mit Sepp ein. Wie die Felsen bröckeln auch die Fassaden der Eingeschlossenen. Die Enge, die langen Nächte auf dem harten Boden, Schlaflosigkeit und Angst kehren das Innerste nach außen. Als der rettende Hubschrauber naht, ist von den zehn Menschen einer schwer verletzt, einer verschwunden, einer tot.

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Angelika Waldis

Berghau

Roman

atlantis

Für Perma und Robert Frost

 

 

Some say the world will end in fire

Some say in ice.

From what I’ve tasted of desire

I hold with those who favor fire …

 

(Robert Frost 1874–1963)

1An einem strahlenden Julimorgen

Etwas stürzte ein.

Der Boden zitterte.

Amai griff nach Erwins Arm, der zitterte auch.

Sie blieben stehen. Auch das blonde Gras links und rechts des Wegs zitterte, zitterte wild. Und die Wacholderstauden und der alte Holzzaun. Nur am Himmel tat sich nichts. Der war blank und blau, straff zwischen die Felsen gespannt.

Sie standen und lauschten. Aus einem dumpfen Poltern wurde ein Dröhnen und Krachen, durchsetzt von giftigem Pfeifen, dann folgte ein rutschhaftes Rumpeln und ein Knallen wie Feuerwerk und dann Stille.

»Was ist das?«, fragte Erwin halblaut, und wie zur Strafe, dass er mit seinem Flüstern die Luft bewegt hatte, ging es nochmals los, lauter noch, und plötzlich ließ er sich fallen, der Lärm, wie ein erschöpfter Hund.

Das Zittern war weg.

 

Sie sahen einander an. Aufwärtswandern oder umkehren? Die kleine Senke hatten sie schon zu zwei Dritteln hinter sich, oben würden sie Rundumsicht haben, also weiter. Erwin ging voraus. Seine helle Wanderhose hatte auf dem Hintern zwei violette Flecken, wie Augen, die zu zwinkern schienen. Amai dachte, es ist wohl so, ich liebe dich.

Die Stille war dieselbe wie vor dem Krach, aber jetzt schien sie plötzlich unheimlich. Es war ihr nicht mehr zu trauen. Amai merkte, dass sie ihre Füße sorgfältiger aufsetzte, so als dürfe man sie nicht hören. Und es kam ihr vor, als wolle auch Erwin keine Geräusche verursachen. Wir schleichen uns an, dachte sie, an wen, an was?

Sie hatte Durst, aber stehen bleiben und die Flasche auspacken, das ging jetzt nicht, sie mussten hoch, so schnell sie konnten, sie mussten wissen, was los war. Über Erwins Kniekehlen lief Schweiß. Mit scharfen Pfiffen verfolgten sich zwei Krähen. Erwin blickte über die Schulter nach hinten und sagte »Bergdohlen«. Dann eben Bergdohlen. Was zum Teufel war da oben oder unten oder hinten oder drüben eingestürzt?

Als sie auf der Krete standen, hielten sie einander fest. Ein Weitergehen gab es nicht, der Hang vor ihnen war kahl, war bloßer Fels, leergeräumt, ein sauberes dunkles Faltenkleid, das sich nach unten bauschte, der ganze grüne Überwurf war weg, Gesträuch, Kraut, Gras weg. Und unten am Saum türmte sich eine braungraue Masse, soweit das Auge reichte. Weit entfernt, auf der anderen Seite des blankgescheuerten Hangs, bewegte sich etwas, da waren – klein wie Ohrwürmer – zwei oder drei Gestalten, es sah aus, als winke eine. Erwin winkte zurück.

Wieder die Dohlen, zijag zijag zijag.

»Hörst du?«, sagte Amai. »Was?« »Dieses Grummlige.« Erwin hörte es nicht. »Als würde eine Katze gleich schnurren.« Erwin hörte es nicht. »Und was jetzt?«

Erwin hängte Flüche aneinander, schwedische Flüche, Amai verstand sie nicht, sie wusste nur, dass es Flüche waren. Dann sagte er: »Nichts wie weg hier, zurück.«

Diesmal ging Amai voraus. Sie sah beim Abstieg verwundert, wie viel sie beim Aufstieg übersehen hatte. Schieferplatten, schimmernd wie Wasser, Polster von fetter Hauswurz, leere Schnirkelschneckenhäuser, hunderte hellblauer Blüten wie ein Schwarm von kleinen Faltern. Gerade, als sie das Knallblau eines Enzians sah, rutschte ihr vorderer Fuß weg und sie schlitterte ein paar Meter abwärts. Ein Felsbrocken stoppte sie. Erwin hinter ihr schrie etwas, wieder so was schwedisch Gefluchtes. Sie stand sofort auf und ging weiter. Beide Handballen waren aufgeschürft, das zeigte sie Erwin nicht. Da, wo sie beim Aufstieg gerastet und sich umarmt hatten, hielt sie an. Erwin holte die Flasche aus dem Rucksack. Noch immer sah man nicht ins Tal. Noch immer waren sie in menschenleerem Gelände, ein Windchen fächelte die Wärme weg.

»Wir hätten Bilder machen sollen.«

Mit »wir« meinte Erwin sie. Sie hatte bislang fotografiert, sie hatte die bessere Kamera, das neuere iPhone. Manchmal sprach er wie ein Lehrer. Nun, er war ja auch einer.

Ja, sie hätten Bilder machen sollen.

Ob der Mann an der Seilbahn noch da war? Der würde staunen, dass sie schon wieder zurückkamen. Da sind wir wieder, der Weg ist weg! Schöner Satz. Weg ist der Weg. Und weg die halbe Welt. Der Mann hatte auf seiner Mundharmonika geübt für nächsten Sonntag, da wollte er mit seinem Kollegen auf einem Ausflugsdampfer auftreten. Er spielte etwas vor, für Amai. Weil ihre Haare rot seien wie eine Alpenrose. Stimme gar nicht, hatte Erwin nachher gesagt. Ihre Haare seien rot wie eine Hagebutte. Oder wie diese spanische Wurst, wie heißt sie schon wieder. Oder wie kalte Pizza. »Und du hast Ohren wie geschälte Garnelen«, hatte Amai erwidert, »warum cremst du die nie ein?«

Es war ein vergnügtes Dasein.

Es war, bevor etwas einstürzte.

Sie eilten bergab, sie rannten fast. Wenn sie stehen blieben, hielten sie ihr Keuchen an, um zu lauschen. Nichts, kein Poltern, kein Rumpeln mehr. Auch Muhen oder Meckern war nicht zu hören. Einmal ein Helikopter, weit weg. Erwin trank die Flasche leer, sah Amais Blick, sagte Entschuldigung. Sie hätten zwei Flaschen einpacken sollen. »Weiß jemand, wohin wir wollten?«, fragte Amai. Nein. Niemand, sie hatten sich im letzten Moment umentschieden. Sobald sie aus dem Funkloch waren, würde sie ihren Bruder anrufen, vielleicht hatte der etwas gehört von einem Felssturz oder so. Warum tauchten hier nicht weitere Helikopter auf? Amais Handballen brannten. Noch schätzungsweise fünfzehn Minuten bis zur Seilbahn. Nach der nächsten Kuppe sollte sie zu sehen sein, die alte Seilbahn, blaue Zweierkiste, die Sitze mit grünem Filz überzogen.

Es war Erwins Idee gewesen, diesen Ausflug zu machen. Noch einmal richtig Berge, richtig Luft, richtig Weite. Noch einmal richtig Sommeralpwiesenkuhfladengroove, richtig Bewegung, richtig Muskelkater, bevor sie in der Stadt ihre neue Stelle antraten, sie beim Schulamt und er vier Wochen später an der Kantonsschule. »Pause«, sagte Amai und zeigte auf einen Streifen gelbes, trockenes Moos. »Sitzen.« Sie war plötzlich müde. Sie mochte nicht mal mehr »Schneeberge« sagen, streckte nur den Zeigefinger aus und fuhr über den Horizont, über das verschneite Zickzack unter der Bläue. »Wie von Gott abgebissen«, sagte Erwin. Das ist schön, dachte Amai, und wartete darauf, dass Erwin jetzt noch was von Gott und dem in die Tiefe gestürzten Berghang sagte. Aber er legte sich neben sie ins Moos und sagte nichts mehr.

 

Bei der Seilbahn war niemand. Kein Mann mehr mit Mundharmonika. »Hallo«, rief Amai. Hallo. Hallo. Nichts regte sich. Erwin setzte sich hin und sprang gleich wieder auf, da waren Brennnesseln. Und dann sahen sie das Seil, das armdicke Stahlseil der Bahn, es hing, es baumelte leicht, und weiter unten lag es am Boden. Und noch weiter unten lag etwas, das sah aus wie ein gestürzter Mast.

Oben im Blau war eine einzige Wolke.

Ein wunderbarer Tag.

Das Schlimmste war, dass Erwin nicht mehr fluchte.

Sie fanden den Weg zum Berghau nicht sofort. Etwa zehn Minuten rechts, dann leicht bergauf, hatte der Mundharmonikamann gesagt, dann sei die Fahne zu sehen. Wenn der Berghau-Sepp guter Laune sei, koche er Älplermagronen, und seine geräucherte Ziegenwurst könne man kaufen. Aber nein, heute sei ja Montag, da sei der Berghau zu. Erwin sah bleich aus. Und dann diese rot verbrannten Ohren. Amai lachte und kam sich dumm vor. Rundum war reiner Schrecken, und sie lachte. Sie presste die brennenden Handballen auf einen Fleck grünes Moos, das kühlte, dann rannte sie Erwin auf dem schmalen Weg hinterher.

 

»Dort kommen zwei«, sagte Sepp, der durch die gesprungene Fensterscheibe spähte. »Wink sie weg«, rief Gret im Hintergrund. Sie fegte mit vorsichtigen Besenstrichen den Schutt in eine Ecke. »Noch mehr Volk hier drin ist gefährlich.« Wegwinken, wie sollte er. Durch die fliegendreckgesprenkelte Scheibe würden sie ihn gar nicht erkennen, und vor die Tür treten mochte er nicht. Die kleine Holzterrasse konnte jederzeit abrutschen und in die Tiefe donnern, dann war das Haus so knapp am Abgrund wie ein Pantoffel auf der obersten Treppenstufe. Gret hatte recht: Je mehr Leute sich hier drinnen bewegten, desto heikler wurde die Lage. Aber wohin sollten dann die beiden da draußen? Beide Wege bergab waren futsch, das steile sogenannte Kanonenrohr war weggebrochen, und der Pfad über die Schnüralp und den Mätteliboden war zugeschüttet.

Es waren ein Mann und eine Frau, noch jung, die näher kamen, sie hatte etwas Rotes auf dem Kopf. Sie kamen wohl von der Grüzer Krete, dort oben musste es auch gekracht haben. Der Mann ging voraus, etwas zu rasch, als er abrupt stehen blieb, prallte die Frau fast in ihn hinein. Er drehte sich nach ihr um, sie redeten, sie schüttelte den Kopf, das Rote war ihr Haar. Sepp beneidete die beiden, er hätte nicht sagen können, warum. Von der Küche war wieder das Gejammer der Japanerin zu hören, oder war sie Chinesin? Auf jeden Fall war sie von dort hinten irgendwo und hatte so kleine Füße wie ein Kind. Füße in Sandalen. So gingen die in die Berge, diese Spinner. Sepp nahm etwas Spucke zwischen die Finger und rieb Fliegendreck von der Scheibe. Wenn er Gret bitten würde, die Fenster zu putzen, würde sie sagen, wozu. Wozu soll ich die Steine da draußen besser sehen, Steine, Steine. Sie hat schon geträumt, sie habe Steine gekotzt. Gret ist nicht gemacht für hier oben, sie braucht es grün und feucht, hat sie gesagt. Hat gesagt, Sepp, warum bin ich dir bloß über den Weg gelaufen, warum hast du mir bloß gefallen, so ein Bergschratt. Er hörte, wie sie auf die Japanerin einredete, englisch, ostschweizerenglisch. »Kwaiet!«, sagte sie.

Gret stellte sich neben Sepp ans Fenster. »Die eine Japse hat sich was gebrochen«, sagte sie. »Glaub ich mal. Unterhalb der Wade, da steht so was vor.« Auch das noch. Weder Sepp noch Gret verstanden etwas von Verletzungen. In Notfällen kam der alte Doktor hier herauf. »Und die andere?«, fragte Sepp. »Japse zwei ist noch ganz. Sie murmelt unterbrochen.« »Vielleicht betet sie«, sagte Sepp, »Heiliger Benedikt, bitt für uns.« »Der Benedikt ist für Gallensteine«, sagte Gret. »Stein ist Stein«, sagte Sepp.

Da klopfte es an der Tür.

 

Amai wunderte sich, dass Erwin klopfte, wo doch an der Tür »Willkommen« stand. Sie hätte einfach die Klinke gedrückt. Aber Erwin gab sich immer wohlerzogener als sie. Fluchte nur auf Schwedisch, weil das niemand verstand. Wandte sich ab, wenn er sich schnäuzte. Bedankte sich deutlich für ein paar Münzen Wechselgeld. Die Tür ging auf, und Amai sah erst nur den kräftigen Arm, der sie hineinwinkte, blondbehaart, dann den ganzen Sepp, und sie dachte, was für ein Kerl, und der macht Würste?

Drinnen roch es staubig, Staub schleierte im Sonnenlicht, das durch die offene Tür fiel. »Guten Tag«, sagte Erwin in den Raum hinein, »Tag«, sagte Sepp. Amai hatte sich ihn anders vorgestellt, gedrungen, verschwitzt und dunkel irgendwie. Der hier sah aus wie ein Rettungsschwimmer in einem Film, gebleichtes Haar, gelbe Shorts, braune Waden. »Die Küche ist aber zu«, sagte Sepp. Jemand lachte, eine Frau mit Besen. Jemand jammerte im Hintergrund, eine Katze? Amai spähte durch den Staub, sah ein paar Tische, daran ein paar Leute, die blickten zu ihr und Erwin. »Wir würden nur gern was trinken«, sagte Erwin in seiner höflichen Art, und dann schoss er eine Salve Schwedenfluch hinterher, endlich. Er zog Amai zu einer Fensterbank, ließ den Rucksack zu Boden fallen und holte das Handy aus der Hosentasche. Wieder lachte jemand, die Frau mit dem Besen. »Kannst du vergessen«, sagte sie. »Kommt ihr von der Grüze?« Amai spürte Erwins Ellbogen, red du, hieß das. Amai wusste nicht, was die Grüze war. Sie strich sich über die trockenen Lippen und schilderte dann das Donnern und Krachen, das sie beim Aufstieg gehört hatten, und dass auf der anderen Seite der Krete der Hang weggerutscht war, kein Weg mehr, kein Weitergehen, und weit weg an einer steilen Flanke, noch winzig zu sehen, zwei oder drei Wanderer.

Sepp stellte Colaflaschen auf den Tisch.

Die Frau mit dem Besen, von Sepp Gret gerufen, setzte sich dazu und schob den Besen unter die Bank.

 

Erwin wunderte sich, dass Amai sagte, es sei Horror gewesen da oben. So hatte sie nicht auf ihn gewirkt, als sie zusammen auf der Krete standen. Sie war bloß verstummt, aber er, er hatte tatsächlich ein tiefes Grausen verspürt, schwindlig war ihm geworden, schlecht. Sie hingegen hatte sogar mal gelacht. Was sie hier schilderte, klang falsch. Horror, sagte sie, Horror, sie sei dann auch prompt gestürzt, und legte ihre beiden Hände aufgedreht auf den Tisch. Die waren tatsächlich aufgeschürft. Zwei Männer und eine Frau kamen aus dem schummrigen Hintergrund der Gaststube, beugten sich über den Tisch und starrten auf Amais Hände. »Setzt euch doch«, sagte Amai, »ich bin Annemarie oder kurz: Amai.« Wieder wunderte sich Erwin. Das tat Amai sonst nie, sich als Amai vorstellen. Diese Abkürzung von Annemarie war seine Erfindung gewesen, er hatte sozusagen das alleinige Recht darauf. Die beiden Männer stellten sich vor, der mit der grünen Mütze hieß Wolf und der mit dem wilden Schopf Arnold oder Arne. Die Frau sagte erst nichts und dann »Lara«. Erwin stürzte die Cola hinunter. Amai tat es ihm nach. »Bist du vielleicht Arzt?«, sagte Gret zu Erwin. Er schüttelte den Kopf und wusste, dass Amai beleidigt war, weil Gret nur ihn gefragt hatte. »Ich bin übrigens Erwin.«

 

Jetzt setzte sich auch Sepp an den Tisch. »Ist nämlich so, dass wir hier eine Verletzte haben«, sagte er. Gerade eben war wieder das Jammern der Japanerin zu hören. »Sie war gerade aufs Klo gegangen, als es passierte.« »Als was passierte?«, fragte Erwin. »Als das ganze Zeug herunterkam. Der Berg, der Fels, der Schutt. Das halbe Haus da hinten ist begraben, hast du noch gar nicht gesehen, was?«

Es war auf einmal still, still am Tisch, still im Hintergrund, schwer wie eine Bleischürze lag Angst auf allen Schultern.

Was mach ich bloß, dachte Sepp. Ich bin es doch, der was machen müsste. Meine Hütte, meine Gäste, meine Katastrophe. In der Küche schepperte etwas. Sepp stand auf, und da erhoben sich auch die andern und folgten Sepp nach hinten, als hätte er eine Hausbesichtigung angesagt. Er zeigte auf den Staub auf den Tischen und auf das ganze Erdgeriesel in der Ecke, das Gret vorsichtig zusammengefegt hatte, und dann ließ er die anderen durch die Tür in den hinteren Raum treten und folgte. Hier war es beinahe dunkel. Sepp leuchtete mit einer Taschenlampe.

 

Auf einer aus Sitzkissen zurechtgemachten Liege bewegte sich jemand, ein Kind. Daneben auf dem Boden saß ein weiteres Kind. Seltsam, dachte Erwin, wie ruhig sich die beiden da im Halbdunkeln aufhielten. »Ihre Kinder?«, fragte er Gret, die lachte nur, griff sich Sepps Taschenlampe und reichte sie Erwin. Die Kinder waren nicht Kinder, sondern junge Frauen, Asiatinnen. Die auf der Liege stöhnte, das war wohl die Verletzte. Die andere hob den Arm und hielt ihn vors Gesicht, um den plötzlichen Lichtstrahl abzuwehren. »I am sorry«, sagte Erwin und schwenkte die Lampe zur anderen Seite. Zu erkennen war eine lange Theke aus dunklem Holz, und das dahinter war mal eine Küche gewesen, vom Spülbecken und Kühlschrank waren noch Teile sichtbar, der Rest lag unter Schutt und Balken begraben. »Oben ist die Schlafkammer«, sagte Sepp, »die ist privat.« Gret lachte wieder. »Mein Gott«, sagte Lara. »Meiner auch«, sagte Sepp, und dann strauchelten alle irgendwie zur Türöffnung und versperrten einander den Ausgang. Erwin leuchtete noch mal in die Ecke zu den Asiatinnen, sie trugen beide Pink, und ihre Haare glänzten seidig. Die eine, die auf dem Boden saß, schaute jetzt ins Licht. Er wusste ihr Gesicht nicht zu deuten. Seltsam, dachte Erwin. Das Haus ist draußen mit Berghau angeschrieben. Aber so richtig in den Berg gehauen war es wohl nicht.

 

Dieser Sepp, dachte Wolf, während er zwei Tische aneinanderschob, hat ein großes Maul, aber keine Ahnung, was zu tun ist. Lara stellte die Stühle zurecht. »Sind wir sieben?«, fragte sie. »Wer weiß, wer noch kommt«, sagte Sepp. »Vielleicht ein paar Japsen«, sagte Gret. »Sie meinen: Japanerinnen«, sagte Wolf und dachte: Blöde Kuh. »Hier duzt man sich«, sagte Gret, und Wolf dachte: Blöde Kuh, du. Kaum standen die Stühle am Tisch, setzten sich alle hin. »Einmal Bratwurst mit Pommes, bitte«, rief Arne. Niemand lachte.

Wolf zog sein schwarzes Heft aus dem Rucksack und schlug es auf. Dass ausgerechnet ein Priester den Urknall entdeckt hat, stand da als letzter Eintrag. Das war im Hotel Bärenhof, vorgestern, Lara hatte ihm das Heft weggenommen und ihn aufs Bett gezogen. Jetzt saßen sie in Absurdistan, und er merkte, wie Lara sich bemühte, ihr Zittern zu verbergen. Vergeblich suchte er nach einem Schreibstift. Arne schubste ihm einen zu, der rollte über die Tischplatte und blieb in der Mitte liegen. »Was wird das?«, fragte Sepp. »Wir spielen Hund-Katze-Maus«, sagte Lara zitternd. Jetzt lachte die Rothaarige, die Amai. »Was wissen wir und was wissen wir nicht, das möchte ich gerne auflisten«, sagte Wolf, »bitte, Sepp.«

Ein Kratzen, ein Scharren war zu hören. Die sieben am Tisch erstarrten. Noch mal, dasselbe Geräusch. Stürzte wieder ein Stück des Dachs ein?

Arne zeigte zur Tür und blickte zu Sepp, der rührte sich nicht. Es war Gret, die schließlich aufstand, und wie sie die Tür aufmachte, schlüpfte etwas Helles herein, ein Hund. »Raus«, rief Sepp, »Gret, tu ihn raus!« Aber der Hund war bereits unter dem Tisch.

Niemand wusste, woher er kam. Sepp stieß ein paar Flüche aus in Richtung Gret, und Gret wischte sie von sich weg wie Mücken. Wolf merkte, wie sich der Hund an sein Bein lehnte. Er griff unter den Tisch und kraulte ein Stück Fell, es war erstaunlich weich. Er nahm den Stift zur Hand, worauf Sepp mit einem langen Zischen ausatmete und zu diktieren anfing. »Was wir wissen: Funkloch, Handy tot. Kanonenrohr zugeschüttet. Mätteliboden abgerutscht. Schnüralp auch. Kein Weg mehr nach unten. Nur noch nach oben, über die Nauen- spitze hinüber ins Amstal. Aber das schafft keiner ohne Seil und Steigeisen. Noch so ein Gerumpel, und die ganze Hütte ist futsch.« Wolf legte den Stift hin, so sorgsam, als wolle er keine weitere Erschütterung verursachen. »Wer weiß, dass wir hier sind?«, fragte Lara leise. Sepp hob die Schultern. Sie seien montags sonst nie da, sagte Gret, wirtefrei. Niemand käme auf die Idee, sie hier zu suchen. Und die Seilbahn laufe ohne Bedienung, da würde nur die Anzahl Fahrten registriert. »Warum wir trotzdem hier sind?«, fragte Gret. »Weil Sepp heute Geburtstag hat. Weil er das so wollte. Und weil er ein Dickkopf ist.« »Viel Glück«, sagte Amai. Worauf Sepp die Faust auf den Tisch schlug. Worauf der Hund aufjaulte. Worauf Gret lachte.

 

Sie lacht zu viel, diese Gret, dachte Lara. Das passt irgendwie nicht. Irgendwie passt alles nicht, Gret und Sepp und Hütte, seine Hand auf ihrer Schulter, ihre Sonnenbrille im Blondhaar. Und ihr Busen ist zu groß unter den schmalen Schultern. Wie wenn sich Kinder Ballons unters T-Shirt schieben. Sepp und Gret zusammen in der Schlafkammer da oben, was da wohl lief. Egal. Die Kammer war jetzt ohnehin weg. Gerade als Lara ihr Zittern wieder kommen spürte, nahm Wolf ihre Hand und führte sie unter den Tisch und legte sie auf den Hundekopf, auf die warme Schädeldecke. Der Hund rührte sich nicht: Ich-tu-als-wär-ich-nicht-da-also-jagt-mich-nicht-raus. Laras Zittern verschwand. Arne faltete seine Wanderkarte auseinander und strich sie auf dem Tisch glatt. Lara mochte an Arne, dass er so altmodisch war oder tat. Er hatte einen alten Jagdrucksack und eine Blechdose mit Dörraprikosen dabei. »Eins zu zehntausend«, sagte Arne. »Gehst du heute wandern?«, fragte Erwin, und wie als Antwort war aus dem hinteren Raum ein Winseln zu hören, ein Weinen. Gret schob abrupt ihren Stuhl zurück. Der Hund zuckte. »Ich schau mal nach«, sagte Gret. »Du hast die Sonnenbrille noch auf«, sagte Sepp. »Und?«, rief Gret zurück. »Stört’s dich?«

 

Arne zeichnete mit dem Zeigefinger den Weg nach, auf dem sie gekommen waren, also nicht mit dem Seilbähnchen, sondern zu Fuß aus dem Amstal, Abmarsch morgens um fünf. Zwei Steinböcke, ein Bartgeier. »Das war keiner«, sagte Wolf. Dann halt ein Adler. Dann der Donner, der Krach, »da waren wir hier auf dem Grat.« Arne hob den Zeigefinger von der Karte und kratzte mit dem linken Daumen Schmutz unterm Nagel weg. »Von da sind wir auf dem Hintern bergabgerutscht, zum Teil auf blankem Fels.« Er stand auf und drehte und bückte sich, um die zerrissene Hose zu zeigen. »Das wird bestimmt mal Mode«, sagte Sepp. »Und du bist der Erste, der’s kauft«, sagte Arne. Sein Drang zu pinkeln war nach diesem Aufstehen kaum mehr auszuhalten, aber er mochte Sepp nicht nach einer Toilette fragen, die war bestimmt dort hinten und auch nicht mehr begehbar, und nach draußen wollte er nicht als Erster, inzwischen spürte er eine üble Angst, vielleicht auch darum dieser Drang. Er rutschte wieder auf den Stuhl, sah, wie Wolfs Hand erneut unter den Tisch glitt und wohl zwischen Laras Beine. Wie konnte er nur, jetzt, hier.

 

Sepp zog Arnes Karte näher zu sich heran. »Wenn sich das Gestein bei der Grüze gelöst hat«, sagte er und zeigte mit dem Kinn auf Erwin und Amai, »und gleichzeitig hier unter der Nauenspitze, dann reichen die beiden Stränge für einen Bergsturz aufs Dorf.« Er zog beide Hände V-förmig über die Karte und ließ sie übereinander liegen. Darunter war Hochtann begraben, das Dorf, die Kirche mit dem Spitzturm, der Coop mit der Katze im Fenster, das Restaurant Nauenblick. Heute Morgen, dachte Erwin, haben wir da Kaffee getrunken und gelacht, weil der alte Kellner hörbar furzte, und jetzt ist der womöglich erschlagen? »Und dann«, sagte Sepp, »denkt erst recht niemand an uns, dann fangen sie erst mal da unten an zu suchen.« Arne zog die Karte wieder zu sich und strich ein paarmal drüber, als wollte er Sepps Spuren entfernen. »Was machst du?«, rief Sepp, als Erwin aufstand und zur Tür ging. »Was wohl«, rief Erwin zurück.

Draußen auf der Terrasse roch es wunderbar nach Dung und trockenem Gras, er zielte mit seinem Strahl auf eine Lücke im Geländer und schloss die Augen, hörte die Dohlen und ein feines zwitschriges Geräusch, das musste eine Meise sein, eine Tannenmeise. War die von der Baumgrenze nach hier oben geflohen? Erwin blieb noch eine Weile stehen, es graute ihm vor dem Angstgeruch drinnen im Haus. An der Wand beim Tisch hing eingerahmt eine »Warnung«:

Wer die Berge liebt ist selber schuld.

Wer ins Funkloch fällt ist selber schuld.

Wer Sepps Wurst bestellt ist selber schuld.

Erwin fand es wenig lustig. Zudem fehlten die Kommas.

Als die Tür ging, drehte er sich nicht um. Eine Hand schob sich unter seinen Arm. »Ich habe Hunger«, sagte Amai.

 

Als Amai Brot und Käse aus dem Rucksack holte und Erwin das Taschenmesser hervorklaubte, verschwand Sepp im hinteren Raum und kam mit sechs kleinen Bierflaschen wieder. »Geht aufs Haus«, sagte er. »Bitte nicht noch was aufs Haus«, sagte Gret und hob schützend die Hand über den Kopf. Die kann ja lustig sein, dachte Amai verwundert. Sie versuchte, langsam zu essen und jeden Bissen auszukosten, sie mussten das Wenige sparen, was noch im Rucksack war. Sie sah, wie Arne eine Blechschachtel öffnete und etwas daraus rasch in den Mund schob, wahrscheinlich hätte er sie in einer fröhlichen Runde herumgereicht. Sepp diktierte Wolf, was in der Küche an Genießbarem noch verfügbar war. Sechs Getränkekisten, dreimal Bier, zweimal Cola, einmal Fanta. Zirka zehn Tafeln Schokolade, zirka zehn Beutel Traubenzucker, eine Kiste mit altem Brot für die Ziegen. »That’s it.« Seine Ziegenwürste: begraben. Teigwaren, Reis, Mais, Gerste, zirka zwanzig Pakete: unbrauchbar, weil ungekocht. Der Kochherd: ohne Strom wie alles. Der Kühlschrank: verschüttet. Wolf zeichnete Girlanden in sein schwarzes Heft. »Brot an Ziegen zu verfüttern, ist eigentlich verboten«, sagte Arne. »Was weißt denn du von Ziegen«, fragte Sepp mit einer Verachtung, die der kurze Satz wie eine lange Schleppe hinter sich herzog. Amai sah, wie Erwin sein letztes Stück Käse in den Mund steckte. »Danke für das Bier«, sagte Wolf.