Die geheimen Leben der Schneiderin - Angelika Waldis - E-Book

Die geheimen Leben der Schneiderin E-Book

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Beschreibung

Tag für Tag sitzt die Schneiderin Jolanda Hansen in ihrem Atelier und ändert Kleider. »Zweimal Langarm mit Manschette« steht im Auftragsbuch, dessen hintere Seiten für Dinge reserviert sind, die Jolie niemals aussprechen würde. Versteckte Wahrheiten über ihre Kunden zum Beispiel. Und Fragen zu Franz, ihrem großen Bruder, der mit siebzehn von einem Badeausflug nicht zurückkam. Als Jolie zum achtzigsten Geburtstag der Eltern eine große Familienfeier vorbereitet, kann sie das allgemeine Schweigen nicht mehr ertragen. Was, wenn Franz damals gar nicht ertrunken, sondern fortgegangen ist? Nach all den Jahren begibt sie sich auf die Suche, trennt ihr sauber umsäumtes Leben auf und findet viel Verborgenes.

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Buch

Tag für Tag sitzt die Schneiderin Jolanda Hansen in ihrem Atelier und ändert Kleider. »Zweimal Langarm mit Manschette« steht im Auftragsbuch, dessen hintere Seiten für Dinge reserviert sind, die Jolie niemals aussprechen würde. Versteckte Wahrheiten über ihre Kunden zum Beispiel. Und Fragen zu Franz, ihrem großen Bruder, der mit siebzehn von einem Badeausflug nicht zurückkam. Als Jolie zum achtzigsten Geburtstag der Eltern eine große Familienfeier vorbereitet, kann sie das allgemeine Schweigen nicht mehr ertragen. Was, wenn Franz damals gar nicht ertrunken, sondern fortgegangen ist? Nach all den Jahren begibt sie sich auf die Suche, trennt ihr sauber umsäumtes Leben auf und findet viel Verborgenes.

Für Andreas und Simone

Das Paket macht ihr Angst. Seit ein paar Tagen liegt es auf dem Bücherregal. Sie hat sich noch nicht daran gewöhnt. Wenn sie das Zimmer betritt, schaut sie immer zuerst dorthin, als wäre das Paket ein Wesen, das sich demnächst bewegt. Natürlich weiß sie, dass es sich nicht bewegen wird. Es ist nicht größer als ein Buch, vielleicht eins über die Wüsten der Welt oder die Geschichte der Mode, in braunes Packpapier gewickelt und längs und quer zigfach verschnürt. So verzweifelt verschnürt, als dürfe das Paket niemals geöffnet werden. Sie will sich daran gewöhnen.

Bis zum Fest dauert es noch drei Monate. Inzwischen lächelt Mutter nicht mehr, wenn Jolie kommt.

Jolie kürzt die Hose von Herrn Fischbacher. Es ist eine neue Hose, sie riecht noch nicht nach Herrn Fischbacher, hat noch keine Sitzfalten. Er wird in dieser Hose an seinem Schreibtisch sitzen und Abhandlungen lesen, von denen Jolie nichts verstünde. Herr Fischbacher ist Baufachexperte. Die Simshöhe ihrer Fenster sei fragwürdig, hat er gesagt, als er die Hose brachte, »Ich bin Baufachexperte«. Jolie hat es ein paarmal nachgesagt, als er wieder draußen war. Was der Mensch alles sein kann.

Vor den Fenstern mit der fragwürdigen Simshöhe blüht die Linde. Deshalb lässt Jolie die Fenster zu. Vom Geruch der Blüten wird ihr ein bisschen übel. Sperma rieche so, hat jemand gesagt, aber Jolie kann sich nicht mehr an den Geruch von Adrians Sperma erinnern.

Eigentlich könnte Jolie ihr Atelier schließen. Sie braucht das bisschen Einkommen nicht, jetzt, wo Adrian reich ist. Das viele Geld, denkt sie manchmal. Hätte ich es früher gehabt, wäre ich vielleicht eine andere geworden, aber was solls. Ihr Atelier will sie nicht aufgeben. Hier ist sie mit dem Leben draußen verbunden. Herrn Fischbachers Hosenaufschläge oder Frau Grünigs aufgetrennte Abnäher sind ihre Verbindungen zur Welt. Sie sitzt an ihrem großen Nähtisch, im grünen Lindensommerlicht, und die Menschen, die sie lieb hat und gern lieb gehabt hätte, sitzen mit ihr in diesem Licht, mal dieser, mal jener. Taggespenster sind es, und Jolie hat nichts gegen ihre Anwesenheit, sie weiß, dass sie artig verschwinden, sobald die Türglocke läutet.

Die Linde ist älter als das Einkaufszentrum, in dem Jolie ihr Atelier gemietet hat, viel älter. Linden können ein paar Hundert Jahre alt werden, hat Frau Kuster gesagt. Frau Kuster lässt jeweils bei ihren Jacken die Schultern schmaler machen. Sie denkt, dass sie so zierlicher wirkt. Jolie müsste ihr sagen, dass das nicht stimmt, im Gegenteil, Frau Kusters Rücken sieht dann ringkampfmäßiger aus. Jolie kennt die Anatomie ihrer Kundschaft. Manche laufen nicht mit ihrem eigenen Körper herum, sondern mit dem, den sie gerne hätten. Das ergibt oft eigenartige Bewegungen. Jolie selbst sieht sich illusionslos. Schließlich ist sie tagaus, tagein mit einem großen Spiegel im selben Raum. Sie sieht aus wie ein Fräulein, adrett und einigermaßen langweilig. Hätten Napoleons Soldaten unter der Linde gelagert, wäre sie von ihnen weder begafft noch bepfiffen worden.

Immer samstags geht sie ins Heim und lässt sich von ihrer Mutter anschauen wie eine Fremde. Sie führt sie in die Cafeteria und sieht sich um, ob es nicht irgendwo noch liegt, Mutters verlorenes Lächeln, ob es nicht unter ein Regal gerollt ist und mit einem Stecken wieder hervorzuholen wäre. Es war ein schönes Lächeln, hat Jolie durch ihre Kindheit getragen wie eine sichere Schaukel. In der Cafeteria bestellt sie Apfelsaft für Mutter, denn diese Flecken gehen am besten raus.

Als Jolie sich entschloss, das Fest zu organisieren, lebte Mutter noch zu Hause, ließ sich von Vater waschen und kämmen und die Treppe runter in den nahen Park führen. Das war im letzten Herbst. Dann tat die Krankheit einen unerwarteten Sprung und machte aus Mutter einen Fremdling. Es war Jolie, die Mutter Anfang Dezember ins Heim brachte, so wie es immer Jolie war, die alles erledigte, was unangenehm war. In der Eingangshalle wurden sie von einem Nikolaus begrüßt, und Jolie merkte, wie Mutter angstvoll erstarrte.

Das Fest zum achtzigsten Geburtstag von Mutter und Vater wird am zehnten September stattfinden. Die Geschwister haben bereits zugesagt. Auf der Lindener Höhe hat Jolie einen Tisch für fünfzehn Personen reserviert. Im September kann es dort noch wunderbar warm sein.

Man hätte draußen sitzen können, über den Hängen mit herbstlichem Goldhauch und einem feinen Dunst überm See. Man hätte mit einem frühen Sauser anstoßen können und beim Nachhausegehen auf dem Friedhof Halt machen und den Grabstein von Franz besuchen können. Daraus wird jetzt nichts mehr, wo Mutter vor allen Leuten die Hose herunterzieht. Es wäre ein Leichtes, das Fest abzusagen, inzwischen hat Jolie von allen die E-Mail-Adressen. Aber sie lässt den zehnten September in ihrer Agenda angekreuzt. Statt auf der Lindener Höhe wird sie in ihrer Wohnung einen Tisch für fünfzehn Personen herrichten, auch wenns eng wird. In dieser Familie ist es ohnehin eng.

Am Tisch wird sie das verschnürte Paket aufmachen.

Jolie hat die Mails nicht gelöscht.

Liebe Jolie, dein Brief war nun wirklich eine Überraschung. Es ist acht Jahre her, dass ich zum letzten Mal von dir gehört habe. Da hast du mir zur Geburt von Rachel eine Karte geschickt. Inzwischen sind ja noch die Zwillinge zur Welt gekommen. Hättest du gedacht, dass dein kleiner Bruder mal sechs Kinder haben wird? Der Herr meint es gut mit uns. Wir sind alle geborgen in seinen Händen. Das Geschäft läuft. Ja, wir kommen am 10. September. Ich will Rosanna zeigen, wo ich groß geworden bin. Kannst du für uns irgendwo genügend Betten reservieren? Rosanna wird dir in den nächsten Tagen noch ein paar Bilder mailen. Grüß Mutter. Vinz

Kein Wort des Dankes: Liebe Jolie, es ist schön, dass du das organisierst. Nichts dergleichen. Unter dem Text die Geschäftsadresse und der Link auf die Homepage. Vinzenz Hansen. Funeral Director. Enbalmer. Preacher of the Silver Hill Church of Christ.

Grüß Mutter. Das hat Jolie nicht gemacht. Soll er sie doch selbst grüßen, der Kleine, soll er ihr doch mit seinen dicken Fingerchen eine Karte schreiben. Er ist dick geworden, das hat Jolie auf seiner Homepage gesehen, auf der Vinz im Beratungsgespräch mit trauernden Angehörigen abgebildet ist. Soll er doch schreiben: Liebe Mutter, vergiss mich nicht. Vielleicht hat sie ihn bereits vergessen. So wie sie vergessen hat, was man mit Socken macht. Sie hat ihn vor vierzig Jahren herausgepresst, das fünfte Kind, das fünfte Rad am Wagen der Familie Hansen. Wahrscheinlich hat sie ihn bereits vergessen. Gott meint es gut mit uns.

Herr Fischbacher hat seine Hose abgeholt und gleich eine neue mitgebracht. Jolie weiß jetzt, dass Herr Fischbacher in die Ferien fahren wird, nach Südtirol, allein. Sie haben ausgezeichnete Weine dort. Herr Fischbacher küsst seine Finger. Als er geht, würde sie gerne klatschen, weil sie das Gefühl hat, sie sitze im Theater und das Leben habe soeben einen glaubwürdigen Auftritt gehabt. Zu Hause, in ihrer schönen Wohnung, die sie Adrian zu verdanken hat, hat sie nie das Gefühl, klatschen zu wollen. Hier wird sie rasch bitter. Jeden Abend setzt sie sich an den Computer und surft, bis ihre Augen müde sind. Einmal mehr liest sie die Mails, die sie im letzten Herbst von ihren Geschwistern erhalten hat.

Liebe Jolie, das wäre wirklich ein Ereignis, wenn wieder einmal die ganze Familie zusammenkäme. Es ist mir angenehm, dass der zehnte September im nächsten Jahr auf ein Wochenende fällt. So werde ich mich nicht »wegen familiärer Angelegenheiten« durch eine Aushilfe vertreten lassen müssen. Zurzeit bin ich leider ziemlich beschäftigt mit einem Zusatzstudium in osmanischer und persischer Geschichte und kann darum Mutter leider nur noch selten besuchen. Zum Glück hat sie dich in der Nähe. Bitte schicke keine Mails mehr in die Schule, leider sind die Leute im Sekretariat ziemlich indiskret. Wie du siehst, habe ich auch privat eine Mail-Adresse. Ich hoffe, es gehe dir gut. Frido

Dreimal »leider«. Frido ist immer so gewesen. Zögerlich, vorsichtig, abwehrend. Einmal hat Jolie den Mann gesehen, mit dem Frido die Wohnung teilt, einen bleichen, unfreundlichen Mann. Frido hat ihn als Mitbewohner vorgestellt. Er hat ihr nie gesagt, dass er schwul ist. Es ist Rina, die das behauptet. Rina weiß immer alles.

Liebe Jolie, schon lange wollte ich dir schreiben, aber jetzt bist du mir zuvorgekommen. Meinst du wirklich, dass so ein Fest eine gute Idee ist? Natürlich werden wir dabei sein, Ingo und ich. Aber es wird nicht sonderlich harmonisch werden. Für dich ist es viel Arbeit, für Frido ist es peinlich, für Vinz ist es ein weiter Weg. Und dann seine fromme Brut! Bestimmt will er ein Tischgebet sprechen. Und Mutter wird verwirrter denn je sein. Man müsste wegen ihres Gedächtnisses etwas unternehmen. In den Seniorenzentren gibt es diese Memory Play Groups. Frag doch mal ihren Arzt. Bis bald wieder. Rina

Seither hat Rina sich nicht wieder gemeldet. Auch Frido nicht und Vinz nicht. Von Vinz sind ein paar Bilder gekommen: sechs nette Kinder auf den Stufen einer weißen Treppe, die Mädchen in sonntäglichen Kleidchen. Jolie ist ungerührt. Es ist ihr egal, dass sie die Tante ist. Kinder sind ihr fremd, seit ihr eigenes groß ist. Maxi ist jetzt 27, und sie ist so schön und gescheit geworden, wie es sich Jolie gewünscht hat. Jolie hat ihr noch nichts vom Fest gesagt. Maxi soll sich auf keinen Fall bedrängt fühlen. Seit sie in Genf fürs Rote Kreuz arbeitet, wird sie mal da-, mal dorthin geschickt. Eben hat sie eine Mail aus Sri Lanka geschrieben. Jolie will abwarten, ob Maxi im September wieder in Genf ist. Dann wird sie sie fragen, ob sie auch zum Fest kommen mag. Maxi hat Vinz noch nie gesehen. Vielleicht wird sie den fetten, frommen Vinz nicht mögen. Frido gefällt ihr auch nicht besonders. Aber sie mag ihren Großvater, obwohl der schon immer so seltsam war wie eine Schneiderpuppe, die manchmal lebendig wird. Und sie liebt Rina, was Jolie weh tut. Sie hat mitbekommen, wie Rina an Maxis zwölftem Geburtstag zu Ingo sagte »Was für ein uncharmantes Kind«.

Zwei achtzigste Geburtstage, die müssen doch einfach gefeiert werden, hat Jolie ihren Geschwistern geschrieben. Inzwischen ist sie nicht mehr so sicher.

Von ihrer Wohnung zum Nähatelier ist es zu Fuß eine halbe Stunde, die Schrebergärten entlang, den Hang hoch zwischen Waldsaum und Wohnblöcken. Es ist ein Weg für Leute mit Hunden. Jolie kennt mittlerweile einige der Hunde und wird von ihnen begrüßt. Manchmal setzt sie sich kurz auf die Bank, von der man auf den See blickt, auf die Stadt, auf den ganzen blau schimmernden Raum vor dem sanft geschwungenen Horizont. Oben auf dem Hügel, kurz bevor sie abbiegt zum Einkaufszentrum, kommt sie an dem Betonkubus der Städtischen Wasserverwaltung vorbei. Hier bückt sie sich und ritzt mit einem scharfen Stein einen Strich in die rückwärtige Mauer. Die Mauer ist voller Striche, immer zu fünft gebündelt. Jolie ritzt seit vierundzwanzig Jahren. Auf der Wand ist Platz für nochmals so viele Striche. Vielleicht stirbt sie, wenn die Wand voll ist. Dann würde sie einundsiebzig Jahre alt werden. Maxi müsste kein Fest zu ihrem Achtzigsten arrangieren.

So achtzig zu werden wie Vater und Mutter, das möchte Jolie nicht. Mutter ist im Heim und schaut misstrauisch, wenn Jolie mit einem Strauß Blumen vorbeikommt. Vielleicht meint sie, sie sei gerade eben gestorben und Jolie wolle die Blumen auf ihr Sterbebett legen. Und Vater. Vater ist schon lange nicht mehr am Leben, Vater ist ein Stein. Der Stein gibt Antwort, wenn eine Antwort erwartet wird. Von sich aus redet der Stein nicht. Als Franz ertrank, ist Vater ein Stein geworden. Da war Jolie elf Jahre alt.

Wäre Vater schon immer ein Stein gewesen, hätten die fünf Geschwister wohl nicht so ausladende Vornamen erhalten. Franziskus, Fridolin, Jolanda, Katharina, Vinzenz. Mutter hat die Namen schnell mal abgekürzt. Auch auf dem Grabstein steht Franz und nicht Franziskus. Bei Mutter kam und ging alles schnell, die Schelte, die Umarmung, das Lachen, die Wut. Das Streicheln kam schnell, und der Trost kam schnell, und die Hand, die unter den Tisch wischte, was für niemanden angenehm war.

Jolie betrachtet ihre Striche am Wasserreservoir und denkt an die 10 hoch 22 Sterne im All. Im vergangenen Winter hat sie an der Volkshochschule den Kurs »Astronomie für Anfänger« besucht. Sie lässt sich gerne beeindrucken. Astronomie gibt da am meisten her. Sie hat sich auch die Zahl 14 Milliarden gemerkt. Vor 14 Milliarden Jahren fand der Urknall statt. Jolie kann nicht begreifen, wie jemand, der das erfahren hat, gleich danach das Schild vor der Tür mit einem Kugelschreiber korrigieren kann: »Astronomie für AnfängerInnen«. Gott würde sich totlachen.

Franz hatte ein Versteck. Neben seinem Zimmer unter dem Dach gab es einen abgeschrägten Hohlraum. Franz hatte zwei Bretter aus der Täfelung gelöst, und durch die schmale Öffnung konnte er von seinem Zimmer in den Hohlraum schlüpfen. Über die Öffnung hatte er einen türkischen Teppich gehängt, den Vater in einer Lotterie gewonnen und als Kitsch bezeichnet hatte. Stundenlang blieb Franz in seiner Höhle, rührte sich nicht, wenn man ihn rief, und nur Jolie wusste, wo er war. Jolie kann sich nicht erinnern, wie es dazu kam, dass sie und nur sie von Franz’ Geheimnis wusste. Obwohl er sechs Jahre älter war, gab es zwischen ihnen ein besonderes Band. Wenn sie daran zurückdenkt, ist das Band blau. Sie hat Franz nie verraten.

Als Franz ertrunken war und Mutter sein Zimmer ausräumte, muss sie sein Versteck gefunden haben. Aber es wurde nie erwähnt. Der Teppich lag eines Tages vor dem Haus, bereit für die Abfuhr, und die beiden Bretter waren wieder an Ort und Stelle. Die Gedanken, die sich Franz in seiner Dachhöhle gemacht hatte, waren für immer hinter der Täfelung eingeschlossen.

»Das ist doch Blödsinn«, hatte Franz einmal am Tisch gesagt, »am ersten Tag machte Gott das Licht, und erst am vierten machte er Sonne und Sterne. Woher kam dann am ersten Tag das Licht?«

Vielleicht ist das blaue Band noch da.

Vielleicht war das Licht das Echo des Urknalls.

Vielleicht ist Franz wiedergeboren, und Jolie ist ihm schon mal über den Weg gelaufen, einem dünnen jungen Mann mit braunen Locken.

Vielleicht bringt er ihr mal eine Hose ins Atelier.

Herr Fischbacher ist zurück aus Südtirol. Er hat ihr ein Paket Schüttelbrot mitgebracht. Leider war die Apfelblüte schon vorbei. »Zur Zeit der Apfelblüte muss es zauberhaft sein«, sagt er. Wegen dieses Satzes und weil gerade Mittagspause ist, geht Jolie mit Herrn Fischbacher zum Pizza-Snack. Herr Fischbacher schnappt sich einen Tisch im Freien und verteidigt ihn gegen einen schüchternen Herrn, der bereits seine Tasche auf den Stuhl gestellt hat. Jolie möchte sich gerne für die Unfreundlichkeit entschuldigen, aber das wäre wiederum Herrn Fischbacher gegenüber unfreundlich. Wo er ihr doch aus Südtirol etwas mitgebracht hat. »Schade, dass es hier keine Speckknedl gibt«, sagt er.

Später setzt Jolie sich wieder an ihren Nähtisch, heftet einen Reißverschluss in einen rosa Wollstoff und schaut ab und zu hinaus in den lindengrünen Laubvorhang. Gedanken lösen sich aus ihrem Kopf und gleiten sacht zu Boden wie Blütenblätter. Zur Zeit der Apfelblüte muß es zauberhaft sein. Herr Fischbacher hat im Reisebus zwei Leute kennengelernt, Vater und Tochter, sechzig und vierzig. Die Tochter hat den Vater durch einen Internet-Suchdienst wiedergefunden, nachdem man jahrelang geglaubt hatte, er sei tot. Herr Fischbacher hat sich das Rezept für Speckknedl aufschreiben lassen. Es brauche zum Speck noch Selchfleisch, am besten vom Knochen, was das sei. Plötzlich spürt Jolie einen Stich, da, wo das Herz ist. Als hätte sie die Stecknadel statt in den rosa Wollstoff in ihr rosa Fleisch gebohrt. Nachdem man jahrelang geglaubt hatte, er sei tot, hat Herr Fischbacher gesagt.

Und wenn Franz gar nicht tot wäre?

Jolie schiebt die Frage gleich wieder von sich. Aber der Stich hat etwas in ihr verändert. Das Blut scheint mit einer neuen Heftigkeit zu laufen. Sie spürt es in den Fingerspitzen. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster. Seit Franz einen Grabstein hat, ist er endgültig tot. Auch wenn man seine Leiche nicht gefunden hat. Der See hat Franz nicht hergegeben. Möge er in der Tiefe ruhen, hat der Pfarrer gesagt. Jolie mag es sich nicht mehr vorstellen. Zu oft hat sie daran gedacht, als sie noch ein Kind war und als sie siebzehn wurde wie Franz und als der See zufror und sie mit Adrian frisch verliebt auf Schlittschuhen darüberglitt. Darin geschwommen ist sie nie mehr, die ganze Familie nicht.

Ob sie Adrian auch einladen soll? Er hat sie vor fünfundzwanzig Jahren verlassen, der Schuft. Vor einem Vierteljahrhundert. Das könnte man eigentlich feiern.

Sie wird die beiden Sofas aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse schieben und sie in Plastik einpacken, falls es regnet. Aber das schafft sie allein nicht, sie wird den Hauswart um Hilfe bitten müssen. Auch der Fernseher und der Fernsehsessel müssen weg. Dann wird sie Esstisch, Schreibtisch und Küchentisch zu einer langen Tafel aneinanderschieben und mit weißen Leintüchern bedecken. Die müssen gebügelt werden. Und sie muss vielleicht noch ein paar Klappstühle kaufen. Heute Abend will sie die Tische und das Wohnzimmer ausmessen und ihre Stühle zählen.

...Ende der Leseprobe

Der Roman erschien erstmals 2008 bei Kein & Aber AG Zürich und 2014 bei Europa Verlag AG Zürich.

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

1. Auflage

Copyright © 2008 by Angelika Waldis

Copyright © dieser Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München nach einem Entwurf von UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © arcangel/Peter Greenway und Fine Pic®, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24486-6V002

www.wunderraum-verlag.de