Ich komme mit - Angelika Waldis - E-Book

Ich komme mit E-Book

angelika waldis

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Beschreibung

Seit 42 Jahren wohnt Vita Maier in dem Haus in der Torstraße 6. Als junge Mutter ist sie hier eingezogen. Doch längst ist der Sohn aus dem Haus, der Mann unter der Erde. Für ihren Nachbarn, den Studenten Lazy, ist Vita die Alte von oben, denn für Lazy gibt es nur seine Freundin Elsie. Doch so plötzlich, wie die Liebe kam, und ebenso heftig, kommt die Krankheit. Sie verscheucht Elsie und die Zukunft. Im Treppenhaus liest Vita einen mageren, erschöpften Lazy auf und nimmt ihn zu sich, um ihn mit Wurstbroten aufzupäppeln. Eine ungewöhnliche, lustige und seltsam innige Freundschaft entsteht. Dann kommt der Tag, an dem ein neues Blutbild die Zuversicht kaputt macht. »Ich steige aus«, sagt Lazy. »Ich komme mit«, sagt Vita. Und so begeben sich zwei Lebensmüde auf eine verrückte letzte Reise.

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Buch

Seit zweiundvierzig Jahren wohnt Vita Maier in dem Haus in der Torstraße 6 mit dem Reisebüro Rosa Travel im Erdgeschoss. Als junge Mutter ist sie hier eingezogen. Doch längst ist der Sohn aus dem Haus, der Mann unter der Erde. Mir geht es gut, sagt Vita, wenn man sie fragt. Dabei ist vieles schlecht, aber ist das im Alter nicht normal? Für ihren Nachbarn Lazar ist Vita nur Maier oder die die Alte von oben. Der junge Mann studiert, und wird gänzlich von seiner ersten großen Liebe Elsie absorbiert. Aufs Mal sind die Tage mit Glück vermint, und das Leben an Elsies Seite liegt vor ihm wie verheißungsvolles Land. Doch so plötzlich wie die Liebe kam – und ebenso heftig, kommt die Krankheit. Sie verscheucht Elsie und die Zukunft. Als Vita Lazar Wochen später im Treppenhaus trifft, ist er mager und kahl und mag nur noch schlafen. Sie schmiert ihm Wurstbrote und päppelt ihn mit selbstgekochter Aprikosenmarmelade wieder auf. Bald ist Lazar – »Lazy« – ihr ständiger Gast. Die beiden philosophieren über das Leben, und eine ungewöhnliche, lustige und seltsam innige Freundschaft beginnt. Doch an dem Tag, an dem ein neues Blutbild Klarheit über den Heilungsfortschritt bringen soll, kehrt Lazy zunächst nicht nach Hause zurück. Später erfährt Vita, dass eine Infektion die geplante Stammzelltransplantation gefährdet. Lazy findet: »Mehr bringt nichts, das war‘s. Ich steige aus.« »Ich komme mit«, sagt Maier. Und so begeben sich die alte Vita und der junge Lazy auf eine verrückte letzte Reise. Weitere Informationen zu Angelika Waldis sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Für das Leben

Einige Jahre zuvor

»Gott, hast du mich erschreckt!« Sitzt der Junge im Dunkeln in der Waschküche und springt auf, als Vita das Licht anmacht. Also wirklich, was fällt dem ein. Mageres Kerlchen, hat nur eine Unterhose an und ein weißes Tuch um die Schultern. »Was tust du da?« Er deutet mit dem Kopf auf den brummenden Wäschetrockner, und Vita fällt ein, wer er ist: der Junge vom ersten Stock. »Wie heißt du schon wieder?« »Lazar.« Hatte nicht Lazarus, als er auferstand, auch ein weißes Tuch um? Lazar Laval heißt er, und man bekommt ihn kaum je zu sehen, auch seinen Vater nicht. Die beiden wohnen bestimmt schon zwei Jahre da, huschen ein und aus, zwei scheue Vögel. Seine Kleider seien nass geworden, sagt Lazar. An einem strahlenden Märztag? Man habe ihn in den Brunnen geworfen. Wo gibt es denn hier einen Brunnen? »Beim Schulhaus«, sagt Lazar, »hat ein Einhorn drauf.« »Kannst du dir nicht einfach in der Wohnung ein paar trockene Kleider holen?« Lazar schüttelt den Kopf. Das mit dem Brunnen brauche keiner zu wissen. Keiner, das wird wohl sein Vater sein. Jetzt sieht Vita, dass Hefte und Blätter an der Wäscheleine hängen. »Die könnte man bügeln«, sagt sie. »Bügeleisen haben wir nicht«, sagt Lazar. »Soll ich es für dich machen?« »Nein.« Seltsamer Junge, unfreundlich irgendwie. Ist so bleich und nass und tut Vita doch nicht leid. Sie stopft ihre Wäsche in die Maschine. »Dann werd mal schön trocken, Lazar«, sagt sie, macht das Licht wieder aus, steigt die Treppe hoch und überlegt: Als ihr Moritz hier zur Schule ging, gab es da noch keinen Brunnen. Und einen Wäschetrockner wohl auch nicht. Wie lange ist das her? Moritz ist längst ausgewandert. Zeit, Zeit, Zeit. Auch der nasse Junge wird aus der Torstraße verschwinden, wird ein hübscher Student werden, mit einem Mädchen herumschäkern. Geht sie nichts an.

1

Lazy

Elsie lacht, wenn ich sie aufs Ohr küsse. Bei anderen Küssen bleibt sie ernst. Fußsohle, Bauch, Nippel: ernst.

Wenn wir uns lieben, notiert sie das nachher in ihrem Moleskine-Buch: elsielazy mit einem Kreis drum.

»Elsie, ich liebe dich.« »Ich auch«, sagt sie. »Ich meine, ich liebe dich auch.« Sie ist genau.

Wir haben in der ersten Vorlesung nebeneinander gesessen, Zufall. Ein Bleistift fiel ihr runter und rollte in meine Richtung, Zufall. Wir bückten uns gleichzeitig. Unsere Köpfe berührten sich.

Erstes Mal berühren: Montag. Erstes Mal Arm um ihre Schulter legen: Dienstag. Erstes Mal küssen: Mittwoch. Erstes Mal das Ganze: Donnerstag.

So schnell ging das alles. Sie hatte schon mal, ich noch nie. Am liebsten denke ich an den Montag zurück, an das Berühren der Köpfe, Haar an Haar, geduckt unter der Tischplatte. Eine Ladung lautlose Erotik. Rotbraunes Elsie-Haar, buschig wie ein Eichhörnchenschwanz.

Der Titel der Vorlesung war »Die Schatten der Sklaverei im kolonialistischen Denken der Gründerzeit«. Gehört zum Basismodul 1. Wissenschaftliche Beschäftigung mit Quellen. Zu schreiben ist ein kurzes Referat. Zu schreiben ist eine Schilderung von Elsies Haut, die ist fein, kühl und fest. Herr Professor, stellen Sie sich vor, Sie fahren mit der Fingerspitze über einen frischen Champignon. So fühlt sich die Haut Ihrer Studentin Elsie Lichtenhahn an. Der Duft? Kein Duft. Außer ganz leicht nach Minze. Und übrigens ist sie zart hellbraun.

Wenn wir gehen, hüpft sie. Wenn wir laufen, springt sie. Wenn wir reden, saust sie. Sie sagt »Es ist zwölf, ich habe Hunger, gehen wir essen« in drei Sekunden. Ich brauche dafür fünf. Ich hab es gemessen. Was ich da mache, wollte sie wissen. »Ich messe deine Redegeschwindigkeit.« »Lazy, du bist crazy.« Dafür brauchte sie eineinhalb Sekunden. Sie hat eine Sprungfeder. Sie ist ein Eichhörnchen. Sie ist mein rotbraunes Glück.

Seit sie bei mir ist, bin ich nicht mehr bei mir, ich bin außer mir.

Ich kann es nicht fassen, dass es wahr sein soll.

Liebe.

Fünf Vorlesungen haben wir gemeinsam. Nebenbei schnuppert sie bei den Germanisten. So hat sie das gesagt, und gleich war ich eifersüchtig. Ich hab halb versteckt gewartet, bis die Germanisten aus dem Hörsaal kamen, und hab sie mir angesehen. Da sind durchaus ansehnliche Typen dabei, und zwei, drei sehen bestimmt besser aus als ich – eine gute Sprungzone für ein Eichhörnchen. »Du sollst nicht an den Germanisten schnuppern«, sag ich, »nur an mir.« Elsie lacht. Sie lacht viel. Sie lacht schön. Klingt wie ein leises Klimpern.

»Ich hab bereits geschnuppert«, sagt sie. »Sie riechen nach Muschg und Grass und deutschem Deo.«

»Und ich?«

»Nach Lazy Laval. Nach Lazy Laval Extra Spray.«

Sie will alles wissen. Über mich: Lazar Laval, genannt Lazy. Über Vater und Mutter. Über Geburtsort und Wohnort. Über Kindergarten und Internat. Ich erzähle und erzähle. Ich hab gar nicht gewusst, dass ich so viel über mich weiß. Wenn ich mit Erzählen ins Stocken komme, schubst sie mich wieder an wie einen Reifen, der schwankt, bevor er kippt. Mir fällt wieder ein, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht hab. Das Nachthemd meiner Mutter. Die gelben Finger des Mathelehrers. Der gemeine Sam im Haus Torstraße. Dann sind die Freundinnen dran. Rita. Carla. Elsie will wissen, was ich mit ihnen gemacht hab, wo ich sie getroffen, wo ich sie angefasst hab. Rita war nur in meinen Vorstellungen meine Freundin, ich war dauernd mit ihr im Bett. Mit Carla hab ich mich im Schwimmbad getroffen, einen Sommer lang. Als ich ihr ein Eis holte und es in den Sand fallen ließ, sagte sie »Arschloch«, da hatte ich genug von ihr. Elsie lacht.

Jetzt solle sie mal erzählen, sag ich, aber Elsie weicht aus und schubst mich wieder in meine Erinnerungen, und ich grabe irgendwelche Kleinigkeiten aus. Eine Papierkrone von der Drittklasslehrerin fürs beste Diktat. Ein angerissenes Ohr nach einer Schlägerei im Internat.

Elsie will kein Licht, wenn wir uns lieben. »Wo ist denn hier der Eingang«, sag ich und suche sie mit dem Mund ab und lande in der Kniekehle, sie lacht und sagt »Such weiter«, und wenn meine Zunge die Tür aufmacht, wird sie still.

Wer das war beim ersten Mal, will ich wissen, da weicht sie wieder aus.

Als Elsie zum ersten Mal in die Torstraße kommt, tritt gerade die Alte von oben, die Maier, aus der Haustür, sagt »Aha« und »Schönen Abend«. Im Treppenhaus ist es still, in der Wohnung noch stiller, Juan ist für vier Wochen weg. »Hast du Hunger«, sag ich, hat sie nicht, das ist gut, in der Küche gibt es nichts als Brot von vorgestern und Käse aus der Steinzeit. Elsie schaut sich erst Juans, dann mein Schlafzimmer an, sie findet meine alten CDs von Katie Melua, setzt sich bei »Nine million bicycles in Beijing« auf die Bettkante, ich setz mich neben sie, sie sagt mit Maiers Stimme »Aha«, ich leg den Arm um sie, sie sagt mit Maiers Stimme »Schönen Abend«. Dann kippen wir rückwärts.

Zum ersten Mal tut es gut, in der Torstraße zu wohnen, Elsie ist beeindruckt, als sie hört, die Wohnung gehöre mir und Juan sei mein Untermieter. Jedes Mal, wenn wir die Wohnungstür aufschließen, sagt sie »Aha« und »Schönen Abend«. Auch mitten am Tag oder mitten in der Nacht. Bevor sie sich auszieht, schließt sie die Läden und legt Musik auf. Manchmal schaue ich in den Spiegel und frage: Bin ich das, immer noch?

elsielazy mit einem Kreis drum, manchmal zweimal am Tag.

Zu ihr nach Hause fährt man mit dem Dreizehner bis Endstation. Wenn sie mich mitnimmt, ruft sie vorher an, dann wird ein Gedeck mehr aufgelegt. Die Mutter na ja. Der kleine Bruder erfreut. Der Vater korrekt. Das Haus leicht angebonzt. Lichtenhahns haben nichts gegen mich. Ich bin Elsies netter Begleiter. Sie stellen sich nicht vor, wie sich der Kopf des Begleiters zwischen Elsies Beine schiebt. Dass wir in den Semesterferien nach Marokko fliegen wollen, ist ihnen recht. Einfach aufpassen bei rohem Obst und Gemüse.

Es müsste ein besseres Wort für Liebe geben.

Dasphänomendasmichpermanentinfreudeundhoffnungversetztundallesrundumverändertsogardenbodenunddieluftdiemichberührenundmirdasgefühlgibtichseisowohleinesaiteamzerspringensowieeinstückbutteramzergehenundmireinenschleiervordieaugenlegthinterdemdieweltnurnocheinezweidimensionalekopiederrealitätistwieeinezeichnungindersturmundwindstillediegleichekrafthaben.

Etwa so, einfach kürzer.

Juan ist zurück von seiner Fortbildung in Lausanne, hat den Kühlschrank aufgefüllt, und er kocht. Es riecht wieder nach was in der Wohnung, getoastetem Brot, Zwiebeln, Pfefferschoten. Mit Elsie herzukommen ist nicht mehr so schön wie gehabt, als wir wie zwei Fromme mitten am Tag den leeren Dom betraten und hinter uns das Portal abschlossen. Nichts gegen Juan, benimmt sich herzlich, so wie er es lernt in der Hotelfachschule, Elsie hier, Elsie da. Zweimal hat er für uns gekocht, Risotto, Tortilla, und Elsie hat gesagt »himmlisch«.

»Nicht schlecht, deine Elsie«, sagt Juan, ich weiß nicht, soll mir das gefallen oder nicht, es klingt wie »nicht übel, deine Vespa«. Egal. Er sagt »deine Elsie«. Und das ist die Wahrheit.

Seit ich an einem Mittag am Limmatufer meinen Joghurt in ihren Schuh geleert und ausgelöffelt hab, bin ich Crazylazy. Hab ihr ein Schneckenhaus geschenkt, mit Kaugummi verschlossen und drin der Ring, den sie mal im Schaufenster bewundert hat. Crazylazy. Hab das T-Shirt, in dem ich nachts von ihr geträumt hab, zusammengerollt und vakuumverpacken lassen. Crazylazy. Hab ihr zum fünfzigsten Beischlaf eine Perle, echt, bitte sehr, in den Bauchnabel gesteckt. Crazylazy. Hab, weil sie verrückt ist nach Kirschen, im Internet nach Kirschenseife gesucht, aber keine gefunden. Hab ihre Schritte von Uni bis Torstraße gezählt, aber weiß jetzt nichts damit anzufangen. Hab gefragt, ob sie mich heiraten will, aber sie hat gelacht.

Crazylazy.

Zehn geschichtswissenschaftliche Titel sollen aus der Literaturliste ausgewählt werden. Elsie ist bereits am Lesen. Ich nicht. Man solle im ersten Semester damit anfangen, sagt sie, es stehe auf dem Merkblatt. Sie weiß immer, was auf den Merkblättern steht. Ich merke mir kaum was. Höchstens Elsies Tage. An den Vorlesungen interessiert mich vor allem, ob mir Elsie einen Platz freigehalten hat. Ich studiere Elsologie. Der Sommer ein warmer Wirbel und ich ein Taumeltier.

Man reist nicht nach Marokko im Juli, sondern zur Zeit der Mandelbaumblüte und so, aber Elsie will nun mal in den Antiatlas, auch bei vierzig Grad. Aber erst sind wir für zwei Tage in Essaouira am Atlantik. Nach einer Nacht in einem öden Hotelkasten, wo das Kissen nach Katzenpisse stank, hab ich das Blue Light gefunden, ein Gästehaus mit sechs Zimmern. Hab uns als Ehepaar eingetragen, und der Mann am Empfang hat gelacht. Der Fensterrahmen ist hellblau, auch die Decke und das einzige Tuch im Bad und der Himmel über den Dächern. Weil das schön ist, will sich Elsie erst mal hinlegen, um elf Uhr morgens, um zwei Uhr schreibt sie elsielazy mit Kreis drum in ihr Notizbuch, und dann ziehen wir los, zum Strand.

Elsie ölt sich ein wie ein Stück Braten. Elsie mit Riesenbrille schaut aus wie ein Insekt. Elsie kann mit einzelnen Zehen wackeln. Elsie verschränkt die Hände auf dem Bauch wie zum Gebet. Elsie ist so, dass Männerblicke an ihr hängen bleiben. Und das Meer ist auch schön.

Das ist – nach dem Schulausflug in die Bretagne – mein zweites Mal am Meer. New York und Amsterdam mit Vater zählen nicht, da hab ich kein Meerwasser angefasst. Elsie war schon elf Mal am Meer. Immer mit Familie. Sie hat ein Familienleben. Ich weiß nicht, wie das ist und ob ich bedauern soll, dass ich es nicht weiß. Alleinsein ist o.k. Alleinheit ist die Einheit mit dem All.

Der Himmel ist riesig. Es windet, es rauscht. Man surft, man kitet. Es schreit, es möwt. Man döst, man schäkert. Es flimmert, es schäumt. Der Sand ist weiß.

Morgen will Elsie nach Sidi Kaouiki wandern, zwanzig Kilometer, will die großen Dünen erkunden. Vielleicht werden wir uns da in eine sandige Mulde legen und uns gegenseitig erkunden. Erhitzter als sonst und durstig wie nie.

Elsie, windgestreichelt und sandig an den Stellen, wo der Wind nicht hinkommt, meine Elsie.

Übermorgen fahren wir weiter. Wenn wir es in einem Tag über Agadir nach Ouarzazate schaffen wollen, müssen wir den frühesten Bus nehmen. Elsie hat die Tickets schon besorgt. Wie wir dann von da ins Dades-Tal zu den Kasbahs kommen, wird sich zeigen. »Der Lehmbau als zivilisierender Faktor in Mediterranien« in der Literaturliste ist kein schlechter Vorwand für unsere Wanderung zu den Berberbauten. Elsie will alles genau dokumentieren. Ich werde ihr das Stativ tragen.

Gegen Abend schlendern wir durch die Souks, Elsie will allein einkaufen, also trennen wir uns. Es werden zwei lange Stunden. Ja, Farben prächtig, Treiben bunt, Gerüche orientalisch, doch läuft alles an mir ab wie Flüssighonig vom Plastiklöffel. Als wir uns wieder treffen, zum Apéro am Hafen, möchte ich Elsie an mich drücken, hochheben, herumwirbeln, halte mich aber zurück, sag einfach »Na?«, und sie nickt. Sie hat sich Arganseife gekauft und ein ziseliertes Messer für ihren Bruder, und mir überreicht sie ein blauweiß gestreiftes Päckchen. Ich hab ein gleiches Päckchen für sie. Wir haben füreinander ein kleines, rundes Behältnis aus Thujaholz gekauft. Meines hat einen gewölbten, Elsies einen flachen Deckel. Wozu die sind, keine Ahnung. Für ein Gewürz? Ein gefaltetes Briefchen hätte darin Platz. »Ich schreib dir eins«, sagt Elsie, »noch heute Abend.« Aber das tut sie dann nicht. Denn kaum sind wir im Zimmer, schläft sie ein, Sandalen noch an. Es ist unsere letzte Nacht in Marokko. Am Morgen in der Früh rutscht Elsie die Treppe runter und bricht sich einen Zeh. Er steht rechts ab wie ein Wegweiser: Hier geht’s nach Hause. Im Hôpital Sidi Mohammed Ben Abdellah wird der Zeh zurechtgerückt und der Fuß eingebunden. Er passt nicht mehr in den Wanderschuh, kein Trekking im Dades-Tal, keine weiteren Expeditionen. Das Messer für den Bruder wird bei der Gepäckkontrolle im Marrakesch Airport zurückbehalten.

Und das Briefchen wird Elsie nie schreiben.

Elsie hat einen Gips bekommen, braucht eine Krücke. Der Fuß war stärker lädiert als gedacht. Lichtenhahns fahren ins Engadin, ins Ferienhaus von Freunden, Elsie soll mit, Elsie will nicht, Elsie will doch. Drei Wochen wird sie weg sein. »Besuch uns mal«, sagen Lichtenhahns. Mag nicht, will nicht täglich begutachtet werden wie eine Rohschinkenkeule beim Reifen, stürze mich lieber mit Juan ins volle Verblöden. Der angehende Hotelfachmann macht ein Praktikum in einer Bar und übt zu Hause die Drinks, die ihm am Abend vorher misslungen sind. Das fängt um elf Uhr morgens an, dazu läuft permanent der Fernseher. Wir schauen uns alles an: Frauen mit Schwangerschaftsdepressionen, Jodelchöre auf Reisen, Extraktionen von verpilzten Fußnägeln, Rosamunde Pilcher auf Polnisch. Dazu Juans Drinks in allen Variationen. Um vier Uhr nachmittags geht Juan schlafen, und ich verzieh mich an den See unter die Bäume und döse, die aufgeschlagene Pflichtlektüre auf der Brust. »Abklärung, Handhabung und Deklaration der Quellen in wissenschaftlichen Arbeiten«.

Elsie ruft mich immer zur gleichen Uhrzeit an, nimmt mich ein wie ein Medikament. 18 Uhr 30, Lazy, volle Dosis.

Was die lange Elsielosigkeit bewirkt, ist weder lustvolle Verzweiflung noch zölibatäre Geilheit. Ich bin einfach ein trauriger Lappen.

Im September fängt das Herbstsemester an. Elsie ist zurück. Und das Glück. Crazylazy denkt sich Geschenke aus, Elsie lacht und freut sich. Sie ist braun wie Engadiner Nusstorte. Ich krieche mit der Torte unter die Decke und höre nicht auf zu knabbern, bis ich sie ganz verschlungen hab. Alles ist wie immer, Elsie ist meine Elsie, und die Stunden, in denen ich sie nicht anfassen darf, sind verlorene Zeit.

Nein, nicht alles ist wie immer.

Elsie sagt nicht mehr »Aha« und »Schönen Abend«, wenn wir die Wohnungstür aufschließen. Sie hat das Ritual wohl einfach vergessen. Sie geht in der Mensa jetzt auch immer zum Tisch, wo ein paar Germanisten sitzen, »komm«, sagt sie, »die sind lustig«. Ich getraue mich nicht, sie zu fragen, ob ich ihr nicht lustig genug bin. Sie hat ja wohl das Recht, verschiedene Tische auszuprobieren.

Sonst ist alles wie immer, denk ich mal.

Wenn ich frage »Weißt du noch, unterm Arganbaum, als die Ziege kam«, dann küsst sie mir den Mund zu. Wir haben uns geliebt dort unterm Baum, und Elsie hat aufgeschrien, als eine Heuschrecke auf ihrer Brust landete.

Es fühlt sich gut an, als Paul und Peter mich fragen, ob ich mitmachen will beim Blatt. Sieht so aus, als sei ich ihnen nicht als Vollpfosten aufgefallen. Vollpfosten ist nach Elsies Bruder das aktuelle Wort für Vollidiot. Nächstes Jahr wird’s ein anderes Wort dafür geben. Vollpfund. Vollbarsch. Das Blatt soll monatlich erscheinen, digital und Print. Soll ein Blatt sein gegen professorale Nabelschau. Elsie haben sie nicht gefragt. Aber elf weitere von anderen Fakultäten. Peter ist Initiant, Paul ist Digitalist, mich wollen sie für Redaktionelles, für Kurzinterviews. Das heißt vorerst, dass vier Abende pro Woche mit dem Blatt belegt sind, zum Konzipieren und Planen oder für Bier und Palaver. Abende ohne Elsie. Aber Elsie beschwert sich nicht. Es hat sich fast angehört, als sei in ihrer Stimme so was wie Erleichterung. Als habe sie einen neuen Summton. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie selber vollbeschäftigt ist. Sie will für ihren Vater eine Webseite machen und hat dafür einen Intensivkurs belegt.

Elsie, die Feinste.

Elsie, die Schönste.

Elsie, die Meinste.

Elsie unterm Arganbaum.

Das Beste an diesem Herbst sind die drei klaren, kalten Tage in Sils Maria, Anfang November. Das Haus der Lichtenhahn’schen Freunde steht leer, wir zwei hätten fünf Schlafzimmer für uns, schlafen aber vor dem Kamin auf dem dicken Teppich, und bevor Elsie sich hinlegt, sagt sie wieder »Aha« und »Schönen Abend«. Ich beschließe, es habe mir egal zu sein, dass der Hausherr sich im Getreidehandel bereichert hat. Ich beschließe, dass mich die antiken Gewehre, die überall hängen, nicht stören. Ich beschließe, die Barhocker in Form von Frauenpos sind Geschmackssache.

Das Nietzsche-Haus ist geschlossen, Elsie ist oder tut enttäuscht. Die Bergbahnen fahren nicht mehr. Bis die Touristen zum Skifahren kommen, ist hier herrlich tote Zeit. Elsie zählt mit zunehmendem Eifer die leeren Sitzbänke auf der Halbinsel. Nur eine Bank ist besetzt, von einem Hund. Sein Mensch steht daneben und fotografiert Lärchenspitzen mit Himmel. Am Nietzsche-Stein schreibt Elsie die Verse in ihr Notizbuch, gleich nach elsielazy mit Kreis drum. »Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit.« Ob ihr das gefalle, frage ich. »Geht so.« Sie schlägt das Buch an andrer Stelle auf und liest:

»Es war kein Schnee, doch Leuchten,

das hoch herab geschah,

es war kein Tod, doch deuchten

sich alle todesnah –«

Nein, das sei nicht Nietzsche, sondern Benn. Von Benn hab ich noch nie gehört. Woher sie das habe, frage ich. Von einem Germanisten, als sie Sils Maria erwähnt habe. Warum sagt sie anderen, dass sie nach Sils Maria fährt. Warum liest sie Dinge, die ich nicht kenne. Warum tut das weh und sollte nicht.

Wir wandern, wir schlafen, wir wandern. Alles gleißt und blendet. Goldlärchen, Silbersee, darüber poliertes Blau. Und die schneeweißen Zacken. »Weiß wie gebleichte Promizähne«, sag ich, »ist dir das poetisch genug?« Elsie lacht und will mehr. »Die rostbraunen Hänge wie das Faltenkleid einer saudummen Frau.« »Warum saudumm?« »Weil sie nicht merkt, dass der Saum ins Wasser hängt.« Elsie ist zufrieden. Ich merke es daran, dass sie sich nach einem Andenken bückt, nach einer straußeneigroßen Kugel aus harzverklebten Lärchennadeln.

Erhabener Moment: ich in Permaglut vor Kulisse in Permafrost.

Bis wir zu Hause ankommen, wird die Lärchenkugel auseinanderfallen.

Weiß nicht warum – nach den Engadiner Tagen bin ich müde. Während Elsie dem Wind voraussegelt, komme ich mir vor wie ein Schleppkahn. Die Gedanken haben Bremsen statt Flügel, aber das merke nur ich. Die fingierten Kurzinterviews, die ich für die Null-Nummer des Blatts verfasse, sind genau so, wie Paul und Peter sich das vorstellen. Professor Kehl hat meine Arbeit über die Mobilität im Frühmittelalter für gut befunden und ins interne Netz gestellt. Ich schenke Elsie ein aufwendiges Tattoo auf meinem Oberarm: elsielazy mit Kreis drum, und sie lacht sich halbtot, als sie sieht, dass es fake ist und somit abwaschbar.

...Ende der Leseprobe

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ISBN 978-3-641-22855-2V002

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