Berlin - Königsberg - Reinhard Rosenke - E-Book

Berlin - Königsberg E-Book

Reinhard Rosenke

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Beschreibung

Reinhard Rosenke ist rußlanderfahren und der russischen Sprache mächtig. Seine Reisedevise lautet: Neugierig immer weiter - mit eigener Kraft und mit einem Zelt im Gepäck. Sein Herz schlägt für Osteuropa mit seinen Landschaften und Menschen. Das besondere Interesse gilt den dramatischen historischen Brüchen des 20. Jahrhunderts in diesem Teil Europas. Mit der Radreise ins nördliche Ostpreußen verwirklicht er einen langgehegten Traum.

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Inhalt

Durch Polen

Warum leicht, wenn’s auch schwer geht

Im Kampfgetümmel

Geheimnisvolles Ostpreussen

Ostpreussen verliert seine Unschuld

Zügig nach Marienburg (Malbork)

Am Frischen Haff

Russisch-Ostpreussen

Angekommen im „Kaliningrader Gebiet”

Die Tragödie einer Generation

Einstimmung auf Russisch-Ostpreussen

Nach Preussisch-Eylau

Das Sicherheitsrisiko

Orte, Namen

Vergiß die „goldenen Garben”

Friedland (Prawdinsk)

Tapiau (Gwardejsk)

Insterburg (Tschernjachowsk)

Reifenpanne

Russische Gastfreundschaft

Gumbinnen (Gusev)

Trakehnen - ein Pferdemythos

August 1914

Das Leben des Woldemar Mehlberg

Pannen zum Quadrat

Bedrohliche Natur

Auf der Landstrasse

Bei „Babuschka”

Nach Labiau (Polesk)

Abstecher zum Memeldelta

Cranz - „…die beste Stadt der Welt“

Kurische Nehrung

Spurensuche

Wandlungen eines Dorfes

Rudau in deutscher Zeit

Das deutsche Dorf wird russisch

Die Kolchose „Stalin”

Kolchose des 22 Parteitags

Niedergang

Nach der russischen „Wende“

Nichts los in Neukuhren

Rauschen, das „Sotschi des Nordens“

„Bernsteinmetropole“ Palmnicken

Pillau? „Njääät!“

Königsberg

Neues Ziel

Rings um den Hansaplatz (Platz des Sieges)

Ostpreußen und die Russen

Immanuel Kant, der Aufklärer aus Königsberg

Königsberg zwischen gestern und heute

Erinnerungen eines Arztes

Der Westen liegt hinter der Grenze

Heimfahrt

Ende

Anhang

Aus dem ostpreußischen Wörterbuch

Das Menetekel von Kaliningrad

Durch Polen

Warum leicht, wenn’s auch schwer geht

In flottem Tempo rattert der Regionalexpress gen Norden. Im Gegensatz zum überfüllten S- Bahn-Abteil, in das ich mich heute früh nur dank der Freundlichkeit anderer „Opfer“ der unendlichen Berliner S-Bahnmisere (Schlamperei, Reparaturstau, unzumutbare Fahrpläne) mit Fahrrad und Gepäck pressen konnte, sitze ich nun bequem und unbehelligt neben meinem angegurteten Rad. Gerade ist ein Radfahrer, Biologe von Beruf, ausgestiegen, mit dem ich mich intensiv unterhalten hatte. Zu intensiv! Denn ein Blick auf die Uhr zeigt, dass mein Umsteigebahnhof Angermünde längst hinter uns liegen müsste. Von dort aus wollte ich bis Schwedt/Oder fahren.

„Nee, junger Mann, wir sind ja schon in Mecklenburg“, erklärt mir eine Sitznachbarin. Zu zornigen Selbstvorwürfen bleibt keine Zeit mehr, denn gerade kündigt die Melodie „ Wer recht in Freuden wandern will“ als nächsten Halt den Ort Nechlin an. Also nichts wie raus mit der schweren Last!

Mutterseelenallein stehe ich mit dem beladenen Fahrrad und meiner Ratlosigkeit auf dem langen, schmalen Bahnsteig, während der Zug schon wieder rollt. Hoher Buchenwald umgibt die Bahnstation, deren Namen ich noch nie gehört habe. Es ist ein friedlicher, sonniger Donnerstagmorgen im Juli. Nun erst habe ich Zeit zum Fluchen und Lamentieren. Ich wollte mir mit dieser Zugfahrt einen Radltag ersparen. Mein Visum für das nördliche Ostpreußen (Kaliningrader Gebiet) gilt ab morgen, und jeder Anfahrtag geht mir für Ostpreußen verloren. Für heute stand eine volle Tagestour in Polen auf dem Plan. Und nun habe ich nicht nur Zeit verplempert, sondern werde viel Kraft aufwenden müssen, um die zu weit gefahrene Strecke wieder zurückzuspulen. Sollte ich den Gegenzug abwarten und zurückfahren? Nein! Hier soll meine Radreise beginnen.

Eine Landkarte von dieser Gegend habe ich natürlich nicht dabei. Nechlin muss am nördlichen Rand der Schorfheide liegen. Eine verlassene Chaussee kreuzt die Bahnstrecke und teilt den Hochwald in eine Sonnen- und eine Schattenseite. Sie lädt mich ein: Komm, lass den Ärger hinter dir, denke nicht an Zeit und Kilometer.

Stille. Kein Auto, seit ich hier stehe. Die Einsamkeit nimmt mich auf. Grelles Sonnenlicht und Baumschatten sprenkeln die Fahrbahn. Mit dem gleichmäßigen Auf und Ab der Pedale, dem Atemrhythmus, mit der Frische des Waldes und den zunehmend vergnüglichen Gedanken an das vor mir liegende freie Vagabundenleben wird meine Seele wieder heiter. Allerdings - der Gedanke, ich würde mit meiner ostwärts gerichteten Fahrt schon irgendwann an den Oderstrand gelangen, ist mir zu vage. Wie ist meine geographische Position?

Der Wald weicht zurück, Kornfelder breiten sich aus, eine Kirchturmspitze verrät den nächsten Ort. Das Ortsschild „Nieden“ macht mich nicht schlauer. Auf einem Bauernhof hantiert ein Mann im blauen Arbeitsdress an seinem Auto. Ich frage ihn. Er kriecht, die Zigarette im Mundwinkel, wortlos in den alten Mercedes, kramt ein Weilchen und kann mir jetzt mit öligem Zeigefinger unseren Standort auf der Karte zeigen: „Se woll’n über de Oder? Fahr’n Se hier, über Löcknitz, Bismark, Linken.“ Zwei alkoholisierte Typen sind dazugekommen, ernsthaft um meinen weiteren Weg bemüht. In Wollkow schenkt mir ein kleiner, drahtiger Feuerwehrmann eine Flasche Mineralwasser und eine neue Karte der Uckermark. Die Freundlichkeit der Menschen passt so richtig zum Sonnenscheinwetter!

Beim Weiterfahren denke ich amüsiert an die Bemerkung eines Mit-Fünfzigers auf dem S- Bahnhof Südkreuz, mit dem ich heute früh geplaudert hatte. Bei der Erwähnung meines Reiseziels „Königsberger Gebiet“, erwiderte er trocken: „Da brauche ich nicht mehr hin, habe ich alles im Fernsehen gesehen.“ Ja, hat der Mann nicht recht? Eine auf Anschaulichkeit und Effekte aufgebaute TV- Berichterstattung ersetzt das Reisen, man kann ja nicht überall hin. Der Satz passt auf die Lebenshaltung vieler Mitbürger. Überspitzt gesagt: das Fernsehen als Erlebnisersatz. Ein kleines Kontrastmittel dazu könnte mein heutiger Tag sein, von dem ich die zweite Hälfte noch nicht kenne und der, wie jeder weitere Tag auch, von Menschen, Wetter, Ärger, Freude, Hunger, Essen, Anstrengung, Genuss, Erwartung, Enttäuschung bestimmt sein wird.

In Löcknitz schüttet sich eine große schwarze Wolke aus. Rechtzeitig entkomme ich in einen Fleischerladen mit Mittagstisch. Die Chefin empfiehlt mir Salzkartoffeln, Schmorkohl und Buletten. So nimmt alles seinen Gang. Am frühen Nachmittag stehe ich endlich auf der Oderbrücke.

Wie mir dieser Fluss gut tut! Emsig strömt sein Wasser mit der ihm eigenen Melodie des Rauschens und Glucksens der Ostsee zu. Von oben betrachtet, zeichnet sich auf seiner Oberfläche ein Wettlauf der unterschiedlichsten graphischen Figuren ab, die kreisend, abdriftend, vorwärts schießend, schlängelnd herannahen und sich wieder entfernen. Die Himmelsfarben und die Spiegelungen der Pflanzen und Uferkonturen bleiben, wechseln, fließen mit dem Wasser heran, eilen wieder davon. Ich sehe flache Ufer, schilfbekränzte Buchten. Das Fehlen gerader, vom Menschen aufgezwungener Linien verleiht dem Strom Natürlichkeit und Würde.

Im Kampfgetümmel

Nun bin ich also in unserem Nachbarland Polen, für das ich durch die Erfahrungen zurückliegender Reisen viel Sympathie empfinde. Ich wappne mich mit einem kleinen Vorrat polnischer Wörter und Sätze, die auf einer Pappe griffbereit in der Hosentasche verwahrt sind, und tausche Sloty gegen Euro.

Auf meiner Karte fehlt dieser von der Stadt Stettin (Szczecin ) beherrschte nordwestliche Teil Polens. Prompt gerate ich über Straßenbaustellen, Straßenstilllegungen, Straßenneubauten, Umleitungen, neu angelegte Plätze mit provisorischer Ausschilderung zu autobahnähnlichen Schnellstraßen. Die schwüle Hitze lässt den Schweiß in Strömen fließen. Mir ist zumute wie im Kampfgetümmel: pausenlos unter Beschuss, aber unbewaffnet. Von den Autos verfolgt, eingeholt, eingekesselt, gestoppt, verjagt. Gnadenlos umbraust mich der Verkehr während dieser „rushhour“. Ich kann dem geräuschvollen Strom nicht ausweichen, denn die Brücken über die verschiedenen Oderarme zwingen mich zum Durchhalten. Ich fühle mich wie eine Ratte im Testlabyrinth. Am Ende verwandelt sich die für mich entscheidende Ausfallstraße in eine Autobahnauffahrt. Verzweifelt frage ich mich: Was nun? Zurück? Aber wohin zurück?

Ich kehre um. Seitwärts führt eine Auffahrt zu einem Hotel. Kurz entschlossen schlage ich diesen Weg ein. Vor dem stattlichen Hotelbau sitzen deutsche Gäste im Baumschatten bei Kaffee oder Bier. Sie beäugen mich, fragen nach Woher und Wohin. Sie loben mein Vorhaben, kramen in ihren Erinnerungen, als auch sie einmal mit Sack und Pack „zünftig“ durch die Lande gezogen waren. Ich schätze sie allerdings jünger ein als mich. Mir ist nicht nach Palaver zumute.

Auf dem Parkplatz steht ein deutscher Reisebus aus Bielefeld. Vorne am Einstieg lehnt rauchend der Fahrer und unterhält sich auf Polnisch mit einem Bekannten. Ich spreche ihn an: „Guten Tag, sprechen Sie deutsch?“ - „ Ein bisschen.“ - „Darf man auf der Autobahn dort vorne in Richtung Goleniow mit dem Fahrrad fahren?“ - „Ja, das dürfen Sie.“ - „Sind Sie ganz sicher?“ - „Ja, garantiert.“ - „Dziekuje barzo (schönen Dank).“

Mann, bin ich froh! Mir ist, als hätte man mich von Fesseln befreit. Die 40 Kilometer bis Goleniow will ich sogleich unter die Pedale nehmen. Tiefhängende Wolken haben alle Schleusen geöffnet. Regenschauer sorgen an diesem Spätnachmittag für ein fahles Dämmerlicht. Der Seitenstreifen gehört allein mir, was mich allerdings nicht vor den kalten Spritzfontänen der vorbeirasenden Autos schützt. Ich bin auf Gedeih und Verderb bis nach Goleniow an die Straße gebunden, denn ein hoher Zaun schirmt sie vom Hinterland ab.

Spät am Abend, als ich reichlich erschöpft das Licht in meinem kleinen, ordentlichen Hotelzimmer ausknipse, geht mir noch einmal der Satz von heute morgen durch den Kopf: „Da brauche ich nicht mehr hin. Habe ich alles im Fernsehen gesehen.“ Armer Kerl, denke ich. Aber ich meine natürlich nicht mich.

Geheimnisvolles Ostpreussen

Ich bin unterwegs zum „nördlichen Ostpreußen“, dem seit Ende des letzten Krieges russischen „Königsberger Gebiet“ bzw. „Kaliningradskaja Oblastch“. Kalinin war ein hoher Funktionär in der stalinistischen Nomenklatura.

Innerhalb der letzten vier Jahre ist es das dritte Mal, dass ich mein Rad in östliche Weiten lenke. 2006 ging es von Berlin durch Polen, die baltischen Staaten über Russland auf die skandinavische Halbinsel, 2008 von Berlin über Polen, Weißrussland, die Ukraine bis an die Wolga. Diesmal ist die Tour kürzer, erfüllt mich aber mit nicht weniger Spannung. Mir ist, als wäre es noch nicht lange her, als der „Eisernen Vorhang“ einen nahezu undurchdringlichen Trennungsgürtel zwischen den freien europäischen Demokratien und den kommunistischen Diktaturen bildete. Heute, zwanzig Jahre später, hat mein „Ritt“ gen Osten für mich noch immer etwas ungemein Faszinierendes. Die Entdeckerlust findet dort ein weites Feld, und das Erkunden auf eigene Faust birgt viel Geheimnisvolles.

Ostpreußen: Welche Assoziationen verbinden wir Deutsche mit diesem Namen? Jüngere Mitbürger werden zumeist mit den Schultern zucken. Die „Königsberger Klopse“ und der „Tilsiter Käse“ bringen sie gedanklich nicht nach Ostpreußen. Bei den Älteren werden, wenn überhaupt, Gedanken und Begriffe ins Bewusstsein tropfen wie diese: sehr weit weg; früher deutsch; weite menschenleere Landschaften; Bernstein; Flüchtlingstragödien bei Kriegsende; der herzhafte ostpreußische Dialekt.

Mich interessiert mit dem Älterwerden immer mehr die Frage: Was ist echt an mir? Warum zieht mich „dieses“ magisch an, lässt mich „jenes“ kalt? Die besten Antworten darauf finde ich, wenn ich in meine Kindheit und Jugend zurück tauche, in eine Entwicklungsphase, in der es an mir noch unverbildete Seiten gegeben haben müsste. Schon als Zehn- bis Zwölfjähriger trieb ich mich allein im Wald herum, angelte an den einsamsten Stellen, röstete Brot am Lagerfeuer, kletterte leidenschaftlich gern auf Bäume, interessierte mich für alles, was da kreuchte und fleuchte, half beim Hüten der Ziegenherde meines Freundes. All das wollte ich nicht tauschen gegen den Fußballplatz, Kinobesuche, elektrische Eisenbahn oder die Anziehungskraft einer Gruppe. Später ging es zusammen mit meinem Bruder und mit Freunden auf große Fahrt mit dem Fahrrad. Bis heute hält der Trend zum Forschen und Erkunden an und meine Reisewünsche lassen sich weit zurückverfolgen.

Berlin-Südkreuz: Warten auf den Regionalzug

In Polen angekommen

Die Weichsel, der polnische Strom

Die Marienburg, einstige Zentrale des Deutschen Ritterordens

Früh übt sich, was ein Ritter werden soll

Elbing (Elblag)

Was treibt mich nach Ostpreußen, und warum ist das so? Das „Was“ hat man schnell im Kopf, dem „Warum“ will ich versuchen, auf den Grund zu gehen. Mit den ersten Menschen aus Ostpreußen kam ich bewusst als Achtjähriger in Kontakt. Denn drei Jahre nach Kriegsende zog die Familie Langhau in das Köpenicker Gartenhaus, wo wir wohnten. Ein Zimmer musste für den schon älteren Malermeister, seine Frau und seine steinalte Mutter reichen. Ergrauter, spärlicher Haarwuchs, die Nickelbrille funkelnd auf seiner „Karl-Valentin-Nase“, sprach er in unverfälschtem Ostpreußisch sehr deutlich, freundlich und belehrend mit uns Kindern. Wenn die Langhaus von ihrem gefallenen Sohn sprachen, kullerten die Tränen. Als sie eines Tages weggezogen waren, hatte Ostpreußen in mir Wurzeln geschlagen. Die fast täglichen Suchsendungen des Deutschen Roten Kreuzes in den Rundfunksendern begleiteten uns über Jahrzehnte hinweg. Der hohe Anteil gesuchter und suchender Kinder und Eltern aus Deutschlands östlichster Provinz, die in den letzten Kriegsmonaten und den Nachkriegswirren von ihren Angehörigen getrennt worden waren, blieb konstant hoch. Mit ein bisschen Phantasie konnte sich jeder Zuhörer ausmalen, was für Schicksale sich hinter den dürren Worten der Ansager verbargen. Bis in unsere Zeit hinein entwickelte sich Ostpreußen durch die unterschiedlichsten Dokumentationen zu einem Synonym für „Flucht“: Flucht vor der Roten Armee im Winter 1945.

In den 50er Jahren begannen vor allem Illustrierte unterschiedlichster Couleur über Fluchtschicksale in den ehemaligen Ostgebieten zu berichten. Ich wusste ziemlich früh vom Untergang der „Gustloff“ in der Ostsee, mit fast 10.000 Flüchtlingen an Bord. Immer war dann auch von Ostpreußen die Rede.

Als jungem Lehrer wurde mir eines Tages ein zehnjähriges Mädchen in die Klasse gesetzt. Es hieß Ursula Naujokat, hatte blonde Zöpfchen, war sehr schüchtern und sprach mit hoher Stimme ihren Heimatdialekt. Meine fast vierzig Schüler wunderten sich über Wortmelodie und Ausdrucksweise ihrer neuen Mitschülerin und mancher reagierte darauf mit Spott. Damit sie mit ihren manchmal rauhen Umgangsformen das Mädchen nicht noch mehr verängstigten, stellte ich meine Unterrichtsplanung ganz unter das Thema „Ostpreußen“. Fotos, Dokumentarfilme von der „Landesbildstelle“, Zeitzeugenberichte – es gab Mitte der 60er Jahre schon genügend Material zu diesem Thema. Meine Schüler ließen sich beeindrucken. Sie sahen ihre neue Mitschülerin hinfort in einem anderen Licht. Das „Ostpreußenlied“, von der Gitarre begleitet, wurde für ein Weilchen das Lieblingslied meiner Klasse. Leider war Ursula nur drei Wochen bei uns, aber in der Erinnerung meiner Jungen und Mädchen blieb das Mädchen aus Ostpreußen noch lange lebendig.

Ostpreussen verliert seine Unschuld

Von meinem Vater besitze ich Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1928, die er als 24jähriger unter dem Titel Zu Fuß durch Ostpreußen in ein kleines Heftchen geschrieben hatte. Da heisst es zu Beginn:

Die Frage: Warum denn ausgerechnet nach Ostpreußen? begegnete mir jedes Mal, wenn ich die Absicht äußerte, während meines Urlaubs jenen vom Mutterland abgetrennten Teil des Deutschen Reiches aufzusuchen, um seine Schönheiten kennenzulernen. Für sie existierte dieser ferne Winkel nicht als Reiseziel. Aber gerade diese Abgeschlossenheit, diese Unberührtheit zogen mich an.

Er war mit seinem Freund in Swinemünde an Bord des Schiffes Hansestadt Danzig gegangen, das die beiden über Danzig zum ostpreußischen Hafen Pillau bringen sollte. Kurz nach den oben zitierten Zeilen folgt eine bemerkenswerte Stelle:

Die Sonne stand schon tief, als die „Hansestadt Danzig“ mit Schnaufen und Stampfen sich von der Anlegestelle entfernte. Mit hocherhobener Hand grüßten Adolf Hitler, der neudeutsche Messias und seine Begleiter die zurückbleibenden braven Swinemünder Nazis…

Mein damals pazifistisch eingestellter Vater konnte natürlich nicht ahnen, geschweige denn wissen, dass dieser von ihm mit spöttischem Unterton als „Messias“ bezeichnete Mann es bald in der Hand hatte, vielen Millionen Menschen das Leben zur Hölle auf Erden zu machen. Ich will nicht verschweigen, dass die Nazipropaganda besonders in Ostpreußen auf fruchtbaren Boden gefallen war. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen bis 1933 legen dafür ein nicht zu leugnendes Zeugnis ab. Die Gründe hierfür sind für diesen Teil Deutschlands allerdings ebenso vielschichtig wie die Wahlerfolge der NSDAP im gesamten Deutschen Reich.

Als ich mich zunehmend intensiver mit russischer Sprache, Geschichte und Literatur beschäftigte, stieß ich am Rande auf einen interessanten Aspekt: Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg gehörte, wie auch der spätere Schriftsteller Lew Kopelew, beim Vormarsch der Roten Armee zu einer Propagandaabteilung, die an vorderster Front in deutscher Sprache über Lautsprecher ihre deutschen Gegner propagandistisch beeinflussen sollte, möglichst bis zu deren Desertion. Aber auch die Soldaten der Roten Armee wurden bearbeitet. Ehrenburg, in den 20er und 30er Jahren eher als aufgeklärter Weltbürger in den europäischen Hauptstädten zu Hause, rief nun, da man im Januar 1945 zum ersten Mal in Ostpreußen auf deutschem Boden kämpfte, mit den schlimmsten Hasstiraden die Sowjetsoldaten zur Rache an „den Deutschen“ auf, was heißt, auch an der Zivilbevölkerung. Dabei hatte Marschall Rokossowski zu gleicher Zeit einen scharfen Befehl gegen Plünderer und Marodeure erlassen. Nach furchtbaren Exzessen an deutschen Zivilisten wandte sich der andere Propagandaoffizier, Lew Kopelew, gegen solche Ausschreitungen und Verbrechen. Und das Resultat? Kopelew wurde wegen „kleinbürgerlichem Humanismus, Mitleid mit dem Feind und Schwächung der Kampfkraft der Roten Armee“ verhaftet und für viele Jahre eingesperrt.

Alexander Solshenizyn, der spätere Nobelpreisträger für Literatur, nahm im Februar 1945 mit seiner Einheit als Artillerie-Offizier an der Schlacht um Königsberg teil. Königsberg, die erste deutsche Provinzhauptstadt auf der russischen Marschroute, war von der Wehrmacht in eine waffenstarrende Festung verwandelt worden. Der Befehl des Stadtkommandanten lautete: Verteidigung bis zum letzten Mann. Solshenizyn zählte diesen Fronteinsatz zu seinen bis dahin gefährlichsten. Nach den Kämpfen wurde er verhaftet, weil er in Briefen an einen befreundeten Offizier Kritik an der miserablen und den eigenen Soldaten gegenüber menschenverachtende Kriegführung geäußert hatte. Auf seltsame Weise war Ostpreußen mit Solschenizyns Schicksal verbunden. Denn sein Vater war dabei, als die zaristische Armee im August 1914 in Ostpreußen, in der „Schlacht bei Tannenberg“ eine schwerwiegende Niederlage erlitt. Der junge Alexander Solshenizyn hat sich aus diesem Grunde schon in den 30er Jahren mit dem Desaster der russischen Truppen in Ostpreußen beschäftigt. 1971 veröffentlichte der deutsche Verlag Langen Müller Solshenizyns Kriegsepos August neunzehnhundertvierzehn. Obwohl er sich darin unverfänglich und sehr kritisch mit den Zuständen in der zaristischen Armee beschäftigt, geriet der Autor wieder unter schweren Beschuss der sowjetischen Medien.

Ostpreußen war bis zum Zweiten Weltkrieg eine blühende deutsche Provinz. Was wird mich dort in diesem Sommer 2009 mit meinem Fahrrad erwarten?

Zügig nach Marienburg (Malbork)

Nach dem etwas missratenen ersten Tag benötigte ich am zweiten, einem Freitag, 170 Kilometer, um mein Haupt auf ein sauberes Kopfkissen betten zu können. Im nördlichen Polen kommt man um die Steigungen des Baltischen Höhenrückens nicht herum. Pausenlos ging es auf und ab. Gegen Abend überlegte ich, ob ich mein Zelt nach den starken Gewitterschauern auf dem durchweichten Grund irgendeines regennassen Laubwaldes aufstellen sollte. Oder auf einer umzäunten Weide?? Auf einem Acker??? Nein!!! Um 18 Uhr hoffte ich auf ein Hotel in Barwice. Vergeblich.

30 Kilometer weiter, in Szczecinek (Neustettin), versuchte ich es im Hotel Residenz: Alle Zimmer besetzt! Es war 20 Uhr, ich total durchnässt und vom Hunger ausgehöhlt. Eine junge Kellnerin nahm sich trotz der gut besuchten Gaststube die Zeit, mir den Weg zur Pension Slotaja Doma aufzuzeichnen. Aber auch der Barmann dort schüttelte verneinend den Kopf. Er sprach gut deutsch, hatte sechs Jahre in Berlin-Neukölln gelebt. Als ich ihm von meiner heute zurückgelegten, beachtlichen Strecke erzählte, dachte er eine Minute nach, griff zum Telefon und führte ein kurzes Gespräch. Dann, zu mir gewandt: „Sie können ein Zimmer haben. Das Hotel ist ganz neu, aber für Sie schwer zu finden. Ich kann Ihnen ein Taxi rufen, das Fahrrad lassen Sie einfach hier.“ Dankbar aß ich bei ihm eine köstliche „polnische Suppe“.

So angenehm das Zimmer in dem kleinen Hotel auf mich wirkte, so wohlig die Phase der Erholung sich in meinem Gemüt ausbreitete - Schlaf wollte sich erst lange nach Mitternacht einstellen. Ich glaube, ich war „überdreht“.

Nach einem guten Frühstück beginnt der Morgen mit endlosen Regenschauern. Ein Taxi bringt mich zu meinem Rad. Ich will nicht warten, ein Ende des Regens ist nicht abzusehen. Sorgfältig klette ich die wasserdichten Fußschützer aus Goretex über die Schuhe und los geht’s. In Komarsky nagt der Hunger so sehr in mir, dass ich an einer kleinen Burger-Bude absteige. Ein etwa elfjähriges Mädchen bedient mich, den einzigen Gast. Ich bestelle Kaffee und einen Cheeseburger. Die Kleine ist sehr verlegen, weiß nicht richtig Bescheid. Sie ruft per Handy jemanden an, der ihr genau sagt, was zu tun ist und siehe da, es funktioniert! Alles schmeckt, ich lobe sie, sie freut sich.

Der Regen hat aufgehört, ein schöner Westwind hilft mir weiter. Ich bin auch heute wieder beeindruckt von der Sauberkeit der Waldparkplätze und den Chausseerändern ohne weggeworfenen Müll, den gepflegten Straßen und Bürgersteigen in den kleinen Ortschaften. Nach 135 Kilometern übernachte ich in Zolewo (bei Starogard).

Eine erquickende Nacht, zwei Spiegeleier zum Frühstück und der blaue Himmel erwecken an diesem Sonntag auch eine sonntägliche Stimmung in mir. Mit Lust und Unternehmungsgeist strebe ich der Weichsel zu. Eine richtige Pause mache ich aber erst in Malbork, wo die imposante Marienburg sich im Wasser der Nogat spiegelt. Ich setze mich ans Flussufer, gegenüber von Hochschloss und Hochmeisterpalast, und lasse die Augen über Mauern, Tore und Türme schweifen. Von 1309 bis 1457 regierte von hier aus der Hochmeister des Deutschen Ritterordens den straff organisierten Ordensstaat. Damals hatte das Heer der aus allen christlichen Staaten herbeigerufenen Ritter die heidnischen Pruzzen längst zum Christentum gezwungen und der Hochmeister sich vom Staufferkaiser Friedrich II. und dem Papst alle den „Heiden“ abgenommenen Gebiete als Eigentum des Ritterordens garantieren lassen.

Ich sinne noch über das im Reiseführer Gelesene nach, da werde ich angesprochen. Ein Ehepaar, um die vierzig, fragt mich auf Englisch, ob ich Deutscher sei. Die beiden kommen aus Warschau. Sie hätten mich unterwegs radeln gesehen. Nun interessiere es sie, von mir zu erfahren, welche Befindlichkeiten die Deutschen zu ihren ehemaligen Ostprovinzen hätten. Mit gutem Gewissen kann ich ihnen antworten, dass mit der Einheit Deutschlands bei den so genannten „Zwei-plus-vier-Verträgen“ das wiedervereinigte Deutschland die Oder/Neiße als endgültige Grenze zwischen Deutschland und Polen anerkennt. Ohne diese Anerkennung wäre es niemals zur deutschen Wiedervereinigung gekommen. Ich sage ihnen, dass der Status der „Ostgebiete“ für die überwiegende Mehrheit der Deutschen kein Thema mehr sei. Nun fragen sie, welchen Einfluss die Vorsitzende der Vertriebenen-Organisationen in Deutschland, Erika Steinbach, habe. Auch da kann ich sie beruhigen und hinzufügen, dass Frau Steinbach im Bundestag zwar die Oder-Neiße-Grenze abgelehnt habe, sie jedoch kein revanchistisches Gedankengut verbreite.

Im Innenhof der Burg herrscht „Budenzauber“. Bude reiht sich an Bude und bietet aus Pappe, Plastik und Tuch in grellen Farben angefertigten „Ritterkitsch“ an: Schwerter, Schilde, Wappen, Lanzen, Rüstungen, mittelalterliche Trachten - alles hundertfach.

Am Frischen Haff