Berlin - Wolgograd - Reinhard Rosenke - E-Book

Berlin - Wolgograd E-Book

Reinhard Rosenke

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Beschreibung

Reinhard Rosenke, der russisch spricht und russische Literatur und Musik schätzt, startet 2008 mit dem Fahrrad zu einer großen Osteuropa-Tour, um die Weite der russischen Landschaft hautnah zu erleben. Er durchquert Polen, Weißrußland und die Ukraine, hat mit abenteuerlichen Verkehrs- und Straßenverhältnissen, mit wilden Hundemeuten, mit ewigem Gegenwind und der Monotonie der Steppe zu kämpfen. Immer wieder wird er an die blutrünstige Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnert. In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, ist seine Reise (unfreiwillig) nach knapp 4000 km Tretarbeit beendet.

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Inhalt

Deutschland

Der Schluss zum Anfang

Der Virus Russland

Happy Birthday

Polen

Durch Polens Wochenende

Familienwurzeln

Landstrassenleben

Weissrussland

Einreise für Pedalritter verboten

Ein „Tag der Befreiung“

Erste Tage in Weissrussland

Partisanenwälder und kaputte Städte

Ukraine

Dem Südwind entgegen

Hotels, Kosaken, Langfinger

Auf der Trasse

Auf nach Odessa

Die Perle am Meer

Aus Geschichte und Literatur

Ein bemerkenswerter Morgen

Entlang der Schwarzmeerküste

Steppe weit umher

Nachtlager in der Steppe

Steppenlethargie

Was ich nicht ahnen konnte

Zähne zusammenbeissen? Geht nicht!

Russland

Ein neues Ziel

Rostow am Don

„Der Stille Don“

Bücher, Fernsehen, Donner am Don

Zweikampf

Richtungswechsel in der Steppe

Zwischen Don und Wolga

In Wolgograd

Die Schlacht um Stalingrad

Letzte Impressionen

Deutschland

Der Schluss zum Anfang

Samstag, der 7. Juni 2008, 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Die Maschine der russischen Luftflotte Aeroflot ist bei strahlendem Sommerwetter auf dem Berlin-Brandenburgischen Flughafen Schönefeld gelandet. Die überwiegend russisch sprechenden Passagiere warten schon wenige Minuten später am Rund des Gepäcktransportbandes, das bereits die ersten Gepäckstücke heranbringt. In kurzer Zeit löst sich die von Moskau nach Berlin währende Fluggemeinschaft nach allen Himmelsrichtungen wieder auf. Nur ich stehe noch am sinnlos rotierenden Band und warte. Meine vier schwarzen, wasserdichten Gepäcktaschen und der rot glänzende Seesack für Zelt, Schlafsack und Liegematte liegen längst zu meinen Füßen. Wo bleibt mein treues Fahrrad? Weiteres Warten ist hier sinnlos. Etwas angespannt frage ich einen grünberockten Zollbeamten. Seine schläfrigen Augen flößen mir wenig Optimismus ein, jedoch verzieht sich der Mund zu einem freundlichen Lächeln: „Fahrräder kommen nicht übers Band. Man wird Ihr Rad durch diese Tür dort bringen.“ Kaum gesagt, trägt auch schon ein junger Mann mein in blauer, feiner Gaze verpacktes Rad heran. Ich bin komplett und atme auf.

Zurück am Flugplatz Schönefeld

Wofür ich strampelnd auf einer Strecke von 3.700 Kilometer fünf anstrengende Wochen gebraucht hatte, brachte ich im Flugzeug sitzend, lesend und essend in vier Stunden hinter mich. Für mich ist das immer noch ein kleines Wunder, eines der unzähligen technischen Wunder unseres Zeitalters. Man bedient sich ihrer voller Selbstverständlichkeit. Nur wenn sie mal nicht zur Verfügung stehen, wird einem ihre Bedeutung bewusst. Sitze ich auf dem Fahrradsattel, bin ich stolz auf 150 Tageskilometer. Von einem Flugzeug verlange ich dagegen in der gleichen Zeit das -zigfache. So ist das nun mal. Nebenbei gesagt: Auch das Fahrrad, so wie es vor mir steht, halte ich für eine bewundernswerte Erfindung.

Nun schwinge ich mich zu den letzten zwölf Kilometern dieser Tour auf meinen Drahtesel. Und was für Kilometer! Die Sommerbrise kitzelt meinen Rücken, der makellose Radweg lässt die Reifen surren. Wellig die Landschaft, aus der sich malerisch Gruppen hoher Bäume abheben. Weizenfelder lassen durch ihr Türkisgrün schon einen goldenen Schimmer der Reife erkennen. Auf der Chaussee spenden alte Alleebäume einen angenehmen Schatten. Von den Dörfern blinken solide, rote Ziegel durch das Laubdach. Eine Gruppe Reiterinnen quert gerade den schilfgerahmten Wassergraben. Nun noch über den Fuchsberg, kurz darauf bin ich zu Hause.

Kaum, dass ich mir das Nötigste zum Essen eingekauft und einen Kaffee bereitet habe, geht mir ein unglaublicher Gedanke durch den Kopf: Dieses Stück vom Flughafen bis zu meinem Heim, diese gut 12 Kilometer, war der lieblichste, idyllischste Abschnitt des hinter mir liegenden, weiten Weges! Nanu, lässt das auf ein enttäuschendes Fazit meiner Reiseindrücke schließen? Beurteile ich mit solchen Gedanken und Gefühlen meine zurückliegende Reise etwa abwertend? Hätte ich mir die Strapazen eigentlich ersparen können? Natürlich nicht! Der abenteuerlustige Reisende sucht doch geradezu nach herausfordernden Unterschieden zu seiner Heimat, seien es landschaftliche, kulturelle, ökonomische und was noch alles. Allerdings: Wenn man „das andere“ so richtig „dicke“ erlebt hat, kommt es schon mal vor, dass man sich der heimatlichen Erde wieder mit einer gewissen Demut und Dankbarkeit zuwendet.

Während ich mir mein Lieblingsessen - Pellkartoffeln mit Kräuterquark und Leinöl - bereite, wird schnell noch geduscht. „Ach, steigs’te mal schnell auf die Waage! Kiek an, sechs Kilo weniger! Nicht schlecht!“ Ich habe das Gewicht meiner Jugend wieder zurück und war doch schon nach dem ersten Viertel der geplanten Reise heimgekehrt. Warum ? Davon später.

Der Virus Russland

Bei meiner weiträumigen Ostseeumrundung, die mich im Sommer 2006 unter anderem durch die baltischen Staaten und über St. Petersburg durch einen kleinen Teil Russlands geführt hatte, vermehrte sich in meinem Denken und Fühlen der „Virus Russland“. Ein „Virus“, den zu ergründen ich schon vor über zwanzig Jahren einmal in einem Brief an den russischen Schriftsteller, Literaturhistoriker und Systemkritiker Lew Kopelew (1912-1997) versucht hatte. Kopelew konnte 1980, wie vor ihm Alexander Solschenitzyn, die Sowjetunion verlassen, lebte danach in der Bundesrepublik Deutschland und bekam hier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine autobiographischen Bücher hatten mich sehr beeindruckt und zu meinem Brief veranlasst.

Auch ein Fernsehbericht über ihn und seine Frau ging dem Brief voraus. Bevor ich darin auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen kam, versuchte ich ihm meine merkwürdige Zuneigung zu Russland zu erklären: Es war nicht der Russischunterricht von Klasse 5 bis 12 in Ost-Berlin, schon gar nicht eine politisch begründete Sympathie zum „Vaterland aller Werktätigen“. Nein, nach meiner Vermutung trugen zum Beispiel Begegnungen mit freundlichen Soldaten im Köpenicker Forst dazu bei. Diese einfachen Burschen umgab für mich ein Hauch von Abenteuer. Sie wohnten während des Sommers in Erdhütten, direkt neben einem ehemaligen Schießplatz aus Vorkriegszeiten. Wir Jungens machten dort auch Bekanntschaft mit der Soldatenzigarette „Machorka“, in ein Stück Zeitung gerollt, das war die scheußlich stinkende Papirossa. Besonders die russischen Soldatenlieder, die man abends im Bett aus dem Walde herüber schallen hörte, müssen meine Seele berührt haben. Aber den eigentlichen Impuls gab mir die Lektüre eines in meine Hände geratenen Buches, das ich als sechzehnjährige „Leseratte“ verschlungen hatte: Zwischen Rot und Weiß, geschrieben von E. E. Dwinger (1898-1981). Im Buchumschlagstext heißt es u.a.:

Dieser berühmte Roman wurde nach seinem Erscheinen 1930 von allen Seiten und sogar von der KPD-Zeitung Rote Fahne in den höchsten Tönen gelobt. Eine Übersetzung ins Russische befand sich in Vorbereitung. Er gilt als die glaubhafteste Darstellung des Russischen Bürgerkrieges und brachte den Autor als Kandidaten für den Literaturnobelpreis ins Gespräch.

Darin schildert Dwinger, der als 17-jähriger deutscher Kriegsfreiwilliger schon früh in russische Gefangenschaft geraten war, seine Erlebnisse. Um der jahrelangen grausamen Gefangenschaft endlich zu entgehen, kämpfte er von 1918 bis 1920 auf Seiten der „Weißen Armee“ gegen die Bolschewisten. Ja, dieses Buch war für mich der bewusst gewordene und sehr stark emotional begründete Einstieg in mein Kapitel „Russland“.

Lew Kopelew sandte mir einen langen Brief und sein Sekretär schrieb dann unter Kopelews freundliche Grüße die für mich schmeichelhafte Bemerkung:

Darf ich Ihnen als Mitarbeiter von Herrn Kopelew noch als PS. hinzufügen, dass mir Ihr Brief unter den Fluten an Zusendungen am besten gefallen hat? Aus Ihren Schilderungen spricht wirkliches Verständnis für die angeschnittenen Probleme, Sie verstehen es darüber hinaus, anschaulich und packend zu schreiben.

Karl- Heinz Korn

Brief von Lew Kopelew

Längst vergessen geglaubte Segmente meiner vor 30 Jahren einmal recht guten russischen Sprachkenntnisse purzelten mir während meiner Ostseeumrundung 2006 bereitwillig über die Lippen, grammatische Grundregeln brachen durch die Kruste des Vergessens, das eine oder andere Liedchen konnte ich plötzlich wieder in seiner Anfangsstrophe singen.

Ich hatte in den 70er Jahren einige Russisch-Aktivitäten hinter mich gebracht. Dazu zählten einige Semester als Dozent in einer Volkshochschule in West-Berlin, eine zweiwöchige Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, regelmäßige Kontakte mit einer alten emigrierten Literatin aus St. Petersburg und sogar ein Skikurs auf Russisch in Österreich. Danach vergaß ich vieles wieder. Nach dem Umbruch unter Michael Gorbatschow Anfang der 90er Jahre sammelte ich unter meinen Kollegen eine beachtliche Menge gut erhaltener Textilien, um diese mittels der vom Bezirk Neukölln organisierten Hilfslieferungen einem Leningrader Veteranenklub zukommen zu lassen. Daraus entwickelte sich ein kurzer, intensiver Briefwechsel. In der damals gerade wieder von Leningrad in Sankt Petersburg zurück benannten ehemaligen Hauptstadt des Zarenreiches besuchte ich sogar einige der Brieffreunde.

Im Herbst 2006 geriet mir in einer Kasachstan-Beilage des Tagesspiegel der verlockende Artikel Dagmar Schreibers über die Schönheiten dieses Landes in die Hände. Ich setzte mich mit ihr in Verbindung. Sie betreibt in Berlin ein kleines Ein-Personen-Reisebüro für individuelle Kasachstan-Reisen. Diese energiegeladene, naturbegeisterte, perfekt russisch sprechende Frau stellte mir ihre Reiseangebote vor. Ich entschied mich für einen dreiwöchigen Aufenthalt bei einer russischen Familie, die in einem kasachischen Dorf im Tien-Schan-Gebirge lebt. In herrlicher Landschaft nahe dem Nationalpark verbrachte ich dort im Juli eine schöne Zeit mit Wanderungen und einer einwöchigen Packpferd-Tour. Gesprochen wurde nur Russisch. Mir gefiel es ausgezeichnet bei diesen gastfreundlichen Leuten - angefangen von der schlichten Unterkunft in einem von Aprikosenbäumen beschatteten Häuschen, über das gute und typisch russische Essen, bis zu ihrem großen Herzen für die in Kasachstan nicht sonderlich verwöhnten Hunde. Sergej, Hausherr und Bergführer, sang hin und wieder am Feuer gekonnt zur Gitarre. Ein schönes russisches Liebeslied brachte er mir beim Wandern bei:

Ich bin eifersüchtig auf dich, des Nachts, bei Regen und bei Wind…

Abends machte er mich am CD-Player mit beliebten russischen Gesangsinterpreten bekannt.

Meine Sprachkenntnisse hatte ich schon Monate vor dem Kasachstan-Aufenthalt mit Hilfe einer charmanten Deutsch-Russin aus Kasachstan aufgefrischt. Tatjana durchstreifte mit mir plaudernd alle Bereiche des Lebens. Wir hörten russische Chansons, sangen Lieder, lasen Literatur, und ich lernte einiges davon auswendig. Tatjana gab etwas von ihrer „russischen Seele“ an mich weiter. So ist es nicht verwunderlich, dass sich bald der Wunsch auf eine Russlandreise einstellte. Diszipliniert beschäftigte ich mich täglich zwischen Aufwachen und Aufstehen, mit der Sprache, begann die Reiseroute zu planen, beantragte die Visa für Weißrussland, Russland und Kasachstan und schaffte mir das Fahrrad meiner Vorstellungen und Wünsche an. Nebenbei unterzog ich mich einer unangenehmen, aber nötigen, langwierigen Zahnrestaurierung und prüfte meine Fitness beim „New-York-Marathon“.

Schließlich läutete sich ein sonniger April ein, ich wurde unruhig. Im Kämmerlein stapelten sich übersichtlich alle Reiseutensilien für den „langen Marsch“ nach Sibirien. Vom Zelt bis zur „eisernen Ration“, vom Pfefferspray bis zum Kochtopf, vom Aquarellkasten bis zur Mundharmonika, vom kleinsten Imbusschlüssel bis zum scharfen Beil. Nun war auch das Dreimonatsvisum für Russland da. Ein vorerst letzter Zahnarztbesuch, der mich mit einer Behelfskonstruktion entließ. Endlich konnte es losgehen!

Inmitten meiner Reiseutensilien

Happy Birthday

Donnerstag, der 1. Mai 2008. Wozu einen Wecker stellen, wenn ich sowieso immer schneller bin! Um 6 Uhr hopse ich putzmunter aus dem Bett. Mir ist ein wenig wie vor einer Prüfung, obwohl ich dabei nicht an etwas Unangenehmes denke. Da heute mein Geburtstag ist, lege ich schnell „meine“ Schallplatte auf, welche die meisten meiner Geburtstage einstimmte: „Tamm - tam tam tamm -tam tam tamm…“, so beginnt mit frischen, strahlenden Klavierakkorden Edward Griegs Klavierkonzert e-moll. Mal dramatisch, mal episch ist es für mich die schönste Klangmalerei vor Reisebeginn. Mit dampfendem Kaffeepott durchstreife ich noch einmal die Wohnung: Ja, alles in Ordnung! Ein allerliebster Geburtstagsanruf wärmt mich, dann lasse ich die Tür ins Schloss fallen. Das Rad steht fix und fertig beladen in der Garage. Im Treppenhaus empfängt mich Frau Nachbarins Akkordeon mit „Happy birthday…“ und gleich darauf folgt schwungvoll die russische „Katjuscha“. Unser Gesang dröhnt durchs Haus, und mit ein paar Tanzschritten treppab bin ich im Garten. Dort wartet mein Laufkumpel Bernd mit einer Tüte voller Kraftspender und hängt mir einen Schutzgeist an den Lenker. Nun fahre ich mit zwei Schutzengeln. Na, dann muss ja alles gut gehen!

An der Straßenecke warten meine treuen, besorgt schauenden Lauffreunde Gitti und Horst. Sie geben mir Geleit bis auf den S-Bahnsteig Lichtenrade, einschließlich Winkewinke. Als wären es die eigenen Eltern! Das rührt mich. Auch „Cowboy“ Günter hat sich eingefunden, um seinem kleinen Tim zu erzählen, dass „der schnelle Mann“ eine lange Reise antritt.

Der S-Bahnzug nach Erkner, knapp östlich von Berlin gelegen, ist gut gefüllt. Zumeist junge Männer, denn heute ist „Vatertag“. Es scheint, als lägen die wahren Väter noch in den Kojen, während die Söhne sich mit einem Pülleken ins Grüne aufgemacht haben. Aber dem jungen Volk fehlen der Berliner Witz und die Herzlichkeit der älteren Semester. Außerdem haben sie Pech, denn draußen gießt es. Mir ist das recht, so entgehe ich vielleicht Begegnungen mit unberechenbaren Saufköppen.

Nach einer Piselregenfahrt durch die typisch märkische Kiefer- und Seenlandschaft komme ich am Spätnachmittag ins Städtchen Seelow unweit der Oder. Seelow ging in die Annalen des 2. Weltkrieges ein. Über die größte jemals auf deutschem Boden geschlagene Schlacht im April 1945 wissen die Alten hier noch viel zu berichten. Die Rote Armee musste die natürlichen Hindernisse der Oder und der Seelower Höhen noch überwinden, dann lag der Weg nach Berlin frei. Auf deutscher Seite kämpfte das letzte Aufgebot einer zusammen gewürfelten Truppe schon längst nicht mehr für „den Führer“. Es war nur noch eine verbissene, aussichtslose Abwehr, die viele junge Männer auf beiden Seiten noch kurz vor Kriegsende das Leben kostete.

Ein krummer Alter sichelt am Ortseingang etwas Grün für sein Kleinvieh. „Guten Tag, können Sie mir ein Hotel in diesem Ort nennen?“ Er richtet sich auf, kratzt sich den Kopf und sagt in einem Deutsch, das in wenigen Jahren keiner mehr sprechen wird: „Na, dann fahr’n Se mal zum Märkischen Hof“. Es ist die Sprache meines Großvaters, unverfälschtes Westpreußisch, sozusagen „Weichseldeutsch“. Dazu diese Freundlichkeit! Das sind so die kleinen Schmankerln am Wegesrand…

In der Gaststube des gemütlichen Hotels bedient mich, wie als Vorgeschmack auf meine weitere Reise, eine junge Frau aus Weißrusslands Hauptstadt Minsk. Sie ist hier mit einem Deutschen verheiratet. Das Fahrrad kommt in den Schuppen. An diesem milden Abend ruft mir sogar der Kuckuck noch einen Gruß zu, einen Gruß, den ich mir bisher zuverlässig zu jedem Geburtstag bei meinem Morgenlauf zum Mahlower See abgeholt habe. Dieses Rendezvous mit meinem ersten Kuckuck des neuen Jahres klappt eigentlich immer und diesmal sogar hier in Seelow.

Polen

Durch Polens Wochenende

Sechs Tage habe ich für die West-Ost-Durchquerung unseres östlichen Nachbarlandes einkalkuliert, es könnten so um die 750 Kilometer sein. Vor zwei Jahren habe ich diese Strecke durch Pommern und Ostpreußen zurückgelegt. Diesmal bleibe ich etwas südlicher.

Die Einreise über Küstrin ist für mich verbunden mit einer Überraschung: Hinter der Oderbrücke wartet keine Abfertigungsbude mit Zollbeamten auf mich, ich muss nicht absteigen, um den Pass vorzuzeigen. Die Einigung Europas macht es möglich, auch hier ist die sichtbare Grenze inzwischen gefallen. Nein, das darf man nach all den Jahrzehnten, in denen die Grenzen von den kommunistischen Diktaturen zum Heiligtum hochstilisiert wurden, nicht als selbstverständlich nehmen. Wie viele Menschen hat deren „todeswürdige“ Überwindung die Freiheit oder das Leben gekostet! Wie sehr wurde jeder Einoder Ausreisende, der sich nicht an die strengen Auflagen dieser abgeschotteten Länder hielt, kriminalisiert! Nie werde ich den arroganten und selbstherrlichen Ton der „Grenzorgane“ vergessen, diesen kleinkarierten Befehlsempfängern. Also: nicht immer nur meckern über unsere demokratisch gewählten Politiker! Europa kommt voran!

So fahre ich denn fröhlich parallel zur Warthe am Warthe-Nationalpark entlang, zur Zeit ein ausgedehntes Überschwemmungsgebiet, ein Paradies für Wasservögel. Da die Sonne scheint, der Autoverkehr gering ist und die vorüber ziehenden Landschaftsbilder so wohl tut, singe ich frei und laut mein Kasachstan-Lied heraus: …

...milaja, dobraja, njeshnaja….

...du Liebe, du Gute, du Zärtliche…

und immer wieder auch den Song

Es kommt so oder so,

einmal traurig, einmal froh,

es heißt ja oder nein,

es kann sein und doch nicht sein…

Nach 90 Kilometer in Feiertagsstimmung mache ich denn auch locker und ohne Leistungsdruck in Skwierzyna (Schwerin) in einem kleinen Schloßhotel neben der wild strömenden Warthe Schluss für heute. Der Körper darf sich stärken und ruhen.

Ein sonniger Samstag schenkt mir leere Landstraßen in einer waldreichen und leicht welligen Landschaft. Zu dieser heiteren Stimmung passen heute die vielen festlich gewandeten Menschen in den Kirchdörfern. Vor Kirchenportalen, die mit Birkengrün, Girlanden und den polnischen Fahnen geschmückt sind, ist Fototermin für schneeweiße kleine Engelchen, für piekfeine Knäbelein und deren Familien. Kommunion ist ein wichtiges Ereignis im katholischen Polen. Wohlgefällig beobachte ich die mit dunklen Anzügen, mit Krawatten und weißen Hemden gekleideten bäuerlichen Gestalten, die sich nach meinem Gefühl in ihrer Verkleidung etwas ungelenk zu bewegen scheinen! Na, und erst das weibliche Geschlecht! Perfekt! Man scheute keine Kosten, denn hier gilt noch das Wort „Kleider machen Leute“. Ich kann beobachten, wie sich die heute so fein und proper gewandeten Menschen nach dem Kirchgang wieder in ihre oft sehr ärmlichen Häuschen begeben. Es soll eben auch ein Tag des Stolzes sein.

Mir fallen insgesamt die liebevoll gepflegten Blumen- und Gemüsegärten auf, die vorbildlich bestellten Felder, die Sauberkeit in den Städtchen und Dörfern. So drängt sich mir förmlich der Satz auf: Polen ist das Preußen des Ostens. Bemerkenswert scheint mir das in diesen Landstrichen noch übliche Grüßen gegenüber Fremden wie mir. So oft grüßen mich Erwachsene und Kinder mit ihrem freundlichen dobre, und wenn ich in einen Laden trete und auf polnisch „guten Tag“, „danke“, „sehr gut“, „auf Wiedersehen“ sage, dann verwandeln sich die gleichgültigen oder brummigen Mienen der Verkäuferinnen und Käufer umgehend in Anteil nehmende, freundliche Gesichter.

Familienwurzeln

Der Sonntag ist ja eigentlich der Tag des Radfahrers, denn er kann mit wenig Verkehr auf den Straßen rechnen. Das trifft schon um sieben Uhr für meine Landstraße nicht mehr zu. Es brummt und knattert um mich her ganz gewaltig. Hat das mit der Nähe der großen Stadt Bydgoszd (Bromberg) zu tun?