Zu Fuß durch Polen - Reinhard Rosenke - E-Book

Zu Fuß durch Polen E-Book

Reinhard Rosenke

0,0

Beschreibung

Der 79-jährige Autor wanderte in 7 Wochen (2019) gute 1000 km durch Nord-Polen: von Oderberg nördlich von Berlin bis Suwalki an der litauischen Grenze. Sein Gepäck zieht er auf einer Art Sulki hinter sich her. Er hat viele freundliche Begegnungen, schläft meist im Zelt, erlebt Hitze, Kälte, Regen, Starkgewitter. Das alles erzählt er in Wort und Bild.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 97

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

„Alt“ ist relativ

Vor dem Start

An der Oder

Witamy w Polsce – Willkommen in Polen

Märchennacht

Gehen im 4/4-Takt

Für ein Bett lässt man Federn

Rätselhaftes Geldgeschenk

Jeder Tag hat einen Morgen

Diese Freundlichkeit

Schutzlos ohne Wald

Was mich bewegt

Laufen mit Führung

Frei wie ein Vogel

Abendbrot mit Lunchpaket

Eis im Zelt

Junge Frauen, alte Männer

Die Hälfte liegt hinter mir

Die Wisla, der polnische Schicksalsfluss

Dauerregen

Kein Glück in Allenstein

Emilia, Ingrid, Gerhard, Barbara und Andreas

Ostpreußens Tragödie

Am Sonntag nach Sensburg

Unwetter

Mikolajki

Hoher Himmel, weites Land

Schüsse in der Nacht

Lyck, „Hauptstadt des Masurenlandes“

Wolfsfährte und Lagerfeuer

Kurzfilm meines Lebens

Mit Pfingstrose nach Augustow

Der Schwung ist raus

Suwałki

„Alt“ ist relativ

Es ist 0 Uhr 30, Zeit, das eigene Nest aufzusuchen. Das Auto brummt vor der Toreinfahrt, schnell das Tor aufschließen. Doch - wo ist der Schlüssel? Da hilft kein Abtasten aller Taschen, das Schlüsselbund liegt auf meinem Korridortischchen. Gott sei Dank habe ich für solchen Fall ein zweites Bund in der Garage deponiert. Ich muss bloß den Zaun überwinden, dann ist die Sache geritzt.

Über Zäune steigen? War nie ein besonderes Problem für mich. Dieser Zaun ist ein genormter, engmaschiger Senatszaun, der gleiche, wie ihn auch die Nachbarschaft hat. Für die Füße ist das Gitter zu eng. Also dann: hochspringen, aufstützen und hinüber. So, wie man sich im Schwimmbad am Beckenrand hochstemmt. Versuch um Versuch misslingt. Ich springe nicht hoch genug, um mich aus den angewinkelten Armen in den Stütz zu drücken. Auch reicht die Kraft meiner Arme nicht aus. Ich muss passen. Eine kuriose Situation. Was tun? Jetzt fällt mir ein, dass ich im Auto einen leeren Benzinkanister habe. Den stelle ich als Stufe an das Tor und bin im Nu auf der anderen Seite.

Im Bett komme ich ins Grübeln. Wie eine Niederlage erscheint mir das soeben Erlebte. Es ist allerdings nicht die erste der letzten Jahre. Denn schnell schiebt man unwichtige, kuriose Fehlleistungen auf das Alter. Andererseits: Wann beginnt denn wohl „das Alter“, auf das man seine Fehler schieben kann? Jeder Abschnitt des Lebens führt zu einem spezifischen Verhalten. Mit meinen Altersgenossen lässt es sich gut scherzen über vermeintliche kollektive Alterserscheinungen. Das geht (im Bewusstsein eigener Stärke) bis zu Witzchen und Anspielungen auf „typisch“ dementes Verhalten, ganz zu schweigen von „Alzheimer“. Aber beweise ich nicht durch meine Schilderung kleiner Schwächen eine Distanziertheit, die mich über jeden Verdacht enthebt?

Ja, so kompliziert können theoretische Spielereien über den aktuellen Lebensabschnitt sein. Ich sollte alles gelassener hinnehmen. Bin doch im Mai immerhin 79 geworden. Also: Vergiss die Kletter„niederlage“! Denk an den langen Weg, von dem du vor wenigen Tagen zurückgekommen bist! Aus dem Dunstkreis Berlins bist du vor sechs Wochen aufgebrochen (es war der 21. April) und bist quer durch den Nordosten Polens gelaufen, bis an die litauische Grenze. Alleine, ganz auf dich gestellt. 1100 Kilometer stecken noch in deinen Beinen. Du hast Ausdauer, Willen und Härte bewiesen. Kein Wehwehchen hatte dich behindert. Den Gesundheitstest hast du bestanden. Also - sei nicht so streng mit dir! Sei zufrieden! Zufrieden finde ich dann auch schnell in den Schlaf.

Vor dem Start

Das Abenteuer einer großen Reise beginnt immer mit einer Idee. Das war bei mir im Jahr 2018 die Lust auf eine große Wandertour, wie ich einige schon hinter mir hatte. Wie wär's mit dem „Appalachian-Trail“, über den ich unlängst im Fernsehen einen Film gesehen hatte? Es ist ein Fernwanderweg in den nordamerikanischen Appalachen. Als ich aber durch einen noch jüngeren Film erfuhr, dass sich auf der Anfangsstrecke mit der Menge von Wanderern auch Müll und andere Hinterlassenschaften häuften, verlor ich die Lust. Mir kam unser Nachbarland Polen in den Sinn, das ich seit 2006 dreimal mit dem Fahrrad durchfahren hatte und in dessen gebirgigem Süden ich auch schon geklettert war. Alles sprach für Polen.

Ja, in Polen wollte ich laufen! Ein polnischer Kartenatlas leitete bei der Vorbereitung meinen Zeigefinger in den Norden. Nicht an die Küste. Einige -zig Kilometer südlich, wo man nur selten auf größere Städte trifft. Autoverkehr ist des Wanderers verhasster Feind und in der Nähe von Städten besonders unerträglich. Die Route bleibt durchweg in den früheren preußischen Provinzen Neumark, Posen, Westpreußen und Ostpreußen. Meine Nase sollte tagtäglich nach Nordosten gerichtet sein. Ich zählte auch die Kilometer, um eine Vorstellung von der Länge meines Weges zu bekommen. Es ging nicht um den kürzesten Weg, sondern um den vermutlich ruhigsten und landschaftlich schönsten. Dabei kam ich auf 880 Kilometer. Kaum zu fassen!

Wie und wo wollte ich eigentlich meine Nächte verbringen? Mit einem Bett war nicht überall zu rechnen. Aus dem Keller holte ich den großen Rucksack, das Einmann-Zelt, den Schlafsack und die Luftmatratze von „Globetrotter“. Auch der rote Seesack von „Ortlep“ musste her. Ein leicht muffiger Geruch breitete sich in meinem Zimmer aus. Ich bin nicht unerfahren beim Packen und bei der Auswahl der nötigsten Dinge. Zum Packesel bin ich nicht geschaffen, und einen echten Esel besitze ich leider nicht, dem ich die Bürde aufladen könnte. Wie konnte ich mir trotzdem meinen Wunsch erfüllen? Zusammen mit Evelyn suchte ich nach einer Alternative.

Über das Internet wurden wir fündig: Ben Größle aus dem Schwarzwaldort Oppenau hatte eine „Lastenkarre“ konstruiert, die es wert war, vor Ort in Augenschein genommen zu werden. So fuhren wir im Herbst in den Schwarzwald, wo ich mir das Gefährt ansehen und ausprobieren konnte. Schnell war ich von diesem „Wander-Sulky“ überzeugt: ein leichtes Tragegestell auf zwei Rädern, ein breiter Hüftgurt und zwei Teleskop-Deichseln bilden die Hauptbestandteile. Alles in bester Qualität. Mein neuer Reisegefährte wurde ins Auto gepackt und fand in Berlin sein Zuhause.

An einem frühen Herbstmorgen spannte ich mich vor den mit 25 kg beladenen Sulky und lief die 45 Kilometer bis zum „Spargelstädtchen“ Beelitz. Am nächsten Tag ging’s wieder zurück. Zwischen mir und meinem Lastenträger bestand von Anfang an die größte Harmonie, und der Test wurde glänzend bestanden. Ab April wuchs auf dem Tisch ein kleiner Berg notwendiger Dinge heran. Das „Wohnen“ sollte der große Rucksack übernehmen. Für das andere war der rote Seesack zuständig. Ein kleiner, praktischer Rucksack für schnellen Zugriff beim Laufen war unvermeidlich. Längst schon stand der Starttag fest : Ostermontag, der 22. April 2019.

An der Oder

Als letzten Übernachtungsort auf deutschem Boden habe ich Oderberg ausgesucht. In Schiffsmühle, direkt vor dem Wohnhaus von Theodor Fontanes Vater Louis Henry (†1867), der dort als alter Mann seine letzten Jahre verbrachte, beenden liebe Worte und Winkewinke den letzten Kontakt zwischen Evelyn und mir. Ich habe drei Stunden zu laufen, und die Sonne knallt mir aufs Dach. Was ich nicht ahnte: mein für „Oderberg“ gebuchtes Hotel liegt vier Kilometer außerhalb des Ortes, zudem in der Gegenrichtung zu meiner morgigen Strecke. Meine braven Laufbeine hätten das ohne zu murren bewältigt, aber der Kopf ist sauer, hält sich für angeführt.

Zwei Minuten vor dem Schließungstermin um 15 Uhr dränge ich in eine große, zentral gelegene Pension. Ich bekomme eine magnetische Türöffnungskarte und einen Schlüssel für den Ausgang. Die Küche ist geschlossen. Das Gepäck stelle ich in eine Ecke und mache mich sogleich auf zum nächsten „Imbiss-Restaurant“. Es gibt nur Leberkäs - arg angebrannt, mit ausgekochtem, fadem Sauerkraut. Ein kaltes „Pils“ spült die Enttäuschung hinunter.

Zurück im Hotel freue ich mich auf mein Zimmer. Pustekuchen, die eingeschobene Karte erzeugt weder ein Signal, noch öffnet sie die Tür. Kein Mensch weit und breit, den ich fragen kann. Das Personal hat sich längst in die österliche Freizeit aus dem Staube gemacht. An der Eingangstür entdecke ich eine Telefonnummer. Sie bleibt unbeantwortet. Ich kann nur warten und immer wieder wählen, mehr als eine Stunde lang. Nur so nebenbei frage ich einen alten, vorbeiradelnden Mann mit Hund, ob er weiß, wo jemand von diesem Hotel wohne. „Ja, kenn ick, sach Bescheid.“ Das ist schon mal ein Glück.

Endlich braust ein Auto herbei. Die Chefin persönlich steigt aus, fragt sogleich nach der Zimmernummer. Ärgerlich konstatiert sie, dass man mir ausgerechnet das einzige Zimmer mit diesem Defekt gegeben hatte. Somit beziehe ich das Nachbarzimmer, bin sowieso der einzige Hotelgast. Da kann ich mich beim Frühstück schon an das Alleinsein gewöhnen. Der Frühstückstisch weckt sofort die Jäger- und Sammlermentalität in mir. Ein Teil von Brot, Käse, Wurst und Obst wandert in den Rucksack: Vorratswirtschaft.

Die Landkarte rät mir zu einem schönen Weg entlang der Alten Oder nach Hohenwutzen. Von dort führt eine der wenigen Oderbrücken nach Polen. Friedrich der Große hatte hier vor 250 Jahren der Oder ein neues Bett graben lassen und somit auf friedliche Weise viel Land gewonnen. Wie so viele große Flüsse ruft auch die Oder dem Geschichtsinteressierten das Wort „Schicksalsfluss“ ins Gedächtnis. Hier fand im April 1945 mit der Überquerung der Oder und Erstürmung der Seelower Höhen durch die Rote Armee die größte jemals auf deutschem Territorium stattgefundene Schlacht statt. Die hohen Sanddünen bedecken das ausgelöschte Leben von mehr als 45.000 jungen Deutschen und Russen. Danach hatte die Rote Armee bis zur Reichshauptstadt kein großes natürliches Hindernis mehr zu überwinden und hat dem Naziregime schnell ein Ende bereitet.

Witamy w Polsce – Willkommen in Polen

Ich lehne mich über das Brückengelände und freue mich über die Lebendigkeit des Wassers, welches zur Zeit aus den Bergen, den östlichen Sudeten Tschechiens, guten Nachschub zu erhalten scheint. Ich könnte hundert schnelle Fotos von meinem Spiegelbild im Bereich des Brückenpfeilers unter mir machen, sie sähen alle gleich aus. Und doch gäben sie nie dasselbe Bild von mir wider, denn „alles fließt“...

Die größte Freude empfinde ich stets von neuem beim Überschreiten einer jetzt nahezu unsichtbaren Grenze eines Landes der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Der friedliche Übergang in den Bund der westlichen Demokratien wird wie die Wiederherstellung der deutschen Einheit der Höhepunkt meines Lebens bleiben. Immer ergreift mich bei Grenzübergängen in Osteuropa und an der früheren innerdeutschen Grenze eine tiefe Genugtuung.

Oderberg

Brücke über die Oder

Mein Gepäckwagen

Badeanstalt in Moryn/Mohrin: Erstes Nachtlager

Chaussee in der Neumark

Der Mann mit dem Wägelchen

Pause

Feierabend im Wald

Den sogenannten „Polenmarkt“, der wegen des günstigen Umtauschkurses vorwiegend von Deutschen besucht wird, lasse ich links liegen. Mit der Sloty-Währung bin ich gut versorgt. Die Scheinchen stecken in zwei Gürteln und in zwei Brieftaschen. Hundert Schritte entfernt vom Getriebe des Polenmarktes, mit dem Asphalt der Chaussee 126 unter den Füßen, kann ich mich ungestört auf meine Situation besinnen. Was mich durch Monate, Wochen und Tage beschäftigt hatte, ist Wirklichkeit geworden. Ich muss mit dem, was ich bin und bei mir habe, auf lange Zeit zurechtkommen. Jeder Schritt nach Osten entfernt mich von meinem Wohnort im gleichen Maße, wie er mich meinem Ziel Suwałki, der Stadt nahe der litauischen Grenze, näherbringt.

Lange, bevor zu späterer Stunde Mühe, Plackerei und Nachdenklichkeit von meinem Fühlen und Denken Besitz ergreifen, packt mich auf den ersten Kilometern entlang der Oder eine unbeschreibliche Lebenslust. Wie ein Vagabund, frei und nur mir selbst verantwortlich, treibe ich durchs Land! Sonnenschein bringt das Grün der Bäume zum Leuchten, gibt dem Strom sein dunkles Blau, schärft die Konturen der in der Ferne ausgebreiteten, von Gras und Gesträuch hellgrün gefärbten Oder-Dünen. Von Schiffsverkehr keine Spur, obwohl doch das oberschlesische Industriegebiet um Breslau/ Wroclaw, Oppeln/Opole und Beuthen dank der Oder einen Zugang zum Meer hat. Aber die Zeiten haben sich geändert. Nur selten tuckert ein Lastkahn nach Süden oder Norden. Der Strom hat Glück, wird vom Menschen nicht übermäßig beansprucht.