Bestechung - John Grisham - E-Book
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Bestechung E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Richter sprechen Recht. Doch was, wenn sie es beugen? Ein hochbrisanter Roman um Gier, Habsucht und Mord

Wir erwarten von unseren Richtern, dass sie ehrlich, neutral und weise handeln. Wir vertrauen darauf, dass sie für faire Prozesse sorgen, Verbrecher bestrafen und eine geordnete Gerichtsbarkeit garantieren. Doch was passiert, wenn sich ein Richter bestechen lässt? Lacy Stoltz, Anwältin bei der Rechtsaufsichtsbehörde in Florida, wird mit einem Fall richterlichen Fehlverhaltens konfrontiert, der jede Vorstellungskraft übersteigt. Eine Richterin soll über viele Jahre hinweg Bestechungsgelder in schier unglaublicher Höhe angenommen haben. Lacy Stoltz will dem ein Ende setzen und nimmt die Ermittlungen auf. Eins wird schnell klar: Dieser Fall ist hochgefährlich. Doch Lacy Stoltz ahnt nicht, dass er auch tödlich enden könnte.

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Das Buch

Wir erwarten von unseren Richtern, dass sie ehrlich und weise handeln. Ihre Integrität und Neutralität sind das Fundament, auf dem unser Rechtssystem ruht. Wir vertrauen darauf, dass sie für faire Prozesse sorgen, Verbrecher bestrafen und eine geordnete Gerichtsbarkeit garantieren. Doch was passiert, wenn sich ein Richter bestechen lässt? Lacy Stoltz, Anwältin bei der Rechtsaufsichtsbehörde in Florida, wird mit einem Fall richterlichen Fehlverhaltens konfrontiert, der jede Vorstellungskraft übersteigt. Ein Richter soll über viele Jahre hinweg Bestechungsgelder in schier unglaublicher Höhe angenommen haben. Lacy Stoltz will dem ein Ende setzen und nimmt die Ermittlungen auf. Eins wird schnell klar: Dieser Fall ist hochgefährlich. Doch Lacy Stoltz ahnt nicht, dass er auch tödlich enden könnte.

Der Autor

John Grisham hat 29 Romane, ein Sachbuch, einen Erzählband und sechs Jugendbücher veröffentlicht. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN GRISHAM

BESTECHUNG

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter und Imke Walsh-Araya

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Whistler bei Doubleday, New York

Copyright © 2016 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2017 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock.com/David Kay

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-17428-6 V007

www.heyne.de

1

Im Autoradio lief Softjazz, ein Kompromiss nach langer Debatte. Lacy, die Eigentümerin des Toyota Prius und mithin auch des Radios, hasste Rap in etwa so sehr wie Hugo, ihr Beifahrer, Countrymusic. Sport, Hintergrundinfos, Oldies, Comedy und BBC waren nicht infrage gekommen, und Bluegrass, CNN, Oper und hundert andere Spartensender hatten sie erst gar nicht ausprobiert. Schließlich hatte Lacy frustriert, Hugo ermüdet aufgegeben, und so wurde eben Softjazz eingestellt. Leise natürlich, damit Hugo nicht in seinem ausgiebigen Schlaf gestört wurde. Lacy machte sich ohnehin nichts aus Softjazz. Dank Kompromissen wie diesem funktionierte ihre Zusammenarbeit seit Jahren bestens. Er schlief, sie fuhr, und beide waren zufrieden.

Vor der großen Rezession hatte das BJC – das Board on Judicial Conduct, für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern in Florida zuständig – noch eine Flotte von staatseigenen Hondas zur Verfügung gehabt, alles Viertürer, weiß, kaum Kilometer auf dem Tacho, die jedoch im Rahmen von Budgetkürzungen abgeschafft worden waren. Inzwischen mussten Lacy, Hugo und die vielen anderen Behördenmitarbeiter Floridas im Dienst ihre Privatautos fahren, wofür sie eine Aufwandsentschädigung von fünfzig Cent pro Kilometer bekamen. Hugo, der vier Kinder hatte und unter saftigen Immobilienraten ächzte, fuhr einen alten Ford Bronco, der kaum den Weg zum Büro schaffte, geschweige denn eine längere Reise. Und so schlief er.

Lacy genoss die Ruhe. Sie wickelte die meisten ihrer Fälle allein ab, ebenso wie ihre Kollegen. Tiefere Einschnitte hatten ihre Abteilung auf sieben Mitarbeiter zusammenschrumpfen lassen. Sieben – in einem Bundesstaat mit zwanzig Millionen Einwohnern und tausend Richtern an sechshundert Gerichten, die eine halbe Million Fälle jährlich bearbeiteten. Lacy war zutiefst dankbar dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Juristen ehrliche, fleißige Leute waren, die sich der Gerechtigkeit verschrieben hatten. Sonst hätte sie schon längst gekündigt. Allein die paar faulen Äpfel hielten sie fünfzig Stunden die Woche auf Trab.

Sie betätigte behutsam den Blinkerhebel und bremste in der Ausfahrt ab. Als der Wagen hielt, richtete sich Hugo mit einem Ruck auf, als wäre er schlagartig hellwach und zu allem bereit. »Wo sind wir?«

»Gleich da. Noch zwanzig Minuten. Du kannst dich auf die andere Seite drehen und das Fenster anschnarchen.«

»Tut mir leid. Ich habe geschnarcht?«

»Du schnarchst immer, zumindest sagt das deine Frau.«

»Also, zu meiner Verteidigung, heute Morgen um drei bin ich mit ihrem neuesten Baby auf und ab gewandert. Ich glaube, es ist ein Mädchen. Wie heißt sie noch?«

»Wer, deine Frau oder deine Tochter?«

»Haha.«

Die reizende und ständig schwangere Verna machte keinen Hehl daraus, worum es in dieser Ehe ging. Es war ihr Job, Hugos Ego zu pflegen, und das war keine leichte Aufgabe. In einem früheren Leben war Hugo ein Footballstar gewesen, schon in der Highschool, dann einer der Jahrgangsbesten in ganz Florida und der erste Studienanfänger, der es jemals in eine Startaufstellung geschafft hatte. Er war ein ebenso brutaler wie brillanter Tailback gewesen, zumindest für dreieinhalb Spiele, bis er mit einem gequetschten Wirbel im oberen Rückgrat vom Spielfeld getragen wurde. Er schwor, das Comeback zu schaffen, doch seine Mutter sagte Nein. Nachdem er das College mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, studierte er Jura. Die Tage seines Ruhms waren inzwischen längst vorbei, doch er würde immer den Stolz mit sich herumtragen, einmal zum Team der Besten gehört zu haben. Er konnte nicht anders.

»Noch zwanzig Minuten?«, brummte er.

»Ungefähr. Wenn du möchtest, darfst du auch bei laufendem Motor im Auto sitzen bleiben und den ganzen Tag weiterschlafen.«

Er drehte sich auf die rechte Seite und schloss die Augen. »Ich will einen neuen Partner.«

»Das wäre natürlich eine Lösung. Das Problem ist nur, dass dich sonst keiner will.«

»Einen mit einem größeren Auto.«

»Der hier braucht nur fünf Liter auf hundert Kilometer.«

Er brummte erneut, wurde wieder still. Dann fing er an zu zucken und zu zappeln. Vor sich hin murmelnd setzte er sich auf und rieb sich die Augen. »Was hören wir da?«

»Darüber haben wir vor langer Zeit gesprochen, als wir in Tallahassee losgefahren sind. Kurz bevor du dich in den Winterschlaf begeben hast.«

»Soweit ich mich entsinne, habe ich angeboten zu fahren.«

»Mit einem offenen Auge? Tolles Angebot. Wie geht’s Pippin?«

»Weint viel. Normalerweise, und ich kenne mich da wirklich gut aus, hat ein Neugeborenes einen Grund, wenn es weint. Hunger, Durst, Windel voll, Mami soll kommen – solche Sachen. Pippin nicht. Sie quäkt einfach so herum wie verrückt. Du weißt nicht, was du verpasst.«

»Du erinnerst dich, dass ich auch schon zweimal mit Pippin auf und ab gewandert bin.«

»Ja, und Gott segne dich dafür. Kannst du heute Abend rüberkommen?«

»Jederzeit. Habt ihr eigentlich je über Verhütung nachgedacht, so nach dem vierten Kind?«

»Wir fangen gerade an, uns mit dem Thema zu beschäftigen. Apropos Sex, wie sieht’s da zurzeit bei dir aus?«

»Sorry, anderes Thema.« Lacy war sechsunddreißig, Single und attraktiv, und im Büro wurde ihr Sexualleben unter vorgehaltener Hand beständig diskutiert.

Sie fuhren Richtung Osten auf den Atlantik zu. St. Augustine war dreizehn Kilometer entfernt. Lacy stellte das Radio ab, und Hugo fragte: »Warst du schon mal hier?«

»Ja, vor ein paar Jahren, mit meinem Freund. Wir haben eine Woche in der Ferienwohnung einer Freundin am Strand verbracht.«

»Um Sex zu haben?«

»Ist das dein Ernst? Denkst du eigentlich immer nur unter der Gürtellinie?«

»Tja, wenn ich so überlege, muss ich gestehen: ja. Außerdem musst du bedenken, dass Verna und ich schon seit mindestens drei Monaten keine normale Beziehung mehr führen. Ich bin immer noch der Meinung, zumindest insgeheim, dass sie mir drei Wochen zu früh den Hahn abgedreht hat, aber das ist jetzt müßig. Schließlich kann ich es nicht mehr ändern. Bei mir hat sich also einiges aufgestaut. Keine Ahnung, ob es ihr auch so geht. Drei Krabbelmonster und ein Neugeborenes können in dieser Hinsicht ernsthaften Schaden anrichten.«

»Ich werd’s nie erfahren.«

Er versuchte, sich ein paar Kilometer lang auf die Straße zu konzentrieren, dann wurden seine Lider wieder schwer, und er nickte ein. Lächelnd sah Lacy ihn an. In den neun Jahren, in denen sie für das BJC tätig war, hatten sie ein Dutzend Fälle zusammen bearbeitet. Sie waren ein gutes Team und vertrauten einander. Beide wussten, dass ein Fauxpas von Hugo – bislang hatte es keinen gegeben – sofort an Verna weitergeleitet würde. Lacy arbeitete mit Hugo, und mit Verna ging sie shoppen und tratschen.

St. Augustine galt als die älteste Stadt Amerikas, hier war Kolumbus’ Begleiter Ponce de León an Land gegangen und hatte seine Erkundungen begonnen. Geschichtsträchtig und entsprechend voll mit Touristen, war der Ort ein reizendes Städtchen mit historischen Gebäuden und alten Eichen, von denen dick das Louisianamoos herabhing. Als sie den Stadtrand erreichten, wurde der Verkehr dichter, und Reisebusse hielten. Rechter Hand erhob sich in der Ferne eine alte Kathedrale über die Dächer der Stadt. Lacy erinnerte sich noch gut. Sie hatte St. Augustine in bester Erinnerung behalten, auch wenn die Woche mit dem Freund eine Katastrophe gewesen war.

Eine von vielen.

»Wer ist der geheimnisvolle Whistleblower, den wir hier treffen sollen?«, wollte Hugo wissen. Er rieb sich erneut die Augen, diesmal fest entschlossen, wach zu bleiben.

»Das weiß ich noch nicht. Sein Deckname ist Randy.«

»Aha. Erzähl mir bitte noch mal, warum wir uns heimlich mit einem Mann verabreden, der inkognito bleiben will und noch nicht einmal Beschwerde gegen einen unserer geschätzten Richter erhoben hat.«

»So genau kann ich dir das auch nicht sagen. Ich habe dreimal mit ihm telefoniert, und er klang, nun ja, ziemlich ernst.«

»Toll. Wann hast du zum letzten Mal mit einem Kläger gesprochen, der nicht ziemlich ernst klang?«

»Glaub’s mir einfach, okay? Michael hat uns losgeschickt, deshalb sind wir hier.« Michael Geismar war der Leiter der Behörde und ihr direkter Vorgesetzter.

»Schon gut. Gibt es denn einen Hinweis, worin das mutmaßliche standeswidrige Verhalten bestehen soll?«

»O ja. Randy meinte, es wäre ein Hammer.«

»Wow, so was habe ich ja noch nie gehört.«

Sie bogen in die King Street ein und krochen im zähen Innenstadtverkehr voran. Es war Mitte Juli, Hochsaison im Norden Floridas, und Touristen in Shorts und Sandalen schlenderten scheinbar ziellos die Gehsteige entlang. Lacy parkte in einer Seitenstraße, und sie mischten sich in den Strom der Passanten. In einem Coffeeshop ließen sie eine halbe Stunde verstreichen, in der sie Hochglanzimmobilienbroschüren durchblätterten. Um zwölf Uhr gingen sie, wie vereinbart, ins Luca’s Grill und nahmen sich einen Tisch für drei Personen. Sie bestellten Eistee und warteten. Dreißig Minuten vergingen ohne ein Zeichen von Randy, und so ließen sie sich Sandwichs kommen, mit Pommes frites für Hugo und Obst für Lacy. Während sie so langsam wie möglich aßen, behielten sie die Tür im Auge.

Als Anwälten war ihnen ihre Zeit kostbar, als Ermittler mussten sie sich in Geduld üben können. Oft gerieten die Prioritäten in Konflikt.

Um vierzehn Uhr gaben sie auf und kehrten zum Wagen zurück, in dem es stickig-heiß war wie in einer Sauna. Als Lacy den Zündschlüssel drehte, summte ihr Telefon. Unbekannter Anrufer. Sie griff danach. »Ja?«

»Ich habe Sie aufgefordert, allein zu kommen«, meldete sich eine männliche Stimme. Randy.

»Wer gibt Ihnen das Recht, mir Anordnungen zu erteilen? Wir waren für zwölf Uhr verabredet. Zum Mittagessen.«

Kurzes Schweigen, dann: »Ich bin an der Municipal Marina, am Ende der King Street, drei Blocks entfernt. Sagen Sie Ihrem Freund, er soll verschwinden. Dann können wir reden.«

»Hören Sie, Randy, ich bin keine Polizistin, Mantel und Degen sind nicht mein Ding. Ich bin gern bereit, mich mit Ihnen zu treffen, aber wenn Sie mir dann nicht binnen sechzig Sekunden Ihren richtigen Namen sagen, bin ich weg.«

»Okay.«

Sie beendete den Anruf und murmelte: »Okay.«

Die Municipal Marina, der Jachthafen der Stadt, war voller Sport- und Fischerboote, die beständig ein- und ausliefen. Ein langes Pontonboot entlud gerade eine Schar lärmender Touristen. Ein Restaurant mit Terrasse am Wasser erfreute sich noch regen Zulaufs, auf Ausflugsbooten wurden Decks abgespritzt und Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen.

Lacy ging den mittleren Pier entlang und hielt nach dem Gesicht eines Mannes Ausschau, dem sie nie begegnet war. An einer Benzinpumpe vor ihr stand ein alternder Strandhippie, der ihr unbeholfen zuwinkte und nickte. Sie erwiderte das Nicken und ging auf ihn zu. Er war um die sechzig, und unter seinem Panamahut quoll dichtes graues Haar hervor. Shorts, Sandalen, ein knallbuntes Blumenhemd und die typische bronzefarbene Lederhaut, die von zu viel Sonne herrührte. Seine Augen blieben hinter einer Pilotenbrille verborgen.

Lächelnd trat er ihr entgegen. »Sie müssen Lacy Stoltz sein.«

Lacy nahm seine Hand. »Ja. Und Sie sind?«

»Ramsey Mix. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits. Wir waren um zwölf Uhr verabredet.«

»Tut mir leid. Ich hatte mit dem Boot Probleme.« Er nickte in Richtung eines großen Rennboots, das am Ende des Piers lag. Es war fast das längste Boot im Hafen. »Können wir uns dort unterhalten?«, fragte er.

»Auf dem Boot?«

»Klar. Da sind wir ungestört.«

Mit einem Fremden auf ein Boot zu steigen klang für Lacy alles andere als vernünftig, und sie zögerte. Noch ehe sie antworten konnte, fragte Mix: »Wer ist der Schwarze?« Er blickte zur King Street hinüber.

Lacy wandte sich um und entdeckte Hugo im Schlepptau einer Touristengruppe, die sich dem Jachthafen näherte. »Mein Kollege.«

»Eine Art Leibwächter?«

»Ich brauche keinen Leibwächter, Mr. Mix. Wir sind nicht bewaffnet, doch mein Kollege bräuchte keine zwei Sekunden, um Sie ins Wasser zu befördern.«

»Hoffen wir, dass das nicht nötig sein wird. Ich komme mit friedlichen Absichten.«

»Das freut mich zu hören. Ich gehe nur mit auf das Boot, wenn es bleibt, wo es ist. Sobald der Motor angeht, ist unser Treffen beendet.«

»Okay.«

Sie folgte ihm über den Pier, an einer Reihe Segelboote vorbei, die aussahen, als hätten sie das offene Meer seit Monaten nicht gesehen. Mix’ Boot hatte den bezeichnenden Namen Conspirator. Er sprang an Bord und streckte ihr die Hand hin. An Deck stand unter einer Markise ein kleiner Holztisch mit vier Klappstühlen. Er deutete darauf. »Willkommen. Nehmen Sie Platz.«

Lacy blickte sich flüchtig um. Ohne sich zu setzen, sagte sie: »Sind wir allein?«

»Nicht ganz. Ich habe eine Freundin, die gern mit mir rausfährt. Sie heißt Carlita. Möchten Sie sie kennenlernen?«

»Nur wenn sie in Ihrer Geschichte eine Rolle spielt.«

»Nein.« Mix sah über den Hafen zu Hugo, der an einem Geländer lehnte und herüberwinkte, als wollte er sagen: Ich habe alles im Blick. Mix winkte zurück. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich«, erwiderte Lacy.

»Gehe ich richtig in der Annahme, dass alles, was ich Ihnen erzähle, binnen Kurzem mit Mr. Hatch besprochen werden wird?«

»Er ist mein Kollege. Wir bearbeiten manche Fälle gemeinsam, vielleicht auch diesen. Woher kennen Sie seinen Namen?«

»Zufälligerweise besitze ich einen Computer. Ich habe mir die Website angesehen. Das BJC sollte sie wirklich mal updaten.«

»Ich weiß. Budgetkürzungen.«

»Sein Name kommt mir bekannt vor.«

»Er hatte eine kurze Karriere als Footballspieler der Florida State University.«

»Das könnte es sein. Ich bin Gators-Fan.«

Lacy enthielt sich einer Antwort. Typisch Südstaaten. Die Menschen hingen mit einer Leidenschaft an Collegefootballteams, über die sie nur den Kopf schütteln konnte.

»Dann wird er also ohnehin alles erfahren?«

»Ja.«

»Rufen Sie ihn rüber. Ich besorge uns was zu trinken.«

2

Carlita servierte Getränke von einem Holztablett. Diätlimo für Lacy und Hugo, eine Flasche Bier für Mix. Sie war eine hübsche Mexikanerin, mindestens zwanzig Jahre jünger als Mix, und schien sich zu freuen, dass Gäste da waren, vor allem eine andere Frau.

Lacy machte sich eine Notiz auf ihrem Block. »Eine Frage. Das Handy, das Sie vor einer Viertelstunde benutzt haben, hatte eine andere Nummer als das, das Sie letzte Woche benutzt haben.«

»Das ist eine Frage?«, erkundigte sich Mix.

»Betrachten Sie’s als solche.«

»Okay. Ich verwende Prepaidhandys. Und ich bin viel unterwegs. Ich nehme an, die Nummer, die ich von Ihnen habe, gehört zu einem Diensthandy?«

»Richtig. Wir benutzen im Dienst keine privaten Handys. Meine Nummer wird sich also so schnell nicht ändern.«

»Das macht es einfacher. Meine Handys wechseln monatlich, manchmal wöchentlich.«

Bislang, in diesen ersten fünf Minuten, hatte Mix mehr Fragen gestellt als beantwortet. Lacy war immer noch verstimmt, weil sie versetzt worden war, und auch ihr erster Eindruck von ihm war nicht eben positiv. »Also gut, Mr. Mix, ab jetzt werden Hugo und ich schweigen und Sie reden. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte. Sollten sich Lücken auftun, sodass wir herumstochern müssen und im Dunkeln tappen, wird uns langweilig, und wir fahren heim. Sie waren clever genug, mich hierherzulocken. Dann reden Sie auch endlich.«

Mix sah Hugo lächelnd an. »Ist sie immer so direkt?«

Ohne das Lächeln zu erwidern, nickte Hugo, faltete seine Hände auf dem Tisch und wartete. Lacy legte den Stift weg.

Mix trank einen Schluck Bier. »Ich habe dreißig Jahre lang Recht in Pensacola praktiziert«, fing er an. »Es war eine kleine Kanzlei – meistens fünf, sechs Anwälte. Wir waren ziemlich erfolgreich. Alles war gut. Einer meiner ersten Mandanten war Bauunternehmer, ein großer Fisch, er baute Apartmentblocks, Einfamilienhaussiedlungen, Hotels, Shoppingcenter, das übliche Zeug, was in Florida über Nacht aus dem Boden gestampft wird. Ich traute dem Typ von Anfang an nicht recht, aber er verdient so viel Geld, dass ich den Köder irgendwann schluckte. Er fädelte ein paar Deals für mich ein, hier und da bekam ich ein Extrascheibchen ab, und eine Zeit lang lief alles wie geschmiert. Ich fing an, vom großen Reichtum zu träumen, was – zumal in Florida – gern auch mal böse endet. Mein Mandant frisierte die Bücher und häufte zu viele Schulden an, ohne mein Wissen. Am Ende stellte sich heraus, dass die Darlehen gefälscht waren, dass praktisch alles gefälscht war. Das FBI roch sofort organisiertes Verbrechen, und dafür hat uns der Gesetzgeber ja den Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act geschenkt. Halb Pensacola ging damals wegen RICO hoch, mich eingeschlossen. Die reinste Streubombe. Alle hat es erwischt, Bauunternehmer, Banker, Makler, Anwälte und andere Halsabschneider. Wie auch immer, ich wechselte die Seiten, sang wie ein Vögelchen, man bot mir einen Deal an, ich erklärte mich in einem Anklagepunkt – Postbetrug – für schuldig und saß sechzehn Monate in einem Bundesgefängnis. Außerdem verlor ich meine Lizenz und machte mir einen Haufen Feinde. Seither halte ich mich lieber zurück. Ich habe mich um Wiederaufnahme in die Anwaltskammer beworben und meine Lizenz zurückbekommen. Heute habe ich nur einen Mandanten. Er ist derjenige, über den wir ab jetzt sprechen werden. Fragen so weit?« Er nahm einen Hefter ohne Aufschrift von dem freien Stuhl und reichte ihn Lacy. »Hier sind meine gesammelten Werke, Zeitungsartikel, mein Strafminderungsdeal – können Sie alles brauchen. Ich bin sauber, soweit ein Exsträfling sauber sein kann. Jedes Wort von mir ist wahr.«

»Wie ist Ihre aktuelle Adresse?«, wollte Hugo wissen.

»Ich habe einen Bruder in Myrtle Beach, dessen Adresse ich für Rechtsangelegenheiten nutze. Carlita hat eine Wohnung in Tampa, da geht auch einiges an Post hin. Im Grunde aber lebe ich auf diesem Boot. Ich habe Telefone, Fax, WLAN, eine kleine Dusche, kühles Bier und eine nette Frau. Ich bin ein glücklicher Mann. Wir fahren um Florida herum, auf die Keys, die Bahamas. Keine schlechte Rente, dank Onkel Sam.«

»Wieso haben Sie einen Mandanten?«, fragte Lacy, ohne den Hefter zu beachten.

»Er ist ein Freund eines alten Bekannten, der meine dunkle Vergangenheit kennt und dachte, für ein dickes Honorar würde ich einiges möglich machen. Und da hatte er recht. Mein Bekannter machte mich ausfindig und überredete mich, den Fall zu übernehmen. Fragen Sie mich nicht nach dem Namen meines Mandanten. Ich habe ihn nicht. Mein Bekannter dient als Vermittler.«

»Sie kennen den Namen Ihres Mandanten nicht?«, wunderte sich Lacy.

»Nein, und ich will ihn auch nicht kennen.«

»Sollen wir das einfach so hinnehmen?«, fragte Hugo.

»Lücke Nummer eins, Mr. Mix«, sagte Lacy. »Wir akzeptieren keine Lücken. Sie erzählen uns alles, oder wir gehen, und das war’s.«

»Entspannen Sie sich, okay?« Mix nippte an seinem Bier. »Die Geschichte ist lang, und es wird eine Weile dauern, sie zu erzählen. Es geht um viel Geld, Korruption von erstaunlichen Ausmaßen und ein paar richtig böse Buben, die jedem, der zu viele Fragen stellt, ein, zwei Kugeln zwischen die Augen jagen würden. Mir, Ihnen, meinem Mandanten.«

Eine längere Pause trat ein, als Lacy und Hugo seine Worte auf sich wirken ließen. »Und warum spielen Sie dann mit?«, fragte Lacy schließlich.

»Wegen des Geldes. Mein Mandant möchte sich auf den Whistleblower-Paragrafen des Staates Florida berufen, das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern. Er träumt davon, Millionen damit zu machen. Ich bekäme einen hübschen Anteil, und wenn alles gut geht, müsste ich nie wieder arbeiten.«

»Dann muss er beim Staat angestellt sein«, sagte Lacy.

»Ich kenne das Gesetz, Ms. Stoltz. Sie haben einen anspruchsvollen Job, im Gegensatz zu mir. Ich habe viel Zeit, über Paragrafen und Gesetze nachzugrübeln. Ja, mein Mandant ist Angestellter des Staates Florida. Nein, seine Identität darf nicht preisgegeben werden, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Vielleicht später, wenn Geld geflossen ist. Dann können wir einen Richter vielleicht überreden, die Akte dauerhaft unter Verschluss zu halten. Aber im Moment hat mein Mandant viel zu viel Angst, um formell Dienstaufsichtsbeschwerde beim BJC einzureichen.«

»Ohne formelle Beschwerde mit Unterschrift können wir nichts unternehmen«, gab Lacy zu bedenken. »Das Gesetz ist da eindeutig, wie Sie sicher wissen.«

»Und ob ich das weiß. Ich werde die Beschwerde unterzeichnen.«

»Unter Eid?«, fragte Hugo.

»Ja. Ich glaube, dass mein Mandant die Wahrheit sagt, und bin bereit, meinen Namen dafür herzugeben.«

»Und Sie haben keine Angst?«

»Ich lebe seit Langem in Angst. Irgendwie habe ich mich an sie gewöhnt. Wobei es sicher Steigerungen gibt.« Mix griff nach einem weiteren Hefter und zog ein paar Blätter heraus, die er auf den Tisch legte. »Vor sechs Monaten war ich in Myrtle Beach beim Gericht und habe meinen Namen ändern lassen. Ich bin jetzt Greg Myers. Das ist der Name, den ich für die Beschwerde verwenden werde.«

Lacy las die gerichtliche Anordnung aus South Carolina und bezweifelte zum ersten Mal ernsthaft, ob es klug gewesen war, nach St. Augustine zu kommen, um sich mit diesem Typen zu treffen. Ein Staatsbediensteter, der zu viel Angst hatte, um eine Aussage zu machen. Ein geläuterter Anwalt, der so viel Angst hatte, dass er in einem anderen Bundesstaat seinen Namen ändern ließ. Ein Exsträfling ohne feste Adresse.

Hugo las die gerichtliche Anordnung durch und wünschte sich zum ersten Mal seit Jahren, eine Waffe tragen zu dürfen. »Betrachten Sie sich im Moment als untergetaucht?«

»Sagen wir, ich bin sehr vorsichtig, Mr. Hatch. Ich bin ein erfahrener Skipper, der die Gewässer kennt, das Meer, die Strömungen, Inseln, Keys, abgelegene Strände und Buchten, und zwar besser als alle, die mir auf den Fersen sind, sofern da jemand ist.«

»Das hört sich eindeutig so an, als würden Sie sich verstecken«, sagte Lacy.

Myers nickte, als würde er zustimmen. Alle drei tranken einen Schluck. Eine Brise kam auf und milderte die Schwüle ein wenig. Lacy blätterte den dünnen Hefter durch. »Eine Frage«, begann sie. »Hatten Ihre juristischen Probleme in irgendeiner Weise mit dem Verstoß zu tun, über den Sie reden wollen?«

Er hielt mit dem Nicken inne, während er über die Frage nachdachte. »Nein.«

»Zurück zu dem geheimnisvollen Mandanten. Stehen Sie in direktem Kontakt mit ihm?«, wollte Hugo wissen.

»Nein. Er lehnt es ab, über E-Mail, Post, Fax oder jedwede Art von zurückverfolgbarem Telefon zu kommunizieren. Er spricht mit dem Vermittler, und der Vermittler kommt entweder persönlich zu mir oder ruft mich auf einem Wegwerfhandy an. Die Methode ist aufwendig und umständlich, aber einigermaßen sicher. Keine Spuren, keine Aufzeichnungen.«

»Und wenn Sie ihn jetzt sofort sprechen müssten, wie würden Sie ihn finden?«

»Das ist noch nie vorgekommen. Ich nehme an, ich würde den Mittelsmann anrufen und müsste vielleicht eine Stunde warten.«

»Wo lebt der Mandant?«

»Ich weiß nicht genau. Irgendwo im Nordwesten von Florida.«

Lacy atmete tief durch und wechselte einen Blick mit Hugo. »Okay, wie lautet die Geschichte?«

Myers blickte in die Ferne über das Wasser und die Boote. Eine Zugbrücke wurde geöffnet, und er schien von dem Anblick fasziniert. »Die Geschichte hat viele Kapitel«, begann er schließlich, »und ist noch nicht zu Ende geschrieben. Bei unserer kleinen Zusammenkunft heute will ich Ihnen genug erzählen, um Ihre Neugier zu wecken, aber nur so viel, dass Sie sich immer noch zurückziehen können, wenn Sie Angst bekommen. Denn das ist jetzt die entscheidende Frage: Sind Sie dabei?«

»Geht es um standeswidriges Verhalten?«, fragte Lacy.

»Es als ›standeswidriges Verhalten‹ zu bezeichnen wäre eine massive Untertreibung. Nach allem, was mir bekannt ist, ist Korruption in einem Ausmaß im Spiel, wie es sie in diesem Land noch nie gegeben hat. Wissen Sie, die sechzehn Monate Haft waren nicht gänzlich vergeudete Zeit für mich. Man hat mich für die Jura-Bibliothek eingeteilt, und ich habe meine Nase in die Bücher gesteckt. Ich kenne sämtliche Fälle von Justizkorruption, die jemals vor Gericht kamen, und zwar in allen Bundesstaaten. Ich habe Hintergründe, Akten, Notizen, alles gesehen. Inzwischen bin ich das reinste Lexikon, falls Sie mal Bedarf haben. In der Geschichte, die ich für Sie habe, kommt mehr schmutziges Geld vor als in allen anderen zusammen. Außerdem Bestechung, Erpressung, Einschüchterung, manipulierte Gerichtsverfahren, mindestens zwei Morde und ein Fehlurteil. Nur knapp eine Stunde von hier vegetiert der Mann in der Todeszelle, der Opfer dieses falschen Spiels wurde. Und der wahre Täter sitzt vermutlich in aller Ruhe auf einem Boot, das viel schöner ist als meines.«

Myers hielt inne, trank aus seiner Flasche und sah die beiden selbstgefällig an. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit. »Die Frage ist, wollen Sie dabei sein? Es könnte gefährlich werden.«

»Warum haben Sie uns gerufen?«, fragte Hugo. »Warum sind Sie nicht zum FBI gegangen?«

»Ich hatte schon mit dem FBI zu tun, Mr. Hatch, und das ging nicht gut aus. Ich traue denen nicht, ich traue niemandem, der eine Dienstmarke trägt, schon gar nicht in diesem Staat.«

»Trotzdem, Mr. Myers«, sagte Lacy. »Wir sind nicht bewaffnet. Wir sind keine Kriminalermittler. Es klingt, als bräuchten Sie gleich mehrere Einheiten der Bundesregierung.«

»Sie haben die Lizenz zum Erteilen von Zwangsvorladungen«, wandte Myers ein. »Per Gesetz dürfen Sie jeden Richter und jede Richterin in diesem Land auffordern, sämtliche Unterlagen offenzulegen. Sie haben umfassende Befugnisse, Ms. Stoltz. In vielerlei Hinsicht ermitteln Sie sehr wohl in kriminellen Angelegenheiten.«

»Das stimmt«, bestätigte Hugo. »Doch wir sind nicht dafür ausgestattet, uns mit Gangstern herumzuschlagen. Wenn Ihre Geschichte stimmt, sind die bösen Buben ziemlich gut organisiert.«

»Schon mal von der Catfish-Mafia gehört?«, fragte Myers nach einem weiteren ausgiebigen Schluck.

»Nein«, erwiderte Hugo, und Lacy schüttelte den Kopf.

»Eine andere lange Geschichte. Ja, Mr. Hatch, die Bande ist gut organisiert. Die haben eine lange Verbrechenstradition, die für Sie uninteressant ist, weil darin keine Mitglieder des Rechtsapparates vorkommen. Doch es gibt einen Fall, da haben sie einen Richter gekauft. Und da kommen Sie ins Spiel.«

Die Conspirator schaukelte auf den Bugwellen eines alten Garnelenboots, und für einen Moment herrschte Schweigen. »Und wenn wir es ablehnen, tätig zu werden?«, fragte Lacy. »Was wird dann aus Ihrer Geschichte?«

»Wenn ich formell Dienstaufsichtsbeschwerde einlege, müssen Sie doch tätig werden, oder?«

»Theoretisch ja. Sie wissen sicher, dass wir fünfundvierzig Tage Zeit haben, um zu überprüfen, ob eine Beschwerde begründet ist. Dann setzen wir den betroffenen Richter in Kenntnis und verderben ihm gehörig die Laune. Wir sind aber auch sehr versiert darin, Beschwerden zu ignorieren.«

»O ja«, stimmte Hugo mit ein. »Schließlich sind wir Bürokraten. Wir sind berühmt für unsere Fähigkeit, uns zu drücken.«

»Davor können Sie sich nicht drücken«, sagte Myers. »Die Sache ist viel zu bedeutend.«

»Warum wurde sie dann bislang nicht aufgedeckt?«, fragte Lacy.

»Weil sie noch mitten im Gange ist. Weil die Zeit noch nicht reif war. Aus vielerlei Gründen, Ms. Stoltz, vor allem aber deshalb, weil bislang niemand gewagt hat auszusagen. Ich werde aussagen. Die Frage ist nur: Will das Board on Judicial Conduct gegen den korruptesten Richter in der Geschichte der amerikanischen Rechtsprechung vorgehen?«

»Einer von unseren Leuten?«, fragte Lacy.

»Ganz genau.«

»Wann erfahren wir seinen Namen?«, wollte Hugo wissen.

»Warum gehen Sie davon aus, dass es sich um einen Mann handelt?«

»Wir gehen von gar nichts aus.«

»Ein guter Anfang.«

Die laue Brise gab schließlich auf, und der Ventilator, der über ihnen klapperte, wirbelte nur die stickige Luft herum. Myers schien als Letzter zu bemerken, dass allen die Kleidung an der Haut klebte, machte dann aber als Gastgeber der kleinen Runde einen Vorschlag. »Gehen wir in das Restaurant da drüben und trinken was. Die haben eine Bar und eine gut funktionierende Klimaanlage.« Er griff nach einer Botentasche aus abgenutztem olivgrünem Leder, die sich seinen Körperformen angepasst zu haben schien. Lacy überlegte, was darin sein mochte. Eine kleine Pistole? Bargeld? Ein falscher Pass? Vielleicht noch ein Aktenhefter?

Auf dem Weg über den Pier fragte sie: »Ist das eins Ihrer Stammlokale?«

»Warum sollte ich diese Frage beantworten?«, gab Myers zurück, und Lacy wünschte sich, sie hätte nichts gesagt. Sie hatte es mit einem Unsichtbaren zu tun, einem Mann auf der Flucht, nicht einem sorglosen Matrosen, der von Hafen zu Hafen fuhr. Hugo schüttelte den Kopf. Lacy hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten.

Das Restaurant war leer, und sie nahmen einen Tisch mit Blick über den Hafen. Nachdem sie eine Stunde in der sengenden Sonne gesessen hatten, empfanden sie die Kühle fast als unangenehm. Die Ermittler bestellten Eistee, Myers Kaffee. Sie waren allein. Niemand würde sie belauschen können.

»Und wenn wir uns nicht für Ihren Fall erwärmen können?«, fragte Hugo.

»Dann muss ich wohl auf Plan B zurückgreifen, wobei ich dazu keine rechte Lust habe. Plan B bringt die Presse ins Spiel. Ich kenne zwei Reporter, die aber beide nicht hundertprozentig zuverlässig sind. Einer ist in Mobile, der andere in Miami. Ehrlich gesagt glaube ich, die würden sich schnell einschüchtern lassen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass wir uns nicht auch einschüchtern lassen, Mr. Myers?«, wollte Lacy wissen. »Wie gesagt, wir sind nicht auf Gangster spezialisiert. Außerdem haben wir auch so genug zu tun.«

»Das glaube ich gern. Kein Mangel an korrupten Richtern.«

»Eigentlich sind es gar nicht so viele. Okay, ein paar faule Eier sind schon darunter, aber uns halten eher die verärgerten Kläger auf Trab. Viele Beschwerden sind nicht gerechtfertigt.«

»Sicher.« Myers nahm bedächtig die Pilotenbrille ab und legte sie auf den Tisch. Seine Augen waren verschwollen und rot wie die eines Trinkers, jedoch von blasser Haut eingerahmt, sodass er aussah wie ein rot-weißer Waschbär. Ganz offensichtlich legte er die Brille selten ab. Er sah sich noch einmal um, als wollte er sichergehen, dass seine Verfolger nicht im Raum waren, dann schien er sich zu entspannen.

»Die Catfish-Mafia«, erinnerte Hugo ihn.

Myers brummte lächelnd, als könnte er es nicht abwarten, sein Seemannsgarn zu spinnen. »Sie wollen die Geschichte hören, was?«

»Sie haben damit angefangen.«

»Allerdings.« Die Bedienung stellte die Getränke auf den Tisch und entfernte sich. Myers nahm einen Schluck Kaffee. »Es fing vor rund fünfzig Jahren an, mit einer Bande böser Jungs, die ihr Unwesen in Arkansas, Mississippi und Louisiana trieben, wo auch immer sie einen Sheriff fanden, der sich bestechen ließ. Damals ging es hauptsächlich um Alkohol, Prostitution, Glücksspiel, die althergebrachten Sünden sozusagen, aber mit viel Geballere und Toten. Sie suchten sich ein County ohne Alkoholverbot in der baptistischen Einöde, am besten unmittelbar an der Grenze, und starteten von dort aus ihre Unternehmungen. Irgendwann hatten die Einheimischen die Nase voll, wählten einen neuen Sheriff, und die Spitzbuben zogen weiter. Schließlich ließen sie sich am Mississippi nieder, in der Gegend um Biloxi und Gulfport. Alle, die nicht bei Schießereien umkamen, wurden festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Anfang der Achtzigerjahre waren fast alle aus der ursprünglichen Bande tot, bis auf ein paar der Jüngeren. Als das Glücksspiel in Biloxi legalisiert wurde, brach ihr Geschäft ein. Sie siedelten nach Florida um und entdeckten die Vorzüge von Grundstücksbetrug und die erstaunlichen Gewinnspannen von Kokainschmuggel. Sie machten einen Haufen Geld, organisierten sich neu und nannten sich Küsten-Mafia.«

Hugo schüttelte den Kopf. »Ich bin im Norden Floridas aufgewachsen, war da auf dem College und habe da Jura studiert. Seit zehn Jahren ermittle ich für das BJC, aber ich habe noch nie von dieser Bande gehört.«

»Die machen keine Werbung und stehen nie in der Zeitung. Ich glaube nicht, dass in den letzten zehn Jahren einer von ihnen festgenommen wurde. Es ist ein überschaubares Netzwerk, sehr eng und diszipliniert. Ich vermute, sämtliche Mitglieder sind Blutsverwandte. Die wären wahrscheinlich längst ausgekundschaftet, hochgenommen und im Knast, wenn nicht ein Typ sie übernommen hätte, den ich mal Omar nennen will. Ein schlechter Mensch, aber sehr clever. Omar hat die Bande Mitte der Achtziger in den Süden Floridas gebracht, wo zu der Zeit der Kokainschmuggel eingeschlafen war. Sie hatten einige gute Jahre, dann kamen ihnen ein paar Kolumbianer in die Quere, und das war’s. Omar wurde angeschossen, ebenso wie sein Bruder, der wohl nicht überlebte, auch wenn die Leiche nie gefunden wurde. Sie flohen aus Miami, blieben aber in Florida. Omar war ein kriminelles Genie, und vor rund zwanzig Jahren verbiss er sich in die Idee, Kasinos auf Indianerland zu eröffnen.«

»Warum überrascht mich das nicht?«, murmelte Lacy.

»Genau. Wie Sie vermutlich wissen, gibt es heute neun indianische Kasinos in Florida. Sieben gehören den Seminolen, dem bei Weitem größten Stamm und einem von drei, die von der Regierung in Washington anerkannt sind. Die Seminolen-Kasinos setzen jährlich vier Milliarden Dollar um. Omar und seine Jungs fanden diese Vorstellung unwiderstehlich.«

»Zu Ihrer Geschichte gehören also organisierte Kriminalität, indianische Kasinobesitzer und ein korrupter Richter, die alle unter einer Decke stecken?«, fragte Lacy.

»So könnte man es zusammenfassen.«

»Für indianische Angelegenheiten ist das FBI zuständig«, warf Hugo ein.

»Ja, aber das FBI hat noch nie viel Interesse daran gezeigt, Indianer strafrechtlich zu verfolgen. Außerdem, Mr. Hatch, wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich schon erwähnt, dass ich mit dem FBI nichts zu tun haben will. Die haben keine Fakten. Aber ich. Und ich rede mit Ihnen.«

»Wann bekommen wir die ganze Geschichte?«, erkundigte sich Lacy.

»Sobald Ihr Chef, Mr. Geismar, grünes Licht gibt. Sie werden ihm mitteilen, was ich Ihnen erzählt habe, und dafür sorgen, dass er versteht, welche Gefahren damit verbunden sind. Wenn er mir am Telefon sagt, dass das BJC meine Beschwerde ernst nimmt und in vollem Umfang ermitteln wird, werde ich so viele Lücken schließen wie möglich.«

Hugo klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und dachte an seine Familie. Lacy beobachtete ein zweites Garnelenboot, das langsam durch den Hafen tuckerte, und überlegte, wie Michael reagieren würde. Myers sah beide an und empfand beinahe Mitleid mit ihnen.

3

Das Board on Judicial Conduct belegte die Hälfte eines zweiten Obergeschosses in einem vierstöckigen Verwaltungsgebäude in der Innenstadt von Tallahassee, zwei Straßen vom State Capitol entfernt. Alles in den Räumen roch nach Budgetknappheit und -kürzungen, angefangen bei den abgetretenen, ausgefransten Teppichen über die schmalen, gefängnisartigen Fenster, die kaum Tageslicht hereinließen, bis zu den in Jahrzehnten vom Zigarettenrauch verfärbten Deckenpaneelen und den billigen Wandregalen, die sich unter dem Gewicht umfangreicher Prozessprotokolle und längst vergessener Aktennotizen bogen. Ganz abgesehen davon hatte die Behörde bei Gouverneur und Regierung nicht gerade oberste Priorität. Jedes Jahr im Januar musste Michael Geismar, der langjährige Leiter, mit dem Hut in den Händen hinüber ins Capitol, um zuzusehen, wie Haushalts- und Senatsausschuss den Kuchen aufteilten. Ohne Katzbuckeln ging es nicht. Jedes Mal bat Michael um ein paar Dollar mehr, jedes Mal bekam er ein paar weniger. Das war das Schicksal derer, die eine Behörde leiteten, von deren Existenz die meisten Gesetzesmacher keine Ahnung hatten.

Das BJC bestand aus fünf ernannten Mitgliedern, zumeist ehemaligen Richtern und Anwälten, die beim Gouverneur Gnade gefunden hatten. Sie kamen sechsmal im Jahr zusammen, um Beschwerden zu prüfen und Anhörungen durchzuführen, die Prozessen glichen, und sich von Michael und seinen Leuten auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Michael brauchte mehr Personal, aber dafür gab es kein Geld. Seine sechs Ermittler – vier in Tallahassee und zwei in Fort Lauderdale – arbeiteten im Schnitt fünfzig Stunden pro Woche, und fast alle suchten insgeheim nach einer anderen Stelle.

Wenn Michael sich dem Panoramafenster seines Eckbüros zuwandte, konnte er ein anderes bunkerartiges Gebäude sehen, das sogar noch höher war als seines, sowie ein Sammelsurium weiterer Regierungsbauten. Das Büro war groß, weil man auf sein Geheiß hin Wände herausgerissen und einen langen Tisch hineingestellt hatte, der einzige in dem Irrgarten aus winzigen Kämmerchen und Stellwandwürfeln. Wenn das BJC offiziell zusammentrat, wurde ein Konferenzraum im Gebäude des Obersten Gerichts verwendet.

Heute saßen vier Personen um den Tisch: Michael, Lacy, Hugo und die geheime Wunderwaffe des BJC, eine langjährige Anwaltsassistentin namens Sadelle, die zwar in Kürze siebzig wurde, aber immer noch große Berge von Akten durcharbeiten konnte und ein herausragendes Gedächtnis besaß. Sadelle hatte das Jurastudium vor dreißig Jahren abgeschlossen, war dann aber dreimal durch die Aufnahmeprüfung der Anwaltskammer gefallen. Als ehemalige Kettenraucherin – ein guter Teil der nikotinverschmierten Fenster und Decken war ihr zuzuschreiben – litt sie seit drei Jahren an Lungenkrebs, doch sie hatte nie länger als ein paar Tage gefehlt.

Der Tisch war bedeckt mit Unterlagen und losen Blättern, die neongelb markiert und mit Rotstift bearbeitet waren. »Der Typ passt«, sagte Hugo. »Wir haben mit Kontaktpersonen in Pensacola gesprochen, Leuten, die ihn kannten, als er noch als Anwalt tätig war. Hatte wohl durchaus einen guten Ruf, zumindest bis er vor Gericht kam. Er ist, wofür er sich ausgibt, wenn auch mit anderem Namen.«

»Seine Haft verlief vorbildlich«, fuhr Lacy fort. »Er hat sechzehn Monate und vier Tage in einem Bundesgefängnis in Texas abgesessen und den überwiegenden Teil davon die Rechtsbibliothek der Anstalt geleitet. Er hat mehreren Mitinsassen bei Revisionen geholfen, ganz der Gefängnisanwalt. In zwei Fällen hat er sogar vorzeitige Entlassung erwirkt, nachdem Verteidiger im Prozess versagt hatten.«

»Und seine eigene Verurteilung?«, fragte Michael.

»Nach dem, was ich herausgefunden habe, ist das, was Myers sagt, korrekt. Das FBI war hinter einem Immobilienschwindler aus Kalifornien namens Kubiak her, der zwanzig Jahre lang Trabantensiedlungen um Destin und Panama City herum hochgezogen hat. Sie erwischten ihn, er bekam dreißig Jahre für eine lange Liste von Verbrechen, überwiegend Bankbetrug, Steuerbetrug und Geldwäsche. Von seinem Niedergang waren jede Menge Leute betroffen, unter anderem ein gewisser Ramsey Mix, der rasch die Seiten wechselte und sich gegen Zusage von Strafmilderung zur Aussage bereit erklärte. Im Prozess lieferte er alle anderen Beteiligten ans Messer, allen voran Kubiak, und richtete immensen Schaden an. Ist wahrscheinlich eine gute Idee, sich unter falschem Namen auf dem Meer zu verstecken. Er hat nur sechzehn Monate bekommen, während alle anderen mindestens fünf Jahre einsaßen – Kubiak am längsten.«

»Privatleben?«, setzte Michael die Befragung fort.

»Zwei Scheidungen, lebt allein«, berichtete Lacy. »Seine zweite Frau hat ihn verlassen, als er ins Gefängnis ging. Ein Sohn aus erster Ehe, lebt in Kalifornien und hat ein Restaurant. Als Myers sich für schuldig erklärte, zahlte er hunderttausend Dollar Strafe. Bei seiner Verurteilung bezeugte er, dass seine Anwaltskosten sich auf etwa den gleichen Betrag beliefen. Damit war er pleite. Eine Woche bevor er seine Haft antrat, hat er Insolvenz angemeldet.«

Hugo warf ein paar vergrößerte Fotos auf den Tisch. »Was mich ein wenig stutzig macht. Ich habe sein Boot fotografiert, als wir dort waren. Es ist ein Sechzehn-Meter-Motorboot der Marke Sea Breeze, eine hübsche Nussschale mit einer Reichweite von über dreihundert Kilometern, auf der vier Personen bequem übernachten können. Angemeldet ist es auf eine Scheinfirma auf den Bahamas, deshalb habe ich keine Registrierungsnummer. Das Ding ist bestimmt mindestens eine halbe Million wert. Vor sechs Jahren wurde er aus der Haft entlassen, und laut Anwaltskammer wurde seine Lizenz vor drei Monaten reaktiviert. Er hat kein Büro und sagt, dass er auf seinem Boot wohnt. Es könnte natürlich gemietet sein. Trotzdem erscheint mir sein Lebenswandel kostspielig. Drängt sich die Frage auf, wie er das finanziert.«

Lacy setzte den Bericht fort: »Es kann gut sein, dass er einen Teil der Beute offshore versteckt hat, als das FBI auf den Plan trat. Es war ein großer RICO-Fall mit zahlreichen Opfern. Ich habe mit einem ehemaligen Staatsanwalt gesprochen, der sagt, es habe immer den Verdacht gegeben, dass Myers/Mix Geld beiseitegeschafft habe. Viele der Angeklagten hätten versucht, Geld beiseitezuschaffen. Wir werden es vermutlich nie erfahren. Wenn das FBI vor sieben Jahren kein Geld gefunden hat, werden wir mit ziemlicher Sicherheit jetzt auch nichts finden.«

»Als ob wir die Zeit hätten, danach zu suchen«, murmelte Michael.

»Eben.«

»Dann ist der Typ ein Gauner?«

»Zumindest ist er ein verurteilter Verbrecher. Doch er hat seine Zeit abgesessen, seine Schulden bezahlt und ist heute ein aufrechtes Mitglied der Kammer, genau wie wir drei.« Hugo blickte Sadelle an und zeigte ihr ein kurzes Lächeln, das sie nicht erwiderte.

»Ihn als Gauner zu bezeichnen ist vielleicht zu viel«, gab Michael zu bedenken. »Nennen wir ihn dubios. Ich bin nicht sicher, ob ich die Theorie vom beiseitegeschafften Geld glaube. Wenn er es offshore gebunkert und den Konkursrichter angelogen hätte, wäre er immer noch wegen Betrugs dran. Ob er das Risiko eingehen würde?«

»Ich weiß nicht«, sagte Hugo. »Er scheint ziemlich vorsichtig zu sein. Außerdem müssen Sie bedenken, dass er seit sechs Jahren frei ist. Man muss in Florida fünf Jahre warten, bis man sich um Wiederaufnahme in die Kammer bewerben kann. In der Zeit hat er vielleicht hier und da was dazuverdient. Er macht einen ziemlich findigen Eindruck.«

»Spielt das wirklich eine Rolle?«, warf Lacy ein. »Ermitteln wir gegen ihn oder gegen einen korrupten Richter?«

»Guter Punkt«, entgegnete Michael. »Und er hat angedeutet, dass es eine Richterin ist?«

»Irgendwie«, erwiderte Lacy. »Klar ausgedrückt hat er sich nicht.«

Michael blickte Sadelle an. »Ich nehme an, wir haben eine politisch korrekte Frauenquote unter der Richterschaft in Florida.«

Sadelle atmete mühsam ein und sprach dann mit ihrer gewohnt rauen, vom Nikotin zerstörten Stimme. »Wie man’s nimmt. Es gibt jede Menge Frauen, die Verkehrsgericht und so was machen, aber das hier klingt eher nach Bezirksgericht. Dort ist von sechshundert Richtern etwa ein Drittel weiblich. Bei neun Kasinos, die über den Staat verteilt sind, brauchen wir gar nicht anzufangen zu raten, wer es sein könnte.«

»Und diese sogenannte Mafia?«

Sie sog so viel Luft wie möglich in ihre Lungen. »Wer weiß? Es gab mal eine Dixie-Mafia, eine Redneck-Mafia, eine Texas-Mafia, alles das gleiche Kaliber. Sieht so aus, als wären sie allesamt weniger erfolgreich gewesen, als die Legenden es glauben lassen. Ein Haufen Cousins, die mit Whiskey dealen und Beine brechen. Keine Silbe über eine sogenannte Catfish-Mafia oder eine Küsten-Mafia. Ich will damit nicht sagen, dass es sie nicht gibt, ich habe nur nichts über sie gefunden.« Ihre Stimme brach, als sie nach Luft schnappte.

»Nicht so schnell«, sagte Lacy. »Ich bin in der Zeitung von Little Rock auf einen fast vierzig Jahre alten Artikel gestoßen. Er erzählt die ziemlich bunte Geschichte eines Mannes namens Larry Wayne Farrell, der mehrere Catfish-Restaurants im Arkansas-Delta betrieb. Anscheinend hat er vorne Fisch verkauft und hinten schwarzgebrannten Schnaps. Irgendwann wurden er und seine Cousins ehrgeizig und erweiterten das Geschäft auf Glücksspiel, Prostitution und Autohehlerei. Wie Myers sagte, zogen sie durch den Süden, immer auf der Suche nach einem Sheriff, den sie bestechen konnten. Schließlich ließen sie sich in der Gegend von Biloxi nieder. Der Artikel ist lang und überwiegend nicht interessant für uns, aber diese Jungs hinterließen einen erstaunlichen Berg von Leichen.«

»Tja, da muss ich mich wohl korrigieren lassen«, erklärte Sadelle. »Danke für die Erleuchtung.«

»Keine Ursache.«

»Darf ich die offensichtliche Frage stellen?«, schaltete sich Hugo ein. »Wenn er Beschwerde erhebt und es im Verlauf unserer Ermittlungen tatsächlich gefährlich wird, können wir doch immer noch zum FBI gehen, oder? Myers kann uns nicht daran hindern?«

»Nein, natürlich nicht«, bestätigte Michael. »Und genau so würde es kommen. Er hat keinen Einfluss auf unsere Ermittlungen. Wenn wir Hilfe brauchen, werden wir sie uns holen.«

»Dann übernehmen wir den Fall?«

»Allerdings, Hugo. Wir haben eigentlich keine Wahl. Wenn er Beschwerde einreicht und einen Richter des standeswidrigen Verhaltens beschuldigt, müssen wir tätig werden. Das ist ganz einfach. Haben Sie Muffensausen?«

»Nein.«

»Lacy, irgendwelche Bedenken?«

»Natürlich nicht.«

»Schön. Benachrichtigen Sie Mr. Myers. Wenn er meine Stimme hören will, holen Sie ihn ans Telefon.«

Es dauerte zwei Tage, bis sie Myers erreichten, und als Lacy ihn endlich am Telefon hatte, zeigte er wenig Lust, mit ihr oder Michael zu reden. Er sei mit geschäftlichen Dingen beschäftigt und werde zurückrufen. Die Verbindung war schwach und knackste, als wäre er irgendwo weit draußen auf dem Meer. Am nächsten Tag rief er Lacy von einem anderen Telefon aus an und bat, mit Michael sprechen zu dürfen, der ihm versicherte, dass seine Beschwerde bevorzugt behandelt und man sofort mit den Ermittlungen beginnen werde. Eine Stunde später rief Myers Lacy erneut an und bat um ein Treffen. Er sagte, er wolle sie und Hugo sehen, um den Fall zu besprechen. Es gebe viel Material, das er niemals schriftlich weitergeben könne, wichtige Informationen, die ihre Ermittlungen entscheidend beeinflussen würden. Er werde die Beschwerde nicht unterzeichnen, wenn sie sich nicht mit ihm träfen.

Michael war einverstanden, und so warteten sie darauf, dass Myers sich meldete, um einen Treffpunkt zu nennen. Er ließ eine Woche verstreichen und teilte dann mit, dass Carlita und er »um Abaco herumschipperten« und in ein paar Tagen nach Florida zurückkehren würden.

An einem späten Samstagnachmittag – die Temperaturen hatten sich auf achtunddreißig Grad eingependelt – fuhr Lacy in eine jener umzäunten Einfamilienhaussiedlungen, deren Toreinfahrt nie zu schließen schien, und schlängelte sich zwischen künstlichen Teichen hindurch, die aus billigen Fontänen heißes Wasser in die Luft sprühten. Sie kam an einem überfüllten Golfplatz und Reihen um Reihen identischer Häuser vorbei, die alle so gebaut waren, dass ihre Doppelgarage gut zur Geltung kam. Schließlich parkte sie in der Nähe einer großen Grünanlage mit mehreren miteinander verbundenen Swimmingpools. Hunderte Kinder planschten und spielten im Wasser, während die Mütter unter großen Sonnenschirmen saßen und an Gläsern nippten.

Die Meadows-Siedlung hatte die große Rezession überstanden und war als multiethnisches Wohnprojekt für junge Familien neu beworben worden. Hugo und Verna Hatch hatten vor fünf Jahren hier ein Haus gekauft, nach dem zweiten Kind. Inzwischen hatten sie vier Kinder, und der zweihundertzwanzig Quadratmeter große Bungalow war zu klein. Etwas Größeres aber konnten sie sich nicht leisten. Hugos Gehalt belief sich auf sechzigtausend Dollar im Jahr, ebenso wie Lacys, doch während sie als Alleinstehende sogar etwas auf die hohe Kante legen konnte, lebten die Hatches von der Hand in den Mund.

Gleichwohl feierten sie gern, und so stand Hugo im Sommer fast jeden Samstagnachmittag am Grill, ein kühles Bier in der Hand, briet Burger und fachsimpelte mit Freunden über Football, während die Kinder im Pool planschten und die Frauen sich im Schatten hielten. Lacy mischte sich unter die Frauen und ging nach der üblichen Begrüßung zu einem Poolhaus, wo Verna mit dem Baby die Kühle des Schattens gesucht hatte. Pippin war vier Wochen alt und bislang ein äußerst unleidliches Baby. Lacy passte hin und wieder auf die Kinder der Hatches auf, um die Eltern ein wenig zu entlasten. Babysitter zu finden war für sie normalerweise kein Problem. Beide Großmütter wohnten weniger als fünfzig Kilometer entfernt. Sowohl Hugo als auch Verna stammten aus großen, weitverzweigten Familien mit zahlreichen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen und allerlei Zank und Drama. Lacy beneidete sie einerseits um die Sicherheit, die solch ein Familienklan bot, andererseits war sie froh, dass sie nicht mit so vielen Menschen und deren Problemen zu tun hatte. Es kam vor, dass Verna und Hugo Hilfe mit den Kindern brauchten, aber keine Lust hatten, die Verwandtschaft zu fragen.

Sie nahm Pippin, und Verna ging los, um etwas zu trinken zu holen. Während Lacy das Baby auf den Armen wiegte, betrachtete sie die Menschenmenge auf der Terrasse: eine Mischung aus Schwarzen und Weißen, Latinos und Asiaten, alles junge Paare mit kleinen Kindern. Da waren zwei Juristen aus dem Büro des Generalstaatsanwalts, Freunde von Hugo aus dem Studium und einer, der für den Senat des Staates Florida arbeitete. Weitere Singles waren nicht zugegen, keinerlei interessante Kandidaten, doch das hatte Lacy nicht anders erwartet. Sie ging selten mit Männern aus, weil es nicht viele gab, die infrage kamen, zumindest nicht für sie. Sie hatte eine üble Trennung hinter sich, die zwar schon acht Jahre her war, sie aber immer noch belastete.

Verna kam mit zwei Bier zurück und nahm gegenüber von ihr Platz. »Warum ist sie immer so ruhig, wenn du sie hältst?«, flüsterte sie.

Lacy zuckte lächelnd mit den Schultern. Mit ihren sechsunddreißig fragte sie sich oft, ob sie jemals ein eigenes Kind haben würde. Ihre biologische Uhr tickte, und sie befürchtete, dass ihre Chancen stetig abnahmen. Verna sah müde aus, ebenso wie Hugo. Sie wollten eine große Familie, aber waren vier Kinder nicht genug? Lacy würde nicht mit dem Thema anfangen, doch für sie war die Antwort klar. Die beiden hatten die Chance gehabt zu studieren, als Erste in ihren Familien, und träumten davon, dass ihre Kinder die gleichen Chancen haben sollten. Aber wie wollten sie vier Kindern ein Studium finanzieren?

Leise sagte Verna: »Hugo hat erzählt, dass Michael euch einen großen Fall übertragen hat.«

Lacy war überrascht, weil Hugo grundsätzlich zu Hause nichts von der Arbeit erzählte. Außerdem legte das BJC aus nachvollziehbaren Gründen viel Wert auf Vertraulichkeit. Hin und wieder, wenn sie abends zusammensaßen, fingen sie nach dem dritten Bier an, über das unmögliche Benehmen des Richters zu lästern, gegen den sie gerade ermittelten, doch sie erwähnten niemals Namen.

»Es könnte etwas Großes werden, es könnte sich aber auch als Luftnummer herausstellen«, sagte Lacy.

»Er hat mir nicht viel erzählt, wie immer, aber er schien mir ein bisschen besorgt. Komischerweise habe ich eure Arbeit nie als gefährlich betrachtet.«

»Wir auch nicht. Wir sind ja auch keine Cops mit Waffen. Wir sind Anwälte mit Zwangsanordnungen.«

»Er meinte, jetzt hätte er gern eine Waffe. Das macht mich wirklich nervös, Lacy. Du musst mir versprechen, dass ihr euch nicht in Gefahr bringt.«

»Verna, wenn ich je das Bedürfnis verspüre, mich zu bewaffnen, suche ich mir einen anderen Job. Das verspreche ich dir hoch und heilig. Ich werde in meinem Leben niemals eine Waffe abfeuern.«

»Ja, in meinem Leben, in unserem Leben gibt es viel zu viele Waffen, und es passieren viel zu viele schlimme Dinge deswegen.«

Pippin, die eine gute Viertelstunde lang geschlafen hatte, schreckte plötzlich mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch. Verna griff nach ihr. »Dieses Kind, dieses Kind …« Lacy reichte sie ihr und stand auf, um nach den Burgern auf dem Grill zu sehen.

4

Als Myers endlich anrief, beschied er Lacy, wieder zum Jachthafen von St. Augustine zu kommen. Alles war wie beim ersten Mal – dieselbe schweißtreibende Hitze und Luftfeuchtigkeit, dieselbe Anlegestelle am Ende des Piers, Myers trug sogar dasselbe blumengemusterte Hemd. Als sie wieder an dem Tisch im Schatten auf dem Boot saßen, hielt er eine Flasche derselben Biermarke in der Hand und begann zu erzählen.

Der Mann, den Myers Omar nannte, hieß im wahren Leben Vonn Dubose und war der Nachfahre eines jener Gangster, die im Hinterzimmer eines Catfish-Restaurants in der Nähe von Forrest City, Arkansas, mit ihren Untaten begonnen hatten. Das Lokal hatte seinem Großvater mütterlicherseits gehört, der viele Jahre später bei einer Polizeirazzia ums Leben gekommen war. Sein Vater hatte sich im Gefängnis erhängt, zumindest hieß es im offiziellen Bericht, er sei erhängt vorgefunden worden. Viele der zahlreichen Onkel und Cousins hatten ähnliche Schicksale erlitten, und die Bande war arg zusammengeschrumpft, als Vonn die Reize des Kokainschmuggels im Süden Floridas entdeckte. Nach ein paar lukrativen Jahren hatte er die Mittel beisammen, um sein kleines Syndikat wiederzubeleben. Inzwischen ging er auf die siebzig zu, lebte irgendwo an der Küste, ohne offizielle Adresse, Bankkonto, Führerschein, Sozialversicherungsnummer oder Pass.

Nachdem Vonn mit dem Kasino auf eine Goldgrube gestoßen war, reduzierte er seine Bande auf eine Handvoll Cousins, um mit weniger Leuten teilen zu müssen. Er agiere, sagte Myers, aus der Anonymität heraus und verstecke sich in einem Labyrinth aus Offshore-Firmen, die alle von einer Kanzlei in Biloxi überwacht würden. Nach allem, was man wisse, und das sei nicht viel, sei er ziemlich reich, lebe aber bescheiden.

»Haben Sie ihn mal kennengelernt?«, fragte Lacy.

Er schnaubte verächtlich. »Seien Sie nicht albern. Man läuft diesem Kerl nicht einfach über den Weg, okay? Er lebt im Verborgenen, so ähnlich wie ich. Sie finden in der gesamten Gegend um Pensacola keine drei Personen, die zugeben würden, dass sie Vonn Dubose kennen. Ich habe vierzig Jahre lang da gelebt und bis vor wenigen Jahren nie etwas von ihm gehört. Er kommt und geht.«

»Er hat keinen Pass.«

»Keinen echten. Aber falls Sie ihn erwischen, werden Sie mindestens ein halbes Dutzend Fälschungen bei ihm finden.«

1936 gewährte das Bureau of Indian Affairs einem kleinen Stamm mit rund vierhundert Mitgliedern, der Tappacola Nation, einen Sonderstatus, fuhr Myers fort. Die Tappacola lebten über den »Panhandle« – »Pfannengriff«, der Nordwesten Floridas – verstreut in zumeist bescheidenen Hütten im sumpfigen Hinterland von Brunswick County. Dort unterhielten sie in einem hundertzwanzig Hektar großen Reservat, das ihnen von der Regierung in Washington achtzig Jahre zuvor zugewiesen worden war, eine Art Hauptquartier. 1990 entdeckte die mächtige Seminole Nation im Süden Floridas die Chancen des Kasinogewerbes, ebenso wie viele andere Stämme überall im Land. Der Zufall wollte es, dass Vonn und seine Bande zu jener Zeit anfingen, billiges Land an der Grenze zum Tappacola-Reservat zu kaufen. Anfang der Neunzigerjahre – wann genau würde niemand je erfahren, weil die Gespräche darüber seit Langem verstummt waren – schlug Dubose den Tappacola einen Deal vor, den sie nicht ablehnen konnten.

»Treasure Key«, murmelte Hugo.

»Richtig. Das einzige Kasino in Nordflorida, günstig gelegen, fünfzehn Kilometer südlich der Interstate 10 und fünfzehn Kilometer nördlich der Strände. Ein Kasino mit allem Drum und Dran, rund um die Uhr geöffnet, dazu Unterhaltung für die ganze Familie im Disney-Stil, der größte Wasserfunpark Floridas, Ferienimmobilien zum Kaufen, Leasen oder für Timesharing, was Sie wollen. Ein echtes Mekka für alle, die zocken wollen, aber auch für die, die nur die Sonne genießen wollen, ideal gelegen und gut erreichbar für fünf Millionen Menschen in einem Radius von dreihundert Kilometern. Genaue Zahlen kenne ich nicht, weil die Indianer, die das Kasino leiten, nichts veröffentlichen. Aber es heißt, das Treasure Key setze mindestens eine halbe Milliarde Dollar im Jahr um.«

»Wir waren letzten Sommer dort.« Hugo sagte das so, als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Einer dieser Lastminute-Wochenendtrips für einen Apfel und ein Ei. Es war nicht schlecht.«

»Nicht schlecht? Es ist sensationell. Nicht umsonst ist es immer ausgebucht, sodass die Tappacola einen Haufen Geld damit verdienen.«

»Das sie mit Vonn und seinen Jungs teilen?«, fragte Hugo.

»Unter anderem, aber wir sollten nicht vorgreifen.«

»Brunswick County gehört zum 24. Gerichtsbezirk. Dort gibt es zwei Bezirksrichter, einen Mann und eine Frau. Warm, wärmer?«

Myers tippte lächelnd auf eine geschlossene Akte, die in der Mitte des Tisches lag. »Das ist die Beschwerde. Ich gebe sie Ihnen später. Bei der betreffenden Person handelt es sich um Richterin Claudia McDover, seit siebzehn Jahren im Amt. Wir werden später über sie reden. Jetzt gebe ich Ihnen erst einmal die Hintergründe der Geschichte. Ohne die geht es nicht. Zurück zu den Tappacola …«

Der Stamm hatte sich wegen des Glücksspiels zerstritten. Die Gegner wurden von einem Agitator namens Son Razko angeführt, der aus religiösen Gründen jegliches Glücksspiel ablehnte. Er sammelte seine Anhänger um sich, und sie schienen die Mehrheit zu stellen. Die Befürworter des Kasinos versprachen Reichtum für alle – neue Häuser, lebenslange Renten, bessere Schulen, kostenloses College und Gesundheitswesen und vieles mehr. Vonn Dubose unterstützte die Bemühungen um eine Zulassung des Kasinos, wobei er wie gewohnt keinerlei Spuren hinterließ. 1993 wurde per Abstimmung über den Fall entschieden. Abzüglich aller Personen unter achtzehn blieben etwa dreihundert Wähler. Alle bis auf vierzehn erschienen zur Abstimmung, die von der Bundespolizei beaufsichtigt wurde, falls es zu Ausschreitungen käme. Son Razko und seine Traditionalisten gewannen mit vierundfünfzig Prozent der Stimmen. Eine ärgerliche Klage unterstellte Wahlbetrug und Einschüchterung, doch der Bezirksrichter schlug sie nieder. Die Kasino-Idee war tot.

Ebenso wie bald darauf Son Razko.

Seine Leiche wurde im Schlafzimmer eines anderen Mannes gefunden, zusammen mit dessen toter Ehefrau, beide mit einer Kugel im Kopf. Sie waren nackt und schienen in flagranti ertappt worden zu sein. Der Ehemann, Junior Mace, wurde verhaftet und des Doppelmordes angeklagt. Er war ein enger Mitstreiter Razkos in der Glücksspieldebatte gewesen. Mace beteuerte seine Unschuld, wurde aber zum Tode verurteilt. Aufgrund der Öffentlichkeitswirksamkeit verlegte die neu gewählte Richterin Claudia McDover den Prozess in ein anderes County, bestand jedoch darauf, die Zuständigkeit zu behalten. Sie übernahm den Vorsitz und bevorzugte die Staatsanwaltschaft, wo sie nur konnte.

Dem Kasino standen zwei Dinge im Weg. Erstens Son Razko. Zweitens die Lage. Ein Großteil des Tappacola-Territoriums bestand aus tief gelegenen Sümpfen und Bayous und war praktisch unbewohnbar, doch es gab genug höher gelegenes, trockenes Land, auf dem ein großes Kasino mit entsprechendem Grundstück gebaut werden konnte. Das Problem war die Zufahrt. Die Straße ins Reservat war alt und in schlechtem Zustand und würde dem erhöhten Verkehrsaufkommen nicht standhalten. Angesichts der Aussicht auf Steuereinnahmen, gut bezahlte Jobs und blinkende Lichter erklärte sich die Verwaltung von Brunswick County bereit, von der State Route 288 aus eine neue, vierspurige Straße bis zur Reservatsgrenze zu bauen, von wo es nur noch einen Katzensprung war bis zu der Stelle, wo das Kasino gebaut werden sollte. Allerdings benötigte man für den Bau der Straße Privatland, das enteignet beziehungsweise beschlagnahmt werden musste, da die meisten Landbesitzer entlang der Wegstrecke gegen den Bau waren.

Das County zog mit elf Klagen gleichzeitig vor Gericht, die auf die Enteignung der elf Grundstücke abzielten. Richterin McDover führte die Verfahren. Sie manövrierte die Anwälte rücksichtslos aus, setzte die Fälle auf ihre Prozessliste, und binnen weniger Monate war das erste Verfahren verhandlungsreif. Spätestens jetzt war klar, dass sie auf der Seite des County stand und die Straße so rasch wie möglich zum Bau freigeben würde. Noch ehe der Prozess begann, setzte sie einen Schlichtungstermin an, zu dem alle Anwälte zu erscheinen hatten. In einer Marathonsitzung schnitzte sie einen Vergleich zurecht, auf dessen Basis das County jedem Landbesitzer den zweifachen Wert seines Grundstücks auszahlen musste. Gemäß den Gesetzen des Staates Florida bestand im Grunde kein Zweifel daran, dass das Land enteignet werden konnte. Das Problem waren die Entschädigungen. Und der Zeitverlust. Indem sie das Verfahren im Schnelldurchlauf abhandelte, verhinderte Richterin McDover, dass sich der Baubeginn um Jahre verzögerte.

Da die Enteignungen nach Plan verliefen und Son Razko aus dem Weg geräumt war, setzten die Glücksspielbefürworter ein erneutes Referendum an. Beim zweiten Mal gewannen sie mit dreißig Stimmen Vorsprung. Erneut wurde Klage wegen Wahlbetrugs eingereicht, die Richterin McDover abwies. Jetzt war der Weg frei für den Bau des Treasure-Key-Hotels, das im Jahr 2000 eröffnete.

Junior Maces Verfahren schleppte sich zäh durch die Instanzen, und obwohl mehrere Prozessbeobachter den Richtern und ihren Urteilen skeptisch gegenüberstanden, fand niemand ernsthafte Fehler. Der Schuldspruch behielt über die Jahre Bestand.

»Wir haben den Fall an der Uni behandelt«, sagte Hugo.

»Der Mord liegt sechzehn Jahre zurück, da waren Sie höchstens zwanzig, oder?«

»So ungefähr. Ich kann mich nicht an den Mord erinnern, auch nicht an den Prozess, nur dass wir im Studium darüber gesprochen haben. Im Zusammenhang mit Strafverfahren, glaube ich. Wie bei Mordprozessen Knastspitzel eingesetzt werden.«

»Sie haben nichts davon gehört, nehme ich an?«, wandte sich Myers an Lacy.

»Nein. Ich bin nicht in Florida aufgewachsen.«

»Ich habe eine dicke Akte zu dem Fall, inklusive sämtlicher Haftprüfungsklagen. Ich habe mich über die Jahre auf dem Laufenden gehalten und weiß mehr darüber als jeder andere. Falls Sie mal eine verlässliche Quelle brauchen.«

»Hat Mace seine Frau mit Son im Bett erwischt und sich gerächt?«, fragte Lacy.

»Das bezweifle ich. Er behauptete, er sei woanders gewesen, doch sein Alibi war schwach. Der Pflichtverteidiger, ein Prozessneuling, konnte dem Staatsanwalt, der ein aalglatter Profi war, nicht Paroli bieten. Richterin McDover erlaubte ihm, zwei Knastspitzel vorzuladen, die übereinstimmend aussagten, dass Mace im Gefängnis mit den Morden geprahlt habe.«

»Sollen wir mit Mace reden?«, fragte Hugo.

»Da würde ich anfangen.«

»Warum?«, wollte Lacy wissen.

»Weil Junior Mace etwas wissen könnte, und er wird ganz sicher mit Ihnen reden wollen. Die Tappacola sind ein verschworener und verschwiegener Haufen und Außenstehenden gegenüber sehr misstrauisch, besonders wenn sie Uniform tragen oder sonst irgendwie staatliche Befugnisse haben. Außerdem haben sie panische Angst vor Dubose und seiner Bande, sie haben sich ziemlich rasch einschüchtern lassen. Und sie haben inzwischen Häuser und Autos, Schulen, ein Gesundheitswesen, Geld fürs College. Warum alles aufs Spiel setzen? Das Kasino betreibt schmutzige Geschäfte mit ein paar Gangstern, na und? Wer aufmuckt, wird womöglich erschossen.«

»Können wir über die Richterin reden?«, bat Lacy.