Beuteland - Bruno Bandulet - E-Book

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Bruno Bandulet

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Beschreibung

Wie lange soll Deutschland noch zahlen?

Zum ersten Mal wird in diesem Buch umfassend und in allen Einzelheiten erzählt und belegt, welch immense Werte im Verlauf von 7 Jahrzehnten an Sachvermögen, geistigem Eigentum und finanziellen Tributen aus Deutschland herausgezogen wurden:

Wie das Land nach der Niederlage 1945 von den Siegermächten regelrecht ausgeplündert wurde und warum das Ausmaß der Reparationen bis heute krass unterschätzt wird. Was hinter dem Projekt der europäischen Integration steckt und wie dem Steuerzahler die Rolle des EU-Zahlmeisters aufgezwungen wurde. Wie der Euro zum Enteignungsprogramm verkam und warum die Rechnung für die Katastrophenwährung immer noch nach oben offen ist.

Und, nicht zuletzt, warum die ruinöse Masseneinwanderung unter der Flagge des Multikulturalismus als Produkt einer »offenen Verschwörung« der Eliten eingestuft werden muss.

Widerlegt werden aber auch gängige Legenden und Märchen: dass Deutschland 1945 befreit worden sei, dass die USA die Demokratie nach Deutschland gebracht hätten, dass der Marshallplan Ursache des Wirtschaftswunders gewesen sei oder dass Deutschland mehr als andere vom Euro profitiert habe. Dies alles und noch viel mehr müssen wir uns von den Machthabern bis hinauf zum Bundespräsidenten tagaus, tagein eintrichtern lassen.

Obwohl Deutschland 1990 mit der Wiedervereinigung völkerrechtlich souverän wurde, sind Überreste des Besatzungsrechtes nach wie vor in Kraft, wurden die berüchtigten Feindstaatenklauseln nicht gestrichen, bleibt der Spielraum der deutschen Außenpolitik eng begrenzt. Die Regierung Adenauer kämpfte noch um Souveränitätsgewinne, seit Kohl und Merkel läuft der Film rückwärts.

So entsteht das Bild eines wirtschaftlich überaus erfolgreichen Landes, dessen Bürger reich sein könnten, die aber gemessen an ihrem Vermögen gerade einmal im europäischen Mittelfeld rangieren, weil sie zu lange zur Ader gelassen wurden und den Preis für die Instrumentalisierung der Vergangenheit zahlen mussten.

Nach dem Bestseller Die letzten Jahre des Euro und einer deutschen Geldgeschichte (Vom Goldstandard zum Euro) legt Bruno Bandulet wieder ein Buch vor, das die Nahtstelle zwischen Politik und Wirtschaft aufsucht und das in die Vergangenheit greift, um die Gegenwart verstehen zu können.

In einem Land, in dem politische Korrektheit auf Kosten der Meinungsfreiheit gepredigt wird und historische Korrektheit auf Kosten geschichtlicher Wahrheit, setzt sich Beuteland dem Risiko aus, die Meinungsmacher und tonangebenden Kreise zu irritieren. Klartext zu reden und Realitäten zu benennen war bisher weitgehend ausländischen Beobachtern vorbehalten. So verglich die französische Tageszeitung Le Figaro den Maastrichter Vertrag, der die Bundesbank entmachtete und den Euro auf den Weg brachte, mit dem Vertrag von Versailles. Anatole Kaletsky, der Kommentator der Financial Times, sprach von der »dritten Kapitulation Deutschlands«. Und der britische Historiker Niall Ferguson nannte die in diesem Buch erstmals genau belegte, von Deutschland finanzierte Umverteilung in der EU ein »einvernehmliches System von Kriegsreparationen«.

Übertreibt Ferguson? Das vorliegende Buch weist nach, dass sowohl die Reparationen der Nachkriegsjahre als auch die Kosten der Transferunion EU die Leistungen nach dem Versailler Vertrag von 1919 deutlich übertroffen haben. Kann es sein, dass es sich bei der Willkommenskultur des »hellen Deutschland« 2015 um einen weiteren Akt der Vergangenheitsbewältigung gehandelt hat? Ja, glaubt kein Geringerer als der französische Philosoph Alain Finkielkraut.

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1. Auflage Juli 2016 Copyright © 2016 bei Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg Alle Rechte vorbehalten Lektorat, Satz und Layout: Helmut Kunkel Umschlaggestaltung: Christine Ibele ISBN E-Book 978-3-86445-313-7 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-0 Fax: (07472) 98 06-11Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

Einführung

»Wir leben aus objektiven Gründen in einem Zustand der Sprachverarmung, der differenzierte Gedankengänge seltener macht und sie an den Rand des Tagesbewusstseins schiebt. Damit steigt die Neigung zu moralisierenden Argumenten, um den Verständigungsprozess abzukürzen. Diese Verarmung der Sprache erfolgt aus mehreren Gründen: Die Massenbildung bewirkt selbst schon eine Simplifizierung des Denkens, die Massenmedien arbeiten in dieselbe Richtung, und die Politik setzt oft ganze Bedeutungsfelder unter Druck … Und schließlich kommt es zu der letzten Wendung, in der die Realität selber sich der Wortwirklichkeit anpasst, die Tatsachen und Menschen sich also sozusagen in das Gerede von ihnen hineinentwickeln. Schließlich und nicht zuletzt sind da die Sieger der Geschichte, die jeweils ihren Ideenvorrat, der mitgesiegt hat, durchdrücken und deren Handlanger jeden verbellen, der unerwünschte Dinge sagt.«

–– ARNOLD GEHLEN,

AUS:MORAL UND HYPERMORAL – EINE PLURALISTISCHE ETHIK

DEUTSCHLAND IST EIN GROSSARTIGES, verstörendes Land. Ein Land, in dem Idealismus und Naivität, Schuldkult und Arroganz, Stolz und Selbsthass, Stärke und Verletzlichkeit eng beieinanderliegen. Eine unsichere Nation, in der politische Korrektheit auf Kosten der Meinungsfreiheit gepredigt wird und historische Korrektheit auf Kosten geschichtlicher Wahrheit. Ein Land mit einem geduldigen Volk, das die bizarren Politmanöver seiner Kanzlerin lange Zeit gleichmütig ertragen hat. Und mit einer politischen Klasse, die der demokratischen Bühne des Bundestages den Rücken gekehrt hat und die ihr Gefühlssprech bevorzugt in substanzlosen TV-Talkrunden dem Publikum darbietet.

Wir leisten uns eine politische Klasse, die – in den Worten des Bonner Staatsrechtslehrers Josef Isensee – menschenrechtlichen Universalismus predigt und die in der Menschenwürde die Einladungs- und Kreditkarte der Willkommenskultur sieht. Die die Politik infantilisiert und sentimentalisiert hat, die mit Betroffenheits- und Befindlichkeitsvokabeln hantiert und der Argumente und Sachverhalte als »das Obszöne« gelten, wie es Cora Stephan einmal formuliert hat. Eine Republik mit einer ehemaligen, längst nicht mehr konservativen Staatspartei CDU, deren Fraktionsarbeitsgemeinschaft »Recht« 2015 das Kunststück fertigbrachte, ein sechsseitiges Papier zur Flüchtlingskrise zu produzieren, in dem Ausführungen zum Staat, zum Volk und zur zivilisatorischen Errungenschaft von Grenzen gänzlich fehlen.

Wo Gesinnung mehr zählt als Sachkunde, konnte es nicht verwundern, was eine Sendung des TV-Magazins Panorama am 12. Mai 2005 ans Licht brachte. An diesem Tag durfte zwar nicht das Volk, aber der Deutsche Bundestag mit seinen 601 Abgeordneten über die EU-Verfassung abstimmen. In der Annahme, dass die Volksvertreter eigentlich wissen müssten, worüber sie entscheiden, fragte Panorama führende Experten aller Parteien nach dem Inhalt des EU-Verfassungsvertrages. Keiner von ihnen hatte die geringste Ahnung von den Zuständigkeiten der EU. Christian Ströbele von den Grünen wusste immerhin: »Das sind sehr viele.« Friedbert Pflüger von der CDU antwortete auf die Frage, welche Mehrheiten es in Brüssel brauche, um ein Gesetz zu verabschieden, mit entwaffnender Ehrlichkeit: »Das weiß ich nicht.«

Zugegeben, es war von den Parlamentariern vielleicht etwas zu viel verlangt, die 500 Seiten mit ihren 448 Artikeln und ihren 36 Zusatzprotokollen durchzusehen, bevor sie zum Votum schritten. Die französischen und die niederländischen Bürger, denen ein Volksentscheid gestattet wurde, haben den Text vermutlich auch nicht studiert, bevor sie ebenso instinktiv mit Nein stimmten wie die deutschen Abgeordneten mit Ja. Und warum sollten die folgsamen Volksvertreter ein Papier aus Brüssel mühsam durcharbeiten, wo sie doch schon vorher wissen, dass sie alles, was von der EU kommt, gutheißen werden? Die Mehrheit der Gesetze wird ohnehin nicht mehr in Berlin gemacht. Die Abgeordneten nicken nur noch ab, sie spielen nur noch Gesetzgeber.

Unter der Prämisse, dass Argumente, Sachverhalte und Realitäten eben nicht »das Obszöne« sind, sondern Grundlage jeder Erkenntnis, wurde dieses Buch geschrieben. Es bietet keine Verfassungsgeschichte – die müsste im Detail darstellen, wie Geist und Buchstabe des Grundgesetzes ausgehöhlt und verfälscht wurden. Es ist ebenso wenig eine innenpolitische Darstellung – die müsste schildern, wie der politische Betrieb in Deutschland mit der Zeit verflacht wurde und wie sehr die Qualität des politischen Personals seit der Adenauer-Zeit gelitten hat. Und es ist auch keine Wirtschaftsgeschichte, obwohl sie immer wieder in die Erzählung hineinspielt und obwohl die Beobachtung richtig ist, dass Deutschland ohne seine ökonomische Potenz ein schlechtes Beuteobjekt abgegeben hätte. »Sie glauben doch nicht im Ernst«, sagte der griechische Philosoph Panajotis Kondylis, »dass sich für Deutschlands Schuld jemand interessieren würde, wenn Deutschland kein Geld hätte.« Nicht nur das, die Deutsche Mark würde heute noch existieren, hätte die Bundesbank alles getan, um sie herunterzuwirtschaften.

Zweck dieses Buches ist es, Gegenwart und Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland auf eine neue Weise zu sortieren und damit eine Realgeschichte zu präsentieren, die das deutsche Drama aus ungewohnter Perspektive beleuchtet. Dabei werden zwei Handlungsstränge verfolgt. Zum einen die Plünderung des Landes durch die Siegermächte nach 1945, dann der Komplex der finanziellen Wiedergutmachung von den fünfziger Jahren bis zur Wiedervereinigung (und auch danach) und schließlich die in der Hauptsache von Deutschland finanzierte Umverteilung in der EU, die der britische Historiker Niall Ferguson ein »einvernehmliches System von Kriegsreparationen« nannte. Und zum anderen der Handlungsstrang Souveränität, ein Leitmotiv der Regierung Adenauer. Sie konnte 1990 mit der Wiedervereinigung völkerrechtlich verankert werden, wurde dann aber in der politischen Praxis ausgehöhlt, nicht zuletzt durch den Euro – ein Film, der just in dem Augenblick zurückgespult wurde, als sich die Handlung ihrem glücklichen Ende zu nähern schien.

»In der Politik geht es nicht um Problemlösungen und Erleichterungen oder Verbesserungen im Leben der Bürger«, sagte Roland Baader, »sondern um Macht, um die Herrschaft von Menschen über Menschen. Macht ist die verführerischste aller Drogen.« Das gilt für die internationalen Beziehungen ebenso wie für die innerstaatlichen Verhältnisse. Der Besitz von Macht ermöglicht es, andere dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie aus eigener Einsicht nicht tun würden. Der Mächtige ist Subjekt, der Ohnmächtige wird zum Objekt und zur leichten Beute und flüchtet sich zugleich in ideologische Überhöhung und Rechtfertigung, um seinen Status zu beschönigen.

So entstehen politische und historische Schutzbehauptungen und Legenden, die verbissen verteidigt werden. Stimmt es etwa nicht, dass der berüchtigte Morgenthau-Plan 1945 nur modifiziert, aber nicht beerdigt wurde, dass sich die US-Truppen unter General Eisenhower schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben,1› Hinweis dass die Siegermächte mit den Beschlüssen von Jalta und Potsdam das Völkerrecht mit Füßen getreten haben? Nein, so hören wir, Deutschland wurde befreit – und eine deutsche Fernsehsendung verstieg sich zur irren Version, die Wehrmachtssoldaten, die 1944 in der Normandie Widerstand gegen die Invasion leisteten, hätten gegen die eigene Befreiung gekämpft.

Oder was ist davon zu halten, dass die Ostdeutschen aus ihrer Heimat verjagt wurden und dass über 2 Millionen im Zuge der Vertreibung den Tod fanden? Es war nur ein Bevölkerungstransfer, so wird relativiert, oder – noch besser – sie mussten eben die vorher von Deutschland »besetzten« Gebiete verlassen. Letztere, ganz neue Lesart hat sich der Herausgeber des Handelsblatt einfallen lassen.2› Hinweis

Das historische Gedächtnis in diesem Lande ist inzwischen so kurz, dass nahezu alles unwidersprochen behauptet werden kann. Lange ist es her, dass DerSpiegel an den »Aberwitz« und den »Raubzug« der Nachkriegsreparationen erinnerte, dass er von »Reparationsbeute« sprach, dass er den Missbrauch von Wiedergutmachungszahlungen anprangerte oder dass er der jugoslawischen Regierung vorrechnete, sie habe in ihre Statistik von Kriegstoten gleich auch noch die massakrierten Volksdeutschen eingeschmuggelt, um mehr Entschädigung verlangen zu können.3› Hinweis

Ist es vielleicht nur eine Unterstellung, dass nie in der neueren Geschichte eine Volkswirtschaft und ein ganzes Land so gründlich ausgeplündert wurden wie Deutschland nach 1945? Deutschland habe überhaupt keine Reparationen bezahlt, behauptete Jahre später der amerikanische Botschafter in Bonn. Was sich in den Jahren bis 1951 in den Besatzungszonen wirklich abgespielt hat, erfahren Sie in Kapitel 3. Widerlegt wird nicht nur die Legende von der Befreiung, sondern auch das Märchen, die Sieger hätten die Demokratie nach Deutschland gebracht.

War der Euro etwa eine Frage von Krieg und Frieden, wie Helmut Kohl behauptete, und eine Großtat der europäischen Verständigung? Oder wurde er nicht gegen alle Widerstände durchgesetzt, um die erfolgreichste und angesehenste europäische Zentralbank, nämlich die Bundesbank, zu entmachten und das primäre deutsche Souveränitätsmerkmal, die D-Mark, zu beseitigen? Diese Geschichte der Selbstentäußerung finden Sie in Kapitel 7. Und in Kapitel 6 wird mit einer Fülle von Zahlen und Fakten belegt, wie das europäische Projekt eines Adenauer und eines Schuman entgleiste und in eine reguläre Transferunion umfunktioniert wurde.

Die Deutschen, ein im Grunde idealistisches und unpolitisches Volk, tun sich schwer damit, die harten Realitäten von Geld und Macht zur Kenntnis zu nehmen. Da bleibt es ausländischen Beobachtern wie dem bereits zitierten Niall Ferguson vorbehalten, die Verhältnisse auf den Punkt zu bringen, wenn er darauf hinweist, dass die Leistungen Deutschlands für die europäische Integration denen entsprechen, die dem Land nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag aufgebürdet wurden.4› Hinweis Und die französische Tageszeitung Le Figaro verglich den Vertrag von Maastricht mit dem von Versailles – nicht gerade ein Kompliment für die Politiker, die das Ende der D-Mark aus freiem Willen besiegelt haben, während Versailles unter Androhung von physischer Gewalt unterschrieben werden musste.

Ich gestehe gerne ein, dass solche Stimmen aus dem befreundeten Ausland die Anregung geliefert haben, der Sache auf den Grund zu gehen. Das vorliegende Dossier Beuteland versucht denn auch, soweit das überhaupt möglich ist, zusammenzustellen, wie viel im Verlauf von 7 Jahrzehnten aus Deutschland an Sachvermögen, geistigem Eigentum und finanziellen Leistungen herausgezogen wurde.

Eine auch nur annähernd genaue Gesamtsumme kann nicht ermittelt werden. Nur die Kosten der regulären Transferunion, in die die EU umgewandelt wurde, sind exakt belegbar. Die Rechnung für die irreguläre Transferunion, zu der die Europäische Währungsunion verkommen ist, bleibt nach oben offen, solange das Experiment Euro nicht abgeschlossen ist. Ausreichend gut ist unser Informationsstand über die jahrzehntelange Wiedergutmachung, die bedauerlicherweise keineswegs immer bei den Opfern von NS-Unrecht angekommen ist. Über das Volumen der Reparationen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges können immerhin seriöse Schätzungen vorgelegt werden. Fest steht, dass sowohl die Reparationen als auch die Kosten der EU-Transferunion den Preis übertreffen, der für den verlorenen Ersten Weltkrieg gezahlt werden musste. Eine Feststellung, die nicht zum Selbstmitleid anregen soll. Die Deutschen können sogar, wenn sie wollen, stolz auf ihre Wirtschaftskraft sein, die es ermöglicht hat, einen solchen Aderlass zu verkraften.

Damit wird zumindest eine Teilantwort auf die Frage gegeben, warum die Deutschen trotz aller wirtschaftlichen Erfolge im europäischen Vergleich nicht wirklich reich sind. Um zu verstehen, dass dabei Eigenverschulden eher schwerer wiegt als Fremdverschulden, muss man sich nur die Kurve der deutschen Staatsschuldenquote ansehen. In den fünfziger und sechziger Jahren entfernte sie sich trotz der Belastungen durch Wiederaufbau, Londoner Schuldenabkommen und Wiedergutmachung nie weit von der Marke von 20 Prozent, bezogen auf das Bruttosozialprodukt. Erst in den siebziger Jahren, als die Regierung Brandt von der Marktwirtschaft Ludwig Erhards abrückte, als sich die Staatsausgaben nicht mehr nach dem Steueraufkommen richteten, sondern umgekehrt, als Geld im Kalkül der Regierenden keine Rolle mehr spielte, begannen die Schulden zu explodieren. Der Staat wurde zum Feind der privaten Vermögensbildung. In den fünfziger Jahren wurde ein Topverdiener erst dann mit dem Spitzensteuersatz belastet, wenn er das 17-Fache des damaligen Durchschnittslohnes bezog. Heute genügt das 1,3-Fache, das sind knapp 53 000 Euro. Auch dies eine Form der Enteignung und Ausplünderung.

Nachdem die Deutschen mit dem Hinweis auf Hitler ein halbes Jahrhundert lang in die Defensive gedrängt wurden, wird neuerdings ihr angeblicher Reichtum instrumentalisiert. Dies verbunden mit der moralisch unterfütterten Zumutung, ihn zu teilen und andere am eigenen Wohlstand teilhaben zu lassen. Eingefordert wird das, was die Politiker europäische und internationale Solidarität nennen.

Als die Europäische Zentralbank 2013 eine Übersicht über das Geld- und Immobilienvermögen der Euro-Länder veröffentlichte und dabei herauskam, dass das mittlere Vermögen der Deutschen (gemessen an den Medianwerten) ganz unten rangiert und noch niedriger ist als das der Portugiesen, Spanier und Griechen, fiel Angela Merkel nichts Besseres ein, als zu erklären, die deutschen Vermögen sähen kleiner aus, als sie seien.5› Hinweis Es hätte ja jemand auf die Idee kommen können, dass hier nicht mehr übermäßig viel zu holen sei.

Inzwischen haben die Deutschen aufgeholt, während die Südeuropäer krisenbedingt zurückgefallen sind. Neue Zahlen für alle Euro-Länder lagen im Frühjahr 2016 noch nicht vor. In ihrem Monatsbericht vom März 2016 bezifferte die Deutsche Bundesbank das Mediannettovermögen deutscher Haushalte mit 60 400 Euro. Das italienische betrug nach Angaben der Zentralbank in Rom, die von der Bundesbank zitiert wurde, 138 000 Euro. Die Mediane sind die Werte, die die Haushalte in eine ärmere und eine reichere Hälfte teilen. Sie sind aussagekräftiger als die Durchschnittswerte, weil diese durch relativ wenige sehr große Vermögen verzerrt werden. In manchen Fällen sind Durchschnittswerte völlig bedeutungslos, zum Beispiel das durchschnittliche Alter von Eintagsfliegen und Elefanten.

Beim reinen Finanzvermögen, also ohne Berücksichtigung der Immobilien, schneiden die Deutschen besser ab, weil sie im europäischen Vergleich wenig Wohneigentum besitzen. Aber auch hier liegt das Vermögen je Einwohner in Deutschland mit 65 000 Euro nur minimal über dem Durchschnitt der Euro-Zone, immer noch unter dem italienischen, deutlich unter dem französischen, irischen und belgischen und weit unter dem niederländischen. Veröffentlicht wurde diese Übersicht im Oktober 2015 von der Europäischen Zentralbank.

Hinzuzufügen ist, dass die Mehrheit der deutschen Haushalte nichts abzugeben hat. Auf die untere Hälfte entfallen nur 2,5 Prozent der in Deutschland angesammelten Vermögen. Die wohlhabenden und die reichen Deutschen noch stärker zur Ader zu lassen ist auch keine gute Idee. Dann würden noch mehr ins Ausland abwandern. Worauf beruht eigentlich das Gerede vom reichen Deutschland? Letzten Endes auf der übermäßigen Besteuerung, die zulasten der privaten Vermögen geht, und auf den hohen Exportüberschüssen – zwei Faktoren, die die Euro-Zone stabilisieren und zusammenhalten.

Dank der Steuerkraft konnten die deutschen Staatsschulden in der Nähe von 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) gehalten werden. Das begründet die ausgezeichnete Kreditwürdigkeit des deutschen Staates an den Kapitalmärkten. Ohne die AAA-Bonität und die deutsche Staatsgarantie für die Rettungsfonds hätte die Euro-Krise einen ganz anderen Verlauf genommen. Die Akteure an den großen internationalen Finanzplätzen trauen den Franzosen und Italienern nicht, glauben aber fest daran, dass Deutschland notfalls die Zeche zahlt. Zugleich sorgen die deutschen Exporterfolge dafür, dass die Leistungsbilanz der Euro-Zone insgesamt nicht in die roten Zahlen abrutscht und der Euro an den Devisenmärkten nicht zu einer Schwachwährung verkommt, bisher jedenfalls.

Dennoch ist die Substanz weniger belastbar, als es auf den ersten Blick aussieht. Zum einen drohen auch die deutschen Staatsfinanzen langfristig aus dem Ruder zu laufen. Nach dem Tragfähigkeitsbericht, den das Bundesfinanzministerium im Februar 2016 vorlegte, könnten die Staatsschulden bis 2060 auf mehr als 200 Prozent des BIP ansteigen, wenn weiterhin nur 1,4 Kinder je Frau geboren werden. Bei einer Geburtenrate von 1,6 sähe die Entwicklung erheblich besser aus. Schon jetzt hat der Bundeshaushalt wegen der auch demografisch bedingten, enorm hohen Sozialausgaben vor allem für die Renten so gut wie keinen Spielraum mehr für Investitionen und andere primäre Staatsausgaben.

Zum anderen wird sich die extreme Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft in der nächsten Weltwirtschaftskrise als Achillesferse des deutschen Modells erweisen. Abgesehen davon hat Dieter Spethmann, der ehemalige Thyssen-Chef, in seinen Schriften immer wieder darauf hingewiesen, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion Deutschland um die Früchte seiner Exporterfolge bringt. Die Summe der jährlichen deutschen Leistungsbilanzsalden seit 1999 hätte sich in einem entsprechenden Anstieg des deutschen Nettovermögens im Ausland niederschlagen müssen. Stattdessen haben sich 735 Milliarden Euro in Luft aufgelöst. Von jedem Euro, der seit Beginn der Währungsunion durch den Export erwirtschaftet wurde, gingen nach einer Berechnung von Thomas Mayer, dem Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute, gut 40 Cent verloren.6› Hinweis

Deutschland könnte reich sein, ist es aber nicht. Die Bundesrepublik hat es nicht einmal geschafft, einen Staatsfonds für schlechte Zeiten anzulegen wie andere Länder mit strukturellen Exportüberschüssen. Der größte dieser Staatsfonds, der norwegische Government Pension Fund Global, residiert am Bankplassen 2 in Oslo, wird von der norwegischen Zentralbank verwaltet und war 2015 rund 900 Milliarden Dollar schwer. Die entmachtete, in den Euro gezwungene Deutsche Bundesbank sitzt hingegen nach dem Stand vom Frühjahr 2016 auf dubiosen Target-Forderungen in Höhe von 600 Milliarden Euro, von denen niemand weiß, was sie wert sind und wie sie eingetrieben werden können. Norwegen hat für künftige Generationen vorgesorgt. Die dem Euro verpflichtete Bundesregierung hinterlässt kommenden Generationen Zahlungsverpflichtungen für andere Länder und eine Staatsschuld, die langfristig schwer zu beherrschen sein wird. Jeder Norweger hat über den Staatsfonds 140 000 Euro global in Aktien und Anleihen investiert, zuzüglich seines Privatvermögens. Davon können die Deutschen mit ihren 65 000 Euro an Finanzvermögen je Einwohner nur träumen.

Schließlich eine Anmerkung zu Kapitel 8, das sich mit den Umständen der Flüchtlingskrise und der Ideologie des Multikulturalismus befasst. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei der hypermoralisierenden Willkommenskultur um einen weiteren, sehr späten Versuch der Vergangenheitsbewältigung gehandelt hat. Joachim Gauck lieferte dazu die interessante Interpretation, die Flüchtlinge von heute seien auch »politische Nachfahren der Verfolgten während der nationalsozialistischen Diktatur«.7› Hinweis Und der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz erklärte die exzessive Willkommenskultur an deutschen Bahnhöfen mit dem »Gefühl der großen Schuld«, die Deutschland im vergangenen Jahrhundert auf sich geladen habe, fügt aber hinzu: »Auch unser exzessiver Lebensstil weckt Schuldgefühle.«7

Ähnlich sieht es der französische Philosoph Alain Finkielkraut: Die Deutschen hätten den Moment für gekommen gehalten, ihren historischen Makel zu bereinigen und sich endlich freizukaufen. Finkielkraut weiter: »Indem es den Antisemitismus von gestern sühnen wollte, hat das Deutschland der Willkommenskultur womöglich dem Antisemitismus von morgen Spalier gestanden.« Er attestierte den Deutschen »Weltfremdheit« und Angela Merkel ein »Vergessen einer verantwortungsbewussten Moral«.9› Hinweis

Wenn Finkielkrauts Diagnose zutrifft, hat das spezifisch deutsche Konstrukt von Kollektivschuld und Kollektivverantwortung, das so von keiner anderen Nation geteilt wird, im Sommer 2015 sein Endstadium der Absurdität erreicht. »In unserem Kulturkreis ist Schuld streng individuell«, so Professor Gerard Radnitzky auf einer Konferenz in München, »es ist barbarisch, jemandem aufgrund der Handlungen anderer Menschen eine Schuld zuzuschreiben. Der Versuch, Schuldlosen einzureden, sie seien wegen der Verbrechen anderer irgendwie verantwortlich, ist selbst verantwortungslos, erkenntnistheoretisch naiv und moralisch abstoßend.«10› Hinweis

So gesehen mögen die folgenden Seiten als Aufforderung verstanden werden, die Ratio dem Obskurantismus vorzuziehen – aber auch als Wunsch, den Ablasshandel mit der Geschichte zu beenden, der uns zu lange zugemutet wurde.

Kapitel 1 – Niederlage

Kapitel 1

Niederlage

©: Deutsche Kriegsgefangene nach der Übergabe der Telefonstation PAST in Warschau, 20. August 1944. Wikimedia Commons; Foto Nr. HU 105393 aus der Sammlung des Imperial War Museum; Fotograf: Joachim Joachimczyk.

9. Mai 1945: Deutschlands größte Katastrophe seit dem Dreißigjährigen Krieg

AM 9. MAI 1945, als Hitler schon tot war und die in Schleswig-Holstein domizilierte Regierung des Großadmirals Dönitz von den Engländern noch geduldet wurde, erschien die letzte, die »Abschlussmeldung« des Wehrmachtberichtes, eines Kriegstagebuches des Oberkommandos der Wehrmacht, in dem Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm Jahr für Jahr den Ablauf der Kämpfe aufgezeichnet hatten.

»Seit Mitternacht«, so hieß es in der Abschlussmeldung, »schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige, heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.«

Was sich hinter dieser eher unaufgeregten, auf politische Wertungen verzichtenden Mitteilung einer Kriegerkaste verbarg, war die nackte Tatsache einer in der deutschen Geschichte beispiellosen Katastrophe – einmal abgesehen von der andersgearteten Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert, dem ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer gefallen war. Am 9. Mai 1945 hatte Deutschland aufgehört, Subjekt der Geschichte zu sein. Finis Germaniae, das Ende Deutschlands. Die Sieger waren entschlossen, dem Volk in der Mitte Europas einen karthagischen Frieden aufzuerlegen, von dem es sich nie mehr erholen sollte.

Die Geschichte, die nun folgt, würden wir weder schreiben noch lesen wollen, hätte sie den 1945 absehbaren unglücklichen Ausgang genommen. Im Nachhinein wissen wir, dass alles ganz anders kam. Am besten passt die Metapher des Vogels Phönix, eines ursprünglich ägyptischen, dann hellenischen Mythos, den die Römer neu erfanden und der sich in seiner Neufassung über die ganze Welt verbreitete. Es ist der Mythos eines Vogels, der sich in großen Zeitabständen selbst verbrennt, um dann aus seiner Asche neu aufzusteigen.

Der deutsche Phönix hat sich aus der Asche erhoben, auch wenn der große Publizist Johannes Gross später, 1989, das Bild vom »Phönix in Asche« prägte. Zwar sei, so schrieb er, die Geschichte der Bundesrepublik die eines unerhörten Aufschwungs und nichts komme diesem Erfolg in der langen Geschichte Deutschlands gleich.

Und doch: »Nach der Empfindung seiner Bürger wird der Phönix dicker und behäbiger, aber er fliegt nicht; er breitet nicht einmal seine Flügel aus. Wenn der Staat Flagge zeigt, tut er es halbmast, seine Feiertage sind Trauertage, die Bekundungen der Staatsmänner triefen von Betroffenheiten. Seine Geschichte ist in Wahrheit die des NS-Regimes und der Gedenktage seiner Greuel. Seine Zukunft hat nach dem öffentlichen Bewusstsein, dem die Politik nicht mehr dreinredet, Katastrophen als Gegenstand und Ziel.«

Gross fügte hinzu: »Durch konkludentes Handeln drückt das politische Phänomen Bundesrepublik einen Inferioritätskomplex aus, mögen seine Politiker auch gelegentlich auftrumpfende Reden halten … Die Verwaltung der deutschen Schuld und die Pflege des deutschen Schuldbewusstseins sind ein Herrschaftsinstrument. Es liegt in der Hand aller, die Herrschaft über die Deutschen ausüben wollen, drinnen wie draußen.«11› Hinweis

Aus Sicht der vermeintlichen Stunde Null, nicht aus der Sicht der Sieger, wohl aber aus Sicht der Deutschen, hätte Gross 1945 anders formulieren müssen. Die Besiegten hielten die Bewältigung der Zukunft für wichtiger als die der Vergangenheit.

Beispielhaft dafür stehen drei Männer, die wie alle anderen 1945 vor dem Nichts standen und zu Schlüsselfiguren des deutschen Wiederaufstiegs werden sollten. Eines Wiederaufstiegs, der einem historischen Glücksfall zu verdanken war: dem sich schon wenige Monate nach Kriegsende abzeichnenden, 1947 deutlicher werdenden und 1948 endgültig vollzogenen Bruch der Kriegsallianz zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion Stalins.

Die Umkehr der Allianzen und nichts sonst war die Voraussetzung für die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 und für das Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre. Die drei Schlüsselfiguren – Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß – waren zugleich Produkte dieser Umkehr der Allianzen. Sie wurden zu Gewinnern eines Prozesses, den sie nicht selbst in Gang setzen konnten.

Konrad Adenauer: Gebeugt, nicht gebrochen

Konrad Adenauer, früherer Oberbürgermeister von Köln und einer der bekannteren Politiker der Weimarer Republik, hatte sich nach KZ- und Gestapo-Haft in sein Haus in Rhöndorf zurückgezogen, um dort das Kriegsende zu erleben. Im fortgeschrittenen Alter von 70 Jahren und ohne die Perspektive einer neuen politischen Karriere legte er immer noch großen Wert darauf, auf dem Laufenden zu bleiben. Er hörte mehrmals täglich ausländische Sender, besonders BBC, und ließ sich regelmäßig von einem Offizier im Oberkommando der Wehrmacht ins Bild setzen. So war er, schreibt er in seinen Erinnerungen, auch über die wachsenden Gegensätze zwischen den Alliierten »in etwa« unterrichtet. Als die Amerikaner im März anrückten, seien zwölf amerikanische Granaten in seinem Garten gelandet, die dritte »fünf Meter unterhalb von mir«. »Danach rannte ich ins Haus zurück.« Ob Adenauer die erste Granate wirklich gesehen hat, wie er behauptet, ist fraglich. Das kann er sich auch eingebildet haben.

Wie auch immer, Adenauer überlebte, wurde nach Beendigung der Kampfhandlungen von den Amerikanern zum Oberbürgermeister von Köln ernannt – und von den neuen Besatzern, den Engländern, schon am 6. Oktober 1945 mit der vorgeschobenen Begründung wieder entlassen, er habe seine Pflicht gegenüber der Bevölkerung Kölns nicht erfüllt. Er musste Köln »so bald wie möglich« verlassen. Und: »Sie werden weder direkt noch indirekt irgendeiner wie auch immer gearteten politischen Tätigkeit nachgehen.«

Adenauer in seinen Erinnerungen über den rüden Hinauswurf: »Als ich von der englischen Besatzung abgesetzt, mir jede politische Betätigung unter Androhung eines militärgerichtlichen Verfahrens verboten und ich aus Köln ausgewiesen war, mieden mich aus Furcht vor der Besatzungsmacht meine Freunde. Als ich Köln verließ, sagte mir niemand Lebewohl. Es war eine Atmosphäre um mich, sehr ähnlich derjenigen, die mich umgab, als die Nationalsozialisten mich verjagt hatten.«

Das war das scheinbare Ende der kurzen Nachkriegskarriere eines Mannes, der vier politische Regime erlebt hatte. Er kam zurück. Auf das Kaiserreich, die Weimarer Republik, Hitlers Drittes Reich und die Militärdiktatur der Alliierten folgte die Bundesrepublik Deutschland. »Gebeugt, nicht gebrochen«, so hatte Adenauer im Angesicht der Niederlage seine Verfassung und die seines Volkes umschrieben.12› Hinweis

Franz Josef Strauß: Die erste Begegnung mit den Amerikanern

Als Bonner Verteidigungsminister und geopolitischer Vordenker wurde Franz Josef Strauß wie kein Zweiter neben Adenauer zum Protagonisten des deutschen Comeback, das auf dem Bündnis mit den USA und damit zwangsläufig auf der Wiederbewaffnung basierte. Auch Strauß reüssierte dank der Umkehr der Allianzen, die er frühzeitig und scharfsinnig hatte kommen sehen. Von überragender Intelligenz, mangelte es ihm nie an Selbstbewusstsein. Die Amerikaner und die von ihnen geführte NATO konnten auf ihn zählen, ohne dass er sich jemals das Büßerhemd übergezogen hätte. Das verlangten sie von ihm auch nicht.

Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister bei einer Feldübung der Bundeswehr (1960)

©: Franz Josef Strauß bei einer Inspektion der Bundeswehr (1960). Wikimedia Commons; Quelle: Brigadier general Samuel Lyman Atwood Marshall, United States Army Reserve, gemeinfrei nach US-Gesetz.

Strauß hatte den Russland-Feldzug mitgemacht, war 1944 zum Oberleutnant befördert worden und machte sich am 27. April 1945 mit dem Fahrrad durch ein hinteres Tor aus dem Staub, als die amerikanischen Panzer gerade durch den Haupteingang der Flak-Kaserne von Altenstadt in Oberbayern rollten. Vorher hatte er sich durch einen selbst eingetragenen Vermerk in seinen Wehrpass mit Datum des 20. April aus der Wehrmacht entlassen. Nun im einzigen Zivilanzug, den er noch besaß, verbrachte er die Nacht beim Pfarrer von Schwabniederhofen, fuhr weiter nach Schongau und von dort wieder zurück nach Schwabniederhofen, wo er seine erste persönliche Begegnung mit den Amerikanern hatte.

»Zunächst verwickelte ich die Soldaten in ein Gespräch«, erzählt Strauß in seinen Erinnerungen, »indem ich ihnen klarzumachen versuchte, dass sie sich jetzt zwar über den Sieg über die Deutschen freuen könnten, dass sie aber mit den Russen noch erheblichen Ärger bekommen würden«. Da war der junge Strauß der weltpolitischen Entwicklung weit voraus. Die Soldaten taten seine Prognosen als »Nazi-Geschwätz« ab.

Und dann wurde er doch noch von den Amerikanern in Haft genommen und angewiesen, seine Erfahrungen mit der Taktik der russischen Luftwaffe und deren Bekämpfung mit der leichten und schweren Flak auf über zwanzig Schreibmaschinenseiten zu Papier zu bringen. Strauß folgerte daraus, dass die Amerikaner einen militärischen Konflikt mit der Sowjetunion zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr völlig ausschlossen. Nach nicht einmal 5 Wochen Kriegsgefangenschaft kam er frei und meldete sich bei der Militärregierung, die ihm einen Pass ausstellte und ihn zum stellvertretenden Landrat ernannte. Es kam ihm zugute, dass er Englisch sprach und aus einem katholischen Elternhaus stammte, das ihn gegen die Verführungen der NS-Ideologie zuverlässig immunisiert hatte. Er war unbelastet.

An der Diffamierung der Wehrmacht hat sich Strauß nie beteiligt. In seinen Erinnerungen schildert er den Einmarsch in Lemberg, wo er Zeuge eines doppelten Kriegsverbrechens wurde. Als seine Einheit einrückte, lagen Brandgeruch und Leichengestank über der Stadt. Die sowjetische Geheimpolizei GPU hatte eine große Säuberung durchgeführt. »Sie hatte noch ermordet, was sie ermorden konnte.« Die Russen hätten ihre Opfer tot oder halbtot mit Benzin übergossen und angezündet. Wenige Tage später hörte Strauß in einem Waldstück in der Nähe seiner Stellung die Schüsse eines anderen Kriegsverbrechens: eines Massakers der SS an zusammengetriebenen Juden und kommunistischen Funktionären.

Strauß war Angehöriger der Kriegsgeneration, ohne die der Aufbau der Bundeswehr und das Bündnis mit den USA so nicht realisierbar gewesen wären. Er erinnerte sich: »Zu meiner Prägung haben 6 Jahre in der Wehrmacht, davon mehrere Jahre Fronterlebnis, wesentlich beigetragen. Sie haben mein Verhältnis zu den außerbayerischen Deutschen verändert, haben bei der Formierung der Persönlichkeit und im Kameradschaftsgefühl gegenüber anderen deutschen Stämmen eine wesentliche Rolle gespielt. Das verpflichtende Bewusstsein, für das Ganze einstehen zu müssen, drang unauslöschlich in mich ein. Der Preis für diese Erfahrung ist natürlich überhaupt nicht nennbar. Wenn es denn schon unvermeidlich war, so kann ich nur sagen, dass ich dieser Zeit viel verdanke an Persönlichkeitsbildung, Führungsbefähigung und Bereitschaft zum Risiko.« Eine Einschätzung, die den späteren Politiker Strauß und seinen Charakter besser verstehen hilft.13› Hinweis

Ludwig Erhard: Nachkriegsplanungen, die Hitler verboten hatte

Ludwig Erhard, eine barocke Figur wie Strauß, aber aus sehr viel weicherem Holz geschnitzt, war die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg erspart geblieben. Nichts in seiner beruflichen Laufbahn deutete jemals auf die Rolle hin, die er 1948 und danach spielen sollte. Von 1942 bis 1945 leitete Erhard das von ihm gegründete Institut für Industrieforschung mit Sitz in Berlin und Nürnberg. Es wurde von der Reichsgruppe Industrie finanziert, arbeitete mit dem Wirtschaftsministerium zusammen, das allerdings nur aus Erhard und einer Sekretärin bestand, die ihm über die Jahre hinweg folgte, bis sie schließlich das Vorzimmer des Kanzleramtes bezog. Das Institut besaß nicht einmal eigene Büroräumlichkeiten.

Wirtschaftsminister Ludwig Erhard im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer

©: Konrad Adenauer im Gespräch mit Ludwig Erhard. Wikimedia Commons; Quelle: Konrad Adenauer Stiftung; Urheber: CDU; Fotograf: Paul Bouserath.

Ab Sommer 1943 wurde Erhard in Planungen der Reichsgruppe Industrie einbezogen, die sich mit der wirtschaftlichen Situation nach dem Krieg und mit den Folgen der inflationären Kriegsfinanzierung befassten. Erhard schrieb ein 268 Seiten langes Memorandum, das im März 1944 der Spitze der Reichsgruppe vorgelegt wurde – ein erstaunliches, aber nicht gerade brillantes Papier, in dem wenig auf das Format des späteren Wirtschaftsministers hindeutete. Immerhin: Der Widerstandskämpfer Carl Goerdeler las eine Kurzfassung, die sich auf »Schuldenkonsolidierung« beschränkte, und nannte sie eine »sehr gute Arbeit«. Bereits auf der Flucht vor der Gestapo, empfahl er Erhard seinen Mitverschwörern: »Er wird euch gut beraten.«

Dass es mitten im Krieg Stellen und Personen gab, die sich mit der Nachkriegsplanung beschäftigten, ist für sich genommen schon bemerkenswert. Es spricht für eine Kontinuität des Denkens der Eliten, ohne die sich der Phoenix schwerlich aus der Asche erhoben hätte. In der Ausgabe vom 28. Juni 2015 versuchte das Handelsblatt, Erhard einen Strick daraus zu drehen. Tatsächlich hatte ausgerechnet der berüchtigte SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, Chef des SD-Inland im Reichssicherheitshauptamt, die Hand über die Nachkriegsplanungen der Reichsgruppe und des Wirtschaftsministeriums gehalten. Sonst wären solche Aktivitäten, weil per Führerbefehl verboten, denn auch kaum möglich und viel zu gefährlich gewesen. Und es ist Unsinn, dass sich Erhard »auf den Fluren der NS-Machthaber« bewegt haben soll, wie das Handelsblatt fabuliert. Er war nicht einmal Mitglied der NSDAP, was seiner beruflichen Laufbahn sicherlich gutgetan hätte.

Laut Volker Hentschel, einem Biografen Ludwig Erhards, war Ohlendorf ein »heftiger Kritiker der Kriegswirtschaft und der Kriegsfinanzierung und ein grundsätzlicher Verfechter der Marktwirtschaft«. Er habe das Hohelied auf die Schöpferkraft des freien Unternehmertums gesungen. Eine gespaltene Persönlichkeit? Jedenfalls war es derselbe Ohlendorf, der in der Ukraine 1942 die Einsatzgruppe D befehligte, die auch die von Strauß bezeugten Verbrechen beging, und der Ende 1943 als stellvertretender Staatssekretär in das Reichswirtschaftsministerium einzog, wo er mit Rückendeckung von Himmler die Nachkriegsplanungen protegierte. Ohlendorf trat im Nürnberger Prozess als einer der Hauptzeugen der Anklage auf. Er wurde am 7. Juni 1951 aufgrund seiner Verurteilung im sogenannten Einsatzgruppen-Prozess in Landsberg von den Amerikanern durch den Strang hingerichtet, nachdem sich Mitglieder der Bundesregierung vergeblich für seine Begnadigung eingesetzt hatten.

Und Erhard? Er war nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs einfach arbeitslos. Er war nicht habilitiert, eine wissenschaftliche Laufbahn stand ihm nicht offen. Wer seine Studie aus dem Jahr 1944 gelesen hätte, urteilt sein Biograf Hentschel, hätte sich nicht im Entferntesten vorstellen können, in welche Ämter deren Verfasser avancieren würde. Übrigens ist Hentschels detailversessene Biografie ein Musterbeispiel dafür, dass das Studium der Quellen allein noch kein ausgewogenes Gesamtbild garantiert. Hentschel wird Erhard und seiner Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht.

Den ersten Karrieresprung schaffte Erhard ganz unverhofft schon im Oktober 1945, wobei ihm zugutekam, dass die amerikanische Militärregierung in Bayern nach Gutdünken Politiker einsetzte und entließ. Ganz Deutschland war noch weit entfernt von einer parlamentarischen Demokratie.

Zuerst ernannten die Amerikaner Fritz Schäffer, einen zeitweiligen Insassen des KZ Dachau, zum bayerischen Ministerpräsidenten, einen integren und sehr fähigen Mann, der sich mit den Besatzern verkrachte, bis sie ihn wieder aus dem Amt warfen. Dann beauftragten sie Wilhelm Hoegner, einen aus dem Exil heimgekehrten Sozialdemokraten, ein Kabinett zusammenzustellen. Hoegner hatte Mühe, jemanden für das Ministerium für Handel und Gewerbe zu finden. Die amerikanischen Besatzungsoffiziere in Mittelfranken legten ein Wort für Erhard ein – und der übernahm tatsächlich das Ministerium in der Münchener Prinzregentenstraße. Ende der Stunde Null für den noch ganz unbekannten Wirtschaftspolitiker.14› Hinweis

Umkehr der Allianzen: General Gehlen und das neue Deutschland

Nun müssen wir auch noch Reinhard Gehlen vorstellen, den Idealtypus des patriotischen Kollaborateurs, die personifizierte Antithese zum Morgenthau-Plan, den Profiteur des schon bald ausbrechenden Kalten Krieges zwischen Ost und West, einen Mann, der es dank eines genialen Einfalls schaffte, unbeschädigt und nahezu übergangslos aus der totalen Niederlage in die Welt der Sieger zu spazieren und dort akzeptiert zu werden.

Es war fast so, als hätte für ihn keine Stunde Null geschlagen. Weil Geheimdienste systembedingt im Sanktum einer Weltmacht agieren, noch dazu der amerikanischen, steht die geheimnisumwitterte Figur des Generals Gehlen wie keine andere für die auch von Strauß frühzeitig antizipierte Umkehr der Allianzen und für die Rückkehr Deutschlands in die Politik – wenn auch unter den Fittichen der amerikanischen Führungsmacht. Die reale Gefahr der Auslöschung Deutschlands als Nation war gebannt. Das war alles, was zählte.

Als die Gründung der Bundesrepublik noch als illusionär erschien, zimmerte Gehlen schon an dem Rahmen, in den die Außenpolitik des neuen Deutschland passen würde. Dass sein Masterplan aufging, war fast schon ein Wunder. Dass er nicht scheiterte, hing von Zufällen und glücklichen Wendungen ab, aber auch von einer generalstabsmäßigen Planung.

Erwähnt werden muss auch, dass alles monatelang unter strengster Geheimhaltung vor sich ging. Hätte Hitler von den Vorbereitungen erfahren, wäre Gehlen aufgehängt oder erschossen worden. Hätte die amerikanische Öffentlichkeit Wind von der Kooperation zwischen der »Organisation Gehlen« und den US-Geheimdiensten bekommen, wäre ein Sturm der Entrüstung losgebrochen. Der Deal wäre höchstwahrscheinlich geplatzt.

Generalmajor Reinhard Gehlen, Begründer der »Organisation Gehlen«, aus der später der BND hervorging

©: General Reinhard Gehlen. Wikimedia Commons; Fotograf unbekannt; Quelle: Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (Zentralbild Nr. 183).

Als der Krieg schon verloren war und Hitler unter weit fortgeschrittenem Realitätsverlust immer noch in der Wolfsschanze ausharrte, saß Generalmajor Reinhard Gehlen nur 5 Kilometer entfernt in seinem Hauptquartier der Abteilung »Fremde Heere Ost«, die dem Generalstab des Heeres zugeordnet war. Die Abteilung, die er seit dem Mai 1942 leitete, war zuständig für die Ostspionage und damit für die Aufklärung von Stärke, Taktik und Strategie der Roten Armee. Dazu befragte sie Kriegsgefangene und unterhielt ein Agentennetz im Feindesland.

Der Generalstäbler Gehlen, ein kleiner, fast professoral wirkender Mann mit ruhiger Stimme, vermied es möglichst, an den Führerbesprechungen in der Wolfsschanze teilzunehmen. Er schickte lieber seine Leute oder übergab seine Berichte an Generaloberst Heinz Guderian, den Stabschef des Heeres. Als Guderian am Heiligen Abend 1944 Gehlens neueste Lagebeurteilung präsentierte, wurde Hitler wütend und nannte sie »wertlos«.

Als Gehlen am 9. Januar 1945 eine unmittelbar bevorstehende sowjetische Großoffensive vorhersagte, nannte der Diktator die Analyse »schwachsinnig« und befahl Guderian, Gehlen in ein Irrenhaus zu stecken. »Wenn Sie verlangen, dass der General Gehlen in ein Irrenhaus kommt«, antwortete Guderian, »dann sperren Sie mich auch gleich dazu.«

Noch vor Kriegsende, am 9. April 1945, wurde Gehlen auf Befehl Hitlers entlassen. Da hatte er sich schon monatelang – seit Oktober 1944 – »in aller Ruhe systematisch und unter größter Geheimhaltung auf diesen Augenblick vorbereitet«, schreibt die amerikanische Autorin Mary Ellen Reese.15› Hinweis Er hatte sein gesamtes Archiv auf Mikrofilm vervielfältigen, in acht wasserdichte Behälter verpacken und an verschiedenen Stellen in Erdlöchern und unter den Dielen abgelegener Forsthäuser in den Alpen vergraben lassen. Die Fässer enthielten die Währung, mit der er sich bei den Amerikanern einkaufen wollte: geheimdienstliches Material über die Rote Armee und die Sowjetunion, das niemand sonst im Westen besaß, schon gar nicht die amerikanische Führung. Vorher hatte der General seine Frau und die vier Kinder aus Schlesien herausholen und in Bayern in Sicherheit bringen lassen.

Er selbst brach am 28. April von Bad Reichenhall auf, um in einer vorbereiteten Hütte in den Bergen, auf der Elendsalm nahe Miesbach, das Kriegsende abzuwarten. Es war eine Höllenfahrt zwischen anrückenden amerikanischen Truppen, zurückflutenden Wehrmachtsteilen und mörderischen SS-Leuten, die Jagd auf Deserteure machten. Auch auf der Alm konnten sich Gehlen und seine vier Offiziere nicht wirklich sicher fühlen. Bei Tagesanbruch verließen sie für gewöhnlich die Hütte und versteckten sich oben in den Bergen.

Als sich Gehlen am 22. Mai der US-Armee stellte und in Kriegsgefangenschaft ging, stieß er auf Desinteresse und Ablehnung. Die Amerikaner begriffen nicht, was er anzubieten hatte. Nach mehreren Ortswechseln schafften sie ihn schließlich in ein Gefängnis in Wiesbaden. Das Hin und Her, glaubt Mary Ellen Reese, hat ihm möglicherweise das Leben gerettet, weil die Russen ihn inzwischen suchten. Sie hätten versuchen können, ihn zu entführen, bevor die Amerikaner Schutzmaßnahmen für ihn anordneten. Die amerikanische Besatzungszone war durchsetzt von Sowjetagenten. Nur war der Aufenthaltsort des Generals zunächst bei den amerikanischen Stellen nirgends dokumentiert.

Dass Gehlen erreichte, was er sich seit Oktober 1944 vorgenommen hatte, hatte er zwei Offizieren des Geheimdienstes der US-Armee zu verdanken, die den Wert ihres Gefangenen erkannten: dem Hauptmann John Boker, der Gehlen als Erster verhörte und sich davon überzeugte, »dass Gehlen kein Nazi war und die Linie kannte, die zwischen Partei und Wehrmacht verlief«.16› Hinweis Und Hauptmann Eric Waldman, einem gebürtigen Österreicher, dessen Eltern dem NS-Terror zum Opfer gefallen waren. Die drei lernten sich kennen und schätzen und wurden Freunde.

Captain Boker sorgte dafür, dass Gehlens Name aus der Liste der in US-Gefangenschaft befindlichen Soldaten gestrichen wurde. Hätte eine falsche Stelle in Washington davon erfahren, wäre er möglicherweise an die Sowjets ausgeliefert worden. Wirklich sicher konnten Gehlen und seine Offiziere sich erst fühlen, als sie noch 1945 unter strengster Geheimhaltung zusammen mit ihrem Archiv nach Fort Hunt südlich von Washington ausgeflogen wurden. Im Sommer 1946 kehrten sie nach Oberursel bei Frankfurt zurück und begannen unter amerikanischer Aufsicht und mit amerikanischem Geld den Aufbau der Organisation Gehlen. Die zog am 6. Dezember 1947 nach Pullach bei München, wurde am 1. Juli 1949 offiziell vom neu gegründeten Geheimdienst CIA übernommen und firmierte ab dem 1. April 1956 – inzwischen in einer Stärke von mehreren tausend Mitarbeitern – als Bundesnachrichtendienst (BND).

Die Organisation Gehlen, aus der der BND hervorging, war eine amerikanische Gründung, die mit den Amerikanern zusammenarbeitete und an die Amerikaner lieferte. Sie konnte sich nie vollständig abnabeln – nur vor diesem Hintergrund wird die NSA-Affäre verständlich, die der Regierung Merkel so viel Ärger bereitet hat. Immerhin verweigerte sich Gehlen der amerikanischen Forderung, seine Quellen offenzulegen, und er setzte durch, dass seine Organisation deutschen Interessen folgen dürfe, sollten die einmal in Konflikt mit den amerikanischen geraten.

Dass im BND Fehler gemacht wurden, zumal in der Personalpolitik, und dass der Dienst mit der Enttarnung des sowjetischen Spions Heinz Felfe in eine schwere Krise stürzte, ist bekannt, aber nicht unser Thema. Hier interessiert die sicherheits- und außenpolitische Dimension: der Antikommunismus als deutsche Staatsräson, wodurch das Bündnis mit den USA erst ermöglicht wurde; der Kampf gegen Fremdbestimmung und für Souveränität, den ja auch Adenauer beharrlich führte; aber auch die Rolle von Gehlens Organisation als Refugium für Offiziere der Wehrmacht, die bei ihm überwintern konnten, bis sie später für den Aufbau der Bundeswehr zur Verfügung standen – darunter auch Adolf Heusinger, ein früherer Vorgesetzter Gehlens, der Generalinspekteur der Bundeswehr wurde.

Wenn man über Geschichte schreibt, besteht immer die Gefahr, den heutigen Wissensstand mit dem früheren zu verwechseln und den Ablauf der Ereignisse so zu interpretieren, als seien sie absehbar gewesen. Das waren sie mitnichten. Während das Pentagon schon 1945/46 Interesse an Gehlen zeigte, wurden die amerikanische, britische und französische Besatzungszone noch gnadenlos ausgeplündert in der Absicht, die deutsche Wirtschaft auf Dauer kleinzuhalten. Als die Central Intelligence Agency, Nachfolgerin des Office of Strategic Services, bereits die Modalitäten der Kooperation mit Gehlen aushandelte, wurden in den Westzonen immer noch Industrieanlagen demontiert, war Westdeutschland noch weit entfernt von einem souveränen Status.

Die Politik Washingtons gegenüber der Sowjetunion und damit gegenüber Deutschland änderte sich nicht über Nacht. Der Prozess, mit dem wir uns noch befassen werden, zog sich über Jahre hin. Die verschiedenen Zweige der riesigen amerikanischen Bürokratie, der politischen wie der militärischen, zogen nicht an einem Strang. Hätte Gehlen nicht frühzeitig Zugang zu den richtigen Personen und Stellen gefunden, dann wäre der Plan misslungen. Bis Anfang der fünfziger Jahre blieb die Existenz der Organisation Gehlen der westlichen Öffentlichkeit unbekannt.

Während Winston Churchill schon am 11. Mai 1945, kurz nach der deutschen Kapitulation, in einem Telegramm an den amerikanischen Präsidenten vor dem Ausbruch eines Dritten Weltkrieges warnte, diesmal mit der Sowjetunion als Gegner17› Hinweis, wehte in Washington noch der Geist Franklin D. Roosevelts. Der betrieb mehr als nur eine Appeasement-Politik gegenüber Stalin. Er agierte wie ein sowjetischer Einflussagent. Er duldete das Treiben einer regelrechten Armee von sowjetischen Agenten auf amerikanischem Boden. Er ordnete an, Sendungen von und nach Russland von der Zensur zu verschonen. Er ließ zu, dass amerikanische Staatsgeheimnisse »systematisch und permanent« abgeschöpft wurden.17 Umgekehrt dachten die Amerikaner nicht daran, ihren sowjetischen Verbündeten auszuspionieren.

Im Krieg und auch noch auf der Konferenz von Potsdam setzte Washington auf ein amerikanisch-sowjetisches Kondominium in Europa. Für deutsche Belange war da kein Platz. Als Stalin das Kondominium torpedierte, mussten die Amerikaner feststellen, dass ihr Kenntnisstand über den neuen Gegner gefährlich dünn war. Das war Gehlens Chance.

Mehr noch: Reinhard Gehlen machte deutsche Politik. Im Jahre 1950, nach Ausbruch des Korea-Krieges, leitete er eine Tagung in einer Jagdhütte nördlich von Frankfurt, auf der die Bedingungen für die deutsche Wiederbewaffnung festgelegt wurden. Es sprach Generaloberst Franz Halder, der 1942 von Hitler gefeuerte Generalstabschef des Heeres.

Die Deutschen müssten, darin war man sich einig, als gleichwertige Partner in der NATO behandelt werden und nicht einfach als Kanonenfutter im Dienst einer fremden Armee. Am 20. September 1950 traf sich Gehlen zum ersten Mal mit Konrad Adenauer und am Tag darauf mit dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher.

Karl Carstens, unter Kiesinger Chef des Bundeskanzleramtes, formulierte es wie folgt: »So entstand frühzeitig eine Partnerschaft mit den westlichen Nachrichtendiensten, die nicht ohne Einfluss blieb auf die spätere politische und militärische Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Alliierten.«19› Hinweis

Wie so oft, hing viel von persönlichen Beziehungen ab: Die gegenseitige Wertschätzung zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und John Foster Dulles, US-Außenminister von 1953 bis 1959, hätte größer nicht sein können; und zugleich amtierte Allen W. Dulles, der Bruder des Außenministers, als Direktor der CIA und stärkte Gehlen den Rücken, auch gegenüber der Bundesregierung in Bonn.

Mit der Gehlen-Story sind wir den Ereignissen weit vorausgeeilt und müssen zurückkehren zur desolaten, schier ausweglosen Lage Deutschlands im Jahr 1945.

Bombenterror: »Wir werden Deutschland zu einer Wüste machen«, versprach Churchill

Wenn in Deutschland wirklich eine Stunde Null schlug, dann am ehesten in der ersten Stunde des 9. Mai 1945, als die Kapitulation der Wehrmacht in Kraft trat und die Waffen an den Fronten in Europa schwiegen. Manchmal ist auch die Rede von einem »Jahr« Null, so in Roberto Rossellinis Film von 1948 Deutschland im Jahre Null. Bundespräsident Richard von Weizsäcker wiederum wollte 40 Jahre nach Kriegsende von der Metapher nichts wissen. In seiner Rede vom 8. Mai 1985 verkündete er, es habe keine »Stunde Null« gegeben, sondern lediglich die Chance auf einen »Neubeginn«.

Luftbild der nahezu völlig zerstörten Stadt Hamburg 1943 nach einem Bombenangriff der »Operation Gomorrha«

©: Hamburg nach einem Bombenangriff. Wikimedia Commons; Quelle: unbekannt. Genehmigung: Public domain, because it is a photograph created by the United Kingdom Government prior to 1955 (credited to the Imperial War Museum).

Das kann man so sehen, je nachdem, was mit dem Schlagwort gemeint ist. Dass Deutschland als freie, prosperierende Nation ein Comeback erleben würde, war 1945 objektiv nicht absehbar, auch wenn Männer wie Adenauer und Strauß nach vorne blickten und auf die Gunst einer neuen weltpolitischen Konstellation setzten. Noch stand die Kriegsallianz zwischen den Angelsachsen und den Sowjets. Als die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz im August 1945 bekannt wurden, verhießen sie eine düstere Zukunft für das besiegte Land, wählten Tausende von Deutschen den Selbstmord. In den Jahren 1946 und 1947 wütete der große Hunger. Und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten war 1945 alles andere als abgeschlossen.

Das Kriegsende hinterließ das Deutsche Reich im Zustand einer totalen menschlichen, materiellen, politischen und moralischen Katastrophe. 3,67 Millionen Soldaten der Wehrmacht waren gefallen, eine halbe Million wurde vermisst, 4 Millionen waren verwundet, 10 Millionen gerieten in Gefangenschaft. Den Bombardements der britischen und amerikanischen Luftwaffe auf deutsche Städte waren 500 000 Menschen zum Opfer gefallen, vielleicht auch erheblich mehr – eine zuverlässige Schätzung der Opferzahl liegt bis heute nicht vor, so Jörg Friedrich in seinem Standardwerk Der Brand. Zugleich gerieten die Terrorangriffe zur größten Bücherverbrennung aller Zeiten, schreibt Friedrich. Allein die Bayerische Staatsbibliothek verlor in der Nacht zum 10. März 1945, als das Bomber Command 70 000 Brandbomben auf München warf, eine halbe Million Bücher, 23 Prozent des Gesamtbestandes.

»Wir werden Deutschland zu einer Wüste machen, ja, zu einer Wüste«, hatte Winston Churchill im Juni 1940 bei Tisch versprochen.20› Hinweis 1945 lagen Deutschlands Großstädte in Trümmern. Von 177 000 Häusern in Frankfurt standen noch 44 000. In Hamburg war gut die Hälfte der Häuser zerstört, in Nürnberg blieben gerade einmal 10 Prozent unbeschädigt. Der Schuttberg im Land wurde auf 500 Millionen Kubikmeter geschätzt.

Stunde Null, das bedeutete auch, dass in den zerbombten Städten nichts mehr funktionierte: die Versorgung mit Lebensmitteln ebenso wenig wie die mit Energie und fließendem Wasser. In seinen Memoiren erinnert sich Konrad Adenauer, dass in Köln nur 300 Häuser unbeschädigt geblieben waren: »Sicher ebenso groß war der Schaden, der der Stadt durch die Zerstörung der Straßen, der Straßenbahngeleise, der unter der Erde gelegenen Kanalisation, Wasserleitungen, Gasleitungen, der elektrischen Stromanlagen und anderer öffentlicher Einrichtungen zugefügt war.«

»Die Gefahren, die sich daraus für die Gesundheit der Menschen ergaben, kann man sich kaum vorstellen. Es gab kein Gas, kein Wasser, keinen elektrischen Strom. Außerdem gab es keine Verkehrsmittel. Die Brücken über den Rhein waren zerstört. Schutt lag in den Straßen meterhoch. Überall erhoben sich riesige Geröllhalden vor den zerbombten und zusammengeschossenen Gebäuden. Köln sah mit seinen zerstörten Kirchen, von denen viele fast 1000 Jahre gestanden hatten, mit seinem geschändeten Dom, mit den aus dem Rhein ragenden Trümmern der einst so schönen Brücken und dem unendlichen Meer von zerstörten Häusern gespenstisch aus.«21› Hinweis

Aus geopolitischer Sicht zieht der Ploetz die folgende Bilanz des Krieges: »Der Versuch der drei ›have-nots‹ Deutschland, Italien und Japan, die Spannungen zwischen den etablierten Großmächten untereinander sowie zwischen ihnen und der Sowjetunion ausnutzend, die 1919/1920 errichtete Weltordnung umzustürzen und die Erde in (auf ihre Interessen ausgerichtete) autarke, strategisch gesicherte ›Großräume‹ aufzuteilen, ist im Verlaufe des Krieges nicht nur gescheitert, sondern hat im Gegenschlag nach der Verwüstung großer Teile des europäischen Kontinents und des ostasiatisch-pazifischen Raumes in einem äußerst opferreichen Ringen zur politischen Katastrophe für die ›have-nots‹ selbst geführt, im Falle Deutschlands infolge des rassenideologischen Vernichtungskrieges mit der Ausrottung der europäischen Juden darüber hinaus auch zu einer moralischen Katastrophe.«22› Hinweis

Auch der Historiker Hellmut Diwald spricht von der Stunde Null, meint aber eher den Zustand der Tabula rasa: »Alles war Schutt geworden, was man einmal mit dem Wort ›Deutschland‹ umschrieben hatte. Nichts mehr existierte davon, weder völkerrechtlich noch territorial, weder materiell noch geistig-politisch. Es gab keinen Staat mehr, der sich ›Deutsches Reich‹ nennen konnte. Herrschaft, Gesetzgebung, vollziehende Gewalt lagen in den Händen der Sieger. Ihre Militärregierungen hatten den deutschen Behörden bis zu den Bürgermeistereien der Dörfer hinab die Rechtsbasis entzogen. Es gab keine Persönlichkeitsrechte, kein Recht auf Eigentum, keinen Schutz vor Willkür. Vom Deutschen Reich war ein Leichenhaus übrig geblieben.«23› Hinweis

Hitler, niemand sonst, hatte das Reich verspielt und damit den Status Deutschlands als europäische Großmacht, den nicht einmal das Versailler Diktat im Kern gefährdet hatte. Mit dem Deutschen Reich endete zugleich die Epoche der globalen Vormachtstellung Europas. Die Flügelmächte USA und Sowjetunion gewannen den Krieg. Der Historiker Hans-Ulrich Thamer arbeitet in seiner bei Siedler erschienenen Deutschen Geschichte sehr schön heraus, wie mit Hitler auch der Nationalsozialismus fast über Nacht verschwand, wie mit dem Verfall des Hitler-Mythos die Anziehungs- und Integrationskraft der herrschenden Ideologie erlosch und wie das deutsche Volk auf die Nachricht vom Tode des Diktators nur noch mit Erleichterung und Teilnahmslosigkeit reagierte. Auch dies eine Stunde Null in dem Sinne, dass eine im historischen Vergleich sehr kurze, unheilvolle Ära abgeschlossen war.

Nicht die krude Weltanschauung des Nationalsozialismus hatte die Mehrheit der Deutschen an das System gebunden, sondern – eine Zeit lang – der Mythos des »Führers«, der schon nach Stalingrad und nach Rommels Niederlage in Nordafrika zu verblassen begann. Schließlich glaubten nur noch Fanatiker an den Endsieg, während die breite Masse zurückfand zu einem auf das Überleben ausgerichteten Pragmatismus.

Als Albert Speer, der Rüstungsminister, im Frühjahr 1945 kreuz und quer durch Deutschland eilte, um Hitlers Zerstörungsbefehl zu verhindern, beobachtete er auf einer Fahrt durch Unterfranken, wie die Einwohner der Dörfer in aller Ruhe damit beschäftigt waren, in ihren Gärten Gruben auszuheben, um das Familiensilber und andere Wertgegenstände vor dem anrückenden Feind in Sicherheit zu bringen. »Überall trafen wir auf das gleiche freundliche Entgegenkommen der Landbevölkerung.« Aber wenn Speer einmal mit seinem Wagen zwischen den Häusern wegen der Tiefflieger in Deckung ging, hörte er: »Herr Minister, könnet se net e Stückle weiterfahre, da zum Nachbar?«24› Hinweis

Wie sich die Bürger auf die kommenden Dinge einstellten, lässt sich auch aus einem Bericht des Sicherheitsdienstes (SD) vom März 1945 herauslesen: »Es ist der breiten Masse derzeit ganz einerlei, wie das künftige Europa aussieht. Aus allen Gesprächen ist zu entnehmen, dass sich die Volksgenossen aller Schattierungen sobald als möglich den Lebensstandard der Vorkriegszeit herbeiwünschen und gar keinen Wert darauf legen, in die Geschichte einzugehen.«25› Hinweis

Ende der Großmachtillusionen, Ende des Heroismus. Die bis heute in einer Endlosschleife vorgetragene Formel vom »Nie wieder« ist ebenso selbstverständlich wie überflüssig und banal. Die kollektive Intelligenz des Volkes hat aus der Katastrophe von 1945 umgehend die Konsequenzen gezogen, ohne dass es einer »Re-education« oder einer Vergangenheitsbewältigung bedurft hätte, die an Lautstärke umso mehr gewann, je länger die Vergangenheit zurücklag.

In der Stunde Null lag der Keim für den deutschen Neuanfang, aber auch für eine neue Ordnung nach dem Ende der europäischen Bürgerkriege – zu einer Ordnung in Gestalt der europäischen Integration, deren Fehlkonstruktionen erst in den neunziger Jahren zutage traten und die ein späteres Thema dieses Buches sein werden.

Doch keine Stunde Null: Warum die Substanz der deutschen Industrie intakt blieb

In der Stunde Null, als Millionen von Flüchtlingen nach Mittel- und Westdeutschland zu strömen begannen, als in Westdeutschland ein Viertel der Wohnungen zerstört war und in der sowjetischen Besatzungszone ein Zehntel, als Millionen von Wehrmachtsangehörigen in Gefangenschaft gerieten, als die Bevölkerung fast ganz aus Frauen, Kindern und Greisen zu bestehen schien, als das wirtschaftliche Leben zum Stillstand kam, als in Deutschland ein unbeschreibliches Chaos herrschte – da musste man glauben, dass sich das Land wohl ein Jahrhundert lang nicht mehr erholen würde.

Dass der Eindruck täuschte, dass alles ganz anders kam, war sicherlich auch dem Überlebenswillen, der Moral und Tüchtigkeit der Deutschen zu verdanken. Ebenso ins Gewicht fiel, dass der Bombenkrieg weitaus weniger an wirtschaftlicher Substanz zerstört hatte, als der Anblick der Trümmer vermuten ließ.

Weil die Strategie des angelsächsischen Luftkrieges darauf abzielte, ganze Städte auszuradieren, die Bevölkerung zu dezimieren und deren Moral zu brechen (wenngleich Letzteres misslang), und weil die deutschen Behörden Industrieanlagen und ganze Parks von Werkzeugmaschinen ausgelagert und in Sicherheit gebracht hatten, blieb ein großer Teil der industriellen Kapazität intakt.

Paradoxerweise begünstigte die Art des Luftkrieges den späteren Wiederaufbau – um den Preis menschlicher Verluste und großen Leides der Bevölkerung. Von wirklich kriegswichtiger Bedeutung waren allerdings die Angriffe der amerikanischen Luftflotten auf die Treibstoffwerke im Osten und im Zentrum Deutschlands und auf die Erdölindustrie in Rumänien. Nach Auffassung von Albert Speer war der »technische Krieg« am 12. Mai 1944 mit dem Angriff der Amerikaner auf die Leuna-Werke entschieden. Der Treibstoff für Flugzeuge und Panzer begann knapp zu werden.26› Hinweis

Bereits vor Kriegsende stellte die US-Luftwaffe ein Team von Wissenschaftlern unter Leitung von John K. Galbraith zusammen, das den Auftrag erhielt, die Verluste zu bilanzieren, die die deutsche Kriegswirtschaft durch die Bombardierung erlitten hatte. Das Team sollte sich ein realistisches Bild von der verbliebenen Substanz des industriellen Kapitalstocks machen. Die Wissenschaftler, die auf die Unterlagen des Statistischen Reichsamtes zurückgreifen konnten, tagten in Bad Nauheim und legten im Oktober 1945 ihren Bericht vor. Das Ergebnis war ernüchternd: Zwar sei die Zerstörung von Berlin, Hamburg, Köln und Frankfurt »absolut grauenerregend«, aber die meisten Angriffe auf die deutsche Rüstungsindustrie hätten sich als »kostspielige Fehlschläge erwiesen«.

Demnach wurden 1944 auf dem Höhepunkt der alliierten Luftoffensive nur 6,5 Prozent aller deutschen Werkzeugmaschinen beschädigt und davon wiederum nur 10 Prozent völlig zerstört. (Albert Speer hatte 600 000 Werkzeugmaschinen in Kasernen und anderswo in Sicherheit bringen lassen.) Selbst die strategisch besonders wichtige Kugellagerindustrie verlor trotz der Bombardierung Schweinfurts nur 16 Prozent ihrer Werkzeugmaschinen durch vollständige Zerstörung oder Beschädigung. In der Stahlindustrie sah das Ergebnis auch nicht viel anders aus. Der Höchststand der Panzerproduktion wurde erst im Dezember 1944 erreicht, als der Krieg schon längst verloren war.

Artikel in der US-Zeitschrift »Air Fronts« über die Luftangriffe auf Schweinfurt

©: Luftkrieg Schweinfurt. Wikimedia Commons; Quelle: U.S. National Archives and Records Administration; Record Group 44: Records of the Office of Government Reports, 1932–1947 (National Archives Identifier: 373); Series: World War II Posters, compiled 1942–1945 (National Archives Identifier: 513498); NAIL Control Number: NWDNS-44-PA-318.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser erinnert daran, wie die Experten in der britischen Besatzungszone, dem Herzland der deutschen Industrie, die Lage noch Ende 1945 beurteilten. Sie hätten geglaubt, vor einem Produktionsapparat zu stehen, »der nahezu auf die Anfangszeiten der Industrialisierung Deutschlands zurückgeworfen ist«. Es habe demzufolge nahegelegen, den beinahe völligen Stillstand der Produktion auf die Luftangriffe der beiden letzten Kriegsjahre zurückzuführen.

Ein völlig falscher Eindruck, meint Abelshauser: »In Wirklichkeit war im Mai 1945 die Substanz des industriellen Anlagevermögens keineswegs entscheidend getroffen. Bezogen auf den Vorkriegsstand 1936 war das Brutto-Anlagevermögen der Industrie sogar noch um 20 Prozent angewachsen.« Der Grund: die »beispiellose Investitionstätigkeit« in den dreißiger Jahren und bis weit in den Krieg hinein. Erst 1944 übertrafen die Bombenschäden den Wert der laufenden Investitionen, so Abelshauser. Außerdem waren die Anlagen 1945 jünger und moderner als in den dreißiger Jahren.

Fazit: »Die deutsche Wirtschaft ging also mit einem angesichts extrem niedriger Produktionszahlen bemerkenswert großem und neuem Kapitalstock in die Nachkriegszeit.«27› Hinweis Hinzu kam, dass trotz der Kriegsverluste genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung standen – nicht zu reden von der wissenschaftlichen und technologischen Spitzenstellung, die Deutschland noch innehatte. Vor dem Krieg lebten in den drei westlichen Besatzungszonen 38 Millionen Menschen, 1947 50 Millionen, und 1950 waren es 54 Millionen – Folge der Vertreibung der Ostdeutschen aus ihrer Heimat und eine von den Siegermächten unbeabsichtigte demografische Dividende.

Morgenthau auf Deutsch: Hitlers Nero-Befehl

Im Frühjahr 1945, als der Morgenthau-Plan noch keineswegs vom Tisch war, als in Washington noch über die Zerstörung der Lebensgrundlagen Deutschlands und dessen Umwandlung in ein armes Agrarland fantasiert wurde, befahl Adolf Hitler Zerstörungsmaßnahmen, die weitgehend deckungsgleich waren mit dem, was der amerikanische Finanzminister Morgenthau beabsichtigte.

Albert Speer

©: Albert Speer. Quelle: tumblr.com (Fotograf unbekannt).