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Wenn Leidenschaft alle Hindernisse überwindet... Schottland, 1426: Schwere Schuld lastet auf Sir Rupert von Atholl: Um den schottischen König James I. zu schützen, hat er dessen Todfeind Herzog Argyll getötet – den Vater seiner großen Liebe Aylinn. Eigentlich müsste die junge Frau ihn dafür leidenschaftlich hassen, doch insgeheim hegt sie starke Gefühle für Rupert, wagt diese allerdings weder sich noch ihm einzugestehen. Erst im Kampf gegen neue Intrigen kommen die beiden einander näher, und die Leidenschaft überwindet alle Hindernisse …
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2014
Jo MacDoherty
Bezaubernde Spionin
Roman
Knaur e-books
Schottland, 1426: Schwere Schuld lastet auf Sir Rupert von Atholl: Um den schottischen König James I. zu schützen, hat er dessen Todfeind Herzog Argyll getötet – den Vater seiner großen Liebe Aylinn. Eigentlich müsste die junge Frau ihn dafür leidenschaftlich hassen, doch insgeheim hegt sie starke Gefühle für Rupert, wagt diese allerdings weder sich noch ihm einzugestehen. Erst im Kampf gegen neue Intrigen kommen die beiden einander näher, und die Leidenschaft überwindet alle Hindernisse …
Perth, September 1425
Tiefste Stille herrschte in den Korridoren des königlichen Palastes in Perth, die nur von einigen wenigen Fackeln erhellt wurden, deren flackerndes, fahles Licht sämtliche Farben auszulöschen schien. Es waren jene Stunden lange nach Mitternacht und vor dem ersten Grauen des Tages, in denen alle schliefen, die Gottlosen und Gläubigen, die Ränkeschmiede und Aufrechten, die Glücklichen und auch die Unseligen … fast alle.
Aylinn von Albany fand trotz der späten Stunde einfach keine Ruhe. Sie hatte sich schon längst von ihrer Zofe beim Auskleiden helfen lassen, hatte ihren Schlummertrunk aus heißer Milch und kostbarem Honig in ihrem großen, weichen Himmelbett getrunken, aber dennoch, ihr Geist wollte sich nicht beruhigen, war immer noch aufgewühlt von den Ereignissen dieses für Schottland so bedeutsamen Tages.
Also war sie wieder aufgestanden und hatte begonnen, rastlos in ihrem Gemach auf und ab zu wandern. Plötzlich blieb Aylinn wie angewurzelt stehen und strich sich mit der Hand über ihre glühenden Wangen.
Bedeutende Ereignisse für Schottland?, dachte sie und verzog das Gesicht. Von wegen Staatsraison! Sie kannte den Grund für ihre Unruhe nur zu gut, aber sie wollte ihn einfach nicht wahrhaben, versuchte, jeden Gedanken daran zu verdrängen, dabei war, wenn sie ehrlich war, in all den Monaten, die seit dem Tod ihres Vaters verflossen waren, kein einziger Tag verstrichen, an dem sie nicht daran gedacht hatte.
Oder genauer, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte.
Geliebter. Vatermörder.
Aylinn hatte das Gefühl, eine eiserne Klammer würde sich um ihr Herz legen, als sie die Erinnerung an den Mann überkam, den sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, und um den seitdem beinahe pausenlos ihre Gedanken kreisten.
Sie seufzte, zog ihre Robe fester um ihre Schultern und trat ans Fenster. Er war der Grund für ihre Unruhe, ihre Schlaflosigkeit und ihre … Aylinn zögerte einen Moment, einen kurzen Moment, bevor sie es sich eingestand. Ihre Furcht.
Ihr bangte vor dem Morgen.
Sie stand vor dem Fenster ihres Gemachs des Königlichen Schlosses in Perth, und plötzlich überkam sie die Erinnerung an eine ganz ähnliche Szene, vor einem Jahr. Auch damals hatte sie Furcht verspürt, eine Furcht, die sie beinahe gelähmt hatte, so übermächtig war sie gewesen. Und auch damals schien die Zukunft Schottlands auf dem Spiel zu stehen, so wie jetzt. Und ebenso wie jetzt war auch damals diese Furcht, die sie empfunden hatte, nicht die Angst einer jungen Frau vor übermächtigen politischen Ereignissen gewesen, die sie zu einem Spielball der Mächtigen zu machen drohte. Oh nein, es war die Furcht vor etwas viel Mächtigerem, Erschütterndem, und damals wie jetzt hatte sie nicht gewusst, was sie tun sollte.
Damals jedoch war etwas geschehen, was ihr diese Furcht nahm, was sich spielend leicht über die Überheblichkeit hinwegsetzte, mit der sie versuchte, ihr zartes, empfindsames Herz zu schützen, wohlwissend, dass sie es ausgerechnet vor dem einen Feind, der es ihr nehmen konnte, nicht zu schützen vermochte. Aylinn lehnte ihren Kopf an das kühle Glas des Fensters und blickte in die Nacht hinaus, während sie sich erinnerte. Ihre schnellen Herzschläge dröhnten ihr in den Ohren, bis ihr schmerzliches Pochen plötzlich nachließ, als sie zu dem aufgeregten Pochen wurden, mit dem ihr Herz damals, vor fast einem Jahr, ihr die unleugbare Wahrheit eingehämmert hatte …
Man konnte der Tochter eines der mächtigsten schottischen Adligen alles Mögliche vorwerfen; Überheblichkeit, Kaltherzigkeit, Gewissenlosigkeit, Machtbesessenheit - und sie wusste, dass nicht wenige Lords und Ladys des schottischen Hochadels genau das taten, und gleichzeitig war ihr klar, dass diese Vorwürfe nicht nur aus der Luft gegriffen waren. Aber eines konnte man ihr nicht nachsagen: dass sie dumm gewesen wäre.
Und nur ein dummer Mensch würde sich einer Wahrheit nur deshalb nicht stellen, weil sie unangenehm war, eine Seite seines Wesens ans Licht förderte, die man lieber im Dunkeln gelassen hätte.
Der Grund für ihre Rastlosigkeit war weder die Krönung des ersten rechtmäßigen schottischen Königs seit vielen Jahren noch die ungeheuerliche Untreue ihres Vaters ebendiesem König gegenüber, Jakob, oder vielmehr James I., wie er sich nach seiner Inthronisierung nannte; eine Untreue, die Hochverrat bedeutete und für die ihr Vater, trotz seiner nahezu unangreifbaren Position als Günstling des englischen Königs und Cousin des Herzogs von Bedford, des eigentlichen Herrschers Englands, zweifellos die Konsequenzen würde tragen müssen.
Oh nein, der Grund, und zwar der einzige Grund für ihren rasenden Pulsschlag, für das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das Prickeln tief in ihrem Leib, die Röte ihrer Wangen war, wie könnte es anders sein, ein Mann, nein, der Mann …
Aylinn schüttelte den Kopf, trat an das Fenster ihres Gemachs und blickte in die Nacht hinaus. Die Fackeln im Hof blakten und warfen tanzende Schatten über die gelblichen Sandsteinmauern des Königlichen Palastes in Perth.
Aylinn hatte nicht einschlafen können und sich lange unruhig im Bett gewälzt. Schließlich hatte sie die schwere Decke von sich geworfen, unter der es ihr plötzlich unerträglich heiß wurde. Sie war aufgestanden, und als sie jetzt am Fenster stand, strich sie mit den Händen über ihren glühenden Körper. So heiß, es war so heiß; selbst ihr hauchdünnes Nachtgewand aus reiner Seide schien sie zu beengen, und sie merkte nicht, wie sie sich die dünnen Träger von den makellos weißen, runden Schultern streifte, eine ihrer wohlgeformten Brüste entblößte, deren Knospen sich langsam verhärteten, ob durch die kühle Nachtluft, die so wohltuend über ihren Körper glitt, oder wegen der Bilder, die sich ungewollt und unerwünscht, aber sehr lebhaft in ihre Gedanken mischten, vermochte sie nicht zu sagen …
Aylinn blieb wie angewurzelt stehen, als die Tür ihres Gemachs leise knarrte und sich Sekunden später mit einem ebenso leisen Knarren wieder schloss.
Sie schloss die Augen, als die Hitze in ihr hochflammte wie ein Feuer, das Rinde und Zweige eines trockenen Baumes erfasste und im Nu bis zur Krone empor fauchte. Sie spürte ihn mit jeder Faser ihres Körpers, und sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihr nächtlicher Gast war. Sie verspürte keine Sekunde lang Angst oder Unsicherheit, als sie jetzt seine Schritte hörte, mehr fühlte, wie er sich ihr näherte …
Sie wusste sehr genau, was geschehen würde, was geschehen musste, und sie sehnte es so sehr herbei, wie sie kaum jemals in ihrem Leben etwas ersehnt hatte. Sie, die selbstbewusste, einflussreiche, umworbene und verwöhnte Tochter eines der mächtigsten Adligen Schottlands fühlte sich plötzlich ganz schwach und auf eine köstliche Art und Weise hilflos. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie wahrnahm, wie er die Hand ausstreckte, öffnete den Mund, der plötzlich wie ausgetrocknet schien, leckte sich die Lippen und stieß ein leises Stöhnen aus, als sie die Spannung kaum noch ertragen konnte, das Warten auf die Berührung seiner eleganten, schlanken Finger, die dennoch so kräftig waren …
Aylinn stöhnte unwillkürlich auf und hielt sich an der Fensterbank fest, als die Erinnerung an diese Szene vor fast einem Jahr so lebhaft in ihr aufstieg, so real wirkte, dass sie unwillkürlich die Arme um sich schlang, als erwarte sie, seine Hände auf ihren Schultern zu spüren, seinen heißen Atem auf ihrer Haut zu spüren und seine erregte Männlichkeit zu fühlen, die sich gegen die weiche Rundung ihres Pos drückte. Sie bog den Rücken durch, schob ihr Becken zurück und fuhr mit der Zunge über die Lippen. Sie lächelte …
… diese wundervollen, sehnigen Finger, die sich jetzt auf ihre weichen, warmen Schultern legten, sie packten und sie sanft herumdrehten. Aylinn hielt die Augen noch einen Moment lang geschlossen, als ihr seidenes Gewand leise raschelnd von ihrem Körper glitt, wie eine Liebkosung ihre Haut streichelte und sich um ihre Füße legte, sodass sie nackt vor ihm dastand, vollkommen nackt, und ohne auch nur eine einzige Sekunde so etwas wie Scham oder Verlegenheit zu empfinden.
Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog, und seine Finger schienen sich in flüssiges Feuer zu verwandeln, als sie über ihren Körper glitten, sie liebkosten, an den geheimsten Stellen, und sie so sehr erregten, dass sie glaubte, es keine Sekunde länger ertragen zu können.
Plötzlich fand sie sich auf dem Bett wieder, ihrem Bett; sie waren beide nackt, und ihre Haut glühte. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen waren, aber das spielte auch keine Rolle. Sie hatte die Augen geöffnet und sah unmittelbar vor sich zwei scheinbar endlos tiefe blaue Becken, in denen ein unglaubliches Licht schimmerte. Aylinn lachte kehlig, als sie begriff, was dieses Licht bedeutete. Es war Liebe, reine, wahre, unsterbliche Liebe, und sie flüsterte seinen Namen, den Namen ihres ersten, und wahren Geliebten, des ersten Mannes, der zu ihr kommen, der sie zur Frau machen würde.
Kaum hatte sie diesen ungeheuerlichen, wundervollen Gedanken gedacht, als sie auch schon ein kurzes, scharfes Brennen zwischen den Beinen fühlte, an dem Punkt, an dem sich die Hitze ihres Körpers zu sammeln schien, sich bis zur Unerträglichkeit steigerte. Sie stöhnte auf, als er ein Stück in sie eindrang. Dann schrie sie erneut, diesmal jedoch vor Enttäuschung, als er überrascht innehielt und sich von ihr zurückzog.
»Aylinn …« Seine Stimme war heiser und belegt vor Erregung, aber es schien sich noch etwas mit hineinzumischen, so etwas wie Sorge. »Aylinn, ich wusste nicht …«
»Oh, Rupert, nein, nein, nicht. Hör nicht auf!« Sie stieß die Worte keuchend hervor, während sie gleichzeitig ihr Becken anhob, um zu verhindern, dass er diese wundervolle Verbindung unterbrach, sie um die Erfüllung brachte, von der sie so oft geträumt hatte und die sie jetzt endlich erleben durfte. Mit ihm, dem Mann ihrer Träume, dem Mann ihres Lebens.
Sie spürte, wie er in sie hineinglitt, sanft zunächst, doch dann kräftiger, sie ausfüllte, ihr ganzes Wesen zu erfüllen schien, bis sie lachte und weinte gleichzeitig, als eine ungeheure Woge sie emporzutragen schien, sich ihr Höhepunkt näherte; sie umschlang ihn, nahm den Mann in die Arme, dem ihre ganze Liebe gehörte, und blickte ihn an, unmittelbar bevor sie von ihrem Höhepunkt überflutet wurde, sah in dieses Gesicht, das sie so gut kannte, so lange schon, und schrie auf …
Sie schrie gellend auf, verzweifelt und beinahe wahnsinnig vor Leid, denn sie blickte nicht in das Gesicht ihres Geliebten, des frisch ernannten Lordkämmerers Seiner Majestät James I. von Schottland, Sir Rupert von Atholl, ihrem Rupert von Atholl.
Sondern sie hatte das Gesicht eines Sterbenden vor sich, hielt seinen Kopf, während sie im Staub des Turnierplatzes kniete, starrte blicklos in die gebrochenen Augen dieses Mannes, des anderen, ebenso wichtigen Mannes in ihrem Leben, aus dessen Mundwinkel das Blut sickerte.
»Nein! Vater! Neiiiin!«
Aylinn spürte nicht, wie sich der scharfkantige Stein der Fensternische in ihre Haut grub, als sie die Finger um den Fels krallte, vollkommen in der Erinnerung an jenen Tag verloren, an dem ihr das Schicksal mit einem Schlag den Geliebten und den Vater nahm, und das dazu auch noch auf die perfideste Art und Weise.
Ihr Geliebter, Rupert von Atholl, der Mann, der sie geliebt hatte und den sie liebte, der Mörder ihres Vaters. Wie sollte sie dem Mann liebend ins Auge sehen können, sich in seine Arme werfen, von ihm halten und lieben lassen, wenn er doch ihren Vater getötet hatte. Und das obwohl er ein Stewart war, ein Angehöriger der Sippe, die versucht hatte, zusammen mit ihrem Vater, den jungen Jakob, den designierten König von Schottland, sofort nach seiner Einreise nach Schottland zu ermorden und dafür zu sorgen, dass Schottland unter die Herrschaft Englands fiel.
Aylinn erschauerte unwillkürlich, als sie an dieses letzte, schreckliche Jahr dachte. Wenigstens hatte sie in Juliet McPherson, der Frau des Mannes, den sie, Aylinn, einst zu lieben geglaubt hatte, eine aufrichtige, kluge und verständnisvolle Freundin gefunden. Ohne Juliet hätte Aylinn diese Zeit der Trauer und inneren Zerrissenheit sicherlich nicht so gut überstanden. Es war auch schon so schwer genug gewesen.
Aber Juliet, Verwandte und engste Vertraute der schottischen Königin, hatte sie nicht nur getröstet, sondern ihr, sozusagen als Sprachrohr des schottischen Königshauses, auch eine Aufgabe übertragen, die Aylinn von ihrem Schmerz, mit dem Vater auch den Geliebten verloren zu haben, einigermaßen abgelenkt hatte.
Eine Aufgabe, die jetzt Früchte tragen würde. Immerhin war sie die Herzogin von Albany und somit eine der mächtigsten Adligen in Schottland. Sowie eine Verwandte des Herzogs von Bedford, des De-facto-Regenten Englands und erbitterten Gegners eines schottischen Königreiches und folglich auch eines Feinds James' I. von Schottland.
Und damit auch seines Lordkämmerers, Sir Rupert von Atholl.
Juliet hatte Aylinn immer wieder versichert, dass vor allem England, das hieß Bedford, erwartete, die Tochter Argylls von Albany würde um ihren Vater gebührend trauern. Und sie hatte Aylinn diskret über den Fortgang der Karriere von Sir Rupert informiert sowie über seine Eroberungen bei Hofe beziehungsweise seine schon fast schroffe Haltung den alles andere als mangelnden Bewerberinnen um seine Gunst gegenüber.
Aylinn hatte nicht gewusst, ob sie froh oder bestürzt sein sollte, dass Sir Rupert von Atholl nicht versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen, nachdem sie ihn damals als »Mörder« beschimpft und davongejagt hatte.
Aber sie wusste, dass sie froh war, wenn Juliet ihr erzählte, dass erneut eine Hofdame Opfer der scharfen Zunge und des ebenso scharfen Verstandes des Lordkämmerers geworden war, nachdem sie versucht hatte, sich ihm mehr oder weniger ungeniert an den Hals zu werfen.
Nicht nur froh … Aylinn entspannte sich und gestattete sich ein kurzes Lächeln. Sie war glücklich gewesen, dass Sir Rupert sie offenbar ebenso wenig vergessen konnte wie sie ihn, und ihre Ungeduld, ihre Sehnsucht, ihn endlich wiederzusehen, waren in den letzten Wochen und Monaten immer stärker geworden.
Aber ihr Plan, der Plan, den Juliet ihr im Auftrag der Königin unterbreitet hatte, erforderte, dass sie sich vom Hofe fernhielt, bis der richtige Moment gekommen war. Dass es richtig so war, dass England tatsächlich mit Argusaugen verfolgte, was in Schottland vor sich ging, bestätigten die zahlreichen Depeschen und Boten aus dem Westminster Palast, die Aylinn auf Campbell House, dem Sitz der Albanys, empfangen hatte. Und deren Tenor immer derselbe war. Bedford wollte sie nach England zurückholen, weil sie, wie er sich ausdrückte, »als Tochter meines lieben, guten Freundes Argyll unter diesen schottischen Barbaren einfach nicht sicher« wäre.
Sie hatte sich, nach Rücksprache mit Joan Beaufort, Gemahlin von James I. und Königin von Schottland, immer geweigert, weil die Zeit noch nicht reif war.
Doch jetzt endlich, nach Ablauf einer angemessenen Trauerfrist, hatte die Königin Aylinn wieder an den Hof bestellt. Wo sie den Plan ausführen sollte, den Juliet und sie ausgeheckt hatten. Einen Plan, mit dem Aylinn die Schuld ihres Vaters an Schottland abtragen, einen Plan, der sie von Schottland wegbringen und auf andere Gedanken bringen sollte.
Aber auch ein Plan, der ein Wiedersehen mit Rupert von Atholl mit sich bringen würde, der Liebe ihres Lebens. Und dem Mörder ihres Vaters.
Als Aylinn jetzt die kühle Nachtluft einsog, sich vom Fenster abwandte und wieder zu ihrem mit prachtvollen Samtvorhängen drapierten Himmelbett zurückging, wusste sie beim besten Willen nicht zu sagen, ob sich diese beiden Dinge miteinander vereinbaren lassen würden.
Sie fürchtete, wie sie auf Rupert reagieren würde. Denn sie liebte ihn immer noch, davon war sie fest überzeugt.
Vor allem jedoch fürchtete sie die Begegnung mit ihm, weil sie nicht wusste, wie er ihr entgegentreten würde, nachdem sie ihn nicht nur mehrfach unverrichteter Dinge von Campbell House weggeschickt hatte, sondern sich, wenn auch auf Geheiß der Königin, geweigert hatte, ihn überhaupt zu empfangen? Sir Rupert hatte sich auch von der direkten Anweisung der Königin nicht abhalten lassen, Aylinn aufzusuchen, und sie konnte sich sehr gut vorstellen, was er ihr hatte sagen wollen. Vermutlich hatte er ihr sein Handeln erklären , ihr seine Liebe beteuern wollen. Jedenfalls hatte sie das befürchtet. Damals jedenfalls. So kurz nach dem Tod ihres Vaters war sie einfach noch nicht in der Lage gewesen, ihn zu empfangen. Und später hatte die Königin sie durch Juliet gebeten, bis auf weiteres keinen Kontakt mit Rupert zu pflegen. Damit, wie sie sagte, ihre Pläne nicht gefährdet würden. Die englischen Spione am Hofe waren sehr gut darüber informiert, ob und mit wem Aylinn Kontakt hielt, und wenn sie für John Bedford überzeugend die trauernde Tochter spielen wollte, die nur an ihren Vater dachte, war es besser, nicht den Mörder ihres Vaters in ihr Schloss und zweifellos auch in ihr Bett zu lassen.
Dennoch hatte Aylinn ihre Entscheidung schon bald bedauert, aber sie hatte sich daran gehalten, und nach mehreren vergeblichen Versuchen hatte Sir Rupert seine Versuche, sie auf Campbell House zu sehen, schließlich aufgegeben.
Wie würde jetzt seine Reaktion ihre Entscheidung beeinflussen, eine Entscheidung, die sie vor fast einem Jahr getroffen hatte, zum Wohl Schottlands?
Aylinn verzog das Gesicht, als sie unter die Laken schlüpfte.
Zum Wohl Schottlands, gewiss. Sie seufzte. Aber vor allem zu ihrem eigenen Wohl. Damals hatte sie es nicht ertragen können, dem Mann gegenüberzutreten, der ihren Vater getötet hatte, hatte töten müssen, dem Mann, den sie liebte.
Die bange Frage, die Aylinn von Albany sich stellte, bevor sie in den Schlummer glitt, war: Würde sie es jetzt ertragen?
Perth, Sommer 1426
Nein!«
Sir Rupert Stewart, Earl von Atholl, fuhr schweißgebadet von seinem Bett hoch und ruderte hilflos mit den Händen durch die Luft, als wollte er jenen schicksalhaften Bolzen aufhalten, das Geschehene ungeschehen machen, das ihn seit mehr als einem Jahr immer und immer wieder in seinen Träumen heimsuchte. Ebenso wie die weit aufgerissenen Augen, das von Angst und Schmerz verzerrte Gesicht jener Frau, die er liebte und mit der er sich seit jener schicksalhaften Nacht eine gemeinsame Zukunft ausgemalt hatte. Bis zu diesem entsetzlichen Moment, kaum zwölf Stunden später, als er, um Connor McPhersons Leben zu retten, ihren ehrlosen, hinterhältigen Vater, Herzog Argyll von Albany, mit einem gezielten Schuss seiner Armbrust getötet hatte. Wie jedes Mal brauchte Rupert einige Sekunden, bis er schwer atmend in die Wirklichkeit zurückfand. Ein trockenes, keuchendes Schluchzen entrang sich seiner Kehle, als er sich aufs Neue der bitteren Wahrheit stellten musste, die dieser Traum ihm so grausam und unerbittlich vor Augen führte. Er hatte das Leben eines Freundes gerettet, hatte seine Pflicht erfüllt, ohne lange darüber nachzudenken, aber er hatte dafür die Liebe seines Lebens aufgegeben. Wie sollte Aylinn von Albany auch den Mann in ihr Bett und in ihr Herz lassen, der ihren Vater vor den Augen des schottischen Hochadels und der englischen Gesandten getötet hatte?
Rupert fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, während das Kribbeln auf seiner Haut langsam abebbte, ebenso wie das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, das sein wild schlagendes Herz durch seinen Körper jagte. Er wartete eine Sekunde, bis seine Gliedmaßen nicht mehr zitterten, schlug die Decke zurück, zog die schweren Samtvorhänge zur Seite und schwang seine Beine aus dem breiten Bett. Seine nackten Füße landeten auf weichem Schaffell, aber er genoss diese Bequemlichkeit nicht. Kalter, eisiger Steinboden wäre ihm in diesem Moment lieber gewesen. Der Schock hätte vielleicht geholfen, seine Sinne zu klären und das schmerzhafte Gefühl von Verlust in seinem Herzen zu vertreiben.
Er trat an das Fenster seines Gemachs, das sich im Nordturm des königlichen Schlosses in Perth befand. Von dort konnte er ungehindert die wunderschöne Aussicht über die Stadt genießen, doch vor seinen Augen schwebte immer noch das Gesicht von Aylinn von Albany, der Frau aus seinem Traum.
Er presste die Lippen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und stützte sie mit den Knöcheln auf das Fensterbrett. Wenn es doch nur ein einfacher Traum wäre, dachte er und spürte, wie eine neue Woge der Verzweiflung über ihn hinwegzuspülen drohte. Erneut erinnerte er sich an jene Nacht vor einem Jahr, in der sich sein Schicksal so merkwürdig zwiegespalten hatte. Der junge Edelmann hatte nicht den geringsten Grund gehabt, sich über Dame Fortuna zu beschweren: Nicht nur war er als einer der wenigen Stewarts vom Ruch der Verschwörung gegen den König verschont geblieben, nein, er war von Jakob, dem späteren König James I., für seine Loyalität mit einem Amt geehrt worden, das seinen jungen Jahren, wie viele hinter vorgehaltener Hand und mancher auch ganz offen murrten, höchst unangemessen war. Lordkämmerer Seiner Majestät James I. von Schottland. Damit hatte Rupert das höchste und wichtigste Amt in Schottland nach dem des Lordkanzlers inne, das seinem väterlichen Freund Sir Archibald Grant zugesprochen worden war. Das war mehr, als Rupert sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Fortuna war jedoch offenbar in großzügiger Stimmung gewesen, so schien es ihm damals. Denn sie begünstigte ihren Liebling nicht nur mit einem der wichtigsten Ämter Schottlands, sondern sie schenkte ihm auch die Gunst der schönsten Frau von ganz Britannien und dazu noch einer der einflussreichsten. Lady Aylinn von Albany, Tochter des mächtigen und ebenso intriganten Herzogs Argyll von Albany. In der Nacht vor dem Turnier war er, schweren Herzens, zu ihrem Gemach gegangen, um ihr die Entscheidung des Königs zu übermitteln, den verräterischen Herzog nach dem Turnier nach England zu schicken, in ein besseres Exil. Aylinn jedoch hatte das bereits aus dem Munde von Juliet de Germont erfahren, der damaligen Gelieben und jetzigen Gemahlin des Earls von Glanchoire, Connor MacPherson, mit der Aylinn eine tiefe Freundschaft verband. So wie er, Rupert selbst, diesen raubeinigen, stolzen und starrköpfigen Highlander McPherson zu seinen Freunden zählte.
Als Rupert damals an ihre Tür geklopft hatte, hatte Aylinn ihn mit offenen Armen empfangen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Aylinn hatte gerade zu Bett gehen wollen. Nur bekleidet mit ihrem seidenen Morgenmantel und einem ebenfalls seidenen Nachtgewand hatte sie in ihrem Gemach gestanden, wie eine Madonna beleuchtet vom weichen Licht der Kerzen und unbeschreiblich schön. Alles, was Rupert ihr wegen ihres Vaters hatte sagen wollen, schien sich aus seinem Kopf verflüchtigt zu haben. Er hatte sie nur ansehen können, hatte unwillkürlich die Hand nach ihr ausgestreckt.
Sie hatten sich angesehen, ohne Worte, und in diesem Moment schienen alle Dämme gebrochen zu sein, hinter denen sich ihre Lust und ihr gegenseitiges Verlangen die letzten aufregenden Monate über angestaut hatte. Sie waren aufeinander zugegangen, mit einem zögernden Schritt zunächst, dann schneller, waren einander in die Arme geflogen und hatten sich geküsst, besinnungslos, leidenschaftlich, und hatten ihre Küsse immer wieder unterbrochen, um sich in die Augen zu sehen und glücklich zu lachen.
Noch immer, nach all diesen Monaten, hatte er den Duft ihres Haares in seiner Nase, das nach Kastanien und Moschus roch, glaubte, ihre honigsüße Haut schmecken, ihre samtene Glätte fühlen und ihre Hitze spüren zu können. Nur zu deutlich erinnerte er sich an ihre perfekten, vollen Brüste, die sich ihm so einladend und lustvoll entgegengestreckt hatten, an das Gefühl der feuchten, seidigen Hitze zwischen ihren Schenkeln, an seine Überraschung, als er in sie eindrang und feststellte, dass sie noch unberührt war, sie, die begehrteste, stolzeste und, wie er fand, schönste Frau der ganzen Insel, Frankreichs, Spaniens und Italiens – kurz, all der Länder, die er bereist und deren Frauen er betrachtet und genossen hatte.
Er erinnerte sich an das bedingungslose Vertrauen in ihrem Blick, als sie ihn ansah und heiser anflehte, zu ihr zu kommen, sie zu erfüllen, sie zu lieben.
Sie hatte ihn erst zu Wort kommen lassen, als sie vom langen Liebesspiel ermattet auf ihrem weichen Bett lagen, und dann auch nur, um sich von ihm seine unsterbliche Liebe versichern zu lassen. Und ihm dann wiederum die ihre zu beteuern und sie ihm zu zeigen, erneut – Ruperts Augen glühten, als er sich daran erinnerte, wie sie das getan hatte - und das trotz des grimmigen Verbots, das ihr Vater für seine Tochter zu einer Ehe mit diesem »lumpigen, mittellosen Stewart, einem grünen Jungen«, wie er Rupert verächtlich genannt hatte, ausgesprochen hatte.
Als Rupert im Morgengrauen in seine Kammer zurückgekehrt war, hatte er das Gefühl gehabt, auf Wolken zu wandeln. Und er hatte nicht im Traum daran gedacht, wie wankelmütig und eifersüchtig Dame Fortuna sein konnte. Um ihm ihre Launenhaftigkeit zu zeigen, hatte ein einziger Armbrustbolzen genügt.
Rupert knirschte mit den Zähnen, als er daran dachte, dass der Herzog durch seinen Tod erreicht hatte, was er im Leben niemals hätte vollbringen können: Die Ehe seiner Tochter mit Sir Rupert von Atholl zu verhindern. Welche Tochter könnte wohl auch mit gutem Gewissen den Mörder ihres Vaters ehelichen? Mehr noch, Aylinn von Albany hatte seit jenem Tag nicht ein einziges Wort mehr mit ihm gewechselt und war einer möglichen Begegnung mit ihm aus dem Weg gegangen, indem sie das väterliche Schloss Campbell House seit nunmehr fast einem Jahr nicht mehr verlassen hatte.
Rupert schüttelte sich, um die Verzweiflung zu vertreiben, die aus den dunklen Ecken seines Gemachs heranschlich und sich über ihn legen wollte. Er durfte sich nicht von diesen düsteren Gedanken zu sehr ablenken lassen, schon gar nicht jetzt, wo Schottlands Zukunft einmal mehr auf dem Spiel stand.
Er beugte sich vor und blickte in den Schlosshof hinab. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits rege Betriebsamkeit auf dem gepflasterten Innenhof vor dem Fried. Hinter den Fenstern der Gemächer von Lord Peter Cunningham, dem ebenso verschlagenen wie gerissenen Gesandten des englischen Königs, brannten noch die Kerzen. Offenbar war Cunningham wach geblieben, zweifellos um seine teuflischen Ränke zu schmieden. Ruperts Blick glitt zu den Fenstern neben denen des Engländers. Sie lagen in tiefster Dunkelheit. Er verzog spöttisch die Lippen, als er daran dachte, wer dort seit gestern logierte.
Heinrich VI., der Kind-König von England, hatte als eine Geste seines Wohlwollens und seines Vertrauens in den schottischen König eine seiner angeblich engsten Vertrauten an den schottischen Königshof entsandt. Vertrauen? Wohlwollen? Lächerlich! Rupert hegte nicht den geringsten Zweifel, wer hinter dieser »königlichen« Geste steckte: Richard von York, der Vetter des noch jugendlichen Königs. Was bedeutete, dass diese Lady … wie hieß sie noch? Richtig, Harrington, Lady Georgina Harrington, vor allem das Vertrauen Yorks besaß und damit der Kräfte am englischen Hof, die sich mit einem unabhängigen Schottland niemals abfinden konnten und wollten. Allen Berichten zufolge war sie ebenso gerissen wie charmant, und dazu wunderschön. Rupert stieß sich vom Fensterbrett ab. Wenn man die Eigenschaften dieser Engländerin ins Schottische übersetzte, bedeutete das sehr wahrscheinlich, dass sie sowohl eiskalt und skrupellos und obendrein vermutlich auch noch Yorks Geliebte war. Er konnte sich außerdem sehr gut vorstellen, dass sie sich mit Lord Peter Cunningham, dem »englischen Fuchs«, ausgezeichnet verstand. Was genau sie im Auftrag Yorks am schottischen Hof bewerkstelligen sollte, das entzog sich vorläufig Ruperts Kenntnis. Aber er würde in den nächsten Tagen gewiss genug Gelegenheit bekommen, das herauszufinden, denn heute sollte sie offiziell bei Hofe eingeführt werden.
Ein Klopfen an der Tür seines Gemachs riss ihn aus seinen Gedanken. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde die Tür schwungvoll geöffnet, und er hörte schwere Schritte, als der Mann eintrat, ohne auf seine Aufforderung zu warten.
Rupert lächelte trotz seiner düsteren Gedanken. Eine solche Unverfrorenheit besaß nur eine Person, aber seine Belustigung verschwand, als er daran dachte, dass dieser Mann nur dann so unhöflich war, wenn etwas wirklich Dringendes ihn dazu trieb. Und Dringlichkeit war in diesen schwierigen Zeiten zumeist gleichbedeutend mit Unannehmlichkeiten. Gelinde gesprochen.
»Sir Archibald«, sagte Rupert, ohne sich umzudrehen. »Treibt Euch die Rastlosigkeit des Alters so früh zu mir? Oder sehnt Ihr Euch nach einem Gespräch unter Männern über die Vorzüge gewisser weiblicher Gesandter, hm?«
»Pah!« Sir Archibald Grant, seines Zeichens Clanchief der Grants und seit der Inthronisierung Seiner Majestät James I. von Schottland Lordkanzler des Reiches, stieß ein verächtliches Schnauben aus, während er sich dem kleinen Tisch näherte, auf dem eine Karaffe mit Wasser und eine mit Wein stand. Ohne auf Ruperts Aufforderung zu warten, packte er die Weinkaraffe, goss sich eine großzügige Menge in einen Becher, nahm ihn und stürzte den Inhalt in drei großen Schlucken herunter. »Englische Hure wäre wohl die bessere Bezeichnung für diese sogenannte Lady!«, knurrte er, wischte sich den Bart ab und stellte den Becher wieder auf den Tisch zurück.
»Bedient Euch«, meinte Sir Rupert und drehte sich zu dem älteren Mann herum.
»Was?« Sir Archibald war ganz offensichtlich aufgebracht, denn auch wenn er ein polternder, bärbeißiger schottischer Haudegen war, besaß er gleichwohl geschliffene Manieren. Die er nur vergaß, wenn ihm etwas über die Leber gelaufen war. »Ach so, danke, aber ein Schluck auf nüchternem Magen reicht.« Er stellte den Becher achtlos wieder ab, ohne auch nur das kleinste Anzeichen zu geben, dass ihm Sir Ruperts ironische Aufforderung peinlich wäre. Ja, er schien sie gar nicht bemerkt zu haben. Stattdessen schüttelte er den Kopf, während seine mächtigen weißen Brauen sich drohend zusammenzogen. »Obwohl ich das natürlich niemals laut in der Gegenwart von irgendwelchen Höflingen äußern würde.«
»Nein?« Sir Rupert konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich glaube, Sir Archibald, dass Eure beeindruckende Fähigkeit, geistige Getränke in großen Mengen zu Euch nehmen zu können, ohne dass man es Euch anmerkt, bei Hofe allgemein bekannt ist. Allerdings«, fuhr er fort, als Sir Archibald ihn verständnislos ansah, »dachte ich, dass es sich vor allem auf unseren guten schottischen Whisky bezieht , nicht auf dieses edle Getränk, das Ihr einmal, wenn ich mich nicht irre, als Gesöff für Engländer und andere Weibsbilder bezeichnet habt, richtig?«
Natürlich wusste Sir Rupert, dass Archibald von Grant mit seiner Bemerkung nicht auf seine Trinkgewohnheiten, sondern auf die wenig schmeichelhafte Beschreibung der englischen Gesandten angespielt hatte. Aber er nahm den bärbeißigen Griesgram gern auf den Arm, weil er wusste, dass Sir Archibalds Humor ebenso strapazierfähig war wie seine Leber, und außerdem bot ihm, Sir Rupert, dieses kleine Wortgefecht Gelegenheit, seine Zunge für die Begegnung mit den gerissenen und bissigen Engländern zu schärfen. Und, gib es ruhig zu, dachte er, sich von anderen Gedanken und Bildern abzulenken, Traumbildern, in denen eine wunderschöne Frau mit blonden Haaren und vollen, verführerischen Lippen - vom Rest ihres makellosen Körpers ganz zu schweigen - eine Hauptrolle spielte.
Sir Archibald dämmerte, wenn auch etwas später, dass Sir Rupert sich auf seine Kosten über ihn lustig gemacht hatte. Obwohl er als Lordkanzler im Rang über dem jungen Lordkämmerer stand, dachte er gar nicht daran, Sir Rupert seine Bemerkung übel zu nehmen, oder ihn etwa zurechtzuweisen. Stattdessen lachte er, wenngleich etwas gequält.
»Wohl wahr, aber ich bin noch nicht zu alt, um dazuzulernen.« Er warf einen kurzen, sehnsüchtigen Seitenblick auf die Weinkaraffe, schüttelte sich dann jedoch und seufzte. Wein mochte vielleicht ein Getränk für Weibsbilder sein, aber er hütete sich, seine Wirkung zu unterschätzen. Und für die Begegnung, die ihnen gleich bevorstand, war es besser, einen klaren Kopf zu haben. »Jedenfalls würde es mich nicht wundern, wenn diese englische … Lady selbst in Whisky baden könnte, ohne dass man es ihr anmerkt. Dieses Weib ist mit allen Wassern gewaschen, Sir Rupert, glaubt mir.«
»Ihr seid also nicht von Lady Harringtons Aufrichtigkeit und Tugendhaftigkeit überzeugt?« Rupert trat gelassen an einen gepolsterten Lehnstuhl, nahm das frische Leinenhemd, das sein Kammerdiener bereitgelegt hatte, und streifte es sich über den Kopf.
»Tugendhaftigkeit?« Archibald von Grant lachte bellend. »Glaubt Ihr wirklich, dass Bedford und York sie nach Schottland geschickt hätten, wenn sie tugendhaft oder aufrichtig wäre? Hierher, in die Höhle der Barbaren?«
Sir Rupert neigte zustimmend den Kopf, aber seine Lippen zogen sich zu einem schmalen Strich zusammen, und in seinen dunkelblauen, klaren Augen schimmerte Stahl, als Sir Archibald die Namen der beiden Männer erwähnte, die England für den noch jugendlichen König Heinrich VI. »regierten«, wie sie es nannten. Auswringen wäre gewiss das bessere Wort, dachte er. Richard von York, der Vetter des Königs, führte die Amtsgeschäfte des Königreiches, tatkräftig unterstützt vom Herzog John von Bedford, dem Onkel des jungen Königs, Bruder seines Vaters Heinrichs V., und, was kein Schotte vergessen würde, Feldherr der Engländer in der siegreichen Schlacht von Vernuil, die so viele Söhne Schottlands das Leben gekostet hatte. Dass die Engländer die Schotten Barbaren schimpften, konnte er schon eher verschmerzen, vor allem deshalb, weil er nicht ganz abstreiten konnte, dass die Sitten und Manieren seiner Schotten tatsächlich ein wenig, wie er zu sagen pflegte, rustikal waren.
Außerdem war Bedford ein entfernter Verwandter des toten Herzogs Argyll von Albany und steckte zweifellos hinter der scharfen Protestnote, mit welcher der englische König auf den Tod seines »lieben Cousins Albany« reagiert hatte. Rupert runzelte die Stirn. Ja, Bedford war ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte, vor allem jetzt nicht, da sein alter Groll gegen die Schotten auch noch durch diese persönliche Färbung verstärkt worden war. Was wiederum die Frage umso interessanter machte, was diese Lady Georgina Harrington tatsächlich im Schilde führte. Wenn sie wirklich von Bedford geschickt worden war …
»Ihr meint also«, nahm Sir Rupert den Faden wieder auf, während er sich das schwarze samtene Wams mit den weiten Pluderärmeln zuknöpfte, die Amtskette mit dem Siegel des Lordkämmerers über den Kopf hob und sie auf dem weichen Stoff zurechtrückte, »dass diese Lady ebenso verdorben wie gerissen ist? Hm«, er lächelte, setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl und zog seine hohen ledernen Schaftstiefel an. »Das klingt nach einer recht interessanten und fast schon unwiderstehlichen Herausforderung, Sir Archibald, findet Ihr nicht?«
Der alte Clanchief des Grant-Clans führte schon seit mehr als zwanzig Jahren als Chieftain, wie die schottischen Clans einen gewählten Häuptling nannten, die Geschicke mehrerer anderer, sehr einflussreicher und vor allem königstreuer Clans. Jetzt musterte er den jungen Stewart nachdenklich. »Möglicherweise, sicher, für einen jungen Burschen, wie Ihr es seid, vielleicht. Ich dagegen …«
Sir Rupert lachte. »Ich weiß, Sir Archibald, ich weiß. Würdet Ihr mit dieser Lady Georgina zu ungeniert flirten, liefet Ihr Gefahr, des Abends in Euren ehelichen Gemächern gerädert und gevierteilt zu werden.« Aufrichtige Herzlichkeit schimmerte in Sir Ruperts Augen, als er den alten schottischen Haudegen ansah. »Übrigens, wie geht es der holden Lady Hester? Ich hoffe, sie ist bei bester Gesundheit und …«
Sir Archibald knurrte und machte eine beschwörende Handbewegung. »Es könnte ihr nicht besser gehen, danke der Nachfrage. Nicht besser, wahrhaftig. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hat, dass ich das Amt des Lordkanzlers angenommen habe …«, er verstummte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchtete zunächst, sie würde der Schlag treffen, als ich es ihr gestanden … mitgeteilt habe.« Er grinste etwas verlegen. »Und dann …«
»Und dann?«, fragte Sir Rupert neugierig nach, während er vor einen metallenen Spiegel trat und sich das Bonnet auf sein dunkles, welliges Haar drückte. Er warf dabei einen Seitenblick auf den Lordkanzler und traute seinen Augen nicht.
Der griesgrämige, in Ehren ergraute Haudegen und Chef des einflussreichen Grant-Clans, erprobter Kämpfer in vielen Schlachten und welterfahrener Mann, den so schnell nichts mehr aus der Fassung bringen konnte, errötete doch tatsächlich.
»Na ja«, brummte er. »Sie hat erwidert, dass wir … wenn ich mich so frisch fühlen würde, ein solch anstrengendes Amt anzunehmen, dann sollte ich ja wohl auch … dann könnten wir …«
Sir Rupert war zufrieden mit seinem Äußeren und drehte sich jetzt zu dem älteren Mann herum. »Könntet Ihr … was?« Er war wirklich neugierig.
»Sie hat vorgeschlagen«, knurrte Sir Archibald griesgrämig und warf dem Jüngeren einen scharfen Blick unter seinen buschigen Augenbrauen zu, »unsere Schlafgemächer wieder zusammenzulegen. Um den unverhofften Frühling zu nutzen, der über Grant Castle hereingebrochen wäre, wie sie sagte. Pah! Weibsbilder!«
Sir Rupert lachte herzlich, als er das mutwillige Funkeln in den Augen des Chieftains bemerkte. Und erneut schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, wie glücklich er sich schätzen konnte, sich des Respekts und der Freundschaft dieses Mannes rühmen zu können. Sir Archibald mochte ein kluger Lordkanzler sein, ein harter und erfahrener Chieftain und ein gerissener und zäher Verhandlungspartner, aber er war auch ein Mann von beeindruckender Aufrichtigkeit, tugendhaft und anständig, und dazu jemand, der zu seinem Wort stand. Das wusste Sir Rupert umso mehr zu schätzen, seit er jetzt fast ein Jahr in dieser Schlangengrube des schottischen Hofes verbracht hatte. Nein, Sir Archibald war ein Mann, in dem nichts Falsches schlummerte und der keine heimtückische Ränke schmiedete.
Sir Rupert zog die Brauen zusammen, als er den Chieftain betrachtete. Nicht zuletzt wegen seiner Geradlinigkeit merkte man Sir Archibald sofort an, wenn ihm etwas auf der Seele brannte, und genau diesen Gesichtsausdruck und diese Körperhaltung legte er jetzt an den Tag.
»Seid Ihr nur gekommen, um mich vor dieser englischen Sirene zu warnen, Sir Archibald?« Er spürte, dass da noch mehr war, und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Wäre es um eine Staatsangelegenheit gegangen oder eine der zahlreichen Intrigen, hätte Sir Archibald keine Sekunde gezögert, in seiner üblichen, polternden Art darüber herzuziehen, ganz gleich, wer Zeuge des Gesprächs wurde. Dass er jedoch zu dieser frühen Stunde in Sir Ruperts Gemach kam, zweifellos, um unter vier Augen mit ihm zu reden, ließ vermuten, dass es um etwas anderes ging, um ein Thema, über das Sir Archibald nur ungern mit ihm sprach, und ohne Zeugen.
»Sirene?« Sir Archibald war einen Moment verwirrt.
»Sagengestalten aus der griechischen Mythologie«, erklärte Sir Rupert abgelenkt. »Sie vermochten mit ihrem Gesang die Männer zu betören, und der gute alte Odysseus stopfte sich Wachs in die Ohren um …« Sir Rupert unterbrach sich, als Sir Archibald uninteressiert nickte und sich in dem Raum umsah. Er spürte, wie sich eine kalte Klammer um sein Herz legte. Es gab nur ein Thema, das er sich denken konnte, das dem Chieftain Unbehagen bereitete. Etwas, das auch ihm, Sir Rupert, zu schaffen machte. Ein Thema … oder vielmehr, eine Person.
»Aylinn von Albany.«
Er merkte erst, dass er ihren Namen laut ausgesprochen hatte, als ihr Klang den Raum erfüllte. »Was ist mit Ayl… mit der Herzogin?« Seine Stimme klang belegt, und er verwünschte sich dafür. Wenn es um Aylinn ging, die Liebe seines Lebens, verließen ihn seine gewohnte Selbstsicherheit und kühle Überlegenheit. Obwohl er sie jetzt seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte.
»Sie wird heute ebenfalls am Hofe erscheinen«, beantwortete Sir Archibald die unausgesprochene Frage des jungen Stewart.
Sir Ruperts Herz schien einen Schlag auszusetzen, nur um dann noch heftiger gegen seine Rippen zu hämmern, und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Aylinn! Hier? Aber wieso? Was wollte sie am Hofe? Und wer hatte sie eingeladen? Der König? Natürlich, der König. Aber warum, nach dieser langen Zeit? Seit dem Verrat und dem Tod ihres Vaters - erneut durchzuckte Sir Rupert ein schmerzhafter Stich bei diesem Gedanken - hatte sie sich auf ihr Schloss Campbell House, den Sitz der Albanys, zurückgezogen und sich vor der ganzen Welt abgeschottet. Nun, vielleicht nicht vor der ganzen Welt, jedenfalls aber vor ihm. Dem Mann, den sie, wie sie ihm in jener Nacht immer wieder ins Ohr geflüstert hatte, liebte und immer lieben würde. Ihrem ersten Liebhaber, dem Mann ihrer Träume, dem Mörder ihres Vaters.
Sir Rupert riss sich zusammen. »Also hat sie jetzt genug um ihren Vater getrauert?«, erkundigte er sich mit einer Gelassenheit, die von seiner bebenden, erstickten Stimme Lügen gestraft wurde. »Das ist gut.«
»Das ist vor allem noch nicht alles, Sir Rupert«, erwiderte Sir Archibald. »Es gibt da noch etwas, was Ihr wissen solltet, bevor Ihr Aylinn gegenübertretet.«
»Tatsächlich?« Sir Rupert sah den älteren Mann fragend an, während ihm das Blut in den Ohren rauschte. Was konnte schlimmer sein, als seiner Liebe in dem Wissen gegenübertreten zu müssen, dass sie ihn verschmähte, ja schlimmer noch, verachtete? »Und das wäre?«
Sir Archibald seufzte. »Sagte ich, dass ein Schluck Wein vor dem Frühstück reicht?«, meinte er ausweichend. »Ja, das habe ich gesagt, nicht wahr? Wohlan denn, dann würde ich, mit Eurer Erlaubnis, jetzt gern frühstücken. Wo zum Teufel versteckt Ihr Euren Whisky, Sir Rupert?«
Voila! Ihr seht wundervoll aus, Mylady. Wie eine Königin. Wirklich, wie eine richtige Königin.«
Aylinn warf der hübschen dunkelblonden Frau, die hinter ihr stand und sie anstrahlte, im Spiegel einen gespielt tadelnden Blick zu. »Lasst das nicht Ihre Majestät hören, Nanette. Ich glaube nicht, dass es Joan Beaufort gefällt, wenn Ihr so schwärmt. Königinnen, selbst wenn sie noch so freundlich scheinen, dulden keine Konkurrenz. Und schon gar nicht, wenn sie dabei mit der Schönheit einer anderen Frau konkurrieren muss.«
»Ah pah!« Nanette DeFleurilles machte eine wegwerfende Handbewegung und zupfte eine Schleife an Aylinns dunkelgrünem Samtkleid zurecht. »Wenn es doch wahr ist! Mein Buffon sagt immer wieder …«
»Hört auf!« Aylinn hob lachend die Hand. »Hört schon auf. Ich will gar nicht wissen, was dieser irische Dickschädel dazu zu sagen hat. Ich bin überzeugt, dass seine Worte höchst ungeeignet sind, in Gegenwart einer Dame wiederholt zu werden.« Sie zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, was sie da sagte. »Damit wollte ich natürlich nicht andeuten, dass Ihr keine Dame wärt, Nanette. Verzeiht, falls ich …«
Nanette DeFleurilles’ perlendes Lachen unterbrach sie. »Schon gut, Durchlaucht, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Zudem habt Ihr ganz recht. Er ist wahrlich ein richtiges irisches Lästermaul. Wisst Ihr, was er über diese englische Teufelin gesagt hat, diese Lady Harrington?«
Aylinn war froh, dass Nanette ihr diese unbedachte Bemerkung nicht übel nahm. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und die Worte waren ihr entschlüpft, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Sie wollte Nanette nicht verärgern. Denn insgeheim war sie heilfroh über den lebhaften Tratsch der jungen Hofdame. Ihr Geplapper lenkte sie von ganz bestimmten Gedanken ab, die ihr seit Tagen und Wochen den Schlaf raubten. Aylinn warf einen kurzen Blick in den Spiegel und musterte ihre seegrünen, dunkel schimmernden Augen. Tage und Wochen?, dachte sie ironisch. Sei doch wenigstens aufrichtig zu dir selbst, schalt sie sich. Es war kein Tag in diesem letzten, schrecklichen Jahr vergangen, seit diesem furchtbaren Moment auf dem Turnierplatz, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte, sich nicht in den Schlaf geweint hatte und nicht des Nachts von Träumen heimgesucht wurde; es waren wundervolle Träume, in denen ein Mann sie verfolgte, dessen zärtliches Lächeln ihr beinah das Herz zerriss und dessen liebevoller, inniger Blick aus seinen klugen blauen Augen ihre Seele zu versengen drohte. Dennoch waren es schreckliche Träume, die stets in einem Albtraum mündeten; unfehlbar schreckte sie schreiend daraus hoch und hatte statt des leidenschaftlich glühenden Antlitzes ihres Geliebten das blutige, staubbedeckte Gesicht ihres sterbenden Vaters vor Augen. Aylinn schluckte und zwang sich zu einem Lächeln.
»Was hat er denn gesagt, Nanette? Doch nichts allzu Irisch-Aufrührerisches, hoffe ich?« Sie warf der Hofdame einen kurzen, spöttischen Seitenblick zu. »Das sollte ich mir eigentlich nicht anhören, da ich der vornehmen Lady schließlich unbefangen gegenübertreten soll. Immerhin ist sie auf Geheiß des englischen Königs und des Herzogs von Bedford hierhergekommen, meinem wenngleich etwas entfernten Verwandten.«
Nanette schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, Mylady. Ihr kennt doch Buffon. Er würde nie …«
Aylinn lachte, diesmal aufrichtig. »Eben weil ich ihn kenne, Nanette, warne ich Euch ja davor. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie er damals auf dem Bankett zur Krönung sein Lied über Elfen und Kentauren zum Besten gab, sehr zu Connors und Juliets Verlegenheit …«
Sie verstummte, als sie sich an das Bankett erinnerte. Aber es war nicht das spöttische Lied des Barden, woran sie dachte, sondern an etwas anderes, an jemand anderen, an ein Gesicht, ein markantes, gut geschnittenes Gesicht mit blauen Augen unter einem dunklen Haarschopf. Augen, deren Blick sie an jenem Abend immer wieder begegnet war und den sie, wie sie sich eingestand, auch immer wieder gesucht hatte. Ein Blick, der ihr Innerstes zu verflüssigen schien und dessen Eindringlichkeit ihr beinahe den Atem genommen hatte. Sie wusste nicht einmal mehr, was sie mit ihrem Tischnachbarn gesprochen hatte. Sie hätte ihren Titel und ihre Hand verpfänden können, ohne es zu merken. Die Verwirrung, in die Sir Rupert von Atholl sie gestürzt hatte, war selbst ihrem Vater aufgefallen … Sie riss sich aus ihrer Träumerei, als sich bei diesem Gedanken erneut ein Gefühl von Melancholie und Trauer über sie legte und ihr das Herz schwer wurde.
Nanette DeFleurilles sah sie mitfühlend an. Jeglicher Humor war aus ihrer Miene gewichen, als sie jetzt zu der jungen Herzogin trat und ihr etwas kühn die Hand auf den Arm legte. Diese Art von Vertraulichkeit stand ihr zwar einer Lady von Aylinns Rang gegenüber nicht zu, aber sie spürte, dass diese Frau, die sich so beherrscht, stolz und unnahbar gab, Trost dringend gebrauchen konnte.
»Geht es Euch gut, Mylady?«, erkundigte sie sich besorgt. »Ihr seid plötzlich so blass geworden.«
Aylinn konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, unter dieser Berührung zusammenzuzucken. Sie suchte den Blick der Hofdame im Spiegel, fand in deren blauen Augen jedoch weder versteckte Schadenfreude noch Spott oder Arglist, sondern nur aufrichtige Anteilnahme. Sie schluckte. Dieses unaufgeforderte Mitgefühl war so wohltuend, und sie erlaubte sich diesen kleinen Augenblick der Schwäche, diesen Moment des Trostes von einer anderen Frau, einer verwandten Seele. Nach einem Herzschlag fasste sie sich, lächelte, legte ihre Hand auf die von Nanette und drückte sie kurz. »Ich danke Euch, Nanette. Ihr seid ein … ein Schatz.« Sie hob den Kopf. »Ich hoffe«, fuhr sie dann gewohnt selbstsicher fort, »dass dieser unbotmäßige irische Dickschädel das auch gebührend zu schätzen weiß.«
Der innige Moment war verflogen, und Nanette zog mit einem unmerklichen Zögern ihre Hand zurück. »Das weiß er sehr gut, Mylady, glaubt mir.« Ihr Lachen klang ein klein wenig gezwungen. »Und sollte er es doch einmal vergessen, weiß ich Mittel und Wege, es ihm ins Gedächtnis zurückzurufen!« Sie verkniff es sich hinzuzufügen, dass sie auch liebend gern versucht hätte, Aylinns sichtliches Unbehagen zu lindern. Ein Unbehagen, das, wie Nanette sehr genau wusste, nichts mit der bevorstehenden Audienz bei dem schottischen Königspaar, ihrer Begegnung mit Lord Peter Cunningham, dem englischen Gesandten, und Lady Georgina Harrington zu tun hatte, über die sie eben noch gelästert hatten. Gar nichts. Dafür jedoch alles mit dem strahlenden Stern am Himmel des schottischen Hofes, dem einzigen Stewart, der nicht nur unbeschadet aus den Intrigen gegen James I. von Schottland hervorgegangen war, sondern sogar eine beispiellose Karriere gemacht hatte, hoch in der Gunst des Königs stand und von ihm zum Lordkämmerer berufen worden und somit nach dem König und dem Lordkanzler der mächtigste Mann im Staat war. Rupert von Atholl, ein Mann, ebenso intelligent wie mutig, der im richtigen Moment das Richtige getan hatte. Nanettes Miene verdüsterte sich. Sicher, es war das Richtige gewesen. Juliet McPherson, die Gemahlin von Connor McPherson, Earl von Glaschoire, Laird von Mandrake Manor und Clanchief der McPhersons, würde ihr gewiss aus ganzem Herzen zustimmen. Denn Sir Rupert hatte mit seiner Tat das Leben ihres Gemahls, Connor McPhersons, gerettet. Dennoch, wie grausam war Dame Fortuna, die manchmal schwerste Prüfungen und gewaltige Steine eben denen in den Weg legte, die sie zuvor so zu erheben schien. Als gäbe es kein Licht ohne Schatten, kein Gutes ohne Böses, keinen Sieg ohne Verlust; das wahrlich hatte Sir Rupert höchst schmerzlich am eigenen Leib verspürt. Sein Armbrustbolzen mochte Connor McPherson das Leben gerettet und den schottischen König davor bewahrt haben, eine politisch höchst brisante Entscheidung treffen zu müssen, eine Entscheidung, die das junge schottische Königreich möglicherweise in einen sehr ernsten Konflikt, wenn nicht einen Krieg mit England gestürzt hätte, bevor es sich überhaupt hatte festigen können. Dieser Bolzen hatte leider nicht nur den Gang der Geschichte, sondern auch das persönliche Schicksal von Sir Rupert beeinflusst. Denn nicht zuletzt wegen dieser Geistesgegenwart, die sich mit einer scharfen Intelligenz paarte, war der Stewart zur Überraschung aller, trotz seines jugendlichen Alters und dem Makel seiner Herkunft als Mitglied einer Familie von Hochverrätern, von James I. von Schottland zum Lordkämmerer berufen worden.
Gleichzeitig jedoch hatte dieser Schuss, der den heimtückischen Herzog Argyll von Albany auf dem Turnierplatz niedergestreckt hatte, auch mitten ins Herz seiner Liebe getroffen. Keine Frau, sei es eine einfache Bäuerin aus dem Volke oder eine Edeldame, die auch nur das geringste Empfinden für Anstand und Sitte hatte und etwas auf sich hielt, würde den Mörder ihres Vaters als Ehemann in ihr Bett nehmen. Trotzdem, Nanette DeFleurilles war nicht wirklich davon überzeugt, dass Sir Rupert mit seinem Schuss die Liebe seiner Angebeteten wirklich getötet hatte. Jedenfalls nicht, wenn sie Aylinn von Albany ansah. Eines war jedoch sicher, er hatte damit eine Situation geschaffen, die recht ausweglos schien.
Aylinn spürte Nanettes nachdenklichen Blick auf sich ruhen, während sie vorgab, ihr Spiegelbild zu betrachten. Die junge Herzogin von Albany wusste sehr wohl, welch große Rolle, vor allem am Hof eines Königs, das Äußere spielte und der Eindruck, den man hinterließ. Aber darüber machte sie sich keine allzu großen Sorgen. Sie wusste, wie sie aussah, wusste, dass sie schön war - gab es etwa nicht genug Schmeichler, die ihr das immer und immer wieder unaufgefordert bestätigten? –, und sie hatte dieses grüne Samtkleid mit den schwarzen Spitzen, den raffinierten Bordüren und dem tiefen Ausschnitt schließlich nicht aus einer Laune heraus ausgesucht. Ihre Garderobe und auch dieser Moment ihres Auftretens am Hofe waren das Ergebnis kluger Kalkulation. Als Juliet McPherson, die für Aylinn mittlerweile eine gute Freundin geworden war, sie vor einem Monat besucht hatte und, wie sie strahlend verkündete, die Abwesenheit ihres Gemahls Connor nutzte, um »gute Freundschaften« zu pflegen, hatte Aylinn sich keine Sekunde von Juliets unbekümmerter Fröhlichkeit täuschen lassen. Die beiden Frauen hatten sich erst zwei Wochen zuvor, anlässlich einer Jagd, die Connor in den Wäldern um Mandrake Manor veranstaltete, getroffen und ausgiebig geplaudert.
Zudem, und das war der weit wichtigere Hinweis, hatte Juliet ihr heiß geliebtes Töchterchen Elizabeth, von der sie sich so gut wie nie trennte und in die sie und ihr Gemahl grenzenlos vernarrt waren, auf Mandrake Manor gelassen, in der Obhut ihrer Amme. Dafür hatte sie Nanette DeFleurilles mitgebracht, ihre Vertraute und Freundin, die vor den turbulenten Geschehnissen bei Jakobs Heimkehr und seiner anschließenden Krönung zu James I. eine fast ebenso wichtige Rolle gespielt hatte wie Juliet selbst. Und zurzeit diente Nanette als Hofdame der Königin Joan Beaufort in einer Position, in der sie die Intrigen, Ränke und Pläne des Palastes sozusagen aus erster Hand mitbekam. Worüber sie Juliet zweifelsohne auf dem Laufenden hielt.
Aylinn lächelte, als sie an ihre Freundin dachte. Juliet de Geramont, wie sie vor ihrer Eheschließung mit Connor McPherson geheißen hatte, lag die Politik sichtlich im Blut. Daran änderte weder ihre hingebungsvolle Liebe zu Connor etwas, dem Mann, den auch Aylinn einst zu lieben glaubte, noch die Geburt ihrer Tochter Elizabeth vor wenigen Monaten. Als Cousine der schottischen Königin hatte Juliet de Germont entscheidenden Anteil daran gehabt, dass die Heimkehr Jakobs zu einem Triumph der Königstreuen wurde, ebenso wie Connor.
Aylinn ließ ihren Blick über die Erscheinung im Spiegel vor sich gleiten. Das tiefgrüne Kleid passte perfekt zu ihren seegrünen Augen und betonte ihre roten Lippen und ihre kastanienroten Locken, die sie aufgesteckt hatte und die von einem mit schimmernden Perlen besetzten Netz gebändigt wurden. Ihre makellose Haut schimmerte fast perlmuttern, überzogen mit einem kaum wahrnehmbaren Honigton, der vom Baden im See und ihren langen Ausritten herrührte. Ihr Kinn war zwar energisch, aber trotzdem wohlgeformt, ihre Nase gerade, fast klassisch, und zwischen ihren roten Lippen schimmerten weiß ihre regelmäßigen, nicht zu großen Zähne. Sie war schön, zweifellos, und zudem eine ausgezeichnete Partie, Tochter und einzige Erbin eines Herzogs von englischen Gnaden, Herrin über Campbell House und mehrere Weiler der direkten Umgebung, dazu über Besitzungen nicht nur in Schottland und Frankreich, sondern auch in England. Ihr Titel würde, wie es Sitte war, auf ihren Ehemann übergehen, der dadurch mit einem Schlag zu einem der mächtigsten Adligen Schottlands werden würde. Zweifellos wusste das auch Herzog John von Bedford, der englische Regent, der ihr deshalb seit dem Tod ihres Vaters unablässig Depeschen schickte, in denen er sie mehr oder weniger elegant zur Rückkehr nach England aufforderte. Und genau diesen Wunsch Bedfords wollte sich Juliet, das heißt Joan Beaufort, nun zunutze machen. Der Plan, den die beiden Frauen seit fast einem Jahr geschmiedet hatten, war gereift und stand kurz davor, Früchte zu tragen.
Sicher, Juliet hatte ihr diesen Plan schon damals als Wunsch der Königin verkauft, aber Aylinn zweifelte nicht daran, dass ihre Freundin maßgeblich an dieser Idee beteiligt war, die sie ihr im Namen der Königin an diesem sonnigen Nachmittag in Campbell House unterbreitet hatte. Es war eine, gelinde gesagt, nicht ganz ungefährliche Idee, ein sehr gewagtes Spiel, dessen Erfolg vor allem von der absoluten Verschwiegenheit der Beteiligten abhing. Und das waren außer Juliet gewiss deren Ehemann Connor, vor dem ihre Freundin keinerlei Geheimnisse hatte, und die Königin selbst sowie der König. Vielleicht hatte Aylinn gerade deshalb, fast ohne nachzudenken, eingewilligt. Juliet hatte ihr zwar gesagt, dass sie sich Zeit nehmen und ihre Entscheidung noch einmal überdenken sollte. Doch an Aylinns Entschlossenheit hatte sich nichts geändert.
Joan Beaufort hatte vor einer Woche eine Reise ihres königlichen Gemahls in die Highlands dazu benutzt, ihre Cousine auf Mandrake Manor zu besuchen, und die Gelegenheit ergriffen, Aylinn fernab vom Hof zu empfangen, und ihr dabei gesagt, dass sie es gut verstehen könnte, wenn sich die junge Herzogin ihre spontane Zusage noch einmal überlegen wollte.
Stattdessen jedoch hatte sich Aylinns Entschluss in all den vielen Monaten, seit sie mit Juliet das erste Mal darüber gesprochen hatte, nur verfestigt. Im Gegenteil, alle Bedenken, die ihr vielleicht hätten kommen können, waren bei näherer Betrachtung wie Sand im Wind verflogen. Aylinn seufzte. Sie hatte sich das letzte Jahr auf Campbell House vergraben, weil sie um ihren Vater trauerte, wie sie allgemein verbreiten ließ. Gewiss, sie hatte um Argyll von Albany getrauert; er war schließlich ihr Vater gewesen, trotz all seiner Fehler. Doch der eigentliche Grund für ihre Zurückgezogenheit war ein anderer; ein anderer Mann, genauer gesagt.