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Traudl Junge war 22 und träumte von einer Karriere als Tänzerin als sie die »Chance ihres Lebens« bekam: Adolf Hitler bat die junge Sekretärin zum Diktat. Von 1942 bis zu Hitlers Tod war sie stets an seiner Seite, tippte seine Reden, seine Briefe und sogar sein so genanntes »privates« und »politisches« Testament.
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Seitenzahl: 386
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das Buch
Von Dezember 1942 bis zu seinem Selbstmord im Führerbunker am 30. April 1945 war Traudl Junge Hitlers persönliche Sekretärin. Sie war vor Ort, als am 20. Juli 1944 das Attentat auf ihn verübt wurde. Und sie war es, der er sein »politisches« und privates Testament diktierte. Das einfache Mädchen aus München war innerhalb kürzester Zeit in das Zentrum der braunen Macht geraten. 1947 schrieb sie ihre Erlebnisse in Hitlers engstem Kreis auf – das Gesamtmanuskript blieb jedoch unveröffentlicht. Die renommierte Autorin Melissa Müller hat sich an die Herausgabe dieses einzigartigen historischen Dokuments gemacht und versieht Traudl Junges Aufzeichnungen mit einer biographischen Einleitung und einem ausführlichen Nachwort auf Grundlage persönlicher Gespräche. Darin schildert sie auch Traudl Junges spätere Sicht auf ihre Vergangenheit, die wie ein Schatten über ihrem Leben lag, und beschreibt das Entsetzen angesichts der Erkenntnis ihrer Schuld und Naivität. Der große Kinofilm Der Untergang von Bernd Eichinger basiert u. a. auf den Erinnerungen von Traudl Junge.
Die Autorinnen
Traudl Junge wurde 1920 als Tochter eines Bierbrauermeisters in München geboren. Nach dem Krieg geriet sie in russische Gefangenschaft, wurde aber bald freigelassen. Traudl Junge starb im Februar 200 kurz nach Erscheinen dieses Buches. Melissa Müller, 1967 in Wien geboren, schreibt als freie Journalistin für deutschsprachige Kultur- und Nachrichtenmagazine. Ihr Buch Das Mädchen Anne Frank erregte großes internationales Aufsehen. Melissa Müller lebt in München.
Von Melissa Müller ist in unserem Hause bereits erschienen:
Das Mädchen Anne Frank. Die Biographie.
Traudl Junge
Bis zur letzten Stunde
Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben
Unter Mitarbeit von Melissa Müller
List Taschenbuch
Besuchen Sie uns im Internet:www.list-taschenbuch.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,
wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,
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können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch
1. Auflage Oktober 2003
8. Auflage 2011
© 2002 by Traudl Junge und Melissa Müller
Umschlaggestaltung und Konzeption:
RME Roland Eschlbeck und Kornelia Rumberg
(nach einer Vorlage von Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, München–Zürich)
Titelabbildung: Walter Frentz
Satz: Franzis print & media GmbH, München
eBook-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
eBook ISBN 978-3-8437-0582-0
»Wir können unsere Biographie nicht im Nachhinein korrigieren, sondern müssen mit ihr leben. Aber uns selbst können wir korrigieren.«
Reiner Kunze: Am Sonnenhang. Tagebuch eines Jahres.
VORWORT
Von Traudl Junge
Dieses Buch ist keine späte Rechtfertigung. KeineSelbstanklage. Ich will es auch nicht als Lebensbeichte verstanden wissen.Vielmehr ist es ein Versöhnungsversuch, nicht mit meiner Umwelt, sondern mitmir selbst. Es bittet nicht um Verständnis, aber es will verstehen helfen.
Ich war zweieinhalb Jahre Hitlers Sekretärin. Abgesehen davon istmein bisheriges Leben unspektakulär verlaufen. 1947/48 habe ich meine damalsnoch sehr lebhaften Erinnerungen an mein Leben in unmittelbarer Nähe von AdolfHitler zu Papier gebracht. Das war zu einer Zeit, als »wir alle« nach vorneschauten und das Erlebte – übrigens erstaunlich erfolgreich – verharmlosten undverdrängten. Damals ging ich recht unbefangen ans Werk und wollte diewichtigsten Ereignisse und Episoden aus jener Zeit festhalten, bevor Details,die später einmal von Interesse sein könnten, verblassten oder ganz inVergessenheit gerieten.
Als ich mein Manuskript mit Abstand von mehreren Jahrzehnten wiederlas, erschreckte und beschämte mich die Kritik- und Distanzlosigkeit, mit derich damals ans Werk gegangen war. Wie konnte ich nur so naiv und leichtsinniggewesen sein? Das ist aber nur einer der Gründe, warum ich mich bisher davorscheute, das Manuskript zur Veröffentlichung in meiner Heimat freizugeben. Einanderer ist, dass mir mein Schicksal und meine Beobachtungen angesichts derFlut von Literatur über Adolf Hitler und sein »Tausendjähriges Reich« nichtbedeutsam genug erschienen. Hinzu kommt, dass ich Sorge vor Sensationsgier undBeifall aus der falschen Ecke hatte.
Ich habe meine Vergangenheit niemals verheimlicht, doch meine Umweltmachte es mir in den Nachkriegsjahren sehr einfach, sie zu verdrängen: Ich seizu jung gewesen und zu unerfahren, um meinen Chef zu durchschauen, hinterdessen biederer Fassade sich ein Mann mit verbrecherischer Machtlust verbarg.Das meinte nicht nur die Entnazifizierungskommission, die mich als»jugendlichen Mitläufer« entlastete. Das meinten auch alle meine Bekannten, mitdenen ich über meine Erfahrungen sprach, nicht nur jene, die selbst im Verdachtder Mittäterschaft standen, sondern auch vom Regime Verfolgte. Ich habe diesenFreispruch nur zu gern angenommen. Schließlich hatte ich gerade erst meinen 25. Geburtstag gefeiert, als das nationalsozialistische Deutschland zusammenbrach,und wollte vor allem eins: leben.
Erst Mitte der sechziger Jahre begann ich langsam, mich ernsthaftmit meiner Vergangenheit und meinen wachsenden Schuldgefühlen auseinander zusetzen. Dies wurde im Lauf der vergangenen 35 Jahre zu einem immer quälenderenProzess; der aufreibende Versuch, mich selbst und meine damaligen Motivationenzu verstehen. Ich habe gelernt dazu zu stehen, dass ich 1944 22 Jahre jung undabenteuerlustig, von Adolf Hitler fasziniert war, dass er ein angenehmer Chefund väterlicher Freund war, dass ich die warnende Stimme in mir, die ichdurchaus vernahm, absichtlich überhörte und die Zeit bei und mit ihm fast biszum bitteren Ende genoss. Nach den Enthüllungen über die Verbrechen diesesMannes werde ich bis zu meiner letzten Stunde mit dem Gefühl der Mitschuldleben.
Vor zwei Jahren lernte ich die Autorin Melissa Müller kennen.Sie suchte mich auf, um mir, der Zeitzeugin, ein paar Fragen über Adolf Hitlerund seine künstlerischen Vorlieben zu stellen. Aus einem Gespräch wurden viele,in denen es um mein Leben und die Langzeitwirkung ging, die die Begegnung mitHitler auf mich hatte. Melissa Müller gehört zur zweiten Nachkriegsgeneration,ihr Blick ist durch ihr Wissen über die Verbrechen im Dritten Reich geprägt.Sie gehört aber nicht zu denen, die hinterher alles besser wissen. So einfachmacht sie es sich nicht. Sie hört zu, was wir Zeitzeugen, die wir einst im Banndes Führers standen, zu erzählen haben, und unternimmt den Versuch, den Wurzelndes Geschehens nachzuspüren.
»Wir können unsere Biographie nicht im Nachhinein korrigieren,sondern müssen mit ihr leben. Aber uns selbst können wir korrigieren.« ReinerKunzes Zitat aus seinem »Tagebuch eines Jahres« ist in meinem Leben zu einembedeutenden Leitsatz geworden. »Nur erwarte man nicht immer den öffentlichenKniefall«, heißt es dort weiter. »Es gibt stumme Scham, die beredter ist alsjede Rede – und zuweilen ehrlicher.« Melissa Müller konnte mich schließlichdavon überzeugen, mein Manuskript trotzdem zur Veröffentlichung freizugeben.Wenn es mir gelingt, so dachte ich, ihr verständlichzu machen, wie leicht es war, Hitlers Faszination zu erliegen, und wie schweres ist, mit der Erkenntnis, einem Massenmörder gedient zu haben, zu leben,müsste es auch gelingen, es den Lesern verständlich zu machen. Das jedenfallsist meine Hoffnung.
Im vergangenen Jahr hat Melissa Müller mich mit André Heller bekanntgemacht, der für mich nicht nur ein außergewöhnlich interessanter Künstler,sondern auch ein sehr engagierter, moralisch-politisch standhafter Mensch ist.Intensive Gespräche mit ihm waren ein weiterer, unendlich wertvoller Anstoß,mich mit dem Mädchen Traudl Humps, mit dem ich so lange auf Kriegsfuß stand,auseinander zu setzen. Ein wesentlicher Teil unserer Gespräche fand vorlaufender Kamera statt. André Heller und Otthmar Schmiderer gestalteten aus denAufnahmen die Filmdokumentation »Im toten Winkel«, die parallel zu diesem Bucherscheint.
Aus dem vorliegenden Buch spricht einmal die junge und einmaldie alte Junge. Die junge Junge hat sich, gleichsam posthum, vom immer nochwachsenden Interesse an sogenanntem Insiderwissen über das Naziregime zurHerausgabe ihrer frühen Aufzeichnungen motivieren lassen, und hofft, dass siemit ihrem Text Aufklärung leisten kann. Die alte Junge will zwar keinMoralapostel sein, hofft aber trotzdem, einige Gedanken weitergeben zu können,die keineswegs so banal sind, wie sie im ersten Moment klingen mögen: SchöneFassaden täuschen oft, der Blick dahinter lohnt sich immer. Der Mensch soll aufdie Stimme seines Gewissens hören. Es braucht nicht annähernd so viel Mut, wiees scheint, um Fehler zuzugeben und aus ihnen zu lernen. Der Mensch ist auf derWelt, um sich lernend zu wandeln.
Traudl Junge
im Januar 2002
EINE KINDHEITUND JUGENDIN DEUTSCHLAND
Von Melissa Müller
Zwischen den Zeiten. München 1947. Aus der »Hauptstadt derBewegung« ist eine Trümmerstadt geworden. Die Menschen sind erschöpft vonHunger und Kälte, zugleich stehen sie am Anfang. Ein krasses Nebeneinander vonerbärmlicher Not und exzessiver Lebenslust. Traudl Junge ist 27 Jahre alt, eineheitere, lebenshungrige Frau. Sie gilt als »entlastet« schon aufgrund ihresAlters, das hat ihr die Entnazifizierungskommission bescheinigt. Sie arbeitetals Sekretärin, wechselt häufig die Stellung. Man lebt von einem Tag auf denanderen. Traudl Junge gilt als gute Kraft, »besonders hervorzuheben« heißt esin einem Arbeitszeugnis aus der Zeit, seien »ihre rasche Auffassungsgabe, guterBriefstil und ihre weit über jedem Durchschnitt stehenden Leistungen inMaschinenschreiben und Stenographie«. Abends ist sie Stammgast in den Kabarettsund Kleinkunstbühnen der Stadt, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Geld undLebensmittel sind knapp, auch Zigaretten. Freunde und Nachbarn halten zusammenund teilen, was sie haben. Traudl Junge hat ihr Leben vor sich und – so hofftsie – auch die ganz große Liebe und das ganz große Glück. KonkreteVorstellungen hat sie nicht von der Zukunft, aber sie glaubt daran.
Schnitt.
München 1947. Aus der »Hauptstadt der Bewegung« ist eineTrümmerstadt geworden. Traudl Junge ist 27 Jahre alt und seit drei Jahren Witwe.Ihr letzter Arbeitgeber, der »angenehmste, den ich bislang hatte«, wie siesagt, ist tot, viele ihrer engsten Kollegen aus Kriegstagen gelten alsverschollen. Ob sie in russische Lager verschleppt worden sind oder Selbstmordverübt haben – sie weiß es nicht. Sie selbst hat mehrere Monate in russischerGefangenschaft, eine langwierige Diphtherie-Erkrankung und eine abenteuerlicheFlucht von Berlin nach München überlebt. Sie ist mit gemischten Gefühlenzurückgekommen, in der Angst, an den Pranger gestellt oder gemieden zu werden.Sie verheimlicht nicht, dass sie zweieinhalb Jahre Hitlers Privatsekretärinwar, und stellt erleichtert fest, wie wenig man sich für ihre Vergangenheitinteressiert. Nicht einmal ihre Mutter will Näheres wissen. Die sensationslüsterneFrage: Sag, ist der Hitler auch wirklichtot? hört sie zwar öfter, Details scheinen jedoch niemanden zuinteressieren, geschweige denn irgendwelche Erklärungs- oderRechtfertigungsversuche. Ihre diffusen Selbstvorwürfe, einem Völkermördergedient zu haben und damit an seinen Verbrechen mitschuldig zu sein, nimmt manihr. Du warst doch noch so jung … Das Vergessen hat 1947 längstbegonnen; Selbstschutz für Täter, Mitläufer und Opfer gleichermaßen.
Eine Hauptdarstellerin, zwei Szenarien – beide treffen zu.
Traudl Junges Leben in den ersten Nachkriegsjahren ist gespalten.Auf der einen Seite die belastenden Erinnerungen an die unbeschwerte Zeit imKreis Adolf Hitlers und an ihr dramatisches Ende, mit denen sie allein gelassenist. Auf der anderen Seite der Trümmeralltag mit seinen unmittelbaren Nöten undFreuden, die sie mit anderen – Freunden, Bekannten, Mutter und Schwester – teilenkann.
Traudl Junge gelingt es früh, in ihrer Erinnerung sogar unmittelbarnach Zusammenbruch des Dritten Reichs, sich von Hitlers Anziehungskraft zubefreien. Das mag daran liegen, dass sie zwar jene, wie sie sagt, charmante,väterlich-freundliche Facette seiner Persönlichkeit verehrte, die siezweieinhalb Jahre aus nächster Nähe erlebte, dem nationalsozialistischen Regimeaber stets mit Gleichgültigkeit, ja Desinteresse gegenüberstand und sich mitseinen ideologischen Konstrukten und Unmenschlichkeiten nicht auseinandersetzte. Ihre Vergangenheit ist eine unverarbeitete Mischung aus gutenpersönlichen Erinnerungen und schrecklichen Erkenntnissen, die sie nach demKrieg langsam und bruchstückhaft gewinnt, aber erst viel später an sichheranlassen wird. Traudl Junge ist durch Zufall in Hitlers Dunstkreis geraten,und ihre Wahrnehmung war – aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar, auch fürsie selbst nicht – äußerst reduziert. Sie geriet in den Sog von HitlersEinfluss, fühlte sich geschmeichelt, und was sie nicht persönlich betraf,erreichte sie nicht. Naivität? Ignoranz? Eitelkeit? Bequeme Gutgläubigkeit?Anerzogenes Mitläufertum? Falscher Gehorsam? 1947 stellt sie sich diese Fragennicht. Sie hat überlebt, nun beginnt sie – mit der Kraft der Jugend, wie siesagt – buchstäblich über ihre Vergangenheit hinwegzuleben. Erst in densechziger Jahren werden sie die Fragen zu quälen beginnen. Qualen, die bisheute andauern.
1947 lernt Traudl Junge durch Vermittlung ihres damaligen FreundesHeinz Bald dessen Förderer, einen wohlhabenden Unternehmer, kennen. Er istfasziniert von ihrer Vergangenheit und regt sie an, ihre Erinnerungen an die Zeitmit »dem Führer« niederzuschreiben. Seine ehemalige Frau – sie istdeutschstämmige Jüdin, lebt seit der von ihm forcierten Scheidung in dendreißiger Jahren in den USA, steht aber in gutem Kontakt mit ihm – werde denText einer amerikanischen Tageszeitung anbieten. Traudl Junge gefällt die Idee,und sie macht sich schon bald an die Arbeit. Sie hatte, sagt sie rückblickend,auch selbst das Bedürfnis, diese für sie so entscheidende Zeit festzuhalten,bevor die Erinnerungen verblassen. Eine weitere Motivation sind die wildenSpekulationen um Hitlers Tod, mit denen sie laufend konfrontiert wird. Für denFall, dass sie erneut verhört werden sollte, könne sie dann auf ihren Textverweisen.
Etwa 170 Manuskriptseiten tippt sie in den folgenden Monaten, an denfreien Abenden und an den Wochenenden das Schreiben macht ihr Freude.Veröffentlicht wird der Text schließlich doch nicht, weil »die Leser anderartigen Geschichten kein Interesse hätten«, wie es 1949 heißt. Traudl Jungeempfindet die Beschäftigung damit jedoch als eine Art Katharsis. Zwar findensich nur wenige Momente der reflektierenden Aufarbeitung ihrer Erlebnisse, siekaschiert aber auch nichts, versucht sich nicht zu rechtfertigen. Siearchiviert lediglich Ereignisse, Episoden, subjektive Eindrücke, danach ziehtsie einen vorläufigen Schlussstrich unter diesen Teil ihrer Vergangenheit; undihre Aufzeichnungen bleiben lange Zeit unbeachtet.
Tatsächlich ist Traudl Junges Verhältnis zu Adolf Hitler – sojedenfalls liest sich ihr Manuskript – in diesen ersten Nachkriegsjahren nochunentschieden. Den heutigen Leser muss ihr Text deshalb stellenweiseschockieren. Als sie ihn selbst Jahrzehnte nach der Niederschrift wieder liest,erschüttert und beschämt sie die Distanzlosigkeit und Naivität, die über weite Streckenaus ihm sprechen. Er sei banal, sein Tonfall zum Teil unverantwortlich flapsig,sagt sie. Sie kann seinen zeitgeschichtlichen Wert nicht erkennen, seineUnmittelbarkeit und Unverfälschtheit irritieren sie nun. Dass gerade ihrescheinbar harmlosen Beschreibungen von Hitlers biederem Alltag in derWolfsschanze oder am Berghof ein wichtiger Beleg für Hannah Arendtsvielzitierte These von der Banalität des Bösen sind, sieht sie nicht. Dass siedamit jenen Menschen, die Hitler und seine engsten Helfer zu Monstern ohnemenschliche Züge stilisieren und sich damit selbst beruhigen, erhellendeEinblicke gewähren kann, ist ihr ein schwacher Trost. Für sie sind sie vorallem Zeugnis einer unbedacht erlebten Zeit, eine Art Abschluss ihrer arglosgelebten Jugend in einem gar nicht harmlosen Umfeld.
Gertraud Humps, genannt Traudl, kommt am 16. März 1920 inMünchen zur Welt. Einen Monat vor ihrem Geburtstag, am 24. Februar, verkündenAdolf Hitler und Anton Drexler, der Gründer der Deutschen Arbeiterpartei (DAP),im Rahmen der ersten großen Massenversammlung der NSDAP im Münchner Hofbräuhausihr fremdenfeindliches Parteiprogramm. Das ist deshalb erwähnenswert, weil dieKundgebung sich »An das notleidende Volk!« richtet.
Tatsächlich ist die soziale Lage breiter Bevölkerungskreisemiserabel und provoziert Unfrieden und politisches Protestverhalten. Die Zahlder Arbeitslosen der Stadt steigt allein von Dezember 1918 bis Mitte Februar 1919von 8000 auf etwa 40 000, es fehlt an Wohnungen, an Lebensmitteln und anHeizmaterial.
Traudls Vater Max Humps, Jahrgang 1893, ist Braumeister und Leutnantder Reserve, er gilt als »charmanter Luftikus« und »für die Ehe nicht unbedingtgeeignet«. Mutter Hildegard, geborene Zottmann, ist drei Jahre jünger undGeneralstochter, sie heiratet unter Stand. Das junge Paar zieht in eine kleineMansardenwohnung in Schwabing, unmittelbar nach Traudls Geburt verliert dergebürtige Niederbayer aus Regen allerdings seine Stelle bei der Löwenbrauerei,die wirtschaftliche Not lässt die beträchtlichen charakterlichen Unterschiededer Eheleute vorzeitig zum Problem werden. Hildegard ist eine schwerblütige,aber sehr gefühlsgebundene Frau mit einem starren Weltbild und einem striktenMoralkodex, Max ist ein Durchlavierer, nimmt das Leben leicht und mit sehr vielHumor – das macht es zwar schwer, ihm böse zu sein, aber unmöglich, auf ihn zubauen.
Der orientierungslose Max Humps, der seinen Kreis von Kameraden undso genannten Sportsfreunden ohnehin der vermeintlichen Familienidylle vorzieht,schließt sich – wie viele Arbeitslose in diesen Tagen – dem »FreikorpsOberland« an, einem jener politisch rechts außen stehenden Verbände, in denenantirepublikanische, nationalistische und antisemitische Strömungenzusammenkommen. Ein straff organisierter Wehrverband – deutschnational undvölkisch – mit vielen Mitgliedern aus dem bayerischen Oberland, der im April1919 gegründet wurde, um gegen die Münchner Räterepublik vorzugehen. Er wirbtintensiv um Mitglieder und findet in der tief verunsicherten Männerwelt dieserZeit großen Zuspruch. Die militärische Niederlage und das Tauziehen um denVersailler Vertrag, die durch den Krieg geförderte Emanzipation der Frauen undihr neu erworbenes Wahlrecht, die wirtschaftliche Not – all dies wollen dieMännergruppen, die sich hinter Uniformen verstecken und ihre Waffen und Ordendemonstrativ zur Schau stellen, kompensieren. Bayern ist Anziehungspunktrechter Verbände, denn die neue, nach rechts tendierende bayerische Regierungtoleriert diese Gruppierungen in hohem Maß.
Nach dem Einmarsch in München im Mai 1919 zum Sturz der Räterepublikkämpft das Freikorps im April 1920 gegen kommunistische Aufstände im Ruhrgebietund von Mai bis August 1911 gegen Polen im oberschlesischen Grenzkrieg. MaxHumps ist bei der gewaltsamen Erstürmung des Annaberges in Oberschlesien dabei,durch die das Freikorps in konservativen Kreisen großes Ansehen erlangt. Frauund Tochter werden von seinem Schwiegervater, dem General, versorgt, er selbstist selten anwesend. Als die Alliierten im Sommer 1921 die Auflösung allerWehrverbände erzwingen, gründen Teile des »Freikorps Oberland« den »BundOberland« mit Hauptsitz in München. Seine Satzung propagiert einen »Kampf gegenden inneren Feind« und richtet sich ausdrücklich gegen die Republik. Der neueLeiter, Friedrich Weber, bahnt eine enge Zusammenarbeit mit der NSDAP an. Am 1. Mai 1923 gehen bewaffnete »Oberland«- und SA-Formationen auf dem MünchnerOberwiesenfeld gegen demonstrierende Sozialdemokraten und Kommunisten vor. ImSeptember wird der »Bund Oberland« Mitglied des neu gegründeten, von AdolfHitler angeführten »Deutschen Kampfbundes«.
Am Hitlerputsch vom 8./9. November 1913 nimmt der »Bund Oberland«mit mehreren Kompanien teil, auch Max Humps marschiert mit und wird für seinenEinsatz mit dem Blutorden der NSDAP ausgezeichnet. Danach wird der Bundverboten, jedoch unter dem Namen »Deutscher Schützen- und Wanderbund«weitergeführt.
Ob Max Humps Hitlers Putschversuch aus politischer Überzeugungunterstützt oder nur mangels sinnvollerer Beschäftigung, ob er Hitlertatsächlich zutraut, einen Wirtschaftsaufschwung herbeizuführen, ist nichtklar. Seine Tochter hält ihn jedenfalls für einen patriotischen Landsknechttyp,dem es gelegen kam, in der Horde seiner Kumpels, darunter auch der spätere Chefder Leibstandarte-SS, Sepp Dietrich, mitzulaufen und deutschnationale Phrasenzu schmettern. Er wird nach dem gescheiterten Putsch nicht verhaftet, dazuspielt er eine zu unwesentliche Rolle. Eine geregelte Arbeit findet er jedochnach wie vor nicht, Frau und Kinder – einen Monat nach dem Putschversuch, imDezember 1923, wird die zweite Tochter Inge geboren – sind in echter Not, dieMutter weiß oft nicht, was sie am nächsten Tag auf den Tisch bringen soll. 1925setzt Humps sich in die Türkei des späteren Kemal Atatürk, Mustafa KemalPascha, ab. Das sich an Europa annähernde Land braucht das praktische Wissenwestlicher Fachkräfte, Max Humps arbeitet endlich wieder in seinem Beruf alsBraumeister. Die Familie lässt er in München zurück – spätestens jetzt istHildegard Humps’ Geduld mit dem Ehemann zu Ende. Sie will nichts mehr mit ihmzu tun haben und kehrt – eine andere Möglichkeit sieht sie als Hausfrau undMutter ohne Einkommen nicht – mit den Kindern in ihr Elternhaus zurück. Als MaxHumps es in der Türkei zu einigem Ansehen gebracht hat und mehrere Versucheunternimmt, seine Familie nach Smyrna, dem heutigen Izmir, nachzuholen, weigertHildegard sich, ihm zu folgen, und fordert stattdessen die Scheidung.
Traudl ist fünf Jahre alt, als ihr Vater sie verlässt. Zwar erfüllteer auch vorher nicht die klassische Vater-, sprich Beschützerrolle, in denraren Momenten, die er präsent war, erlebte sie ihn jedoch als liebevollenKumpel und einfallsreichen Spielkameraden.
1926 wird sie eingeschult. Dass man sie in die Simultanschule in derMünchner Luisenstraße schickt, in die Kinder aller Konfessionen zugelassensind, hat wohl weniger mit der Aufgeschlossenheit der Mutter zu tun als mit derNähe zur großelterlichen Wohnung in der Sophienstraße am Alten BotanischenGarten – Traudl ist evangelisch getauft, wächst aber ohne Verbundenheit zurKirche auf, oft schwänzt sie den sonntäglichen Kindergottesdienst.
In der fast herrschaftlichen Fünfzimmerwohnung in der Sophienstraßegibt Großvater Maximilian Zottmann, geboren 1852, den Ton an. Traudl empfindetihn als gestrenge Autoritätsperson und Pedanten, der seinen Tagesablauf auf dieMinute festlegt, größten Wert auf Disziplin und Ordnung legt und wenig Spaßversteht. Er kann den Vater nicht ersetzen. »Erzieh deine Fratzen besser«, mussdie Mutter sich regelmäßig anhören, wenn Traudl und Inge auch nur um einkindliches Dezibel zu laut lachen. Solange die Großmutter lebt, ist dieKinderwelt trotzdem in Ordnung – Agathe Zottmann wirkt versöhnend auf dieHausbewohner ein. Traudl vergöttert die geborene Leipzigerin, die ihren Mannbei einem Kuraufenthalt in Bad Reichenhall kennen lernte, später beschreibt sieihre Großmama als ungeheuer verständnis- und liebevolle Frau. Begeistertlauscht Traudl den Erzählungen von ihrer Jugend in Leipzig, und als sie in derSchule einen Aufsatz zum Thema »Das Reiseziel meiner Träume« schreiben muss,wählt sie, im Unterschied zu ihren Kameradinnen, die von Hawaii und demHimalaja schwärmen, natürlich Leipzig.
1928 stirbt Agathe – der Verlust trifft die achtjährige Traudlschwer. In der Folge entpuppt sich der Großvater mehr denn je als Haustyrannund als Geizhals dazu. Er gefällt sich als später Junggeselle und »sugar-daddy«der jungen Tänzerin Thea und lässt die Tochter, die ihm den Haushalt führt, beijeder Gelegenheit wissen, dass sie und die Kinder ihm auf der Tasche liegen.Als Traudl 1930 auf das Luisenlyzeum für Mädchen wechselt, sucht die Mutter umSchulgeldermäßigung an, denn aus dem knappen Haushaltsgeld – 4,50 Mark pro Tagfür vier Esser – kann sie die volle Gebühr nicht bezahlen. AnSchulausflugstagen muss Traudl sich häufig krank melden, weil die Mutter die2,70 Mark Unkostenbeitrag nicht auftreiben kann. Trotzdem empfindet Traudl ihreKindheit und frühe Jugend keineswegs als unglücklich: So bedrückend dieSituation für Mutter und Kinder auch ist, sie schweißt die drei zusammen.Hildegard Humps ist zwar keine besonders zärtliche Frau – schmusen und herzenkann man sie nicht –, trotz dieses Defizits fühlen die Kinder sich aber geliebtund durchaus auch verstanden. Die Mutter gibt ihnen Sicherheit, ihrErziehungsmodell entspricht den Idealen der Zeit: Ihr sollt »anständige«Menschen werden, nicht lügen, hilfsbereit, ehrlich und bescheiden sein,nachgeben und Rücksicht nehmen und euch nicht in fremde Angelegenheitenmischen.
In der Tugend des Rücksichtnehmens müssen die Mädchen sich aufbesondere Weise üben, als der jüngere Bruder der Mutter bei der Familieeinzieht. Hans ist ein künstlerisch hoch begabter junger Mann mitabgeschlossenem Architekturstudium, aber er leidet an Schizophrenie. SeinVerfolgungswahn und seine spinösen Ideen amüsieren die Kinder zumeist, manchmalsetzen sie ihnen aber zu. Als sie mitbekommen, wie sehr die Mutter unter denwahnwitzigen Ideen und Anschuldigungen des Bruders zu leiden hat, wächst ihrUnbehagen. Mitte der dreißiger Jahre wird Hans Zottmann – wie mindestens 360 000Deutsche mit vermeintlichen Erbschäden – zwangssterilisiert. Die Familiehinterfragt den Eingriff nicht, sondern nimmt ihn als notwendiges Übel hin.Hans als Familienvater wäre wirklich unverantwortlich, sagte man sich.
Das Mädchen Traudl freut sich am Leben. Sie liebt die Natur undTiere, ein Hund oder Katzen gehören immer zum Haushalt. Und sie geht gern indie Schule, nicht etwa, weil sie besonders bildungshungrig ist, sondern weilsie sich in der Klassengemeinschaft wohl fühlt und gern mit ihren Freundinnenzusammensteckt. Rückblickend beschreibt sie sich als Herdentier, nicht fürsAlleinsein bestimmt, keine, die durch individuelle, querdenkerische Ideenauffällt, sondern Sicherheit, Geborgenheit und Anerkennung in der Gemeinschaftsucht und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis hat. Ihre schulischen Leistungensind gutes Mittelmaß, ihre Lieblingsfächer Zeichnen und Turnen, auch Deutschund Englisch liegen ihr. Sie gilt als lebhaftes Kind, und wenn sie denGroßvater oder die Mutter mit ihrem Temperament wieder einmal überfordert,schickt sie am Abend ein durchaus ehrlich gemeintes Stoßgebet gen Himmel: »Bitte,lass’ mich brav sein.« Vor allem der Mutter will sie nicht wehtun, denn derenpersönliches Unglück entgeht ihr nicht. Trotzdem fehlt es ihr nicht anUnbeschwertheit. Auf Zurechtweisungen wie: »Ach Traudl, wenn du doch nicht sowild wärest«, kontert sie bereits als Sechsjährige mit einem schelmischen: »Achschau, wenn es doch der liebe Gott so haben will.« – Dieser Satz wird in derFamilie zum geflügelten Wort. Kleine Höhepunkte ihres jungen Lebens sind dieseltenen Kinobesuche – der Eintritt ins Bogenhausener Kino kostet 70 Pfennig,Traudl und Inge gehen je eine gute Stunde zu Fuß von Schwabing hinauf nachBogenhausen und wieder zurück – oder die Sommerferien im bayerischenAlpenvorland, dort, wo der Großvater seine Jagd gepachtet hat: Das ist langeZeit in Aschau, dann in Seeon und zuletzt am Ammersee, wo er im Alter vonachtzig Jahren seinen letzten Rehbock schießt. 1933 ist in mehrfacher Hinsichtein einschneidendes Jahr für die mittlerweile dreizehnjährige Traudl. Da wirdzum einen die Machtergreifung Hitlers in der Schule als großes, festlichesEreignis gefeiert und auch von Traudl als Signal für den Umbruch undunmittelbar bevorstehenden Aufschwung verstanden. Die Bilder von den armselig,irgendwie verdächtig aussehenden Männern mit den finsteren Gesichtern, die inScharen auf dem Sendlinger-Tor-Platz herumlungern, sind ihr noch Furchterregend präsent. Lauter Arbeitslose, hat man ihr erklärt. Das soll sich jetztändern …
1933 taucht außerdem Max Humps wieder auf. Als Verbündeter der»Kampfzeit« und Blutordensträger schanzt man ihm eine Stelle in der Verwaltungder NSDAP zu. Welche Position er dort bekleidet, interessiert seine Tochternicht, denn sie hat längst keine Beziehung mehr zu ihrem Vater. Sie besucht ihn1934 oder 1935 – ein einziges Mal, denn die Mutter zeigt sich über den Kontaktnicht begeistert – in seinem Büro in der Barer Straße. Im Haus Nummer 15befinden sich die »Reichsorganisationsleitung«, die Zentrale der»NS-Betriebszellenorganisation« sowie das »Hauptamt für Kriegsopfer« und das»Hauptamt für Volksgesundheit«. Die SA-Führung residiert zu dieser Zeit in denbeiden ebenfalls in der Barer Straße gelegenen Hotels »Marienbad« und »Union«.
Max Humps bemüht sich mit Leckereien und ähnlich geartetenLiebesbeweisen um Traudls Zuneigung, doch sie bleibt auf Distanz und pflegtihre Vorurteile gegen den Vater. Im Dezember 1932 wurde – in Abwesenheit desVaters – das Scheidungsurteil verkündet, Traudl entging nicht, wie sehr ihreMutter unter dem entwürdigenden Prozess litt. Max Humps hatte zunächst wenigSkrupel und erstaunliche Phantasie bewiesen, um die Schuld an der Trennungseiner Frau zuzuschieben. General Maximilian Zottmann hielt es fürgesellschaftlich absolut unvertretbar, eine – nach damals gültigem Eherecht – schuldiggeschiedene Frau zur Tochter zu haben, sie musste deshalb einem faulenKompromiss zustimmen und ihrem Ehemann anbieten, auf ihren Unterhaltsanspruchzu verzichten, wenn er nur alle Schuld auf sich nähme. So blieb sie also auchweiterhin auf die Almosen des Vaters angewiesen. Vertreten durch einen jüdischenAnwalt hatte sie bei der Auseinandersetzung schlechtere Karten alsBlutordensträger Max. Der Verdacht lag nah, dass der mit dem Fall befassteRichter klare Sympathien hegte oder vorauseilend gehorsam war – die NSDAP warseit Ende Juli 1932 zumindest vorübergehend stärkste politische Kraft im Land.
Das Urteil festigt jedenfalls Hildegard Humps’ Überzeugung, »dieserHitler« habe – bereits 1923 – ihre Ehe zerstört. Das äußert sie nach dessenMachtergreifung häufig und verärgert damit die junge Traudl. Die hält dasUrteil der Mutter für undifferenziert, nimmt »den Führer« in Schutz und träumtden Backfischtraum, ihm eines Tages das Leben zu retten. Ruhm durchOpferbereitschaft. Einmal bekommt sie ihn in diesen Jahren leibhaftig zuGesicht, als er in seinem Wagen zum »Braunen Haus« in die Brienner Straßechauffiert wird – ein erhebendes Gefühl, selbst in der Erinnerung. IhrenEindruck von Hitler fasst die etwa Fünfzehnjährige in den schlichten Gedanken:Der Führer muss etwas ganz Großes sein … Sie ist stolz auf Deutschland und dasdeutsche Volk, beeindruckt von der hehren Idee von der »Volksgemeinschaft«.»Einer für alle. Alle für einen.« Sobald das Deutschlandlied erklingt, steigenihr Tränen der Ergriffenheit in die Augen. Eine politische Bildung erhält sieweder zu dieser Zeit noch später, weder in der Schule noch zu Hause. Die Lehrerim Luisenlyzeum halten sich bedeckt, Traudl muss keine propagandistischenSchulaufsätze schreiben, wie sie eifrige Lehrer an vielen Schulen auf dieUnterrichtspläne setzen. Die Nürnberger Gesetze, Begriffe wie »Judenfrage« oder»Rassenhygiene« und »Rassenschande« werden freilich abgehandelt – als Fakten.Und auch als solche hingenommen. Und dass der Bolschewismus der größte Feindder zivilisierten Welt ist, Sitte und Kultur durch ihn vom Untergang bedrohtsind, verinnerlicht sie als ebenso Furcht erregende wie unumstößliche Tatsache.Völkisches Schrifttum, wie es der Nationalsozialismus fördert, erreicht sienicht, auf ihrem Nachtkästchen liegen Trotzkopfund Nesthäkchen, später Novellenvon Storm oder Agnes Günthers Bestseller DieHeilige und ihr Narr.
Zu Hause werden weder der Nationalsozialismus noch andereweltanschauliche Fragen thematisiert. Die Mutter pflegt zwar ihre persönlicheWut auf Hitler, seine politischen Maßnahmen interessieren sie jedoch nicht. Aufdem Schreibtisch des Großvaters steht ein Bildchen des Prinzregenten Luitpoldmit einem persönlichen Grußwort zum 60. Geburtstag, datiert 1912, ein Andenkenan frühere Zeiten. Bessere? Maximilian Zottmann äußert sich nicht, für ihn istdie regierende Obrigkeit die anzuerkennende, und das nationalsozialistischeSystem stellt für ihn wie für die meisten »gewöhnlichen Deutschen« keine realeBedrohung dar. Er ist Abonnent des Lesezirkels, die einzige Zeitschrift, die erliest, ist Der deutsche Jäger, mitBüchern kann er nichts anfangen. Die MünchnerNeuesten Nachrichten kommen täglich ins Haus, damit man keine Folge desaktuellen Fortsetzungsromans versäumt. Auf dem Detektorenempfänger hört dieFamilie Wunschkonzerte, am Abend sitzt sie mit Kopfhörern und Textbuch um denTisch und lauscht der über die Telefonleitung direkt übertragenen Aufführungaus der Oper. Der Großvater bricht jedes Mal in Wut aus, wenn ein Anruf füreines der Mädchen die Ausstrahlung stört.
1933 ist für Traudl Junge vor allem deshalb ein einschneidendesJahr, weil sie ihre Leidenschaft für das Tanzen entdeckt. Durch ihre SchwesterInge lernt auch sie das Geschwisterpaar Erika und Lore Klopfer kennen, zweiMädchen »aus besserem Hause«, der Vater Rechtsanwalt bei BMW, die Wohnung inder Arcisstraße hochherrschaftlich mit standesgemäßem Hauspersonal. MutterKlopfer fördert den Umgang ihrer, wie sie sagt, »etwas verzärtelten Kinder« mitder handfesten Inge. Und als sie die beiden bei der Kindertanzschule Lola Fasbenderanmeldet, wo sie vor allem Haltung und Gewandtheit lernen sollen, bezahlt sieauch einen Kurs für Inge, deren außergewöhnliches Talent nicht zu übersehenist. Traudl drückt sich während der Tanzstunden die Nase an der Glastür platt,damit ihr nur ja keine Lektion entgeht. Als die Lehrerin Erbarmen mit ihr hatund sie zum Mitmachen einlädt, ist ihr, als ob sich die Tür zum Paradiesöffnet, und sie beginnt, die rhythmische Gymnastik für sich zu entdecken.
Dass Erika und Lore Jüdinnen sind, nehmen Traudl und Inge erst 1936wahr, als die beiden nach New York emigrieren. Das mag daran liegen, dass dieFreundinnen es vorher selbst nicht wussten. Ihre Eltern haben sieprotestantisch taufen lassen, erzählt Erika Stone, geborene Klopfer, Religionsei im Herzen, hörten sie von der Mutter. Die reagiert zwar verhalten auf dieBegeisterung der Kinder »über den Prunk und Pomp der nationalsozialistischenMassenpropaganda, über das Marschieren und die Lieder«, von ihren jüdischenWurzeln und der Gefahr für Juden in Deutschland erzählt sie den vomAbschiedsschmerz geplagten Mädchen aber erst unmittelbar vor der Abreise.
Traudl entgeht in den drei Jahren der Freundschaft, dass VaterKlopfer Berufsverbot erhält, dass die Familie ihre Hausangestellten entlässtund in eine deutlich kleinere Wohnung in der Tengstraße umzieht. Sie beneidetdie Mädchen jedoch um die abenteuerliche Reise nach Amerika … und diese sie umihre BDM-Uniform.
Seit etwa 1935 ist Traudl beim Bund Deutscher Mädel, die braune»Kletterweste«, die zur Uniform gehört, spart die Mutter sich mühsam vomHaushaltsgeld ab, und als Traudl das velourene Objekt der Begierde endlichträgt, ist sie ungeheuer stolz. Sie leitet eine Gruppe von sechs Mädels ausihrer Klasse – »sechs Grazien« nennen sie sich. Sie exerzieren auf der Terrassedes Lyzeums – rechts um, marsch –, und schmettern die Sieg-Heil-Parole. Sieg,ruft Traudl. Heil, schreien ihre Schützlinge zurück. Sieg! – Heil! – Sieg! – Heil!Sonst bleibt ihr von den BDM-Aktivitäten wenig in Erinnerung, nur langweiligeHeimabende, Spalierstehen bei verschiedenen Veranstaltungen, dasEinweihungsfest für die erste Arbeitersiedlung in Ramersdorf, bei dem sie undihre Kameradinnen Volkstänze aufführen, Sammelaktionen für das Winterhilfswerk,die Ausflugsfahrt nach Wolfratshausen mit Lagerfeuer und Zelten – und Herta.Das ist ihre Gruppenführerin, als Traudl sechzehn oder siebzehn Jahre alt istund bereits auf die Handelsschule geht. Sie bringt den Mädchen nahe, was dasDritte Reich unter Kunst und Literatur versteht, musiziert mit ihnen und zeigtihnen idyllische Wanderwege. Traudl eifert ihr nach. Als sie einmal allein beiihr zu Gast ist, umarmt Herta sie zum Abschied und küsst sie auf den Mund.Traudl, deren Interesse an der Männerwelt noch nicht erwacht ist, die sich jedochnach Zärtlichkeit sehnt, beeindruckt so viel Warmherzigkeit zutiefst.
1938 verliert sie die verehrte Führerin aus den Augen, denn dabietet sich mit einem Mal Interessanteres: Traudl tritt in die Organisation»Glaube und Schönheit« ein, eine Neugründung innerhalb des BDM für dieachtzehn- bis einundzwanzigjährigen »arischen« Frauen im Reich. »Die Aufgabeunseres Mädelbundes ist, Mädel zu Glaubensträgerinnen NationalsozialistischerWeltanschauung zu erziehen. Mädel, die eine Harmonie bilden von Körper, Seeleund Geist, die durch die Gesundheit des Körpers und die Ausgeglichenheit ihresWesens jene Schönheit verkörpern, die offenbart, dass der Mensch eine Schöpfungdes Allmächtigen ist«, nennt Jutta Rüdiger, ab 1937 Leiterin des BDM, die Zieleder Vereinigung. »Wir wollen Mädel formen, die stolz sind, damit sie einmalKämpfer zum Schicksalsgefährten erwählen. Wir wollen Mädel, die bedingungslosan Deutschland und den Führer glauben und diesen Glauben einst in das Herzihrer Kinder legen; dann wird der Nationalsozialismus und dadurch Deutschlandfür immer bestehen.«
Bei »Glaube und Schönheit« wird kaum über Politik gesprochen, ebensowenig wie in den meisten anderen Jugendorganisationen des Dritten Reichs. Eswird vor allem anmutig geturnt und getanzt, um mit der bewusst gepflegten»weiblichen Linie« einer »Verbengelung« oder »Vermännlichung« der Mädchenentgegenzuwirken. Tatsächlich geht es auch bei der tänzerischen Gymnastik umeine Funktionalisierung der jungen Frauen für die Ziele von Partei und Staat – dassagt man ihnen natürlich nicht in solcher Deutlichkeit, und das hört auchTraudl Junge erst Jahrzehnte nach dem Krieg zum ersten Mal. Ihr künstlerischesEngagement soll die Mädchen dieser Altersgruppe zur »gemeinschaftsgebundenenPersönlichkeit« erziehen und von einem vorzeitigen Rückzug in die Rolle derMutter und Ehefrau abhalten. Stattdessen sollen sie sich weiterhin »Führer,Volk und Vaterland« verpflichten. Schließlich dient »Glaube und Schönheit« auchder Qualifizierung eines Teils des weiblichen Nachwuchses zur Führerschaft,also für Funktionen im BDM, in der NS-Frauenschaft oder im Reichsarbeitsdienst.
Mit den Themen »Lebensführung und -gestaltung« oder»politisch-geistige Bildung«, die laut Satzung auch zum »Glaube undSchönheit«-Unterricht gehören, wird Traudl nicht behelligt, jedenfalls kann siesich heute nicht daran erinnern. Faszinieren lässt sie sich vom Dritten Reichdurch seine spektakulären kulturellen Großveranstaltungen – die »Hauptstadt derBewegung« ist die Stadt der Festzüge. Der Pomp, mit dem im Juli 1937 und in denbeiden Folgejahren der »Tag der Deutschen Kunst« mit seinem mehr als dreiKilometer langen Umzug »Zweitausend Jahre Deutsche Kultur« begangen wird,begeistert sie, ebenso die »Nacht der Amazonen« im Nymphenburger Schlosspark,die zwischen 1936 und 1939 jährlich stattfindet. Das Konzept der Nazis von deremotional und weltanschaulich verbindenden Selbstdarstellung geht auf. Hinzukommt, dass Traudls Schwester am Rahmenprogramm zum »Tag der Deutschen Kunst«mitwirkt: Sie tanzt bei der Aufführung des »Raubs der Sabinerinnen« auf derSeebühne des Kleinhesseloher Sees im Englischen Garten. Auch Traudl ist amRande an den kulturellen Bemühungen der Nazis beteiligt. Sie ist Statistin beider »Nacht der Amazonen«, und sie steht – bereits als Fünfzehnjährige – demSchweizer Bildhauer und Marionettenschnitzer Walter Oberholzer Modell, der eineBrunnenfigur modellieren soll. Das bronzene Mädchen, das einem wasserspeiendenFaun einen Ball zuwirft, hat Traudls wohlgeformten Körper, jedoch nicht ihrGesicht. 1937 wird das Ensemble im Haus der Deutschen Kunst ausgestellt.
Die Einstellung der Heranwachsenden zum Dritten Reich in ein klaresPro oder Contra zu fassen, ist so unmöglich wie wahrscheinlich beim Großteilder deutschen Bevölkerung und erst recht der Jugend dieser Zeit. So sehr Traudlsich von der Ästhetik der Großveranstaltungen betören lässt, so sehr sie in denJubel über die Triumphe der deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen oderüber Hitlers außenpolitische Erfolge einstimmt, so abstoßend findet sie diederben Seiten der kommunalen Parteipolitik. Das »übertriebene Nazitum an derBasis« und ihre »Bonzenmachenschaften« kommen ihr, wie sie heute sagt,»proletarisch« und »spießig« vor, die Regierung deshalb in Frage zu stellen,liegt ihr jedoch so fern wie den meisten ihrer Altersgenossen. So sehr sie überdie kursierenden Hitler-Witze lachen kann, so fremdartig und widerlich sie den Stürmer mit seinen antisemitischenKarikaturen auch findet, so wenig realisiert sie, wie existentiell dieBedrohung für politische Gegner und Juden ist. Im Lyzeum hat sie drei jüdischeMitschülerinnen. Während der gemeinsamen Schulzeit, also bis 1936, seien siesowohl von den Lehrern als auch von den Schülern gleichberechtigt behandelt,ihr Judentum wenn überhaupt, so nur als ihr religiöses Bekenntnis erwähntworden. Danach verliert sie die drei aus den Augen, die eine, kommt ihr zuOhren, wandert mit ihren Eltern aus, was aus den anderen beiden wird, weiß siebis heute nicht. Vom Novemberpogrom 1938, von der »Vergeltung an den jüdischenLadengeschäften, denen größtenteils sämtliche Fenster eingeschlagen wurden«,wie die Münchener Neuesten Nachrichten amTag danach berichten, von den brennenden Synagogen und den willkürlichenVerhaftungen hunderter jüdischer Männer bekommt die Achtzehnjährige kaum etwasmit. Was sie und ihre Freunde in den Tagen danach über die Brutalität hören,mit der die Nazis vorgegangen sind, missfällt ihnen zwar, sie beruhigen sichjedoch damit, dass es sich um ein einmaliges Ereignis handeln muss. Und esbetrifft sie letztlich ebenso wenig wie alle anderen Schikanen gegen die Juden,der erste vom Staat angeordnete Judenboykott am 1. April 1933, die Schilder mitder Aufschrift »Für Juden verboten«, die völlige »Entjudung« der Wirtschaft abAnfang 1939 oder die Kennzeichnung der Juden mit dem gelben Stern ab September1941. An eine einzige Begegnung mit einer so gebrandmarkten Frau will sie sicherinnern können – ein flüchtiger Eindruck, über den sie nicht weiter nachdenkt.Und ein Hinweis, wie gut die Verdrängung funktioniert.
Traudl lebt ein von Politik unbelastetes Leben – wie viele deutscheJugendliche ihrer Zeit. So empfindet sie es jedenfalls, und das bestätigt – einmalmehr – zwei sich nur scheinbar widersprechende Tatsachen: einerseits, wiegeschickt die Taktik des Regimes zum Aufbau einer linientreuen »Staatsjugend« war,andererseits, dass es natürlich Freiräume gab, in denen sich »unbetroffene«Jugendliche wie Traudl ungezwungen und – wie sie meinten – ganz und gar unbeobachtetbewegen konnten.
Traudls Interessen konzentrieren sich in jenen Jahren auf dierhythmische Gymnastik, ihr Traum und immer dringenderer Wunsch ist es, dasTanzen, wie ihre jüngere Schwester, zu ihrem Beruf zu machen. Einen anderen,handfesteren Berufswunsch hat sie nicht. 1936 ist sie mit der Mittleren Reifevom Lyzeum abgegangen – ungern, aber sie muss schleunigst Geld verdienen unddie Mutter unterstützen. Geh doch ein Jahr auf die Handelsschule, dann kannstdu als Sekretärin in einem Büro arbeiten, rät man ihr. Die Freundin einerFreundin arbeite bei der Allianz, sie könne ihr eine Anstellung mitPensionsberechtigung verschaffen – eine albtraumhafte Vorstellung für diequirlige Traudl. Zur Allianz will sie gewiss nicht, lustlos bringt sie dieHandelsschule hinter sich, widerwillig lernt sie blind auf der Maschine zuschreiben – »Andere haben vielleicht die Begabung dafür, Mutti, ich bestimmtnicht!« Stenographieren und Buchführung fallen ihr leichter. Nach demSchulabschluss sucht sie eine Arbeit, an die sie vor allem eine Anforderungstellt: Sie muss ihr genügend Zeit zum Tanzen lassen. Schließlich tritt sieeine Stelle als Kontoristin bei der Münchner Vertretung der VereinigtenDeutschen Metallwerke an, verwaltet schon bald das Bohrerlager und macht regelmäßigdie Inventur – durchaus eine Herausforderung, wäre da nicht der Chauffeur desHauses, der ihr ins Lager folgt und pornographische Bilder vors Gesicht hält.Traudl weiß sich nicht anders zu helfen als – unter Vorschützung falscherGründe, denn den wahren traut sie sich ihrem Chef nicht zu nennen – zukündigen. In der Folge arbeitet sie vorübergehend im Notariat des alten HofratDillmann, 1939 wechselt sie zum Rundschau Verlag in die Ohmstraße und wirdAssistentin des Chefredakteurs bei DieRundschau, einer Fachzeitung für das Schneiderhandwerk. Als derstellvertretende Chefredakteur eingezogen wird, übernimmt sie dessen Aufgabenund erledigt sie gewissenhaft und manchmal sogar mit Freude, jedoch in derÜberzeugung, dass sie ohnehin kündigen werde, sobald sie die abschließendeTanzprüfung bestanden hat.
Für Traudl ist ihre Arbeit Mittel zum Zweck, mehr nicht. Sie lebtfür die freie Zeit im Kreis ihrer Freunde – sie gehen gemeinsam ins Kino und imSommer ins Schwimmbad, unternehmen Landpartien und feiern, sooft sich dieGelegenheit bietet, lustige Feste. Die meiste Zeit widmet sie zwischen 1938 und1941 jedoch ihrer Tanzausbildung. Ihre Lehrerin bei »Glaube und Schönheit« hältsie für begabt genug, sich intensiver mit der tänzerischen Gymnastik zu beschäftigenund fordert sie auf, sich in ihre Schule, die Herta-Meisenbach-Schule in derMünchner Franz-Joseph-Straße, einschreiben zu lassen. Weil Traudl dieKursgebühr nicht aufbringen kann, bietet die Lehrerin ihr eineAssistentenstelle an. Aber auch wenn sie gerade selbst nicht tanzt, verkehrtTraudl in Künstlerkreisen. Seit Mitte der dreißiger Jahre lebt der bedeutendeBallettmeister Helge Peters-Pawlinin in München und baut eine Ballettkompanieauf. In der Tanzschule Lola Fasbender hat er Traudls zu dieser Zeitvierzehnjährige Schwester Inge entdeckt und bildet sie zur Spitzentänzerin aus.Inge wird Ensemblemitglied seines »Romantischen Balletts«, lässt Schule Schulesein, geht mit der Truppe auf Tournee und verdient so schon früh Geld. 1940wird sie an die »Deutsche Tanzbühne« in Berlin engagiert – Traudl hat nun einklares Ziel vor Augen: Sie will der begabteren Schwester in die Hauptstadtfolgen.
Traudl Junge bezeichnet ihre Anpassungsfähigkeit oder – um esmit einem weniger positiv besetzten Wort zu sagen – ihre Beeinflussbarkeit alseine der ausgeprägtesten Eigenschaften ihrer Jugend. Wer aber sind dieMenschen, die auf ihr Denken und Tun Einfluss nehmen?
Ihr Vater, der so augenscheinlich vom Nationalsozialismusprofitiert? Er ist 1936 zum Sicherheitsdirektor der Dornier Werke inFriedrichshafen befördert worden und hat zum zweiten Mal geheiratet. Traudl undInge besuchen ihn und »die Tante« in den Sommerferien in ihrer Dienstvilla amBodensee – für Traudl ein frustrierendes Erlebnis. Sie vermisst einen Vater,der ihr »sagt, wo es langgeht«, den ihren kann sie jedoch nicht respektieren.