Blindes Eis - Ragnar Jónasson - E-Book

Blindes Eis E-Book

Ragnar Jónasson

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Beschreibung

»Ragnar Jónasson ist der Stephen King des Isländischen Thrillers.« SHE READS

Ein abgelegener Bauernhof in einem schwer zugänglichen Seitental von Siglufjörður im Norden Islands: Dorthin verschlägt es in den 1950er Jahren zwei Ehepaare. Doch nach nur wenigen Monaten stirbt eine der beiden Frauen unter rätselhaften Umständen. Sechzig Jahre später taucht ein Foto auf, das zeigt: Die vier waren damals nicht allein dort draußen. Ari, Polizist in Siglufjörður, findet viele Ungereimtheiten. Eine befreundete Journalistin aus Reykjavík, die selbst in einem komplizierten Fall von Kindesentführung und Mord recherchiert, hilft ihm bei der Suche. Was geschah damals wirklich? Und wer ist der mysteriöse Fremde auf dem Foto?

»Blindes Eis« ist der dritte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestsellerautor Ragnar Jónasson.

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Seitenzahl: 354

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Zum Buch

Ein abgelegener Bauernhof in einem schwer zugänglichen Seitental von Siglufjörður im Norden Islands: Dorthin verschlägt es in den 1950er Jahren zwei Ehepaare. Doch nach nur wenigen Monaten stirbt eine der beiden Frauen unter rätselhaften Umständen. Sechzig Jahre später taucht ein Foto auf, das zeigt: Die vier waren damals nicht allein dort draußen. Ari, Polizist in Siglufjörður, findet viele Ungereimtheiten. Eine befreundete Journalistin aus Reykjavík, die selbst in einem komplizierten Fall von Kindesentführung und Mord recherchiert, hilft ihm bei der Suche. Was geschah damals wirklich? Und wer ist der mysteriöse Fremde auf dem Foto?

»Blindes Eis« ist der dritte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestsellerautor Ragnar Jónasson.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival. Seine Bücher werden in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der »New York Times« und »Washington Post« gefeiert. Die preisgekrönte »Hulda-Trilogie« erschien bei btb erstmals auf Deutsch und stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »FROST« folgte eine unabhängige Fortsetzung der Reihe.

Nach »Schneeblind« und »Todesnacht« ist »Blindes Eis« der dritte Band der »Dark-Iceland-Serie« um den jungen Polizisten Ari Þór Arason.

Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

BLINDES EIS

Thriller

Aus dem Englischen von Helga Augustin

Die isländische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Róf« bei Veröld, Reykjavík, und 2017 unter dem Titel »Blindes Eis« erstmals auf Deutsch bei S. Fischer, Frankfurt am Main.

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Wiederveröffentlichung Oktober 2022

Copyright © by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Ragnar Jónasson

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency, ApS, Copenhagen

Copyright © der deutschen Übersetzung 2017 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty images /Andre Schoenherr; Jaris Ho; © Shutterstock / Songchai W; railway fx; © masterfile / erectus

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

mb ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28827-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Dieses Buch ist dem Andenken

meiner Großeltern,

Þ. Ragnar Jónasson (1919–2003)

und Guðrún Reykdal (1922–2005),

gewidmet

»… Das Leben am Héðinsfjörður war niemals einfach gewesen, und jede Art von Kommunikation mit den Nachbarn war mit großen Schwierigkeiten verbunden.

Im Winter war die Küste, an der es keinen Hafen gab, auf dem Seeweg oft nicht erreichbar, und das Überqueren der schneebedeckten Berge war stets risikoreich.«

Siglufjörður Stories, von Þ. Ragnar Jónasson(1919–2003)

1. Kapitel

Es war ein ganz gewöhnlicher Abend, den er ausgestreckt auf dem Sofa verbrachte.

Sie wohnten in der Ljósvallagata an der westlichen Stadtgrenze von Reykjavík, in einer kleinen Erdgeschosswohnung im mittleren von drei antiquierten Reihenhäusern aus den 1930er Jahren. Róbert setzte sich auf, rieb sich die Augen und sah aus dem Fenster in den kleinen Vorgarten. Es dämmerte schon. Jetzt im März musste man mit jedem Wetter rechnen, und im Moment regnete es. Doch er saß behaglich in den eigenen vier Wänden, und da hatte das Prasseln der Tropfen an den Fensterscheiben etwas Beruhigendes.

An der Uni lief es gar nicht so schlecht. Er studierte im ersten Jahr Ingenieurwesen und gehörte mit seinen achtundzwanzig Jahren schon zu den älteren Semestern. Der Umgang mit Zahlen hatte ihm schon immer Spaß gemacht. Seine Eltern, beide Buchhalter, wohnten in Uptown Reykjavík, in Árbær. Die Beziehung zu ihnen war schon immer schwierig gewesen, doch jetzt war der Kontakt fast ganz abgebrochen – sein Lebensstil entsprach einfach nicht ihren Vorstellungen. Es war durchaus okay gewesen, dass sie versucht hatten, ihm ein Buchhalterleben schmackhaft zu machen, doch er wollte seinen eigenen Weg gehen.

Jetzt war er schließlich doch noch an der Universität gelandet, aber das wussten sie nicht einmal. Er versuchte, sich ganz auf sein Studium zu konzentrieren, doch er war in letzter Zeit mit den Gedanken oft in den Westfjorden. Dort besaß er zusammen mit ein paar Freunden ein kleines Boot, weshalb er sehnsüchtig auf den Sommer wartete. Draußen auf dem Meer war es so einfach, alles zu vergessen – das Gute wie das Schlechte. Das Schaukeln des Bootes wirkte wie ein Tonikum gegen Stress, und seine Lebensgeister erwachten in der vollkommenen Stille auf dem Wasser. Ende des Monats wollte er schon mal hinfahren, um das Boot wieder fit zu machen. Für seine Freunde war der Trip in die Fjorde ein willkommener Vorwand, um auf Sauftour zu gehen. Aber nicht für Róbert. Er war seit zwei Jahren trocken – eine absolut notwendige Abstinenz nach den jahrelangen Trinkexzessen, die mit den Ereignissen jenes verhängnisvollen Tags vor acht Jahren begonnen hatten.

Es war ein wunderschöner Tag. Kaum ein Lüftchen wehte über das Spielfeld, die Sommersonne schien warm, und die Zuschauerränge waren gut gefüllt. Sie steuerten gerade auf einen überzeugenden Sieg gegen einen wenig überzeugenden Gegner zu. Er hatte schon eine Einladung fürs Training mit der nationalen Jugendmannschaft in der Tasche, und später im Sommer bestand die Aussicht auf ein Testtraining mit einem der norwegischen Spitzenteams. Von seinem Agenten wusste er, dass sogar einige Mannschaften der unteren englischen Ligen Interesse an ihm signalisiert hatten. Sein alter Herr war mächtig stolz auf ihn. Denn obwohl er selber einmal ein ziemlich guter Fußballspieler gewesen war, hatte er doch nie Chancen auf eine Profikarriere gehabt. Die Zeiten hatten sich geändert, es gab heute mehr Möglichkeiten.

Es waren noch fünf Minuten zu spielen, als Róbert den Ball bekam. Er schaffte es am Verteidiger vorbei, hatte das Tor vor Augen und sah die Angst im Gesicht des Tormanns. Das Spiel lief in die gewohnte Richtung: Ein Fünf-zu-null-Sieg zeichnete sich ab.

Er sah den Angreifer nicht kommen, hörte nur das Knacken und spürte den höllischen Schmerz, als sein Bein an drei Stellen brach. Wie gelähmt blickte er hinab auf den offenen Bruch.

Der Anblick hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Tage im Krankenhaus verbrachte er wie im Nebel, ohne je zu vergessen, dass der Arzt gesagt hatte, seine Chancen, jemals wieder Fußball zu spielen – zumindest als Profi –, wären gering. Also gab er das Spielen ganz auf und suchte Trost im Alkohol. Ein Drink folgte dem anderen, in wachsendem Tempo. Das Schlimmste aber war, dass sein Genesungsprozess schneller verlief, als der Arzt prognostiziert hatte. Der Bruch verheilte viel besser als erwartet, gleichwohl ließ sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen, und der Traum von einer Fußballkarriere war für immer geplatzt.

Inzwischen lief es wieder besser. Es gab Sunna, und den kleinen Kjartan hatte er auch ins Herz geschlossen. Aber tief in seinem Inneren nisteten ein paar dunkle Erinnerungen, die hoffentlich nie ans Licht kommen würden.

* * *

Spät am Abend kam Sunna nach Hause und klopfte ans Fenster, um zu signalisieren, dass sie ihren Schlüssel vergessen hatte. In ihren schwarzen Jeans und dem grauen Rollkragenpullover war sie schön wie immer. Ihr markantes Gesicht wurde von langem, rabenschwarz glänzendem Haar umrahmt, doch es waren ihre Augen gewesen, die ihn zuerst in Bann gezogen hatten, dicht gefolgt von ihrer tollen Figur. Sie war Tänzerin, und manchmal kam es ihm vor, als tanze sie durch ihre kleine Wohnung, statt zu gehen, jede Bewegung voller Anmut.

Er wusste, dass er großes Glück mit ihr hatte. Sie hatten sich auf der Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes kennengelernt und sofort gut verstanden. Seit sechs Monaten waren sie ein Paar und vor drei Monaten zusammengezogen.

Sunna kam herein und drehte die Heizung hoch. Sie fror schneller als er.

»Es ist kalt draußen«, sagte sie. Tatsächlich drang frostige Luft ins Zimmer. Das große Wohnzimmerfenster war undicht, und an die ständige Zugluft konnte man sich nur schwer gewöhnen.

Ihr gemeinsames Leben war nicht einfach, doch allmählich wurde ihre Beziehung stabiler. Sie hatte ein Kind aus einer früheren Beziehung, den kleinen Kjartan, und focht mit dem Kindsvater, Breki, einen bitteren Sorgerechtsstreit aus. Fürs Erste hatten Breki und Sunna sich auf ein gemeinsames Sorgerecht geeinigt, und im Moment verbrachte Kjartan auch Zeit mit seinem Vater.

Doch jetzt hatte Sunna einen Anwalt eingeschaltet, um das alleinige Sorgerecht zu erwirken. Sie checkte zudem die Möglichkeit, ihre Tanzausbildung in Großbritannien fortzusetzen, was sie und Róbert aber noch nicht ausdiskutiert hatten. Beides würde Breki nicht kampflos hinnehmen, so dass sie wahrscheinlich vor Gericht endeten. Doch Sunna glaubte, gute Karten zu haben, dass Kjartan ihnen bald ganz allein gehörte.

»Setz dich, Schatz«, sagte Róbert. »Es gibt Pasta.«

»Hmm«, sagte sie und ließ sich auf dem Sofa nieder.

Róbert holte das Essen aus der Küche und brachte Teller, Gläser und einen Wasserkrug mit.

»Ich hoffe, es schmeckt«, sagte er. »Ich lerne noch.«

»Ich hab so großen Hunger, da schmeckt es auf jeden Fall.«

Er stellte Musik zum Relaxen an und setzte sich neben sie.

Sunna erzählte ihm von ihrem Tag – den Proben und dem Druck, unter dem sie stand. Sie war Perfektionistin und hasste es, Fehler zu machen.

Seine Pasta schmeckte nicht sensationell gut, war aber doch ziemlich lecker.

Plötzlich sprang Sunna auf und ergriff seine Hand. »Auf die Beine, Liebling«, sagte sie. »Jetzt wird getanzt.«

Róbert stand auf, nahm sie in die Arme und tanzte mit ihr im Takt einer langsamen südamerikanischen Ballade. Er schob eine Hand unter ihren Pullover, strich mit den Fingerspitzen über ihren Rücken und öffnete mit einem einzigen Handgriff ihren BH. Darin war er Experte.

»He, junger Mann«, sagte sie gespielt empört, ein warmes Leuchten in den Augen. »Was wird das denn?«

»Wir sollten schamlos ausnutzen, dass Kjartan bei seinem Vater ist«, sagte Róbert. Er küsste sie lange und innig. Die Hitze ihrer Körper stieg genauso wie die Zimmertemperatur, und es dauerte nicht lange, da nahm er sie an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer.

Wie immer schloss Róbert die Tür und zog die Gardinen vor dem Fenster zu, das zum Garten hinausging. Trotz dieser Vorkehrungen waren die Laute ihres Liebesspiels noch in der Nachbarwohnung zu hören.

Als wieder Stille eingekehrt war, hörte er eine Tür knallen, vom prasselnden Regen gedämpft. Es klang wie die Verandatür an der Rückseite des alten Hauses. Sunna setzte sich auf und sah ihn erschrocken an. Er versuchte, seinen eigenen Schrecken hinter gespielter Tapferkeit zu verbergen, stand auf und ging nackt ins Wohnzimmer. Niemand da.

Aber die Hintertür stand tatsächlich offen und schlug im Wind hin und her. Er warf einen Blick auf die Veranda, um sagen zu können, dass er nachgesehen hatte, und zog die Tür schnell wieder zu. Selbst wenn es da draußen von Menschen nur so gewimmelt hätte, hätte er sie in der Dunkelheit nicht erkennen können.

Dann ging er von Zimmer zu Zimmer, mit immer heftiger klopfendem Herzen, konnte aber keinen unwillkommenen Gast entdecken. Nur gut, dass Kjartan nicht zu Hause war.

Plötzlich bemerkte er etwas, was ihn die ganze Nacht über wach halten würde.

Er eilte durchs Wohnzimmer zurück, voller Angst, dass Sunna etwas passiert sein könnte. Mit angehaltenem Atem betrat er das Schlafzimmer, wo sie auf dem Bettrand saß und gerade ein Shirt überzog. Sie lächelte schwach, konnte ihre Beunruhigung nur schwer verbergen.

»Da war nichts, Schatz«, sagte er und hoffte, dass sie das Zittern in seiner Stimme nicht bemerkte. »Ich hatte den Müll rausgebracht und wohl die Tür nicht richtig zugemacht«, log er. »Du weißt ja, der Wind hinterm Haus spielt manchmal verrückt. Bleib hier, ich hole dir einen Drink.«

Er verließ rasch das Schlafzimmer und beseitigte als Erstes die Spuren, die er entdeckt hatte.

Hoffentlich tat er das Richtige – Sunna nichts von den Pfützen auf dem Boden zu erzählen, von den nassen Schuhabdrücken, die der Eindringling im Haus hinterlassen hatte. Am schlimmsten aber war, dass die Spuren an der Verandatür nicht endeten, sondern bis zu ihrer Schlafzimmertür führten.

2. Kapitel

Ari Þór Arason, Polizeihauptmeister in Siglufjörður, konnte weder sich selbst noch sonst jemandem erklären, warum er sich Gedanken über einen uralten Fall machte. Er kam damit dem Ersuchen eines ihm vollkommen fremden Mannes nach, was umso irrationaler war, da in ihrer kleinen Stadt gerade Chaos herrschte.

Der Mann, Hédinn, hatte ihn kurz vor Weihnachten angerufen, just zu dem Zeitpunkt, als der Chef ihrer Polizeiwache, Tómas, Urlaub in Reykjavík machte. Er bat Ari Þór, Nachforschungen in einer sehr alten, längst zu den Akten gelegten Begebenheit anzustellen, in der es um den Tod einer jungen Frau ging. Ari Þór hatte versprochen, sich darum zu kümmern, sobald er Zeit dazu finde, was heute Abend schließlich der Fall war.

Deshalb hatte er Hédinn angerufen und gebeten, abends auf die Polizeiwache zu kommen, natürlich erst nachdem dieser versichert hatte, dass er die letzten zwei Tage nicht aus dem Haus gegangen sei, um eine Ansteckungsgefahr auszuschließen. Hédinn klang zunächst unschlüssig, ob er Ari Þór angesichts der gegenwärtigen Lage persönlich treffen sollte, willigte aber schließlich ein, weil er unbedingt über diese alte Sache reden wollte.

Die Infektionskrankheit hatte sich vor zwei Tagen mit dem Eintreffen eines wohlhabenden, abenteuerlustigen Reisenden aus Frankreich in der Stadt ausgebreitet. Der Mann war zuvor von Afrika nach Grönland geflogen und hatte kurzerhand beschlossen, einen Abstecher nach Island zu machen. Sein Kleinflugzeug bekam Landeerlaubnis auf dem entlegenen Behelfsflugplatz von Siglufjörður, wo er das Hering-Museum besichtigen wollte. Er hatte eigentlich vorgehabt, nur vierundzwanzig Stunden zu bleiben, war aber am Abend seiner Ankunft sehr krank geworden.

Zunächst wurde angenommen, er habe eine ungewöhnlich schwere Grippe mit sehr hohem Fieber, doch sein Zustand verschlechterte sich dermaßen rasant, dass er in der darauffolgenden Nacht starb. Ein Spezialist stellte fest, dass der Mann an Ebola erkrankt war, was er sich sehr wahrscheinlich auf seinen Reisen durch Afrika zugezogen hatte, das Fieber war aber erst jetzt ausgebrochen. Ebolafieber war hochansteckend, und es bestand die Gefahr, dass unzählige andere Menschen sich während der Inkubationszeit damit infiziert hatten.

Die Zivilschutzbehörde wurde informiert, und Tests von Gewebeproben des Toten bestätigten die Diagnose. Da man keinerlei praktische Erfahrung im Umgang mit der Krankheit hatte und kein Risiko eingehen wollte, wurde umgehend die drastische Entscheidung getroffen, die kleine Stadt unter Quarantäne zu stellen. Zudem versuchte man, alle Leute, die mit dem Verstorbenen Kontakt gehabt hatten, ausfindig zu machen und alle Orte, an denen er gewesen war, gewissenhaft zu desinfizieren.

Es dauerte nicht lange, und es hieß, dass auch die in jener Nacht diensthabende Krankenschwester erkrankt war. Heute Morgen hatte Ari Þór dann gehört, dass sie zunächst unter Beobachtung gestanden hatte, doch als sie leichte Symptome entwickelte, auf die Isolierstation verlegt worden war.

Noch einmal wurde alles in Bewegung gesetzt, um sämtliche Aufenthaltsorte und Kontakte des Mannes mit der Bevölkerung zu ermitteln, und die ganze Desinfizierungsprozedur begann von neuem.

Doch im Moment war alles ruhig. Die Krankenschwester lag noch immer auf der Isolierstation des Siglufjörðurer Krankenhauses und würde notfalls sofort auf die Intensivstation nach Reykjavík gebracht werden, sollte sich ihr Zustand verschlechtern. Der Polizei, also ihm, war mitgeteilt worden, davon auszugehen, dass die Stadt noch mehrere Tage unter Quarantäne bleiben musste.

Obwohl im Grunde wenig passierte, herrschte in ganz Siglufjörður Panik, fraglos angeheizt von der umfassenden Berichterstattung in den Medien, die das Ebolafieber inzwischen als »Französische Krankheit« bezeichneten. Die Einwohner hatten natürlich große Angst, und die Politiker und Experten vertraten den Standpunkt, dass keine unnötigen Risiken eingegangen werden durften. Das Leben in der Stadt war praktisch zum Erliegen gekommen. Die meisten Menschen entschieden, zu Hause zu bleiben und via Telefon und E-Mail zu kommunizieren. Niemand hatte auch nur das geringste Interesse gezeigt, die unsichtbaren Mauern um die Stadt zu überwinden, um ihr einen Besuch abzustatten. Sämtliche Geschäfte, Firmen und Lokale waren vorübergehend geschlossen, und die Kinder hatten schulfrei.

Ari Þór war gesund und ging davon aus, dass ihn die Krankheit nicht erwischen würde, denn er war nie in die Nähe des bedauernswerten Reisenden und der Krankenschwester gekommen. Das galt auch für den Chef der Polizeiwache in Siglufjörður, seinen Vorgesetzten Tómas, der gerade aus dem Urlaub zurück war und wieder Dienst mit ihm schob.

Ari Þór hoffte, dass Hédinns Besuch für ein wenig Ablenkung sorgte und ihn an etwas anderes denken lassen würde als an die gefährliche Infektionskrankheit. Und irgendwie hatte er die dunkle Ahnung, dass er nicht umsonst hoffte.

3. Kapitel

»Ich bin am Héðinsfjörður geboren«, sagte Hédinn, Ari Þórs Besucher. »Warst du schon einmal dort?«

Sie hatten sich zur Begrüßung nicht einmal die Hand gegeben und saßen jetzt in einigem Abstand voneinander in der Kaffeestube der Wache.

»Seit der Tunnel eröffnet wurde, bin ich schon öfter vorbeigefahren«, erwiderte Ari Þór, während er darauf wartete, dass sein Tee abkühlte. Hédinn hatte sich für Kaffee entschieden.

»Ja, genau so ist es«, erwiderte Hédinn mit tiefer Stimme.

Er war ein zurückhaltender, stiller Mann, vermied nach Möglichkeit den Blickkontakt mit Ari Þór und sah meistens auf den Tisch oder in seine Kaffeetasse.

»Genau so ist es«, wiederholte er. »Kein Mensch hält sich lange dort auf. Es ist immer noch derselbe menschenleere Fjord, obwohl die Leute ihn jetzt ständig passieren. Früher war es unvorstellbar, dass dort einmal so viele Menschen vorbeikommen.«

Hédinn schien auf die sechzig zuzugehen, und es dauerte nicht lange, da bestätigte er Ari Þórs Schätzung.

»Ich bin 1956 dort geboren. Meine Eltern waren ein Jahr zuvor hingezogen, da hat schon niemand mehr am Fjord gelebt. Das fanden sie bedauerlich und wollten es ändern. Und sie waren auch nicht allein, die Schwester meiner Mutter und ihr Mann waren mitgegangen. Sie wollten sich dort in der Landwirtschaft versuchen.«

Er hielt inne, nippte vorsichtig an seinem Kaffee und biss in das Plätzchen, das er sich aus der Schachtel auf dem Tisch genommen hatte. Seine Nervosität war nicht zu übersehen.

»Besaßen sie denn einen Hof oder Land dort?«, fragte Ari Þór. »Es ist ja eine wunderschöne Gegend.«

»Wunderschön …«, wiederholte Hédinn mit verträumter Stimme, schien sich gerade in Erinnerungen zu verlieren. »Für dich ist es das vielleicht, aber ich denke anders darüber. Das Leben dort ist seit jeher unglaublich hart. Es gibt immer viel Schnee, und im Winter ist man von der Welt so gut wie abgeschnitten. Und über zu wenige Lawinen in den Bergen kann man auch nicht klagen.«

Hédinn unterstrich seine Worte mit einem Kopfschütteln und einem Stirnrunzeln. Er war ein großer, etwas übergewichtiger Mann und hatte das dünne, strähnige Haar nach hinten gekämmt.

»Aber um deine Frage zu beantworten – nein, meine Eltern hatten dort nie eigenes Land besessen. Sie pachteten einen leerstehenden Hof, der noch in gutem Zustand war. Mein Vater hat sein Leben lang hart gearbeitet und wollte schon immer gern Bauer sein. Das Haus war groß genug für alle vier – meine Eltern und die Schwester meiner Mutter und ihren Mann. Der Schwager hatte damals wohl finanzielle Probleme und war froh, etwas Neues ausprobieren zu können. Ein Jahr später wurde ich dann geboren, da waren wir zu fünft …« Er hielt inne, blickte finster drein. »Na ja, das ist noch nicht wirklich sicher, aber dazu komme ich später«, fügte er hinzu.

Ari Þór sagte nichts und ließ Hédinn weitererzählen.

»Du hast gesagt, du bist dort schon vorbeigefahren, aber vom Fjord weiter draußen kennst du dann kaum etwas. Von der neuen Straße aus sieht man nämlich nur die Héðinsfjörðurer Lagune. Dort gibt es eine schmale Nehrung, Víkursandur, die die Lagune vom Fjord trennt, und von der Straße aus kann man bestenfalls bis dahin sehen. Aber das ist für das, was ich dir erzählen will, unwichtig. Unser Haus lag an der Lagune, und eigentlich müsste ich liegt sagen, weil ein Rest ja noch steht. Es ist das einzige Haus auf der Westseite der Lagune. Da gibt es nur einen kleinen Streifen ebenes Tiefland, und es liegt im Schatten eines hohen Bergs, direkt unten am Fuß. Natürlich war es total verrückt, dort leben zu wollen, aber meine Eltern waren fest entschlossen, es zu versuchen. Weißt du, ich habe immer geglaubt, dass die Lebensbedingungen dort – der Berg und die Abgeschiedenheit – zu den Ereignissen beigetragen haben. In so einer Gegend kann man leicht den Verstand verlieren, nicht wahr?«

Ari Þór brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass Hédinn eine Antwort auf seine Frage erwartete.

»Vermutlich schon« war alles, was er herausbrachte. Und obwohl man die Abgeschiedenheit von Héðinsfjörður ganz sicher nicht mit Siglufjörður vergleichen konnte, erinnerte er sich noch gut an seinen ersten qualvollen Winter hier: Er hatte nachts kaum schlafen können, die Dunkelheit und das Gefühl, eingesperrt zu sein, hatten ihn fast erstickt. Der viele Schnee hatte Siglufjörður nämlich mehr oder weniger vom Rest der Welt abgeschnitten.

»Du weißt das sicher besser als ich«, sagte er, bei dieser Erinnerung fröstelnd. »Wie war denn das Leben dort?«

»Ich weiß es besser? Du meine Güte, ich erinnere mich an gar nichts. Wir sind weggezogen, nachdem … das passiert war, da war ich nicht mal ein Jahr alt. Und meine Eltern haben kaum über die Zeit in Héðinsfjörður geredet, was verständlich ist. Aber es war nicht alles schlimm, glaube ich. Meine Mutter hat mir erzählt, ich sei an einem herrlichen Maitag geboren und dass sie kurz nach der Geburt zur Lagune gegangen ist. Sie hat übers Wasser geschaut, das an dem sonnigen Tag vollkommen ruhig war, und in dem Moment beschlossen, mich Hédinn zu nennen. Nach dem Wikinger, der sich um das Jahr 900 am Héðinsfjörður niedergelassen hatte. Sie haben mir auch von wunderschönen Wintertagen erzählt, aber manchmal hat mein Vater gesagt, dass einem die hohen Berge in den dunklen Wintermonaten aufs Gemüt schlagen konnten.«

Erneut überkam Ari Þór ein beklemmendes Gefühl. Er erinnerte sich nur allzu gut, wie sehr die Berge rund um Siglufjörður ihm zugesetzt hatten, als er vor zweieinhalb Jahren hierhergezogen war. Er hatte gelegentlich zwar immer noch klaustrophobische Anwandlungen, aber sie beherrschten ihn nicht mehr.

»Damals war es nicht leicht, von Héðinsfjörður nach Siglufjörður oder Ólafsfjörður zu kommen«, fuhr Hédinn fort. »Am einfachsten ging es auf dem Seeweg, aber man konnte auch laufen – über den Hestsskard-Pass und runter nach Siglufjörður. Laut einer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert war eine Frau von einem Hof in Hvanndalir zu Fuß losgezogen, um Feuerholz zu sammeln, und das auf dem extrem mühsamen Weg an der Ostseite des Fjords, entlang des Gerölls. Sie war schwanger und trug unter ihren Kleidern obendrein noch ein Kleinkind auf dem Rücken – den ganzen langen Weg. Wenn man will, ist alles möglich. Diese Geschichte hat ein glückliches Ende genommen, aber meine nicht.« Hédinn sah auf, ein trauriges Lächeln im Gesicht. Er wartete einen Moment, bevor er fortfuhr.

»Unser altes Haus steht ganz in der Nähe des Weges, den man zum Héðinsfjörður geht, wenn man zu Fuß über den Hestsskard-Pass aus Siglufjörður kommt. Heutzutage gehen die Leute dort zum Vergnügen entlang. Die Zeiten ändern sich, nicht wahr? Und die Menschen auch. Meine Eltern sind beide tot, meine Mutter ist zuerst gestorben, dann mein Vater«, sagte er und verfiel erneut in Schweigen.

»Die beiden anderen sind auch tot?«, fragte Ari Þór, hauptsächlich, um das Schweigen zu durchbrechen. »Ich meine, deine Tante und dein Onkel?«

Hédinn wirkte verwundert. »Dann hast du also nie davon gehört?«, fragte er schließlich.

»Was meinst du denn?«

»Tut mir leid, ich bin einfach davon ausgegangen, dass du die Geschichte kennst. Damals kannte sie jeder, aber nach einer Zeit verblasst wohl alles. Es ist jetzt über ein halbes Jahrhundert her, da geraten selbst die schlimmsten Dinge in Vergessenheit. Und niemand konnte jemals mit Sicherheit sagen, ob es Mord war oder Selbstmord …«

»Wirklich? Wer war denn gestorben?«, fragte Ari Þór interessiert.

»Meine Tante. Sie ist an Gift gestorben.«

»Gift?« Ari Þór schüttelte es bei der Vorstellung.

»Es war in ihrem Kaffee, und es dauerte ewig, bis der Arzt eintraf. Vielleicht hätte sie gerettet werden können, wenn früher Hilfe gekommen wäre. Vielleicht hat sie es aber auch selbst getan, gerade weil sie wusste, dass der Krankenwagen oder der Arzt nicht rechtzeitig eintreffen würden.« Hédinn sprach jetzt noch langsamer, die Stimme war noch tiefer. »Man kam zu dem Schluss, dass es ein Unfall war – dass sie versehentlich Rattengift anstatt Zucker in ihren Kaffee getan hatte. Was ich ziemlich weit hergeholt finde.«

»Du glaubst, jemand hat sie ermordet?«, fragte Ari Þór geradeheraus. Er wich schwierigen Fragen schon lange nicht mehr taktvoll aus, war in dieser Hinsicht sowieso nie besonders rücksichtsvoll gewesen.

»Das kann meiner Meinung nach die einzige Schlussfolgerung sein. Und da es ja nur drei mögliche Täter gab – ihren Mann und meine Eltern –, hing der Verdacht immer wie ein Schatten über der Familie. Natürlich haben es die Leute nie offen ausgesprochen, und am häufigsten hing man der Theorie an, dass sie Selbstmord begangen hatte. Aber heute spricht kaum noch jemand darüber. Nach ihrem Tod sind wir nach Siglufjörður gezogen. Ihr Mann ist zurück in den Süden nach Reykjavík gegangen und hat dort den Rest seines Lebens verbracht. Meine Eltern haben nie mit mir über die Sache gesprochen, und groß nachgebohrt hab ich auch nicht. Von den eigenen Eltern denkt man ja sowieso nicht schlecht, oder? Aber der Zweifel hat sich in meinem Hinterkopf festgesetzt. Meiner Meinung nach hat sie entweder Selbstmord begangen, oder ihr Mann hat sie umgebracht. Das hat es schon oft gegeben. Männer töten ihre Frauen, und umgekehrt«, sagte Hédinn mit einem Seufzer.

»Du kannst dir sicher denken, wie meine nächste Frage lautet«, sagte Ari Þór.

»Ja«, erwiderte Hédinn, verfiel aber wieder in Schweigen. Schließlich sagte er: »Du fragst dich, warum ich damit nach so vielen Jahren zu dir komme.«

Ari Þór nickte. Er griff nach seiner Teetasse auf dem Tisch, um einen Schluck zu trinken, dachte dann aber an das Rattengift im Kaffee der bedauernswerten Frau und überlegte es sich anders.

»Das ist eine Geschichte für sich.« Hédinn straffte die Schultern. Er dachte einen Moment nach, als müsse er nach den richtigen Worten suchen. »Zuerst solltest du wissen, dass ich dich vor Weihnachten angerufen habe, weil ich wusste, dass Tómas in Urlaub ist und du für ihn übernimmst. Er kennt die Stadt und alle ihre Geschichten viel zu gut. Ich dachte mir, dass du einen unverstellten Blick auf das Ganze haben wirst, obwohl es mich schon ein bisschen verwundert, dass du noch nie etwas von der Geschichte gehört hast. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Ein Freund von mir wohnt unten im Süden und war letzten Herbst auf einem Treffen der Siglufjörður-Gesellschaft. Das ist ein Verein, der regelmäßig Zusammenkünfte für Leute organisiert, die aus Siglufjörður weggezogen sind. Es war ihr Fotoabend.«

Ari Þór sah ihn fragend an.

»Ja, ein Fotoabend«, wiederholte Hédinn. »Sie sehen sich alte Fotos von Siglufjörður an, wobei ein Teil des Vergnügens ist, Leute darauf wiederzuerkennen und ihre Namen zu notieren. Auf diese Weise führen sie ein Verzeichnis aller Menschen, die über die Jahre in Siglufjörður gewohnt haben.«

»Und dabei ist etwas passiert?«

»Richtig. Er hat mich noch am gleichen Abend angerufen – und gesagt, er hätte das Foto gesehen.«

Die Gewichtigkeit, die Hédinns Stimme plötzlich hatte, sowie der düstere Unterton veranlassten Ari Þór, seinen Worten mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

»Das Foto war in Héðinsfjörður gemacht worden, direkt vor dem Haus, in dem wir wohnten.« Er trank einen Schluck Kaffee, wobei seine Hand zitterte. »Das war vor dem Tod meiner Tante, an einem sonnigen Tag mitten im Winter, aber es lag hoher Schnee.«

Wieder überkam Ari Þór das vertraute Unbehagen, doch er verdrängte es.

»Aber das Foto selbst hat nichts Sonniges. Es zeigt fünf Leute, mich eingeschlossen. Ich muss damals ein paar Monate alt gewesen sein.«

»Ein Familienfoto scheint mir erst mal nichts Merkwürdiges zu sein«, sagte Ari Þór.

»Stimmt«, erwiderte Hédinn leise. Er starrte in seine Kaffeetasse, dann blickte er ruckartig auf und sah Ari Þór fest in die Augen. »Auf dem Foto sind meine Mutter, mein Vater, ich und meine Tante. Ihr Mann, Maríus, muss es gemacht haben, jedenfalls stelle ich mir das so vor.«

»Und wer ist die fünfte Person?«, fragte Ari Þór innerlich schaudernd. Er dachte an alte Geschichten von Geistern, die auf Fotos erschienen. Wollte Hédinn auf so etwas hinaus?

»Ein Junge im Teenageralter, von dem ich noch nie gehört hatte. Er steht genau in der Mitte und hat mich auf dem Arm. Um es abzukürzen: Keiner der Anwesenden an dem Fotoabend hatte die leiseste Ahnung, wer dieser Junge war.« Hédinn stieß einen Seufzer aus. »Wer ist dieser Teenager, und was ist aus ihm geworden? Ist er womöglich schuld am Tod meiner Tante?«

4. Kapitel

Völlig erschöpft nach der schlaflosen Nacht, goss Róbert sich Milch ins Müsli. Sunna saß ihm am Küchentisch gegenüber und hatte offensichtlich gut geschlafen. Im Hintergrund liefen leise die Nachrichten; es sah ganz nach einem alltäglichen Morgen im März aus, bis vielleicht auf die Meldung über den Ausbruch eines Virus in Siglufjörður, an dem letzte Nacht ein Patient gestorben war. Die Vorstellung von einer ansteckenden Krankheit beunruhigte Róbert ein wenig. Er hoffte inständig, dass man die Ausbreitung verhindern konnte und seine Familie unbeschadet blieb. Doch heute früh beschäftigten ihn andere, dringendere Probleme als der Ausbruch eines Virus.

Ihr Zuhause, so sauber und geschmackvoll es auch war, fühlte sich schmutzig an – verunreinigt von dem nächtlichen Eindringling. Wer hatte bei ihnen rumgeschnüffelt? Hatte er – oder sie – ihr leidenschaftliches Liebesspiel durchs Schlafzimmerfenster beobachtet und beschlossen, ins Haus zu kommen? War es womöglich ein Spanner gewesen? Oder war es doch etwas viel Ernsteres? Die Hintertür war verschlossen gewesen, da war er sich sicher – absolut sicher.

Aber natürlich waren da auch noch Sunnas verlorene Hausschlüssel. Konnte es sein, dass jemand sie gefunden und herausbekommen hatte, wem sie gehörten, und eingebrochen war? Oder waren die Schlüssel vielleicht gezielt entwendet worden? Diese Vorstellung war äußerst bedrohlich. Jedenfalls musste er heute Morgen sofort einen Schlüsseldienst bestellen und sämtliche Schlösser austauschen lassen.

Er griff mit der Hand hinter sich und stellte das Radio aus. Einen Moment lang war es bis auf den Regen, der heftig und unablässig die Fensterscheiben traktierte, still in der kleinen Küche.

»Deine Schlüssel hast du nicht gefunden, oder?« Er versuchte, nicht besorgt zu klingen.

»Also, das ist wirklich seltsam«, sagte Sunna und blickte von ihrer Zeitung auf. »Ich habe keine Ahnung, wo sie sind. Gestern bei der Probe hatte ich sie definitiv noch. Sie waren in meiner Manteltasche, ich bin mir ganz sicher. Und den Mantel hatte ich im Vorraum gelassen, wo auch die Sachen der anderen lagen. Da wurde noch nie was gestohlen, aber schon möglich, dass irgendjemand in meine Tasche gegriffen hat.«

»Irgendjemand?«, fragte Róbert.

»Ja, ich denke schon.«

»Sogar jemand von draußen auf der Straße?«

»Möglich wäre das«, sagte sie und sah ihn durchdringend an. »Warum fragst du? Stimmt etwas nicht?«

Er zwang sich zu lächeln. »Nein, alles okay …« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Ich überlege, ob wir die Schlösser austauschen lassen sollen. Nur um sicherzugehen.«

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte sie, offensichtlich überrascht. »Ich finde sie sicher noch.«

»Du kennst mich doch … vielleicht bin ich ja übervorsichtig. Aber es war sowieso fällig«, log er. »Der Schlüssel ließ sich manchmal schwer im Schloss umdrehen.«

»Davon hab ich noch nichts gemerkt«, sagte Sunna, sah auf die Uhr und stand auf. »Aber wie du willst. Ich muss jetzt gehen, sonst komme ich zu spät.«

Sie eilte aus der Küche, drehte sich in der Tür um und fragte: »Bist du heute Mittag zu Hause?«

Róbert hatte zwar eine Vorlesung, wollte das Haus aber keinesfalls verlassen, bevor die Schlösser ausgetauscht waren. Es war nicht gelogen, als er Sunna sagte, dass er von Natur aus vorsichtig war.

»Ich denke schon«, sagte er.

»Breki wollte Kjartan zurückbringen. Ist es okay, wenn ich dann noch nicht wieder da bin?«, fragte sie etwas verlegen.

Er hatte keine hohe Meinung von Sunnas Exfreund.

»Kein Problem«, erwiderte Róbert. »Nur eins noch …«, begann er, als sie gerade die Tür hinter sich schließen wollte. »Er lässt dich doch in Ruhe, oder?«

»Breki?«

»Ja. Du weißt ja, was der Anwalt gesagt hat – dass du mit ihm nicht übers Sorgerecht reden sollst. Das ist jetzt ausschließlich Sache der Anwälte.«

»Mach dir wegen Breki keine Sorgen. Mit ihm komme ich klar«, sagte sie lächelnd.

5. Kapitel

Als Ísrún ihren Platz im Flugzeug einnahm, das sie von den Färöer Inseln zurück nach Island bringen würde, hatte sie vor Angst Bauchschmerzen. Der Hinflug war gut gewesen, aber den Landeanflug, bei dem sich das Flugzeug zwischen hoch aufragenden und scheinbar zum Greifen nahen Bergen durchschlängeln musste, würde sie nie vergessen. Die Augen zu schließen war ein großer Fehler gewesen, weil plötzliche Turbulenzen ihre Schreckensvisionen noch steigerten und die Landung noch traumatischer machten. Beim Verlassen des Flugzeugs wünschte ihr ein Crew-Mitglied einen angenehmen Aufenthalt – offensichtlich war ihm ihre Blässe aufgefallen.

»Der Flug war okay«, stammelte Ísrún, »bis auf die Landung.«

»Die Landung?«, hatte er überrascht gefragt. »Aber die war doch absolut problemlos. Gute Bedingungen und nur wenig Turbulenzen.«

Als sie sich jetzt anschnallte, sagte sie sich, dass der Start bestimmt weniger beunruhigend als die letzte Landung sein würde.

Sie hatte die paar Tage nicht zum Vergnügen auf den Färöern verbracht – ganz im Gegenteil. Sie mochte die Menschen, die sie hier kannte, sehr gern und hatte sie früher mit ihren Eltern öfter besucht. Aber diesmal war sie gekommen, um ihre Mutter, Anna, wiederzusehen.

Anna war auf den Färöer Inseln geboren, als Tochter einer Fischerfamilie. Ihre Eltern waren tot, aber sie hielt engen Kontakt mit ihren beiden Schwestern, die noch immer auf den Inseln lebten. Anna war mit zwanzig nach Island gezogen. Sie lernte einen Isländer kennen, Orri, der den Sommer über auf den Färöern arbeitete. Laut Anna war es Liebe auf den ersten Blick. Sie bauten ein Haus in Kópavogur, einer Stadtgemeinde in der Metropolregion Reykjavík, zogen aber später nach Grafarvogur, einem großen Wohnviertel der Hauptstadt. Anna studierte Literatur an der Universität Island, und ein paar Jahre nach ihrem Abschluss wurde Ísrún geboren.

Orri verdiente sein Geld als Lastwagen- und Busfahrer, während Anna nach dem Studium einen kleinen Verlag gründete, mit dem sie Autoren von den Färöer-Inseln in Island bekanntmachen wollte. Nachdem sie ein paar Übersetzungen veröffentlicht hatte, begann sie, auch Kinderbücher zu publizieren. Die letzten Jahre hatte sie Reiseführer mit ins Programm aufgenommen und war auch damit sehr erfolgreich gewesen.

Während ihnen der Verlag finanzielle Sicherheit bot, erwies sich die Ehe von Anna und Orri als weniger solide. Orri hatte beschlossen, sich als Reiseveranstalter zu versuchen, mit dem Ziel, Geld mit Fremdwährungen zu verdienen. Das war nach der Finanzkrise 2008 aufgrund der Einführung von Devisenkontrollen in Island besonders attraktiv, weil diese den Zugang zu Fremdwährungen einschränkten. Er hatte zudem gehofft, von Annas Reiseführern zu profitieren, in denen er für sein eigenes Unternehmen warb. Er kaufte einen einfachen Bus und schließlich noch einen zweiten. Letzterer war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Anna ging auf die sechzig zu und war gerade dabei, ihren Verlag zu verkaufen. Die ausgehandelten Konditionen waren recht gut und würden es ihr erlauben, in Rente zu gehen. Orri war sieben Jahre älter als sie, hatte aber nicht vor, aufzuhören. Und dass Anna den Verlag verkaufen wollte, gefiel ihm gar nicht. Ísrún hatte sie gerade besucht, als der Streit ihrer Eltern eine neue Stufe erreichte.

»Ich hab noch einen Bus gekauft«, hatte er sonntags beim Abendessen gemurmelt.

»Reicht einer denn nicht?«, fragte Ísrún arglos.

»Doch. Aber ich hab gerade einen in Deutschland bestellt.«

»Noch einen Bus?«, fragte Anna scharf, starrte ihren Mann an und gab sich große Mühe, in Anwesenheit der Tochter ihre Wut zu kontrollieren.

»Der Preis war gut«, fuhr er fort. »Er hat hunderttausend auf dem Tacho, aber das ist nichts. Und mit air conditioning«, sagte er, benutzte das englische Wort und sprach es mit einem amerikanischen Akzent aus, den er sich in den achtziger Jahren bei einem einjährigen Aufenthalt in den USA zugelegt hatte.

»Und wie hoch ist der gute Preis?«, fragte Anna.

»Ich bezahl ihn früh genug, du wirst schon sehen«, antwortete er ausweichend. »Ich hab alles genau kalkuliert. Die Nachfrage nach den Golden-Circle-Rundreisen ist riesengroß, das wird eine Goldmine«, fügte er übertrieben grinsend hinzu.

»Hatten wir nicht beschlossen, es in Zukunft langsamer angehen zu lassen?«, sagte Anna, woraufhin die Unterhaltung versiegte.

Schweigend setzten sie die Mahlzeit fort, doch Ísrún wusste, dass sie weiterdiskutieren würden, sobald sie sich verabschiedet hatte.

Jetzt, zwei Monate später, war Anna gegangen. Sie hatte nicht nur ihren Verlag verkauft und war aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, sie hatte auch Island verlassen und lebte wieder auf den Färöern. Dort wohnte sie in einem großen Haus, das einer ihrer Schwestern gehörte. Orri war am Boden zerstört. Er tat alles, um sein Reiseunternehmen profitabel zu machen, doch Ísrún befürchtete, dass er sich übernommen hatte. Er war nicht mehr der Alte, und Annas Auszug schien ihm alle Energie geraubt zu haben.

Es war Ísrúns Idee gewesen, die Pause zwischen ihren Schichten in der Nachrichtenredaktion zu nutzen, um auf die Färöer zu fliegen und ihre Mutter zu überreden, nach Island zurückzukommen. Das Ganze war eher eine Schnapsidee gewesen, aber Ísrún neigte momentan zu übereilten Entscheidungen. Denn um sich von ihrer Erbkrankheit abzulenken, konzentrierte sie sich auf alles mögliche andere. Vor eineinhalb Jahren hatte sie einen Arzt aufgesucht, um herauszufinden, ob sie an der gleichen Krankheit litt, an der ihre Großmutter vor vielen Jahren gestorben war – einer Krankheit, die zur Bildung gefährlicher Tumore führen konnte. Die Diagnose bestätigte ihre schlimme Befürchtung. Aber der Tumor, den sie fanden, war glücklicherweise gutartig. Der Arzt hatte jedoch keinen Zweifel daran gelassen, dass sich die Krankheit in eine weniger günstige Richtung entwickeln könnte, sie aber trotzdem ermutigt, optimistisch zu sein. Das versuchte sie nun nach Kräften und bemühte sich, so zu tun, als hätte sie die Diagnose nie bekommen. Sie hatte niemandem von ihrer Krankheit erzählt, nicht einmal ihren Eltern. Kurzfristig hatte sie überlegt, es ihrer Mutter zu sagen, um sie so zur Rückkehr nach Island zu bewegen. Doch den Gedanken hatte sie schnell wieder verworfen, weil es allen Beteiligten gegenüber unfair gewesen wäre. Andererseits war die Trennung ihrer Eltern neben ihrer Arbeit eine weitere Belastung. Und der Arzt hatte empfohlen, sie solle – außer regelmäßigem Sport und gesundem Essen – Stress vermeiden. Was im Grunde hieß, dass sie ihre Arbeit als Journalistin aufgeben müsste.

»Dann kannst du mich genauso gut gleich begraben«, hatte sie erwidert und es sofort bereut, mit Galgenhumor reagiert zu haben.

Denn sie liebte die Hektik und den Nervenkitzel in der Nachrichtenredaktion. Seit ihrem Studium arbeitete sie – mit wenigen Unterbrechungen – als Redakteurin beim Fernsehen, und es gefiel ihr nach wie vor gut. Mit einigen Kollegen hatte sie sich angefreundet, doch es gab auch andere, die ihr nicht so wohlgesinnt waren. Bei einem, Ívar, war sie sogar sicher, dass er sie loswerden wollte und systematisch gegen sie intrigierte. Er war Redaktionsleiter – und somit auch an den meisten Tagen ihr Vorgesetzter –, konnte ihr also Aufgaben zuteilen. Lange Zeit hatte er ihr nur belanglose Themen übertragen, die keinerlei Herausforderung darstellten, aber das hatte sich letzten Sommer geändert. Sie hatte für ihre Reportage über Menschenhandel in Island eine Auszeichnung erhalten und war umgehend zur Lieblingsreporterin der Nachrichtenchefin, María, aufgestiegen, was sich auf ihre Beziehung zu Ívar ausgesprochen positiv auswirkte: Von da an war er Ísrún gegenüber freundlicher, wohl hauptsächlich, um María nicht gegen sich aufzubringen. Ísrún war sicher, dass er, wenn María aufhörte, deren Nachfolge antreten wollte. Aber auch sie selbst hatte ein Auge auf die Stelle geworfen. Und natürlich konnte jeder sehen, dass seine Freundlichkeit gegenüber Ísrún nur gespielt war.

Die Reise auf die Färöer Inseln war absolut unbefriedigend gewesen. Ihre Mutter war stur wie ein Esel – genauso wie Ísrún zuweilen – und fest entschlossen dortzubleiben, jedenfalls vorerst. Ísrún bereute schon halb, das Geld für den Flug ausgegeben und die Arbeitspause zwischen den Schichten für den Trip verschwendet zu haben. Doch eine Erkenntnis nahm sie mit nach Hause, nämlich dass sie künftig mehr Zeit auf den Inseln verbringen sollte. Sie sprach kaum Färöisch, hatte kaum Gelegenheit gehabt, die Stadt und die Menschen kennenzulernen oder ihre Verwandten länger zu sehen, was ihr jetzt ein schlechtes Gewissen bereitete.

»Dein Vater und ich haben einfach nichts mehr gemeinsam, Liebes«, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt. »Jedenfalls nicht im Moment. Warten wir’s ab.«

Dann war die Frage gekommen, auf die Ísrún gewartet hatte: »Hat er dich geschickt?«

»Nein, natürlich nicht. Kann ich dich nicht einfach besuchen, weil ich Lust dazu habe?«

»Tut mir leid … natürlich, Liebes«, hatte Anna kleinlaut geantwortet.

»Es läuft nicht gut bei ihm«, hatte Ísrún gesagt.

»Ich habe ihn gewarnt, aber damit muss er allein klarkommen. Wir hätten genug Geld, um uns zur Ruhe zu setzen. Dieses blödsinnige Reiseunternehmen ist viel zu kostspielig.«

»Du lässt doch nicht irgendwelche Touristen eine Ehe zerstören, die dreißig Jahre gehalten hat, oder?«

»So einfach ist es nicht. Jede Kleinigkeit in unserer Beziehung ist mir auf die Nerven gegangen, und ich bin sicher, dass es ihm mit mir genauso ging. Er hat sich nur noch für seine Arbeit und die verdammten Busse interessiert. Und ich wollte ein bisschen leben – reisen, im Garten arbeiten, in Konzerte und ins Theater gehen. Aber all das interessiert ihn nicht. Ich konnte nicht mal im Bett lesen, weil alle Lichter aus sein mussten, wenn er schlafen wollte. Weißt du, Ísrún, in so einer langen Ehe wie unserer kommt es zu Ermüdungserscheinungen, und es ist nicht immer leicht. Eines Tages wirst du das sicher selbst feststellen«, hatte Anna erwidert und dabei indirekt auf Ísrúns Singledasein angespielt.

Ihre Mutter hatte recht – seit Ísrúns letzter fester Beziehung waren einige Jahre vergangen. Ihre Krankheit hatte dabei eine große Rolle gespielt, aber auch ihr Problem, mit einem grauenvollen Erlebnis, das inzwischen eine Weile zurücklag, fertigzuwerden. Was letztlich bedeutete, dass sie wenig Interesse und kaum Energie hatte, sich einen neuen Freund zu suchen.

* * *

Der Rückflug von den Färöer Inseln war vollkommen unproblematisch. Ísrún fuhr vom Flughafen direkt zur Arbeit, wo sie gerade noch rechtzeitig zu ihrer Schicht eintraf.

»Ísrún«, rief Ívar mit Blick auf die Uhr, als sie zur Tür hereinkam.

Sie ging zu ihm hin, gab sich betont entschieden und selbstsicher. Ívar hatte noch nie eine Auszeichnung erhalten, das wusste sie, und das wusste er. Aber noch wichtiger war, dass María, die Nachrichtenchefin, es auch wusste.

Sie starrte ihn wortlos an.

»Du hast doch in den nächsten Tagen Dienst, oder?«, fragte er nach einem peinlichen Schweigen.

»Ja«, sagte sie.

»Kannst du dich um die Sache in Siglufjörður kümmern? Den tödlichen Virus? Du warst doch letzten Sommer dort, stimmt’s?«

»Okay«, sagte sie, ohne sich ein Lächeln abzuringen.