Todesnacht - Ragnar Jónasson - E-Book
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Todesnacht E-Book

Ragnar Jónasson

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Beschreibung

Atemberaubend schön liegt das Fischerdörfchen Siglufjörður im rauen Norden Islands da. Doch die Idylle täuscht: Der Tod von Elías Freysson hat die Gemeinde zutiefst erschüttert, war er doch ein beliebter Freund, auf den immer gezählt werden konnte. Doch jemand muss ihn so sehr gehasst haben, dass er ihn mit einem Holzpfahl erschlug ...
Der junge Polizist Ari sieht sich während der Ermittlungen plötzlich mit einem Wirrsal aus Menschenhandel, Willkür und Gewalt konfrontiert.

»Todesnacht« ist der zweite Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

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Zum Buch

Atemberaubend schön liegt das Fischerdörfchen Siglufjörður im rauen Norden Islands da. Doch die Idylle täuscht: Der Tod von Elías Freysson hat die Gemeinde zutiefst erschüttert, war er doch ein beliebter Freund, auf den immer gezählt werden konnte. Doch jemand muss ihn so sehr gehasst haben, dass er ihn mit einem Holzpfahl erschlug … Der junge Polizist Ari sieht sich während der Ermittlungen plötzlich mit einem Wirrsal aus Menschenhandel, Willkür und Gewalt konfrontiert.

»Todesnacht« ist der zweite Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival.

Seine Bücher werden in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert. Die preisgekrönte »Hulda-Trilogie« erschien bei btb erstmals auf Deutsch und stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »Frost« erschien eine unabhängige Fortsetzung. Nach »Schneeblind« ist »Todesnacht« der zweite Band der »Dark-Iceland-Serie« um den jungen Polizisten Ari Þór Arason.

Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

TODESNACHT

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Wiederveröffentlichung Mai 2022 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Copyright © der Originalausgabe 2011 by Ragnar Jónasson Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen. Copyright © der deutschen Übersetzung 2017 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021 Covergestaltung: semper smile, München Covermotiv: © Shutterstock/Alina Reynbakh; leedsn © Getty Images/Anton Petrus; MathieuRivrin; mb ∙ Herstellung: sc Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-28535-7V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Der Autor dankt den Einwohnern von Siglufjörður, den Nordisländern sowie den Bewohnern der Region Landeyjar dafür, dass er die Schauplätze verwenden durfte, betont jedoch, dass die Handlung in jeder Hinsicht frei erfunden ist und die Protagonisten keinen lebenden Personen nachempfunden sind.

Besonderer Dank für die Unterstützung in ihren jeweiligen Fachgebieten an Eiríkur Rafn Rafnsson, Polizeiwachtmeister, Hulda María Stefánsdóttir, Staatsanwältin, und die Ärzte Helgi Ellert Jóhannsson und Jón Gunnlaugur Jónasson. Die Verantwortung für die letztendliche Ausführung, darunter auch alle etwaigen Fehler, trägt selbstverständlich der Autor.

Das Zitat aus dem Gedicht von Jón Guðmundsson dem Gelehrten stammt aus dem Werk Fjölmóður – ævidrápa Jóns lærða Guðmundssonar mit einem Vorwort und Anmerkungen von Páll Eggert Ólason.

Finstere Nacht müssen

Menschen ertragen,

und Gepflogenheiten

nach Gebühr,

aushalten im Stillen

schweren Harm,

das ist Gottes Gabe

er kann erdulden.

Jón Guðmundsson der Gelehrte (1574–1658),

aus dem Gedicht »Strandläufer«

Für meine Eltern

ERSTER TEIL

EIN SOMMERTAG

1. Kapitel

How do you like Iceland?

Na ja, er war jedenfalls nicht nach Island gekommen, um das zu erleben.

Der Tag fing gut an, ein schöner Junimorgen. Wobei es kaum einen Unterschied zwischen Morgen und Abend gab, denn es war vierundzwanzig Stunden lang hell. Evan Fein hatte sich sehr darauf gefreut, dieses Land am Ende der Welt zu besuchen.

Evan wohnte in Edinburgh und studierte Kunstgeschichte. Dies war seine erste Reise nach Island. Dort hatten die Naturgewalten, als wollten sie auf die Bankenkrise noch eins draufsetzen, den Leuten innerhalb kürzester Zeit zwei Vulkanausbrüche präsentiert. Die Ausbrüche schienen allerdings beendet zu sein, zumindest vorerst. Evan hatte sie knapp verpasst. Er war seit ein paar Tagen in Island und hatte zuerst Reykjavík und beliebte Ausflugsziele in der Umgebung besichtigt. Dann hatte er sich einen Mietwagen genommen, um in den Norden zu fahren. Er hatte auf einem Campingplatz in Blönduós übernachtet und war früh losgefahren, Richtung Skagafjörður. Die CD mit den alten isländischen Schlagern, die er gekauft hatte, ließ er im Wagen laufen – er verstand zwar kein einziges Wort von den Texten, genoss aber die Musik und war ein bisschen stolz auf seine Touristenmacke, immer in die Kultur des jeweiligen Landes, das er gerade besuchte, eintauchen zu wollen. Er nahm die Straße über den Berg Þverárfjall, bog aber vor Sauðárkrókur links ab, weil er sich eine warme Quelle, die Badestelle Grettislaug, anschauen wollte. Sie war nach dem berühmten Sagahelden Grettir dem Starken benannt und sollte in der Nähe direkt am Meer liegen.

Die Straße befand sich in einem ziemlich schlechten Zustand, und es war natürlich eine Schnapsidee, zu dieser Quelle zu fahren. Aber die Verlockung, in dem warmen Wasser zu relaxen, das Morgenlicht und die Schönheit der Landschaft zu genießen, war einfach zu groß. Er fuhr ganz langsam, denn kleine Lämmer blockierten immer wieder den Weg – oder vielleicht blockierte er ja ihren Weg. Die Badestelle kam einfach nicht in Sicht. Evan befürchtete schon, eine Abzweigung verpasst zu haben, drosselte das Tempo vor jeder Hofeinfahrt noch mehr und versuchte auszumachen, ob die Quelle irgendwo versteckt lag. War er womöglich zu weit gefahren? Dann sah er ein hübsches Einfamilienhaus, das noch nicht ganz fertig war. Es war nicht weit von der Straße entfernt, und davor stand ein kleiner, grauer Lieferwagen.

Der Fahrer des Lieferwagens, oder vielleicht auch der Hausbesitzer, lag reglos neben dem Haus. Evan schreckte zusammen, schaltete mitten auf der Straße den Motor aus und rannte los. Die isländische Schlagermusik dröhnte weiter aus der dürftigen Anlage des Mietwagens und wirkte in dieser Situation total unwirklich.

Der Mann war tot. Zumindest vermutete Evan das auf den ersten Blick angesichts des Körperbaus und der kurzen Haare, dass es sich um einen Mann handelte. Es war unmöglich, sein blutüberströmtes Gesicht zu erkennen, und an der Stelle, wo vorher ein Auge gewesen war, klaffte eine Wunde.

Evan stockte der Atem. Wie vom Donner gerührt starrte er die Leiche an und drehte sich dann ruckartig um, als wolle er abchecken, ob sich der Angreifer hinter ihm befand. Das war nicht der Fall; Evan stand alleine bei dem Toten. Neben der Leiche lag ein blutiges Brett, das offenbar als Schlagwaffe benutzt worden war. Als Evan das Brett sah, musste er plötzlich würgen. Er versuchte alle auf ihn einströmenden Gedanken zu verdrängen, holte tief Luft und fing sich wieder. Dann setzte er sich auf die Wiese vor das Haus und wünschte sich, er hätte ein anderes Ziel für seinen Sommerurlaub ausgewählt.

2. Kapitel

Ísrún wachte vom Summen einer Fliege auf, die durch das offene Schlafzimmerfenster geschlüpft war, und schaute auf die Uhr – Mist! Sie hätte länger schlafen können, musste erst um halb zehn in der Nachrichtenredaktion sein. Es würde ein ruhiger Tag werden. Der Vulkanausbruch war vorerst zum Erliegen gekommen, in der Stadt war nicht viel los, der Sommer war da. Sauregurkenzeit. Im Augenblick hatte sie nichts anderes zu tun, als aus dem Bildmaterial von einem Sommerfest, bei dem sie gestern mit einem Kameramann gewesen war, einen kurzweiligen Beitrag zusammenzustellen. Nette Sommerstimmung, um die Abendnachrichten zwanglos abzuschließen. Er würde garantiert ganz nach hinten in die Spätnachrichten oder auf den nächsten Tag geschoben – solche Stimmungsberichte kamen immer zuletzt, wurden nach hinten verschoben, sobald etwas Wichtigeres passierte.

Ísrún arbeitete seit zehn Jahren in der Redaktion, allerdings mit Unterbrechungen. Sie hatte nach dem Abitur als Aushilfe dort angefangen und während ihres Psychologiestudiums weitergemacht. Nach ihrem Bachelorabschluss hatte sie ein Jahr lang in einer Klinik gearbeitet, war aber in die Redaktion zurückgekehrt, weil sie den Nervenkitzel vermisst hatte. Dann war sie zum Masterstudium nach Dänemark gegangen und hatte anschließend wieder als Psychologin gearbeitet, diesmal in Akureyri. Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit sie im Krankenhaus in Akureyri gekündigt hatte, nach Reykjavík gezogen war und sich wieder bei der Nachrichtenredaktion beworben hatte. Viele ihrer alten Kollegen hatten inzwischen aufgehört, und neue Gesichter waren hinzugekommen, aber ein paar waren immer noch da. Als Ísrún sich damals nach dem Abitur für einen Job bei den Fernsehnachrichten beworben hatte, hatte sie nicht wirklich mit einer positiven Antwort gerechnet. Sie hatte sich erst durch die berüchtigte Journalistenprüfung geschlagen und musste dann noch in einem Tonstudio und vor einer Kamera in einem Filmstudio Nachrichten vorlesen. Dann hatte sie gewartet und gehofft, war jedoch davon ausgegangen, dass sie wegen ihrer Brandnarbe im Gesicht keine Chance hätte, auf den Bildschirm zu kommen. Die Narbe stammte von einem Unfall, als sie erst ein paar Monate alt gewesen war und ihrer betagten Tante kochend heißer Kaffee aus der Hand gerutscht war. Der Fleck zog sich über ihre Wange, und obwohl sie mit den Jahren gelernt hatte, ihn mit Make-up abzudecken, war er unübersehbar. Vielleicht war die Narbe ja der Grund dafür, dass sie sich überhaupt beim Fernsehen beworben hatte: um der Welt, oder zumindest den Fernsehzuschauern in Island, zu zeigen, dass das für sie kein Hinderungsgrund war.

Ísrún reckte sich. Sie wohnte alleine, hatte schon seit zwei Jahren keine Beziehung mehr. Das war die bisher längste Periode am Stück als Single, davor war sie meistens mit jemandem zusammen gewesen, und ihre längste Beziehung hatte fünf Jahre gedauert, war aber in die Brüche gegangen, als sie nach Dänemark zog. Ihr damaliger Freund hatte nicht mitkommen und auch nicht auf sie warten wollen. Das war’s dann gewesen.

Ísrún arbeitete viel lieber beim Fernsehen als im psychologischen Bereich. Ihr Interesse am Studium hatte mit der Zeit nachgelassen, aber sie hatte den Master aus reinem Trotz doch noch gemacht. Immerhin war das Studium beim Journalismus hilfreich. Die Arbeit in der Redaktion gab ihr die Möglichkeit, jeden Tag etwas Neues zu erleben und mit interessanten Leuten zu sprechen, und ab und zu hatte sie sogar mal eine Exklusivmeldung. Das waren die besten Tage. Das Einzige, was sie an dem Job auszusetzen hatte, war der Zeitdruck. Auch wenn der Stress auf gewisse Weise süchtig machte, konnte man bei dieser Arbeitsweise nicht mehr vernünftig recherchieren. Unterbesetzung und der enorme Druck, vor Tagesablauf Meldungen zu liefern, hatten zur Folge, dass es ein seltener Luxus war, sich über längere Zeit ausgiebig in ein Thema zu vertiefen.

Die Fliege summte immer noch irgendwo im Zimmer herum, und Ísrún versuchte vergeblich, die Augen noch einmal zuzumachen. Warum war das verdammte Viech nicht draußen geblieben und hatte sie ausschlafen lassen?

Ísrún kam auf die Beine. Wenn sie schon mal wach war, konnte sie die Zeit auch nutzen. Ein paar Minuten später stand sie im Trainingsanzug draußen auf dem Bürgersteig. Sie musste sich viel bewegen. Sie atmete die Morgenluft ein, doch die war nicht wie sonst morgens frisch, sondern wirkte verschmutzt. Kein Wunder, dass die Fliege im Haus Zuflucht gesucht hatte.

Ísrún wohnte in einem Mehrfamilienhaus am Hagatorg in einer kleinen Zweizimmerwohnung und joggte normalerweise, wenn ihre Zeit es zuließ, am Meer entlang. Sie beschloss, sich auch diesmal von der schlechten Luft nicht abhalten zu lassen. Dachte an den bevorstehenden Tag, der bestimmt ruhig und ereignislos werden würde.

Danach brachte ihre alte rote Karre sie pünktlich zur Arbeit, ein Auto, das schon lange in Familienbesitz war und das ihr Vater ihr zu ihrem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Der Wagen galt inzwischen offiziell als Oldtimer, reichte ihr aber vollkommen. Auf dem Weg zur Arbeit war nicht viel Verkehr. Einer der Vorteile an diesem Job war, dass man erst um halb zehn anfangen musste. Andererseits kam sie oft erst nach den Abendnachrichten und der anschließenden Besprechung nach Hause. Da war es sogar besser, die Spätnachrichten zu machen, dann kam sie zwar erst sehr spät abends raus, hatte aber dafür am nächsten Vormittag frei. Diese Zeit konnte man gut nutzen.

Verdammt, Ísrún hatte vergessen, dass Ívar heute und morgen die Redaktionsleitung innehatte. Ihr Verhältnis war ziemlich distanziert, zumindest kam es ihr so vor. Er war vor zwei Jahren eingestellt worden, als sie gerade versucht hatte, nach ihrem Master als Psychologin Fuß zu fassen. Ein ziemlich toller Hecht – zumindest, wenn es nach ihm ging –, den man der Konkurrenz ausgespannt hatte. Für ihn war Ísrún immer noch eine Anfängerin, obwohl sie zusammengerechnet mehr Erfahrung in den Medien hatte als er, nur über eine längere Zeitspanne und mit Unterbrechungen. Ívar traute ihr die großen Themen nicht zu, und sie merkte, dass sie nicht den notwendigen Biss hatte, um auf den Tisch zu hauen und ihm wirklich etwas entgegenzusetzen. Vielleicht hätte sie sich das früher eher zugetraut, aber jetzt nicht mehr.

Ísrún setzte sich an den Tisch im Besprechungsraum. Ívar saß am Tischende, mit einem kleinen Notizbuch, das er immer bei sich trug, und ein paar Blättern, Meldungen, die entweder bei einem der Redakteure oder in der Mülltonne landen würden.

»Ísrún, hast du schon was aus dem Bildmaterial vom Sommerfest zusammengebastelt?«

Lag da ein Hauch von Ironie in seiner Stimme? Weil sie immer die Boulevardthemen bekam?

Oder war sie vielleicht einfach zu misstrauisch?

»Nein, das wollte ich heute machen. Ich liefere dir was für heute Abend. Zwei Minuten?«

»Nee, eineinhalb. Höchstens.«

Ihre Kollegen hatten inzwischen am Tisch Platz genommen, das Morgenmeeting hatte begonnen. Ein neuer Nachrichtentag brach an.

»Habt ihr heute Morgen auch die Luftverschmutzung gemerkt?«, fragte Kormákur, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und knabberte an seinem Bleistift. Er wurde meistens Kommi genannt, weil er diesen Spitznamen nicht ausstehen konnte.

»Ja, das ist bestimmt Vulkanasche, die bis in die Stadt weht. Die hat sich wohl bei dem Ausbruch angesammelt«, sagte Ívar.

»Und ich dachte, der Ausbruch wäre zu Ende«, meinte Kormákur. »Dann können wir das ja noch zu einer Meldung verbraten!« Er grinste.

»Ísrún, checkst du das mal ab? Strick eine lockere Meldung daraus. Der Vulkanausbruch kehrt zurück, kommt nach Reykjavík, okay? Etwas in der Art.« Ívar lächelte. Überheblich, fand sie.

»Wenden wir uns den wichtigen Themen zu«, sagte er dann.

Genau – sie schaute ihn genervt an.

»Heute Morgen wurde in Nordisland nicht weit von Sauðárkrókur eine Leiche gefunden, bei irgendeinem Neubau, aber das ist alles noch nicht bestätigt. Kommi, kannst du dir das mal ansehen? Wird auf jeden Fall die erste Meldung heute Abend sein, es sei denn, der Vulkan bricht tatsächlich noch mal aus.«

Kormákur nickte. »Wird gemacht.«

Es würde also doch kein ereignisloser Tag werden. Außer für sie natürlich.

3. Kapitel

Unglaublich, dass Ari Þór Arason es tatsächlich so lange bei der Polizei in Siglufjörður ausgehalten hatte. Es war fast zwei Jahre her, seit er in den Norden gezogen war, direkt nach dem Abschluss der Polizeischule und nachdem er sein Theologiestudium geschmissen hatte. Der erste Winter war die reine Hölle gewesen, und der viele Schnee schien es nur darauf abgesehen zu haben, ihn zu ersticken. Der erste Sommer war dann das absolute Gegenteil, warm und hell, und jetzt hatte er schon den zweiten Winter überstanden. Die Einsamkeit und die Dunkelheit machten ihm immer noch zu schaffen, aber man gewöhnte sich an alles. Dennoch war es eine Erleichterung, die Sonne wieder sehen zu können. Der Juni war angebrochen, und ein paar warme Tage hatte Ari bereits hinter sich, aber der Sommer ließ länger auf sich warten als im Südland, was in diesen nördlichen Gefilden ja nicht anders zu erwarten war.

Tómas, der Polizeiwachtmeister von Siglufjörður, hatte am Morgen angerufen und ihn gebeten, etwas früher als verabredet zu kommen. Aris Dienst fing eigentlich erst mittags an, aber er war schon um neun Uhr losgegangen. Tómas hatte am Telefon nicht viel gesagt, aber besorgt geklungen. Allerdings war er in der letzten Zeit meistens frustriert, weil er nicht damit einverstanden war, dass seine Frau zum Studieren nach Reykjavík gezogen war. Niemand rechnete damit, außer vielleicht Tómas selbst, dass sie zurück nach Siglufjörður käme. Immerhin waren die beiden offiziell noch ein Paar – was man von Ari und seiner Ex-Freundin Kristín nicht sagen konnte. Ihre Beziehung war in die Brüche gegangen, obwohl Ari immer noch nicht alle Hoffnungen aufgegeben hatte. Gut vier Jahre war es jetzt her, seit er und Kristín zusammengekommen waren, er hatte damals Theologie studiert und sie Medizin. Liebe auf den ersten Blick. Sie hatte ihn aus seiner Schale herausgelockt, wenn man das so sagen konnte. Ari hatte seine Eltern früh verloren, war bei seiner Großmutter aufgewachsen und die meiste Zeit auf sich selbst gestellt gewesen. Bei Kristín hatte er die langersehnte Wärme und Geborgenheit gefunden. Doch als er nach Siglufjörður zog, ging alles den Bach runter. Sie war von Anfang an mit seiner Entscheidung nicht einverstanden, blieb in Reykjavík und besuchte ihn noch nicht einmal an Weihnachten. Er ärgerte sich über sie, und allmählich wurde ihr Kontakt immer weniger, bis er einen Fehler machte. Von seiner Klavierlehrerin in Siglufjörður, einer jungen Frau aus den Westfjorden, hatte er sich sofort angezogen gefühlt. Sie hatte einen ähnlichen Einfluss auf ihn wie Kristín, hatte ihm in der Kälte und Einsamkeit in Siglufjörður ein Gefühl der Geborgenheit gegeben. Es begann mit einem Kuss und endete mit einem Besuch in ihrem Schlafzimmer, wo allerdings nicht viel passiert war. Doch das spielte keine Rolle – er war Kristín untreu gewesen, das musste er sich eingestehen. Der Schnee und die Dunkelheit hatten seine Sinne getrübt, und er hatte geglaubt, er sei verliebt. Jetzt wusste er, dass er eigentlich immer nur eine Frau geliebt hatte: Kristín.

Im trügerischen Liebesrausch hatte er Kristín angerufen, um Schluss zu machen, ihr gesagt, er habe in Siglufjörður ein Mädchen kennengelernt. Das Gespräch dauerte nicht lange. Ari hörte nur noch Gepolter und Lärm und nahm an, dass sie das Handy auf den Boden geschleudert hatte. Erst später erfuhr er, dass sie ihren Sommerjob und die Doktorandenstelle in Reykjavík bereits aufgegeben und geplant hatte, nach Akureyri zu ziehen, um in seiner Nähe zu sein.

Verdammte Scheiße – wie hatte er nur so blöd sein können?

Die »Beziehung« mit dem Mädchen in Siglufjörður endete ziemlich abrupt, als er ihr schließlich erzählte, er habe die ganze Zeit eine Freundin gehabt. Von da an gab es keine Klavierstunden mehr.

Ari vermisste Kristín. In dem Sommer nach der Trennung hatte er mehrmals versucht sie anzurufen, ohne Erfolg, und ihr auch ein paar E-Mails geschickt, ohne eine Antwort zu erhalten. Inzwischen war es schon ein paar Monate her, seit er das letzte Mal versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Er wusste nur, dass sie nach Akureyri gezogen war und dort ihr praktisches Jahr abgeschlossen hatte. Zudem hatte er von einem gemeinsamen Freund aus Akureyri gehört, sie habe einen Job im Krankenhaus angenommen – schlimm zu wissen, dass sie so nah und doch so fern war.

Danach hatte er sich in die Arbeit gestürzt, sich richtig reingehängt. Ansonsten passierte nicht viel in seinem Leben.

Bevor Ari zur Wache ging, wollte er sich etwas Gesundes zum Frühstück kaufen. Er konnte unmöglich mit leerem Magen arbeiten, hatte sich keine Zeit genommen, zu Hause zu frühstücken.

Im Ort waren an diesem Tag ungewöhnlich viele Touristen unterwegs. Ein kleines Kreuzfahrtschiff hatte am Morgen am Kai angelegt, und der Ort brummte vor Geschäftigkeit: Touristen machten eifrig Fotos, dazwischen Schüler, die Sommerjobs für die Gemeinde erledigten und mit Rechen und anderen Gartengeräten bewaffnet herumliefen. Aus der Bäckerei strömte der Duft von Zimt und Schokolade, verlockend, aber kein solides Frühstück. Hier backte man Zimtschnecken nach Siglufjörður-Art, und Ari musste zugeben, dass sie die alten Reykjavíker Zimtschnecken um Längen schlugen. Er warf einen Blick in die Bäckerei, die voller Touristen war, die ähnliche Absichten hatten wie er. Die Backwaren musste er sich jedoch für ein andermal aufsparen, ging stattdessen in das kleine Fischgeschäft am Rathausplatz und fragte nach Trockenfisch. Er aß zwar normalerweise keinen Trockenfisch zum Frühstück, aber der war immerhin gesund und lecker.

»Wollen Sie Seewolf, wie immer?«, fragte der Fischverkäufer.

»Ja, danke.«

»Alles klar, Herr Pfarrer.«

Ari reagierte gereizt, bezahlte den Fisch und verließ kurz angebunden den Laden. Er wurde ab und zu »Herr Pfarrer« genannt, ein Spitzname, der entstanden war, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass er eine Zeitlang Theologie studiert hatte. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.

Tómas roch den Fisch sofort, als Ari sich an den Tisch in der kleinen Kaffeestube in der Wache setzte und sein verspätetes Frühstück zu sich nahm.

»Nicht schon wieder dieses Zeug! Bekommst du davon denn nie genug?«

»Und ich dachte, ich wäre hier das Stadtkind«, entgegnete Ari und aß ungerührt weiter.

»Es ist was passiert. Hlynur ist auf dem Weg, er übernimmt heute die Wache«, sagte Tómas.

Tómas hatte sich stark verändert, seit seine Frau nach Reykjavík gezogen war, und wirkte um fast zehn Jahre älter. Seine Fröhlichkeit war wie weggewischt, und er hatte noch weniger Haare auf dem Kopf als vorher.

Es war nicht zu übersehen, dass Tómas einsam war. Ari wusste, dass sein jüngster Sohn nun auch ausgezogen war; er war auf dem Internat in Akureyri und hatte einen Sommerjob in Reykjavík, wo er mit zwei Klassenkameraden ein Zimmer gemietet hatte. Manchmal besuchte er seinen Vater übers Wochenende, das war alles. Deshalb war Tómas die meiste Zeit alleine in seinem Haus in Siglufjörður.

»Es wurde eine Leiche gefunden«, sagte Tómas.

»Eine Leiche?«

»Ja, im Skagafjörður, in Reykjaströnd in der Nähe der Grettislaug-Quelle.«

»Was geht uns das an?«, fragte Ari, bereute seine barsche Entgegnung jedoch sofort. Er war noch müde, war am gestrigen Abend lange wach geblieben und hatte eigentlich ausschlafen wollen.

»Ein junger Mann aus Schottland hat die Leiche entdeckt. Er war auf dem Weg zur Badestelle und ist an ihr vorbeigefahren.« Tómas ließ sich von Ari nicht bei seinem Bericht stören. »Die Leiche sah nicht gut aus, ich habe ein paar Fotos vom Tatort zugeschickt bekommen.«

»Mord?«

»Zweifellos, Meister. Ein brutaler Mord, der arme Mann war fast unkenntlich. Er wurde mit einem Brett ins Gesicht geschlagen. In dem Brett steckte ein Nagel, der ihm das Auge ausgestochen hat. Man hat uns um Unterstützung bei den Ermittlungen gebeten. Der Mann hatte seinen Wohnsitz hier im Ort.« In Tómas’ Aussage schwang mit, dass der Mann nicht gebürtig aus Siglufjörður stammte.

»Ein Zugezogener?«, fragte Ari.

»Ja, genau. Elías Freysson. Ich bin ihm nie begegnet, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Bauunternehmer. Er hat am Héðinsfjörður-Tunnel gearbeitet. Ich habe den Kollegen mitgeteilt, dass wir hier im Ort Informationen über ihn einholen werden. Ich möchte, dass du die Leitung des Falls übernimmst.« Seine Stimme klang entschlossen. »Ich unterstütze dich natürlich, aber es ist an der Zeit, dass du mehr Verantwortung übernimmst.«

Ari nickte. Das gefiel ihm. Seine Laune besserte sich schlagartig, und die Müdigkeit war wie weggewischt. Nicht zum ersten Mal ging ihm durch den Kopf, dass Tómas womöglich darüber nachdachte, nach Reykjavík zu seiner Frau zu ziehen, und die Polizeiwache in sichere Hände übergeben wollte.

»Du meintest, Hlynur würde heute den Dienst übernehmen. Habe ich das richtig verstanden, dass er nichts mit dem Fall zu tun hat?«

»Richtig, Meister.«

Ari atmete erleichtert auf und hoffte dabei, dass seine Freude nicht zu offensichtlich war. Er konnte sich nicht vorstellen, mit Hlynur zusammenzuarbeiten. Sie waren nicht auf einer Wellenlänge, außerdem war Hlynur in den letzten Monaten keine große Hilfe gewesen. Er kam ständig erschöpft zur Arbeit, war unausgeschlafen und geistesabwesend.

»Gut, ich fange sofort an«, sagte Ari. »Weißt du, für wen Elías beim Héðinsfjörður-Tunnel gearbeitet hat?«

»Ich weiß, dass Hákon da Vorarbeiter ist. Hákon Halldórsson.« Dann fügte Tómas hinzu: »Er stammt aus Siglufjörður.« Seinem Tonfall nach zu urteilen war das die wichtigste Information über den Mann.

4. Kapitel

Als Hlynur Ísaksson zu seinem Dienst auf der Polizeiwache eintraf, sah er Ari und Tómas vertraulich miteinander schwatzen. Er hatte sofort das Gefühl, sie hätten ein Geheimnis, von dem er nichts wissen sollte. Was sich auf gewisse Weise als richtig herausstellte.

»Ari und ich müssen heute ein paar Vernehmungen durchführen«, sagte Tómas beiläufig. »In der Nähe von Sauðárkrókur wurde ein Mann tot aufgefunden, er hatte eine Verbindung zu Siglufjörður.«

Hlynur nickte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Kannst du heute den Dienst übernehmen?«, fragte Tómas, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen. »Heute Nachmittag müsstest du für mich in die Grundschule gehen. Heute ist der letzte Schultag, und man hat uns gebeten, irgendwelche Urkunden zu überreichen. Eigentlich wollte ich selbst hingehen, aber das schaffe ich wohl nicht.«

Hlynur spürte, wie sein Herz schneller schlug. Kalter Schweiß brach ihm aus. Das konnte er nicht.

»Kann Ari das nicht machen?«, murmelte er.

»Wie, was meinst du damit? Ari und ich sind heute beschäftigt, das habe ich doch schon gesagt«, antwortete Tómas ziemlich barsch.

Hlynur wollte etwas entgegnen, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich sagte er: »Ich, äh, ich bin nicht gut in so was. Das sagen wir lieber ab.«

»Das sagen wir nicht ab, verdammt noch mal! Du gehst da hin und basta!« Tómas marschierte aus dem Raum.

Hlynur nickte nur.

Er ließ den Kopf hängen, wäre am liebsten wieder nach Hause gegangen, hätte sich ins Bett gelegt und ausgeruht. Er arbeitete seit sechs Jahren mit Tómas in Siglufjörður zusammen, hatte viel mehr Erfahrung in der Polizeiarbeit als Ari und trotzdem den Eindruck, dass sich die Machtverhältnisse in den letzten Monaten verschoben hatten. Tómas schien Ari aus unerfindlichen Gründen mehr zu vertrauen. Das würde er Ari noch heimzahlen, denn Hlynur war alles andere als zufrieden mit dieser Entwicklung. Er musste allerdings zugeben, dass sich Ari in der letzten Zeit sehr bemüht und die Arbeit gut im Griff hatte, auch wenn die Fälle, die auf ihrem Tisch landeten, eher eintönig waren und keinen großen Spielraum ließen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Andererseits hatte er selbst in den letzten Monaten nicht viel zustande gebracht, seit diese verdammten E-Mails aufgetaucht waren. Scheiße.

»Du bist nicht mehr richtig bei der Sache«, hatte Tómas ihm kurz nach Neujahr gesagt. Sie waren zu zweit auf der Wache gewesen und hatten in der Kaffeestube gesessen. Hlynur wusste aus Erfahrung, dass Tómas manchmal sehr direkt sein konnte und nicht lange um den heißen Brei herumredete. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, war geradezu erschrocken. Kurz vorher hatten sie noch über alltägliche Dinge gesprochen. Es war damals draußen ziemlich ungemütlich gewesen, und dasselbe galt für die Kaffeestube auf der Wache, die alles andere als heimelig war. Im Spülbecken stapelten sich schmutzige Tassen, und neben der Kaffeekanne lagen zwei geöffnete Packungen Schokokekse. Auf dem Tisch stand ein abgelaufener Kalender, den irgendeine Bank in Reykjavík zu Zeiten der Hochkonjunktur herausgegeben und den noch niemand weggeworfen hatte – ein Andenken an vergangene Zeiten.

Hlynur hatte Tómas schließlich angeschaut und gesagt: »Nicht richtig bei der Sache? Was meinst du?« Dabei wusste er es genau.

»Interessierst du dich noch für deine Arbeit? Du wirkst manchmal so abwesend, gedankenversunken, nicht so motiviert wie früher«, sagte Tómas, unnötig direkt.

»Ich versuche, mich zusammenzureißen«, murmelte Hlynur.

»Stimmt was nicht?«

»Nein«, sagte er und hoffte, dass Tómas seine Lüge nicht durchschaute. Immerhin beließ er es dabei.

Tómas wusste meistens, was los war.

Natürlich war Hlynur nicht richtig bei der Sache.

Es war jetzt gut ein Jahr her, seit die erste Mail gekommen war, wie aus heiterem Himmel. Hlynur hatte mit dem Laptop im Bett gesessen. Er wohnte in einer recht neuen Wohnung, mochte keine alten Häuser, in denen die Bodendielen knarrten. Dort fühlte er sich einigermaßen wohl. Die Wohnung hatte mehr Platz, als er eigentlich brauchte, deshalb diente ein Zimmer immer noch als Rumpelkammer für Sachen, die er aus Reykjavík mitgebracht hatte, als er den Job in Siglufjörður angenommen hatte. Darin standen diverse Kisten mit Büchern, die er nie las, DVDs, die er nie anschaute, und Klamotten, die er nicht mehr anzog.

Er war bei seiner Mutter in Kópavogur aufgewachsen, als jüngster von drei Brüdern. Seine Mutter hatte immer gearbeitet, tagsüber im Büro bei der Stadtverwaltung und abends in verschiedenen Jobs, meistens als Putzfrau. Er hatte sie nur selten gesehen, und sie war meistens todmüde gewesen, wenn sie mit den drei Jungen in der großen Hochhauswohnung am Abendbrottisch gesessen hatte. Montags gab es immer Schellfisch, daran erinnerte sich Hlynur gut, und es wurde stets selbst gekocht – für Fertiggerichte war kein Geld da. Die Familie erlaubte sich nicht viel Luxus.

Hlynurs Vater hatte seine Mutter nach Hlynurs Geburt verlassen. Später fand Hlynur heraus, dass er getrunken hatte, oft über kürzere oder längere Zeiträume abgetaucht und schließlich ganz gegangen war, als der dritte Junge – Hlynur – zur Welt gekommen war. Er hatte eine Freundin in den Westfjorden, arbeitete dort in verschiedenen Jobs zu Wasser und zu Lande, solange er es schaffte, sich vom Alkohol fernzuhalten, und kam nur selten nach Reykjavík. Die Jungen wuchsen im Grunde ohne Vater auf. Nachdem ihr Vater ein paar Jahre in den Westfjorden gelebt hatte, ließ er sich eines Abends bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen und wachte nicht mehr auf; sein Körper war nach einem kurzen, kräftezehrenden Leben einfach nicht mehr funktionsfähig. Hlynurs Mutter erzählte den Jungen erst ein gutes Jahr später vom Tod ihres Vaters, und keiner von ihnen besuchte je sein Grab. Hlynur erinnerte sich dunkel an den Tag, als sie ihnen die Nachricht überbrachte. Seine älteren Brüder nahmen es schlechter auf als er, weil ihnen die Tragik der Sache bewusster war. Nach und nach begannen sie, ihn für das Schicksal ihres Vaters verantwortlich zu machen. »Papa ist weggegangen, als du auf die Welt kamst«, war ein Satz, den er öfter gehört hatte, als ihm lieb war. Er war nie gut mit seinen Brüdern ausgekommen – sie hatten sich immer gegen ihn verbündet. Seine Mutter war zu sehr damit beschäftigt gewesen, über die Runden zu kommen, um es zu bemerken. Hlynur hatte sich nicht getraut, seinen Brüdern etwas entgegenzusetzen, und seine Wut und seinen Hass stattdessen an schwächeren Klassenkameraden ausgelassen. Mobbing und Gewalt – er wurde ein Spezialist darin, Schwächere zu schikanieren. Und jetzt, seit die E-Mails kamen, musste er sich endlich mit seiner dunklen Vergangenheit auseinandersetzen.

Ungefähr zu der Zeit, als er aufs Gymnasium gekommen war, hatte er sein Verhalten geändert. Seine Wut war langsam abgeflaut, er hatte Mitleid mit denen empfunden, die er vorher schikaniert hatte, und war sich darüber bewusst geworden, dass sein Verhalten negativen Einfluss auf unschuldige Menschen hatte. Doch zunächst hatte er nichts unternommen, um seine alten Sünden zu begleichen.

Direkt nach dem Abitur war er zu Hause ausgezogen, auf die Polizeischule gegangen und hatte dann an verschiedenen Orten im ganzen Land gearbeitet, unter anderem in Reykjavík. Wegen der Kürzungen hatte er seinen dortigen Job verloren und war schließlich in Siglufjörður gelandet, wo man ihm eine Festanstellung anbot. Er hatte kaum Kontakt zu seiner Familie; seine Mutter arbeitete immer noch bei der Stadt Kópavogur, allerdings nicht mehr Vollzeit, denn auch sie hatte die Kürzungen bei der Stadtverwaltung zu spüren bekommen. Seine Brüder traf er nur, wenn seine Mutter alle zum Essen einlud, wenn er zufällig mal in der Hauptstadtgegend zu tun hatte, höchstens ein paar Mal im Jahr. Er war zufrieden mit dieser Situation, hatte nicht viele Gemeinsamkeiten mit seiner Familie.

Hlynur hatte ein paar gute Freunde in Siglufjörður, verbrachte jedoch die meisten Abende vor dem Fernseher und nutzte sein Erspartes für Reisen. Zuletzt war er mit einem Kumpel zu einem Konzert nach England gefahren, davor ebenfalls dorthin zu einem Fußballspiel. Es hatte ein paar Frauen in seinem Leben gegeben, vor allem als er noch jünger war und in Reykjavík gelebt hatte. Jetzt hatte er eine Geliebte in Sauðárkrókur, die man kaum als Freundin bezeichnen konnte, aber das würde sich vielleicht mit der Zeit ändern. Sie arbeitete in der dortigen Grundschule, stammte aber aus dem Südland. Sie trafen sich ab und zu und schliefen miteinander. Meistens fuhr er zu ihr, sie kam nur selten nach Siglufjörður. Manchmal machte er abends noch eine Spritztour nach Sauðárkrókur, wenn er frei hatte. Fuhr meistens ein bisschen zu schnell, an den mächtigen Bergen entlang, durch den eindrucksvollen Skagafjörður – in den Wintermonaten in der unheimlichen Dunkelheit und im Sommer, wie jetzt, im schönen Abendlicht –, betrachtete die Inseln im Fjord, den einsamen Felsen Kerlingin, die Frau, der immer noch neben der Insel Drangey stand, nachdem der andere Felsen Karlinn, der Mann, längst im Fjord versunken war. Überlegte, wer von beiden das schlimmere Schicksal erlitten hatte: der Mann, den das Meer fortgerissen hatte, oder die Frau, die alleine zurückgeblieben war.

Doch es waren keine Frauengeschichten, die Hlynur an diesen Tagen umtrieben. Die verfluchten E-Mails gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Er musste ununterbrochen an die Vergangenheit denken und schlief nachts schlecht, manchmal gar nicht, gequält von Gewissensbissen.

Die erste Mail hatte er längst aus seinem Postfach gelöscht. Hatte sie nicht beantwortet und versucht, sie zu ignorieren. An der Mailadresse konnte man den Absender nicht erkennen, eine ausländische Freemail-Adresse, nur eingerichtet, um Hlynur einzuschüchtern.

Er hätte natürlich versuchen können, die Adresse zurückverfolgen zu lassen, aber das wollte er nicht. Hlynur wusste nämlich genau, oder glaubte es zumindest, warum er die Mail erhalten hatte, und wollte nicht, dass seine Kollegen davon erfuhren. Außerdem hoffte er, dass es dabei bleiben würde. Eine einzelne Mail, um ihn ein bisschen wachzurütteln.

Doch das war nicht der Fall. Die erste Mail war am 10. Mai des letzten Jahres gekommen, mittags an einem Sonntag. Die nächste Mail kam ungefähr zwei Monate später. Dieselbe Mailadresse, keine Unterschrift. Derselbe Text.

Diesmal löschte Hlynur die Mail nicht, sondern klickte sie regelmäßig an, sowohl auf der Arbeit als auch zu Hause, als Mahnung an die schrecklichen Dinge, die er gemacht hatte.