Totenklippe - Ragnar Jónasson - E-Book

Totenklippe E-Book

Ragnar Jónasson

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Kein Land, das man mit Nordic Noir verbindet, ist so düster, dunkel, kalt, verschneit und leer wie Island. Und kein Krimiautor schildert diese Elemente so eindringlich und unheimlich wie Ragnar Jónasson.« (The Times)

Zwei Tage vor Weihnachten: Die Leiche einer jungen Frau wird unterhalb der Klippen im Norden Islands gefunden – genau an der Stelle, an der vor 25 Jahren ihre tote Mutter und ihre jüngere Schwester gelegen hatten. Als Ari, Polizist in Siglufjörður, den Tatort inspiziert, stellt sich bald die Frage: War es ein Unfall, oder wurde die junge Frau gestoßen? Was wissen die letzten verbliebenen Einwohner des Dorfes? Als Schneefall einsetzt, der Dorf und Klippen in einem unwirklichen Licht erscheinen lässt, kommt Ari einer unfassbaren Tragödie auf die Spur.

»Totenklippe« ist der vierte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 306

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Zwei Tage vor Weihnachten: Die Leiche einer jungen Frau wird unterhalb der Klippen im Norden Islands gefunden – genau an der Stelle, an der vor 25 Jahren ihre tote Mutter und ihre jüngere Schwester gelegen hatten. Als Ari, Polizist in Siglufjörður, den Tatort inspiziert, stellt sich bald die Frage: War es ein Unfall, oder wurde die junge Frau gestoßen? Was wissen die letzten verbliebenen Einwohner des Dorfes? Als Schneefall einsetzt, der Dorf und Klippen in einem unwirklichen Licht erscheinen lässt, kommt Ari einer unfassbaren Tragödie auf die Spur.

»Totenklippe« ist der vierte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival. Seine Bücher werden in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der »New York Times« und »Washington Post« gefeiert. Die preisgekrönte »Hulda-Trilogie« erschien bei btb erstmals auf Deutsch und stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »FROST« folgte eine unabhängige Fortsetzung der Reihe.

Nach »Schneeblind«, »Todesnacht« und »Blindes Eis« ist »Totenklippe« der vierte Band der »Dark-Iceland-Serie« um den jungen Polizisten Ari Þór Arason.

Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

TOTENKLIPPE

Thriller

Aus dem Englischen von Helga Augustin

Die isländische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Andköf« bei Veröld, Reykjavík, und 2018 unter dem Titel »Totenklippe« erstmals auf Deutsch bei S. Fischer, Frankfurt am Main.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wiederveröffentlichung Oktober 2022

Copyright © by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Ragnar Jónasson

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency, ApS, Copenhagen

Copyright © der deutschen Übersetzung 2018 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Arcangel / Sally Mundy; © Shutterstock / Victor Lauer; ert21; Alina Reynbakh

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

mb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28828-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für meinen Bruder Tómas

»Komm in meinen Blumengarten, schwarze Nacht!

Dein Tau wird mir nicht fehlen,denn alle Blumen sind verwelkt …«

aus: Haust von Jóhann Jónsson (1896–1932)

Prolog

Das kleine Mädchen streckte die Arme aus, und dann ging alles so schnell, dass sie nicht einmal schreien konnte, denn sie fiel und fiel und fiel, direkt auf das Meer und die Felsen zu.

Sie war zu jung, um den Tod kommen zu sehen.

Das Wunderland um sie herum, die Landzunge, der Strand und der Leuchtturm – das alles war ihr Spielplatz gewesen. Und genau in diesem Moment schlug sie auf den Felsen auf.

Erster Teil

Vorspiel zu einem Tod

1. Kapitel

Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie noch ein Kind gewesen war, würde Ásta Káradóttir diesen Anblick nie vergessen.

Als es passierte, war sie in ihrem Dachzimmer, Tür und Fenster geschlossen, die Luft stickig. Sie hatte auf dem alten Bett gesessen, das knarrte, wenn sie sich nachts umdrehte, und aus dem Fenster gestarrt. Vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – hatten sich im Nachhinein auch Begebenheiten in ihre Erinnerung an jenen Tag geschlichen, die anderen Kindheitserlebnissen entstammten. Doch was sie sah, das schlimme Ereignis, dessen Zeugin sie wurde, hatte sich für immer in ihr Gedächtnis gegraben.

Sie hatte keinem Menschen je davon erzählt.

Und jetzt kehrte sie nach langem Exil zurück.

Es war Dezember, und die Schneeflocken, die alles mit einer pulvrigen Schicht bedeckten, erinnerten daran, dass Weihnachten vor der Tür stand. Bei ihrer Abfahrt im Süden hatte es genieselt und war relativ warm gewesen. Hier im Norden Islands lief ihre Autoheizung auf Hochtouren, damit die Windschutzscheibe nicht beschlug, wodurch es fast unerträglich heiß war.

Ásta hatte Reykjavík mühelos hinter sich gelassen – sie war auf der Ártúnsbrekka Richtung Norden gefahren – und somit auch die Stadt, in der das Leben war wie schlechter Sex: besser als nichts, aber auch kaum der Rede wert. Sie hatte zwar vor zurückzukommen, doch wollte sie ihrer eintönigen Wirklichkeit wenigstens für ein paar Tage entfliehen – ihrer schäbigen, achtundsechzig Quadratmeter großen Souterrainwohnung, die so dunkel war, dass sie bisweilen klaustrophobische Anwandlungen bekam. Manchmal, wenn die Düsternis unerträglich wurde, hatte sie die Gardinen zur Seite geschoben. Aber da sie in einer belebten Straße wohnte, konnten die Fußgänger hineinsehen und beobachten, was in ihrer Wohnung so vor sich ging. Es war fast so, als hätte Ásta ihren Anspruch auf Privatsphäre verwirkt, weil sie im Souterrain wohnte und die Gardinen nicht zuzog.

Außerdem war ihr manchmal am Wochenende danach zumute, einen Mann mit nach Hause zu nehmen. Einige von ihnen wollten bei brennendem Licht und offenen Gardinen mit ihr schlafen – damit es wirklich auch jeder sehen konnte.

Sie war noch immer jung, kaum über dreißig, und wusste, dass ihre besten Jahre keineswegs hinter ihr lagen. Aber sie hatte genug von Zeitarbeitsverträgen und Nachtschichten; sie hatte es satt, mitten in der Stadt in einer Mietwohnung zu leben und sich mit Mindestlohnjobs oder Arbeitslosengeld mühsam über Wasser zu halten.

Um ans Ziel ihrer Reise zu gelangen – nach Kálfshamarsvík auf der Halbinsel Skagi –, war sie durch den Westen Islands und über den Bergpass bis weit hinauf in den Norden gefahren. Eigentlich wollte sie nie wieder an diesen Ort zurückkehren, aber jetzt hatte sie es doch getan, die alten Geheimnisse im Gepäck. Und da sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war, lag jetzt bei ihrer Ankunft die Bucht schon in tiefstem Dunkel. Eine Weile stand sie nur da und betrachtete das Haus. Es war ein schönes Gebäude mit zwei Stockwerken sowie einer Dach- und einer Kellerwohnung. Beim Bau hatte man keine Kosten gescheut, und obwohl es schon viele Jahrzehnte alt war, datierte der architektonische Stil wahrscheinlich noch wesentlich weiter zurück. Wie früher, hatte es einen weißen Anstrich, ein dunkelgraues, freigelegtes Fundament und gewölbte Balkone im ersten Stock – auch daran erinnerte sich Ásta, denn sie hatte mit ihrer Schwester, ihrem Vater und ihrer Mutter eine Zeitlang in der Dachwohnung gelebt.

Im Erdgeschoss, wo zumindest damals das Wohnzimmer gewesen war, brannte Licht, und über dem Hauseingang schien eine Lampe. Neben dem Leuchtturm auf der Landspitze waren das die beiden einzigen Lichtquellen, die in der Finsternis beinahe unnatürlich hell wirkten und ein faszinierendes Zusammenspiel von Licht und Schatten boten. Die ganze Gegend hier war von großer natürlicher Schönheit und zeugte von einer reichen Geschichte, was die Überreste der Häuser bewiesen, auf die man noch in den entlegensten Winkeln stieß.

Da Ásta keinen Grund zur Eile hatte, näherte sie sich dem Haus langsam, atmete die frische Nachtluft tief ein und blieb immer wieder stehen, um den Himmel zu betrachten und sich von den Schneeflocken das Gesicht kitzeln zu lassen.

An der Haustür hielt sie inne, zögerte.

War es wirklich eine gute Idee, hierherzukommen?

Eine heftige Böe ließ sie erschauern. Der Wind pfiff laut, und plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand stünde hinter ihr. Sie wirbelte herum.

Doch da war nur Finsternis.

Sie war allein, die einzigen Spuren im weißen Schnee waren ihre eigenen.

Es war zu spät, um umzukehren.

2. Kapitel

»Er hätte nicht gewollt, dass du hierbleibst«, bemerkte Thóra mehr zu sich selbst als zu Ásta. Es war das zweite, vielleicht auch dritte Mal, dass sie mehr oder weniger das Gleiche sagte.

Thóra war inzwischen Mitte sechzig, hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren aber kaum verändert, immer noch den gleichen desinteressierten Gesichtsausdruck, distanzierten Blick und die gleiche irritierende Nörgelstimme.

Óskar, Thóras betagter Bruder, saß am anderen Ende des Wohnzimmers am Klavier und spielte unermüdlich dasselbe Stück. Er hatte noch nie lange an Gesprächen teilgenommen und stets schnell seinen Kaffee getrunken, um sich wieder ans Klavier setzen zu können.

Thóra bemühte sich, Ásta das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Sie hatten versucht, über frühere Zeiten zu sprechen, aber der Altersunterschied war zu groß, um viele gemeinsame Erinnerungen zu haben. Bei ihrer letzten Begegnung war Ásta sieben Jahre alt gewesen und Thóra um die vierzig. Doch eines hatten sie gemeinsam, nämlich die Erinnerung an Ástas Vater, so dass sich ihre Unterhaltung zwangsläufig viel um ihn drehte.

»Er hätte es nicht gewollt«, wiederholte Thóra.

Ásta nickte und lächelte höflich. »Wir brauchen nicht weiter darüber reden«, sagte sie schließlich. »Er ist tot, und Reynir hat mir angeboten, hier zu wohnen.« Wobei sie nicht erwähnte, dass sie Reynir angerufen und gefragt hatte, ob sie ein paar Tage bei ihm im Haus übernachten könnte.

»Nun ja, dann soll es so sein«, sagte Thóra.

Óskar spielte weiterhin dieselbe Melodie, gar nicht so übel und gut genug, um die peinlichen Lücken in ihrer Unterhaltung zu füllen.

»Wohnt Reynir das ganze Jahr über hier?«, fragte Ásta, obwohl sie die Antwort schon kannte. Als einziger Erbe eines wohlhabenden Geschäftsmannes stand Reynir Ákason seit Jahren im Scheinwerferlicht der Medien. Ásta hatte einige Interviews mit ihm gelesen, in denen er sagte, dass er sich in Island am liebsten draußen auf dem Land aufhielte.

»Mehr oder weniger«, antwortete Thóra. »Das könnte sich jetzt allerdings ändern, wo der alte Herr nicht mehr unter uns weilt. Du hast vermutlich in der Zeitung gelesen, dass er vor zwei Wochen gestorben ist.« Offensichtlich betroffen, senkte sie pietätvoll die Stimme. »Óskar und ich wollten zur Beerdigung in den Süden reisen, aber Reynir meinte, das sei nicht nötig. Die Kirche in Reykjavík ist ja sehr klein. Und wir hatten ihn auch nicht gut gekannt – er ist ja kaum hier gewesen. In der Beziehung waren Vater und Sohn völlig verschieden.« Sie hielt inne. »Reynir hat bestimmt eine Menge zu tun, wo er jetzt die ganze Firma übernimmt, allein schon all die Investments. Ich weiß nicht, wie er das macht. Aber der Junge ist klug.«

Der Junge, dachte Ásta. Bei ihrer letzten Begegnung war er kaum über zwanzig gewesen, aber in den bewundernden Augen einer Siebenjährigen natürlich schon ein erwachsener Mann, der Klugheit, Erfahrung und Ehrgeiz ausstrahlte. Und als leidenschaftlicher Segler hatte er das Meer geliebt, genau wie sie.

»Der Junge«, sagte Ásta. »Wie alt ist er denn jetzt?«

»Ich schätze, er geht auf die fünfzig zu. Aber zugeben würde er das nicht.« Thóra lächelte halbherzig.

»Wohnt er noch im Souterrain?«

Die beiläufige Frage fegte wie ein kalter Windstoß durchs Zimmer. Thóra versteifte sich und schwieg. Gott sei Dank spielte Óskar unbeirrt weiter. Ásta sah zu ihm hin. Er saß mit dem Rücken zu ihnen, über die Klaviatur gebeugt. Alles an ihm strömte Müdigkeit aus. Wie schon damals, trug er braune Cordhosen und einen dunkelblauen Rollkragenpullover; vielleicht war es aber auch ein naher Verwandter gewesen, der die Sachen getragen hatte.

»Óskar und ich wohnen jetzt da«, sagte Thóra, wobei sie nicht so nonchalant klang, wie sie sicher beabsichtigt hatte.

»Du und Óskar?«, fragte Ásta. »Das ist doch bestimmt sehr beengt für euch beide.«

»Es ist eine Einschränkung, aber so ist das im Leben. Reynir wird hier oben wohnen, und es ist natürlich sein Haus.« Sie verstummte.

»Wir sind einfach froh, dass wir bleiben können«, ergriff Óskar überraschend das Wort. »Uns gefällt es hier auf der Landzunge, trotz allem.« Er wandte sich um und starrte Thóra eindringlich an. Sein Gesicht war zerfurcht, seine Hände waren knochig. Ásta sah sofort, dass er es ehrlich meinte.

»Ich hatte einfach angenommen, dass ihr immer noch hier in der Wohnung wohnt, weil ihr mich ja ins Wohnzimmer gebeten habt«, sagte Ásta verlegen, obwohl sie das Unbehagen der beiden im Stillen amüsierte.

»Nein, nein. Wir benutzen die Wohnung nur, wenn wir zu dritt zusammen essen oder wenn Gäste da sind. Unten das Wohnzimmer ist viel dunkler und nicht so gut für Einladungen geeignet.« Thóra lächelte.

»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Ásta, sprach aus eigener Erfahrung.

»Aber ich hab es uns so gemütlich wie möglich gemacht«, sagte Thóra fast entschuldigend.

Óskar hatte sich wieder dem Klavier zugewandt und spielte weiter die gleiche Melodie wie zuvor.

Ásta blickte sich im Wohnzimmer um. Es sah unverändert aus, wirkte jetzt aber kleiner als früher. Das Mobiliar war dasselbe und stand noch immer am selben Platz: das alte Sofa im Tudor-Stil, der dunkelbraune Couchtisch aus Holz, die großen Bücherregale voller isländischer Literatur. Die vertrauten Gerüche spielten mit ihren Sinnen, erzeugten einen flüchtigen, untrennbar mit dem Haus verbundenen Wohlgeruch. Es war wirklich bemerkenswert, wie ein Duft lange vergessene Erinnerungen wachrufen konnte. Zudem machte die geschmackvolle Einrichtung Ásta bewusst, wie nichtssagend und deprimierend ihre eigene Wohnung mit dem billigen Mobiliar war – das verschlissene Sofa, der Tisch, den sie im Internet für wenig Geld gekauft hatte, und die alten Küchenstühle in dem grellen Gelb, das schon lange außer Mode war.

»Du kannst natürlich dein altes Zimmer in der Dachwohnung benutzen«, sagte Thóra leise.

»Wirklich?«, fragte Ásta überrascht. Über die Einzelheiten hatte sie bei ihrem Gespräch mit Reynir nicht gesprochen.

»Es sei denn, du willst lieber nicht da schlafen. Wir können dich auch anderswo unterbringen.« Thóra wirkte verlegen. »Reynir dachte, das wäre dir recht so. In den letzten Jahren haben wir da ein paar Sachen abgestellt, aber die Kisten und so haben wir ins Schlafzimmer geräumt.« Sie senkte den Blick, zögerte. »Ins Zimmer deiner Schwester.«

»Ist schon gut, danke«, sagte Ásta bestimmt. »Mach dir keine Gedanken deswegen.« Sie hatte nicht damit gerechnet, in ihrem alten Zimmer wohnen zu können – oder zu müssen. Wahrscheinlich hätte sie es vorgezogen, woanders zu schlafen, wollte aber nicht fragen; sie musste stark sein.

»Versteh mich nicht falsch, Liebes«, erwiderte Thóra ungewohnt warmherzig. »Ich hab zwar gesagt, dein Vater hätte nicht gewollt, dass du hierher zurückkommst, du bist bei uns aber immer willkommen.«

Wirklich großzügig von dir, zumal es nicht dein Haus ist, wollte Ásta sagen, doch sie verkniff es sich. »Was macht ihr denn jetzt so?«, fragte sie stattdessen, und nicht gerade höflich.

»Ziemlich das Gleiche wie immer … wir kümmern uns ums Haus. So viel wie früher gibt es zwar nicht mehr zu tun, und wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Óskar ist eine Art Hausmeister, wie damals. Nicht wahr, Óskar?«

Er erhob sich vom Klavier und kam, auf einen Gehstock gestützt, zu ihnen herüber. »Sieht ganz so aus«, murmelte er.

»Aber schwere Arbeit kann er nicht mehr machen«, sagte Thóra mit Blick auf den Stock. Óskar setzte sich in einigem Abstand neben sie aufs Sofa. »Hat sich die Kniescheibe gebrochen, als er die verfluchten Felsen hochgeklettert ist.«

»Wird schon wieder werden, braucht halt Zeit«, sagte Óskar leise.

Jetzt, wo die beiden zusammensaßen, betrachtete Ásta sie genauer. Die vergangenen Jahre hatten ihren Tribut gefordert, und Bruder und Schwester wirkten älter und erschöpfter, als sie sich vorgestellt hatte. Fast, als hätten sie bald genug, dachte sie.

»Und er kümmert sich um den Leuchtturm, so gut es das Knie zulässt. Den Job hat er von deinem Vater übernommen.«

Ásta beschlich leichtes Unbehagen. Das passierte ihr ab und zu; sie schloss die Augen und atmete tief durch.

»Bist du müde, Liebes?«, fragte Thóra.

Die Frage überraschte Ásta. »Nein, kein bisschen.«

»Soll ich dir etwas zu essen machen? Ich koche für Reynir, wenn er hier ist. Natürlich kann er sich selbst um sich kümmern, aber ich versuche, mich so nützlich wie möglich zu machen. Es ist ja nicht so, dass er uns noch braucht; wenn er wollte, könnte er uns vor die Tür setzen und verlangen, wir sollen uns von nun an selber durchschlagen.« Sie lächelte. »Ich sage nicht, dass er das machen würde, nur, dass er es könnte …«

»Danke«, sagte Ásta, hatte sich wieder gefasst. »Ich hab unterwegs ein Sandwich gegessen, das hält noch vor.«

Jemand klopfte fest an die Tür, und Ásta schreckte hoch. Die beiden Geschwister schienen jedoch wenig überrascht.

»Ich dachte, Reynir kommt erst morgen Abend?«, sagte Ásta.

»Er klopft gewöhnlich auch nicht an«, murmelte Óskar.

»Dann ist es bestimmt Arnór«, sagte Thóra und stand auf.

Ihr Bruder blieb sitzen und starrte in die Ferne, umfasste sein Knie – wahrscheinlich das verletzte – mit halb entschuldigender Miene. »Erinnerst du dich an Arnór?«, fragte er leise.

Ásta schenkte ihm ein warmes Lächeln. Er kam ihr vor wie ein alter Mann, dabei war er sicher noch keine siebzig. Doch er sah älter aus, hatte nicht mehr das muntere Funkeln in den Augen wie früher.

Sie hatte Óskar immer gemocht. Er war gut zu ihr gewesen, und an den Abenden, wenn es Fisch zum Dinner gab, hatte er ihr immer ein Glas Milch und Plätzchen aufs Zimmer gebracht, bevor sie schlafen ging. Er wusste, dass die kleine Ásta Fisch schlecht vertrug, obwohl – oder weil – sie so nah am Meer wohnten. Sie erinnerte sich noch genau, wie übel ihr immer geworden war, wenn Fisch auf dem Tisch stand.

»Danke«, antwortete sie Óskar, wollte eigentlich nur »ja« sagen und dass sie natürlich wusste, wer Arnór war.

»Danke?«, fragte Óskar, hatte noch immer das Knie umfasst und beugte sich zu ihr vor, als hätte er sie missverstanden und wollte sichergehen, dass ihm das nicht noch einmal passierte.

Ásta errötete, was selten vorkam.

»Tut mir leid. Ich hab nur gerade an früher gedacht. Du hast mir immer Milch und Plätzchen gebracht … Aber ja, ich erinnere mich an Arnór.«

Arnór hatte auf einer Nachbarfarm gewohnt. Er war Heidars Junge, obwohl inzwischen sicher genauso wenig noch ein Junge wie Reynir, wenn auch zehn Jahre jünger als dieser. Sie konnte ihn vor sich sehen: ein paar Jahre älter als sie selbst, hochgewachsen und pummelig, war er schüchtern und unbeholfen gewesen. Sie und ihre Schwester waren ihm oft begegnet, aber er hatte nie mit ihnen gespielt. Vielleicht fand er es blöd, sich mit jüngeren Kindern abzugeben, und dann auch noch mit Mädchen; aber vielleicht war er auch nur zu scheu gewesen.

Sie glaubte, ein Leuchten in Óskars Augen bemerkt zu haben. Er sah sie liebevoll an, dann senkte er den Blick. »Dann erinnerst du dich also daran«, sagte er. Und fügte hinzu: »Es ist schön zu sehen, dass es dir gutgeht.«

Sie lächelte nur aus Höflichkeit. Gutgeht?, dachte sie. Dieser Einschätzung konnte sie wohl kaum zustimmen. Offensichtlich hatte er keine Ahnung von ihrem stumpfsinnigen Leben, das sie in ihrem elenden Apartment in Reykjavík erwartete, von dem unerbittlichen Kampf, der Langeweile zu entfliehen und etwas mit sich selbst anzufangen. An manchen Abenden – wenn sie auf dem Sofa lag, aus dem Fenster in die Dunkelheit starrte, wo die Menschen von hier nach dort eilten, während ihr Leben an ihr vorbeizog – war sie so deprimiert, dass sie am liebsten aus ihrer eigenen Wohnung ausgebrochen wäre. Dann stellte sie sich vor, wie sie die Fensterscheiben zerschlug und hinauskroch, zerkratzt und blutig von dem zerbrochenen Glas. Lieber Schmerzen erleiden als gar nichts fühlen.

»Wohnt er immer noch auf der Farm?« Sie hörte Gemurmel im Flur: Thóra und ihr Besucher unterhielten sich.

»O ja. Nach dem Tod seines Vaters vor ein paar Jahren hat er die Farm übernommen. Da war Heidar schon ein alter Mann, Gott hab ihn selig. Arnór kümmert sich um Reynirs Pferde, und uns hilft er auch viel, besonders mit dem Leuchtturm. Eigentlich bin ich dafür verantwortlich, aber wie du dir denken kannst, schaffe ich die vielen Stufen nicht mehr. Er ist ein guter Kerl«, sagte Óskar mit Nachdruck.

Als Thóra und Arnór ins Wohnzimmer kamen, sah Ásta einen hochgewachsenen, schlanken jungen Mann und die ältere Frau. Sie hätte ihn fast nicht wiedererkannt, und nur weil sie wusste, wer er war, sah sie die Ähnlichkeit in dem Lächeln, das sein ganzes Gesicht überstrahlte. Ansonsten hatte er sich vollkommen verändert. Er war jetzt ein gutaussehender Mann, und es war schwer, in ihm den unbeholfenen Jungen zu sehen, an den sie sich erinnerte.

»Ásta«, rief er selbstbewusst aus, als hätte er sie erst gestern gesehen, vielleicht draußen auf der Landspitze. Früher war er schweigsam und introvertiert gewesen, und sie und ihre Schwester waren andauernd um ihn herumgetollt, um ihm eine Reaktion zu entlocken. Jetzt strahlte er Selbstbewusstsein aus. »Ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte er.

Er kam zu ihr, und sie hielt ihm die Hand hin. Doch anstatt sie zu schütteln, nahm er Ásta in die Arme und drückte sie so herzlich, dass auch sie ihn fest an sich drückte. Als sie das merkte, wich sie verunsichert zurück.

Sie sah ihn verlegen an. »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte sie beinahe flüsternd, gefolgt von einem verlegenen Lächeln.

Arnór wiederum schien kein bisschen verlegen. Er stand seelenruhig da, während sie befangen war und nicht wusste, wo sie hingucken sollte.

Kurz überlegte sie, ihm ihr Beileid zum Tod seines Vaters auszudrücken, ließ es dann aber. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Heidar schon tot war und woran er gestorben war, so dass ihre Worte unaufrichtig klingen würden. Seit ihrer letzten Begegnung war auch ihr Vater gestorben. Vielleicht hoben die beiden Todesfälle sich gegenseitig auf? So dass weder sie noch Arnór sie erwähnen mussten?

Er wandte sich Óskar zu. »Ich hab Werkzeug mitgebracht. Wir sollten uns das Fenster im Leuchtturm ansehen, es muss schnellstens repariert werden.«

»Es ist gestern bei dem schlechten Wetter kaputtgegangen«, sagte Óskar an Ásta gewandt, und zu Arnór: »Eine große Hilfe werde ich aber nicht sein.«

»Trotzdem solltest du mitkommen. Du musst mir zeigen, wie ich es machen soll«, sagte Arnór so überzeugend, dass Ásta fast glaubte, er meinte es wirklich so. Dabei wollte er Óskar sicher nur das Gefühl geben, noch gebraucht zu werden.

Die beiden Männer verließen das Wohnzimmer. Die beiden Frauen blieben schweigend zurück.

»Ich gehe dann mal ins Bett«, sagte Ásta schließlich, als das Schweigen zu peinlich wurde. Sie nahm ihren Koffer.

»In Ordnung«, sagte Thóra. »Die Treppe zum Dachgeschoss –«

Ásta fiel ihr ins Wort. »Ich kenne den Weg.«

3. Kapitel

Sie knipste das Licht an, und eine schwache Birne erhellte das schmale Treppenhaus, tapeziert mit Zweigen auf grauem Untergrund. Bei genauer Betrachtung entdeckte sie sogar rote Beeren an den Zweigen. Der Teppichboden war verschlissen, und das Holzgeländer hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Von irgendwoher zog es – und sofort wurde ihr kalt.

Es gab noch viele leerstehende Räume im Haus, das wusste sie und hätte nicht einwilligen müssen, in ihrem alten Dachzimmer zu schlafen. Aber es war trotz allem ihr Zimmer gewesen, und sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich von den Geistern der Vergangenheit wach halten ließen. Sie war stark. Doch als sie im Dachgeschoss vor der geschlossenen Tür stand, fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Oder war es doch ein Fehler? Plötzlich hatte sie das ungute Gefühl, dass das alles kein gutes Ende nehmen würde. War es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach Hause zu fahren?

Noch war es nicht zu spät. Sie könnte umdrehen, die Treppe hinunterlaufen und Thóra sagen, sie habe einen Anruf bekommen und müsse sofort zurück nach Reykjavík. Sie könnte sich von ihr verabschieden, ohne dass Óskar und Arnór ihre Abreise mitbekamen.

Unentschlossen stand Ásta vor ihrem alten Zimmer. Ihr Blick wanderte nach rechts, zu den Türen des Elternschlafzimmers und des kleinen Badezimmers. Hinter ihr war die Ecke, die sie als Küche benutzt hatten, und … sie drehte sich langsam um. Die Tür zum Zimmer ihrer Schwester war geschlossen. Wie gern würde sie einen kurzen Blick hineinwerfen, ließ es aber und öffnete stattdessen die Tür zu ihrem eigenen Zimmer.

Es war nicht so groß wie in ihrer Erinnerung. Nirgends konnte sie mehr aufrecht stehen. Die Luft war stickig, beinahe modrig, und sie knipste schnell das Licht an und öffnete das Fenster.

Das war schon besser. Durchs Fenster strömte das leise Rauschen der Wellen herein, vertraut und beruhigend. Sie sah hinaus und hinunter zum Rand des Kliffs. Hier, genau von diesem Fenster aus, hatte sie etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen dürfen. Seltsamerweise schmerzte sie die Erinnerung nicht, obwohl damals der Schock verheerend gewesen war.

In der abendlichen Finsternis konnte sie kaum etwas erkennen, aber das Licht des Leuchtturms half. Die Dunkelheit gewann hier niemals die Oberhand, dachte sie und lächelte dann bitter. Doch in diesem Haus, an diesem Ort, gab es nur Finsternis.

Im Moment herrschte zudem eine bedrückende Stille. Vermutlich war Thóra in ihr Zimmer im Souterrain gegangen. Es war ihr sicher nicht leichtgefallen, nach unten zu ziehen, trotzdem konnte Ásta kein Mitleid mit ihr aufbringen.

Ihr altes Bett stand noch an derselben Stelle wie früher. Es war zwar nicht besonders groß, aber auch kein Kinderbett. Angekleidet legte Ásta sich vorsichtig darauf. Es knarrte laut, wie schon in ihrer Kindheit, und quietschte, als sie es sich so bequem wie möglich darauf machte.

Ihr Körper war erschöpft, ihr Kopf dagegen noch hellwach. Sie würde bestimmt noch nicht einschlafen können und stand wieder auf, zumal ihr gerade die steile Wendeltreppe eingefallen war, die direkt von der kleinen Dachwohnung hinunter zur Hintertür und nach draußen führte. Also ignorierte sie ihre Erschöpfung und ging hinunter. Für ihre kleinen Kinderfüße von damals waren es eine Menge Stufen gewesen, doch jetzt war sie im Nu unten und trat hinaus in den sanft fallenden Schnee.

Sie bewegte sich vorsichtig vom Haus weg hinein in die Dunkelheit, aber nicht der schneebedeckte Boden, sondern die Last der Erinnerungen hemmte sie. Sie atmete tief ein, und die kalte Luft brachte die Vergangenheit zurück, klar und deutlich: die vielen Nächte in dem kleinen Dachzimmer, in denen die Schreie der Möwen und die brechenden Wogen sie wach hielten. Doch das Rauschen der Brandung war weniger eine Erinnerung als eine allgegenwärtige Realität, die jetzt im Wettstreit mit dem tosenden Wind lag.

Erneut überkam sie das Gefühl, mit ihrer Reise an diesen Ort das Schicksal herauszufordern. Aber sie kämpfte es nieder und machte sich auf den Weg zum Leuchtturm.

Es war nicht leicht, im Dunkeln den Pfad zu erkennen, aber Ásta würde ihn auch mit verbundenen Augen finden. Und Angst vor Dunkelheit hatte sie nie gehabt. Trotzdem war ihr mulmig zumute, als würden die Geister der Vergangenheit sie rufen, ihr folgen … sie warnen. Doch schon bald tauchte der Leuchtturm aus der Finsternis vor ihr auf, am höchsten Punkt der Landzunge. Sie hatte viel Zeit bei dem Turm verbracht, manchmal sonnenbadend an der Südseite, aber öfter im kalten Schatten der Nordseite.

Sie wäre gern direkt zum Leuchtturm gegangen, aber Óskar und Arnór reparierten dort das Fenster, und sie wollte ihnen nicht begegnen. Also lief sie nach links zu dem Steilhang, den Wind, Wetter und Meer über Jahrhunderte in die zerklüfteten Felsen gegraben hatten.

Im Nu war sie am Rande der Klippe. Obwohl der Wind ihr Gesicht umtoste und der Schnee ihre Haut piekte, hielt sie die Luft an, beugte sich vor und sah hinab. Unter ihr lag das gnadenlose Meer, vom Leuchtturm erhellt, und sofort spürte sie die Nähe des Todes.

Eine heftige Windböe hätte sie um ein Haar vom Kliff gefegt. Sie trat zurück, hatte nicht vor, ihr Leben hier zu beenden. Gleichwohl war sie nicht ängstlich und genoss es, wie ihr Blut durch die Adern pulsierte. Der Gedanke an den Tod gab ihr einen unerwarteten Energieschub.

Vom Meer war sie schon immer fasziniert. Manchmal hatte sie hier am Klippenrand gesessen und es einfach beobachtet, manchmal war sie runter in die Bucht zum Strand gegangen. Wenn die Wellen am höchsten und gewaltigsten waren, gab es keinen Ort, wo sie lieber gewesen wäre. Das wütende Meer war ganz weiß, und so wurde Weiß für das kleine Mädchen von damals nach und nach die Farbe der Wut. Wenn sie bei einem gewaltigen Sturm nahe der Wellen stand, erfüllte das salzige Meer ihr ganzes Sein – sie fühlte sich fast eins mit dem Meer. Jetzt erinnerte sich Ásta auch, wie fasziniert sie dem Kampf der Möwen mit den Windböen zugesehen hatte, die mit aller Kraft versuchten, in der Luft zu bleiben. Und oft genug konnte sie genau nachempfinden, wie sie sich dabei fühlten.

Schließlich wandte sie sich um und machte sich auf den Rückweg. Sie warf einen letzten Blick zum Leuchtturm und sah, dass Óskar und Arnór in ihre Richtung kamen. Offensichtlich hatten sie sie bereits entdeckt, denn Arnór winkte ihr zu. Zögerlich winkte sie zurück und ging weiter.

In ihrem Zimmer schloss sie die Gardinen, zog einen Pullover über, damit ihr warm wurde, und legte sich ins Bett unter die Daunendecke. Es war jetzt stockfinster, und trotzdem wälzte sie sich hin und her, bevor sie schließlich einschlief.

Sie wachte plötzlich auf, wusste nicht, wie spät es war. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und öffnete die Augen, aber die Finsternis verstörte sie. Ruckartig setzte sie sich auf, atmete schnell und flach. Es war viel zu heiß im Raum, die Luft schwer und stickig.

Sie zog Pullover und T-Shirt aus, schob das Federbett beiseite und saß einen Moment lang einfach nur in Unterwäsche da. Dann streckte sie den Arm aus, zog die Gardine auf und öffnete das Fenster. Sofort strömte kalte Luft herein, das Licht des Leuchtturms durchflutete das Zimmer und blies die Dunkelheit weg.

Ásta legte sich zurück, überlegte kurz, ihr Handy aus der Hosentasche ihrer Jeans zu ziehen, um nachzusehen, wie spät es war, und entschied, dass Zeit keine Rolle spielte. Sie schloss die Augen, atmete wieder normal, und eine neue Ruhe überkam sie. Sie war es nicht mehr gewöhnt, bei offenem Fenster zu schlafen – das ging in ihrer Souterrainwohnung einfach nicht –, doch die frische Luft wirkte Wunder. Es dauerte nicht lange, und sie schlief tief und fest, unbehelligt von den Erinnerungen an die Vergangenheit.

4. Kapitel

Der nächste Tag zog sich endlos lang dahin. Ásta verschlief den Vormittag und nahm dann mit Thóra und Óskar das Mittagessen ein, bei dem deprimierende Stille herrschte. Reynir war noch nicht angekommen und Arnór auch nicht wieder aufgetaucht. Nach dem Mittagessen machte sie einen kurzen Spaziergang und wollte sich dann in ihrem Dachzimmer ausruhen, was ihr aber nicht gelang. Zu viele Gedanken geisterten ihr im Kopf herum.

Gegen sechs Uhr abends machte sie einen weiteren Spaziergang, wieder zum Leuchtturm. Als sie dort ankam, war die Tür abgeschlossen – das hatte es früher, als ihr Vater noch Leuchtturmwärter war, nicht gegeben. Da war die Tür immer offen gewesen; er hatte seinen Töchtern vertraut, dass sie sich nicht in Gefahr begaben. Ásta hatte sich manchmal hineingeschlichen, um sich zu verstecken oder einfach nur, um allein zu sein – die perfekte Zuflucht für ein kleines Mädchen. Ihr war es nie in den Sinn gekommen, an irgendetwas herumzuspielen, sie hatte meistens einfach die Tür hinter sich geschlossen, auf der Treppe gesessen und nachgedacht. Wahrscheinlich wusste ihr Vater davon, hatte jedoch nie ein Wort darüber verloren.

Einmal – wahrscheinlich war es aber öfter gewesen, aber an dieses eine Mal erinnerte sich Ásta jetzt –, einmal hatte er sie auf einen Spaziergang über die Landzunge mitgenommen und ihr etwas über die Geschichte dieses Ortes erzählt. Damals fand sie das wenig interessant, doch jetzt fiel ihr vieles wieder ein. Der Leuchtturm mit den langen schwarzen Säulen auf den weißen Wänden hatte ihr schon immer sehr gefallen. Und wenn sie ganz dicht davor stand, hatte seine Höhe sie schier überwältigt. Jetzt trat sie ein paar Schritte zurück, ließ den Blick langsam die Wände hinauf gen Himmel wandern und gestattete sich das Gefühl, ein winziger Teil des großen Universums zu sein.

»Er ist abgeschlossen«, hörte sie plötzlich jemanden hinter sich sagen.

Überrascht wirbelte sie herum, hatte niemanden kommen hören.

Arnór, in einer dicken Daunenjacke, kam auf sie zu. Seine Wangen waren gerötet, doch er trug keine Kopfbedeckung, obwohl man hier vollkommen ungeschützt dem Wind vom offenen Meer her ausgeliefert war. Er sah sogar noch besser aus als am Abend zuvor.

»Ja, hab ich auch schon gemerkt«, erwiderte sie bissig. »Es hat sich einiges hier verändert.«

»Wir sind nicht mehr so sorglos, wie es dein Vater war«, schoss er zurück.

»Du erinnerst dich an ihn?«, fragte sie, der Ton jetzt etwas milder.

»Natürlich. Er war ein wunderbarer Mensch und keiner, den man schnell wieder vergisst. Er ist schon vor langer Zeit gestorben, oder?«

Sie war überrascht, als Arnór sich auf den schmalen Betonsockel setzte, der rund um den Leuchtturm führte. Er hatte eine Stelle mit Blick aufs Meer gewählt und nicht eine neben der Tür, von wo man landeinwärts sah.

Ásta setzte sich neben ihn, hielt aber bewusst einigen Abstand.

»Ja und nein«, sagte sie. »Ich war noch keine zwanzig, als er gestorben ist, aber eigentlich hatte er uns schon lange vorher verlassen.«

»Er ist viel zu jung gestorben«, sage Arnór bedachtsam.

»Ja.«

Eine Weile schwiegen sie.

»Er hat immer viel gearbeitet«, sagte Arnór schließlich. »Bis …« Er ließ den Satz unvollendet.

»Stimmt.« Ásta nickte zustimmend, ließ den Blick schweifen. Ihr Vater war ein Naturmensch durch und durch. Anfangs liebte er es hier … aber danach natürlich nicht mehr.

»Ich bin immer …«, fuhr sie nach einem Moment fort, doch sie sprach nicht weiter; sie atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit kalter Luft. »Ich bin immer hierhergekommen …«

Das war alles, was sie sagen konnte, bevor Arnór den Satz für sie beendete: »… und hast dich hineingeschlichen. Ja, ich weiß. Ich hab dich dabei beobachtet.«

Sie lächelte.

»Ich fand es immer ein bisschen seltsam«, fuhr Arnór fort, »dass ein sechs oder sieben Jahre altes Mädchen sich in einen alten Leuchtturm zurückzieht.« Er hielt inne. »Andererseits bist du immer eine Einzelgängerin gewesen und hast so geheimnisvoll getan. Und bist es auch heute noch – sogar jetzt, wo ich neben dir sitze.«

Ásta stand auf, abrupter als beabsichtigt, denn sie wollte nicht unhöflich sein. Arnór blieb sitzen.

»Kannst du mir vielleicht einen Schlüssel zum Leuchtturm leihen?«, fragte sie, lächelte entschuldigend wegen ihrer Schroffheit. »Nur übers Wochenende. Es wäre interessant, ihn noch einmal von innen zu sehen.«

»Sicher, kein Problem.« Arnór stand auf und ging in den Windschatten des gewaltigen Gebäudes. »Aber ich habe ihn nicht dabei, er liegt im Wagen. Ich gebe ihn dir später.«

»Danke.«

»Außerdem bin ich hergekommen, um dich zu holen.«

»Mich zu holen?«

»Ja. Reynir ist gekommen. Ich war gerade mit ihm im Ort, um den riesigen Weihnachtsbaum abzuholen, den er in Skagaströnd gekauft hat. Der hat nicht in seinen SUV gepasst, ich musste ihn mit dem Lastwagen holen. Für so was ist in der Luxuskutsche kein Platz, und ich glaube auch nicht, dass er seinen tollen Wagen damit schmutzig machen wollte. Jedenfalls will er dich zu einem frühen Dinner einladen und hat Thóra gebeten, etwas zu kochen. Aus der Küche hat es jedenfalls wunderbar gerochen, so viel ist sicher.«

»Hört sich gut an. Dann mal los«, sagte Ásta lächelnd.

Der Baum lag mitten auf dem Wohnzimmerboden, und die Zweige strömten einen intensiven Geruch aus.

Thóra begrüßte Ásta und Arnór, und als Arnór wieder gehen wollte, bestand sie darauf, dass er zum Abendessen blieb. »Am Tisch ist noch jede Menge Platz«, sagte sie, »und ich hab viel zu viel gekocht.«

»Also gut«, erwiderte Arnór. Er musste nicht groß überredet werden. Sie ließen sich alle am Tisch nieder, obwohl Reynir noch gar nicht aufgetaucht war.

Ásta saß kaum, als ihr jemand die Hände auf die Schultern legte – nur sanft, und doch schreckte sie überrascht hoch und drehte sich um.

Der Anblick Reynirs nach all den Jahren schockierte sie ein bisschen. Er hat zweifellos einen guten Presseagenten, dachte sie. Die Fotos des prominenten Geschäftsmannes, die sie aus den Zeitungen kannte, zeigten alle einen jüngeren, schlankeren und besser gepflegten Mann als den, der jetzt vor ihr stand. Seine graumelierten Haare waren zerzaust und bereits recht schütter. Und das Hemd, das im Bund seiner engen Jeans steckte, offenbarte einen stattlichen Bauch, den man auf Fotos retuschieren konnte, aber in natura nicht.

»Hallo, Ásta«, sagte er herzlich. »Wie schön, dich wiederzusehen.« Er nahm die Hände von ihren Schultern und hielt ihr eine Hand hin, was ihr formeller als nötig erschien.

Ásta schüttelte sie trotzdem, doch auch sein Händedruck war nicht fest, wie sie es von einem gestandenen Geschäftsmann erwartet hätte. »Danke, dass ich hier wohnen kann«, sagte sie. Da sie sich selbst eingeladen hatte, konnte sie ihm schlecht für die Einladung danken.

»Du bist immer willkommen, meine Liebe«, sagte er. »Ich hoffe, du fühlst dich wohl bei uns. Du schläfst in deinem alten Zimmer, oder?«

»Ja«, sagte sie. »Eine Menge Erinnerungen«, fügte sie hinzu, gab ihren Worten intuitiv besonderes Gewicht.

Die darauf folgende peinliche Stille durchbrach Thóra mit den Worten, dass es Zeit für den ersten Gang sei: Milchreis mit ein wenig Zimt. Das hatte Ásta seit Jahren nicht mehr gegessen.

»Nur weil Weihnachten ist«, sagte Thóra, als könnte sie ihre Gedanken lesen.

»Es ist kalt heute«, bemerkte Reynir ohne ersichtlichen Grund. »Hier an der Küste ist man vollkommen ungeschützt.« Er warf Ásta ein Lächeln zu und sah dann Óskar an. »Warst du heute im Wasser, Óskar?«