Blutsbande (Das letzte Leben Buch 3): Progression Fantasy - Alexey Osadchuk - E-Book

Blutsbande (Das letzte Leben Buch 3): Progression Fantasy E-Book

Alexey Osadchuk

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Beschreibung

Heinrich de Gramonts Petition beim König, Max Renard von seiner Pflicht zum Dienst im Westlichen Fort zu befreien, war erfolgreich. Max’ Schuld gegenüber der Krone gilt als bezahlt. Jetzt erwartet der „liebende“ Onkel seinen missratenen und bockigen Neffen umgehend in der Hauptstadt, wo er die Viscountess Aurélie de Marbot heiraten soll. Max ist sich darüber im Klaren, dass diesmal kein Weg an der Reise zur Hauptstadt vorbeiführt. Außerdem hat er dort nicht nur private Angelegenheiten zu erledigen, sondern auch diverse Fragen zu stellen, sowohl dem Bruder seines Vaters als auch seinen Verwandten mütterlicherseits. Deshalb bricht Max nach Herouxville auf, um zu erfahren, wie weit Blutsbande ihn voranbringen können.

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Seitenzahl: 435

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zwischenspiel 1

Kapitel 6

Zwischenspiel 2

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9: Zwischenspiel 3

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zwischenspiel 4

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Zwischenspiel 5

Kapitel 17

Kapitel 18

Zwischenspiel 6

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Zwischenspiel 7

Kapitel 26

Kapitel 27

Über den Autor

Alexey Osadchuk

Blutsbande

Das letzte Leben

Buch 3

Magic Dome Books

Blutsbande

Das letzte Leben Buch 3

Originaltitel: Blood Ties (Last Life Book #3)

Copyright © Alexey Osadchuk, 2023

Covergestaltung © Valeria Osadchuk, 2023

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Irena Böttcher, 2023

Erschienen 2023 bei Magic Dome Books

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00

Praha 9 Czech Republic IC: 28203127

Alle Rechte vorbehalten

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Kapitel 1

„WESHALB TUN SIE das alles? Was ist der wahre Grund?“

Leutnant Vincent stellte mir diese Frage fünf Tage nach unserer ersten Begegnung. Ich hatte meine Prozeduren mit den roten und grünen Energien beendet und sie aktiv von den Rohlingen in den Körper meines Patienten geleitet.

Während der früheren Behandlungen hatte Théodore Vincent nicht viel gesagt. Ich ertappte ihn jedoch regelmäßig dabei, dass er mich beobachtete. Was ich ihm nicht übelnehmen konnte. Jetzt hatte er anscheinend endlich den Mut für eine offene Unterhaltung gefunden. Die, um ehrlich zu sein, längst überfällig war. Théodore Vincent wirkte wie ein Mann einfachen Geistes und war auch so gekleidet, doch er besaß einen messerscharfen Verstand, und sein Charakter war kompromisslos ehrenhaft. Genau so hatte Baron Holtz ihn mir auch beschrieben.

„Aha — ich vermute, Sie glauben also nicht, ich könnte einem leidenden Mann aufrichtig helfen wollen?“ Ich lachte und steckte beide Rohlinge wieder in meine Tasche.

Der Leutnant war meiner Hand mit den Augen gefolgt. Vom Bett aus lächelte er mich an.

„Ich habe aufgehört, an Märchen zu glauben, als ich sieben Jahre alt war und meine gesamte Familie an Pest gestorben ist. Das Pest-Bataillon hat mein Haus niedergebrannt, mitsamt den Leichen meiner Familie. Anschließend wurde ich in ein Waisenhaus geschickt, wo man alle Narretei aus mir herausgeprügelt hat...“

„Ich verstehe.“

„Tun Sie das?“ Der Sarkasmus in Vincents Stimme war unverhohlen. „Wenn ich mich nicht irre, sind Sie in einem warmen, weichen Nest aufgewachsen, umgeben von Kindermädchen und Dienern, die Ihnen jeden Wunsch erfüllt haben. Das stimmt doch, oder?“

„Haben wir nicht gerade darüber gesprochen, alle Illusionen beiseitezulegen?“, fragte ich, setzte mich auf einen Stuhl neben Vincents Bett und schlug die Beine übereinander. „Selbst legitimierte uneheliche Kinder sind und bleiben Ausgestoßene. Und jetzt stellen Sie sich ein solches Balg vor, dessen Vater an einer Verschwörung gegen die Krone beteiligt war und für seine Verbrechen hingerichtet wurde. Wie könnte ein solcher Mensch sich noch Illusionen hingeben? Deshalb verstehe ich Sie sehr gut, auch wenn wir in völlig unterschiedlichen Stufen von Wohlstand aufgewachsen sind. Und was Ihre Frage betrifft... Was steckt denn Ihrer Meinung nach hinter meiner Hilfe?“

„Um ehrlich zu sein, kann ich lediglich raten...“, antwortete Vincent. „Allerdings habe ich gewisse Vorstellungen.“

„Seltsam... Ich bin ganz Ohr.“

„Sie versuchen, den neuen Kommandeur des Westlichen Forts auf Ihre Seite zu ziehen, indem Sie mir helfen.“

„Und, wird es funktionieren?“

„Jean Tassen ist ein Mann von Ehre“, erwiderte Vincent barsch. „Aber er ist kein Narr. Ebenso wenig wie ich, nebenbei bemerkt. Wir ziehen es lediglich vor, uns an die Regeln zu halten. Es vereinfacht die Dinge.“

„Dem kann ich nur zustimmen.“ Ich nickte. „Es ist immer einfacher, ohne Illusionen zu leben. Aber wahre Freundschaft und Loyalität sind keine Illusionen — sie sind echt. Und sie stehen über dem Gefühl der Dankbarkeit.“

„Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie versuchen, wahre Freunde zu gewinnen, indem Sie mir helfen?“ Vincent lächelte herablassend.

„Warum denn nicht?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich mich nicht irre, ist exakt dies der Weg zu einer wahren, soliden Freundschaft.“

„Vielleicht tun Sie das alles aber auch nur, weil Sie sich mithilfe von Tassen und mir ein Stück von dem Kuchen des Schmugglerrings unter den Nagel reißen wollen“, bemerkte Vincent und sah mir direkt in die Augen.

„Glauben Sie, ich hätte eine Chance?“, fragte ich ruhig, ohne seinem Blick auszuweichen.

„Warum denn nicht?“ Vincent schnaubte sarkastisch. „Sie haben es geschafft, Louis de Rohan loszuwerden, ebenso wie seine Lakaien Brossard und Buquet. Der Weg ist frei, vor allem, nachdem Tassen nun tief in ihrer Schuld steht, weil Sie meine Gesundheit wiederherstellen. Er wird Ihnen keine Hindernisse in den Weg legen.“

„Und was ist mit Ihnen?“, erkundigte ich mich. „Werden Sie mir ebenfalls dankbar sein? Oder mir Hindernisse in den Weg legen? Ich sage das, weil ich keine Scherze mache. Ich werde Sie wieder auf die Füße bringen. Das spüren Sie doch bereits. Ihnen können die Veränderungen nicht entgangen sein, die im Laufe der letzten fünf Tage in Ihrem Körper stattgefunden haben.“

„Ja“, gab Vincent heiser zu, mit einem leicht verwirrten Blick. „Ich kann es fühlen...“ Dann riss er sich zusammen und ergänzte mit fester Stimme: „Und ja, ich bin sehr wohl in der Lage, Dankbarkeit zu zeigen. Sie haben mich geheilt, Sie haben meine Frau und Tochter in Ihr Haus aufgenommen, Sie haben Jean geholfen, befördert zu werden... Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten. Darüber hinaus werde ich alles tun, was Sie von mir verlangen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Aber da ist eine Sache...“

„Ich höre?“

„Wenn ich jemals erfahre, dass Sie meine Freunde oder meine Familie bedrohen, werde ich Sie umbringen.“

Vincents Stimme war unerschütterlich. Der Mann, der mich anschaute, war ein gefährliches Raubtier. Trotz der tödlichen Wunde, die er erlitten hatte, war er bereit, mir jeden Augenblick den Kopf abzureißen.

„Ich habe Sie verstanden, Leutnant.“ Ich nickte.

„Aber Sie haben es versäumt, die wichtigste Frage zu beantworten“, erinnerte er mich.

„Sie meinen die über das Geld und den Schmugglerring?“, vergewisserte ich mich. „Ich will nicht lügen — ich bin an diesem Geschäft interessiert. Allerdings bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nichts gibt, das ich von dieser Operation abschöpfen könnte.“

„Ach ja?“ Vincent lachte.

„Ach, nun kommen Sie schon!“, wehrte ich mit einer Handbewegung ab. „Es wissen alle sehr wohl, dass das Exil von de Rohan und seinen Handlangern lediglich ein vorübergehender Stand der Dinge ist. Schon bald werden die Männer, die de Rohan hierhergeschickt haben, sich darum bemühen, alles wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Entweder schicken sie einen neuen ‚de Rohan‘, oder, und das ist wahrscheinlicher, sie versuchen, mit dem neuen Kommandeur zu einer Einigung zu kommen. Es hat wenig Sinn, sich mit denen auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Sie haben ja bereits gesehen, was dabei herauskommt. Und angesichts der Tatsache, dass ich bereits eine gewisse Vorstellung habe, wer an der Spitze dieser Pyramide sitzt, würde man mich vollständig verschlucken und nicht nur verdrängen. Meister Jacob sitzt noch immer in der Festung, als Vertreter der Bernsteingilde. Er hat eine Menge Geld dafür bezahlt, sich das königliche Privileg zu sichern, hier an der Grenze stationiert zu werden, wo er die Klauen, Zähne und verschiedenen Wurzeln aus dem Schatten aufkaufen kann, die die Wildlinge nach einer Ebbe anbieten.“

Ich zählte an meinen Fingern ab.

„Also... Die Leute hinter Louis de Rohan, die Bernsteingilde, skrupellose Agenten der Geheimkanzlei, der Bürgermeister und die Leute, die hinter ihm stehen... Und dieses Wissen um die Beteiligten beruht auf lediglich den oberflächlichsten Informationen... Jedenfalls sind schon jetzt eine Menge Blutsauger-Mäuler zu stopfen, richtig?“

„Doch trotz alledem planen Sie, hier eine Villa zu kaufen, ihre Position unter den Offizieren des Westlichen Forts zu stärken und sich in Kürze mit dem Bürgermeister zu unterhalten“, stellte Vincent mit einem trockenen Lachen fest. „All das scheint im Widerspruch dazu zu stehen, dass Sie sich kein Stück von dem Schmugglerkuchen sichern wollen.“

„Sie übersehen ein wichtiges Detail.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Und welches?“, erkundigte sich Vincent überrascht.

„Das größte“, erwiderte ich und zog einen violetten Rohling aus der Tasche. Als Vincent ihn sah, schluckte er laut. „Wie ich bereits erwähnte, bin ich an dem Geschäft interessiert. Allerdings habe ich nicht den geringsten Wunsch, mich mit einem Stück vom Kuchen des Geldflusses eines anderen zu bescheiden, wie Sie es so schön nennen. Zunächst einmal klingt das alles recht verwickelt. Und zweitens ist das Geld, hm... nun ja, nicht allzu verlockend... Kein Wunder, wo so viele etwas davon abhaben wollen.“

„Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen...“, setzte Vincent an.

Ich fiel ihm ins Wort.

„Es ist noch zu früh, mehr zu sagen. Alles zu seiner Zeit.“

Ich stand auf, steckte den Rohling wieder in meine Tasche und strich meinen Mantel glatt.

„Übrigens“, bemerkte ich, schon in der Tür, „machen Sie sich bereit. Morgen werde ich Sie in meine Villa bringen. Die Behandlung wird mehr als einen Monat dauern. Ich kann nicht jeden Tag so viel Zeit damit verschwenden, zu Ihrem Haus zu kommen. Davon abgesehen, werden Sie schon bald die ersten Schritte tun können, und das wird eine Menge unerwünschter Aufmerksamkeit wecken. Um das zu vermeiden, werden meine Leute Sie morgen vor aller Augen aus Toulon herausbringen. Angeblich zu einer nahen großen Stadt, wo Sie sich der Behandlung durch einen Heiler unterziehen, finanziert durch die Offiziere des Westlichen Forts. Am Abend werden Sie heimlich nach Toulon zurückkehren und in meiner Villa bleiben, zusammen mit Ihrer Frau und Tochter, bis Ihre Heilung abgeschlossen ist.“

Vincent sah mich nachdenklich an, und ich verließ sein Haus.

* * *

„Mein Herr!“ Bertrand stand in der Tür zu meinem Büro. „Ein gewisser Éric Judor ist hier, um Sie zu sprechen. Soll ich ihn ins Büro führen?“

Ich schaute von einem weiteren Bericht von Kater auf, meinem Informations-Bot in Sardent. Darin informierte er mich darüber, dass im unabhängigen Herzogtum von Mâcon die Preise für gewisse Waren plötzlich in die Höhe geschossen waren und weiter stiegen, darunter Stoffe, Eisen, Felle und Waffen. Hm... Kein Wunder — für manche war der bevorstehende Krieg eine großartige Gelegenheit. Einige marschierten in den Tod, andere füllten sich die Taschen.

Davon abgesehen hatte Kater zu vermelden, dass auch die Preise am Sklavenmarkt massiv in die Höhe geschnellt waren, besonders für gesunde, starke Männer. In einem seiner letzten Schreiben hatte er mich bereits darüber informiert, dass Gruppen von Anwerbern in großer Zahl in der Region erschienen waren, auf der Suche nach gesunden, jungen Männern, um die Ränge der kriegführenden Armee zu füllen.

Der Graf de Mâcon hatte, nachdem viele sich beschwerten, sogar versucht, der enormen Übertreibung Herr zu werden. Dennoch kletterten die Preise für die „lebende Ware“ weiter, je aktiver die Anwerber wurden.

Schließlich war dies erst der Anfang. Die Armeen von Vestonia und Atalia waren bisher noch in keiner einzigen Schlacht aufeinandergetroffen. Momentan beschränkte der Konflikt sich auf kleinere Gefechte um Gebiete, die zu dem gehörten, was ich die „Puffer-Grafschaften und -Herzogtümer“ nannte, die Territorien zwischen den beiden großen Staaten. Ich vermutete, dass viele dieser Mikro-Staaten in diesem Krieg ihre Unabhängigkeit verlieren würden.

Ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht und streckte mich, bevor ich alle wichtigen Dokumente vom Tisch nahm und Bertrand befahl:

„Ja, schicke ihn herein.“

Wenig später betrat ein kleiner Mann mit hängenden Schultern den Raum. Er schien um die 50 oder sogar älter zu sein. Auf seinem bleichen, pockennarbigen Gesicht lag ein höfliches, aber auch ein wenig ausgekochtes Lächeln. In seinen klugen, trüb-blauen Augen brannte ernsthafte Neugier.

Éric Judor, der örtliche Geldverleiher, hatte meine Villa bereits mehrere Tage zuvor aufgesucht. Er wollte mit mir über etwas sprechen. Allerdings war ich nicht zu Hause. Deshalb hinterließ er seine Visitenkarte und bat darum, ich möge ihn doch bitte so rasch wie möglich einbestellen.

Nebenbei bemerkt, gehörte die Villa inzwischen tatsächlich mir. Das „Fieber“ von Herrn Mollet hatte sich wieder gelegt, und er war nur zu begierig, mir das Gebäude für 800 Silberkronen zu verkaufen.

Ich musste seine Gier erst einmal zügeln, und am Ende senkte er den Preis auf 550 herab. Mollet war verzweifelt daran interessiert, seine Geschäfte mit diesem unbequemen Mieter abzuschließen. So sehr, dass er sich sogar mit einem Schuldschein zufriedengab, einlösbar in jeder Bank, in der ich Geld eingezahlt hatte. Zu dem Zeitpunkt, als ich ihn bezahlen musste, war ich mit Bargeld etwas knapp dran, daher wählte ich diese Option.

Nach einer kurzen Begrüßung bat ich den Geldverleiher, Platz zu nehmen.

Ich sah ihn forschend an. „Sie hatten etwas mit mir zu besprechen. Ich bitte nur um eines — kommen Sie sofort zur Sache. Ich habe nicht viel Zeit.“

Éric Judor rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her, machte es sich bequem und erklärte lächelnd:

„Selbstverständlich, Chevalier! Selbstverständlich! Das verstehe ich vollkommen. Ich werde nicht viel Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich komme mit einem geschäftlichen Vorschlag zu Ihnen.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Ich möchte Ihnen anbieten, Ihren Schuldschein aufzukaufen.“

„Meinen Schuldschein?“, fragte ich überrascht.

„Genau.“ Der Geldverleiher nickte und legte eine Schriftrolle auf den Tisch. „Bitte...“

Ich entfaltete und überflog rasch das Dokument, das meine Unterschrift trug. Nur um sicherzugehen, überprüfte ich den Text auf die Verwendung magischer Tinte hin. Es war alles in Ordnung — es war der Schuldschein über 550 Silberkronen, den ich Herrn Mollet als Bezahlung für den Erwerb meiner Villa gegeben hatte.

Hm... Offensichtlich hatte Herr Mollet sich entschlossen, ihn direkt an den Geldverleiher zu verkaufen. Im Grunde konnte ich ihm das nicht vorwerfen. Die nächste Filiale der Craonne-Bank, in der meine Ersparnisse lagen, fand sich in Sardent. Dorthin musste er erst einmal reisen, um sein Geld zu bekommen. Und da die Straßen momentan alles andere als ruhig waren, wählte Mollet stattdessen die Option des Verkaufs des Schuldscheins an den örtlichen Geldverleiher. Wie viel der wohl als Kommission von der Summe abgezogen hatte?

„Und was wollen Sie dafür?“, erkundigte ich mich und reichte ihm die Schriftrolle zurück.

„Was meinen Sie damit?“ Éric Judor sah mich überrascht an. „Den Betrag, der auf dem Schuldschein genannt ist. 550 Silberkronen.“

Langsam stand ich auf und ging zum Fenster. Im Hinterhof der Villa saßen Jacques und Théo Vincent auf einer Bank und unterhielten sich.

Théo konnte, wie versprochen, seit einem Monat wieder auf eigenen Füßen stehen und begann nun langsam, das Gehen neu zu erlernen. Dabei stützte er sich auf einen schweren Stock. Ich erinnerte mich an die erstaunten Blicke von Vincent und seiner Frau, als er das erste Mal das Bett verließ. An diesem Tag erkannte ich, dass es nun zwei weitere Menschen in dieser Welt gab, die mir treu ergeben waren.

Jacques und der Leutnant hatten sich von der ersten Begegnung an gut verstanden. Wie sich herausstellte, waren sie sogar beide bei einer Schlacht gegen ein paar Nordleute mit dabei gewesen, allerdings Jacques in der Infanterie und Vincent in der Kavallerie. Jetzt beobachteten die zwei Männer, wie unser Jungvolk trainierte, und gaben ab und zu ein paar barsche Anweisungen von sich. Ich muss sicher nicht erwähnen, dass das Training sich intensiviert hatte, seit ein weiterer Veteran auf der Bühne erschienen war.

Unwillkürlich musste ich lächeln, doch rasch nahm ich wieder eine Maske der Gleichgültigkeit an.

Ich drehte mich um, setzte mich hinter meinen Schreibtisch und sagte:

„Ich gebe Ihnen 300 Silberkronen für den Schuldschein.“

Nachdem von Holtz unsere Beute an Meister Jacob verkauft hatte, verfügte ich wieder über etwas Bargeld. In der untersten Schublade meines Schreibtischs lagen vier Beutel, jeder mit 200 Kronen.

Am Ende war es an die Öffentlichkeit gedrungen, dass wir mit reicher Beute zurückgekehrt waren. Deshalb mussten wir alles an den offiziellen Vertreter der Beinsteingilde verkaufen, sonst hätte man uns als Schmuggler gebrandmarkt.

Ich musste zugeben, dass ich bass erstaunt war, als von Holtz mir meinen Teil aus dem Verkauf der Klauen des Schattenwolfs und der drei nahezu leeren Rohlinge übergab. Dabei hatte Meister Jacob uns gewiss nicht einmal einen fairen Preis gezahlt.

Jedenfalls waren meine Leute zufrieden mit dem Erlös — ihr Anteil belief sich auf etwas mehr als 200 Kronen, und das war eine Menge.

Hmpf... Ich stellte mir lieber nicht vor, wie viel Geld der Verkauf meiner „Sammlung“ einbringen würde.

Nebenbei sei bemerkt, dass von Holtz vor kurzem zu einer Kampagne aufgebrochen war, als Anführer einer Gruppe von Kämpfern aus der Garnison des Forts, die sämtlich Tassen treu ergeben waren. Von Brunon und Vidal begleiteten ihn. Sie hatten sich entschlossen, zum See zurückzukehren, um die Leiche des Schattenwolfs zu bergen, die wir dort in einer kleinen Schlucht versteckt hatten. Oder vielmehr das, was von dem Wolf noch übrig war.

Die Expedition musste bald wieder im Fort eintreffen, und wenn sie Beute mitbrachte, stand mir auch davon ein Anteil zu.

„Aber Chevalier!“, entrüstete sich der Geldverleiher. „Auf dem Schuldschein steht doch in Schwarz und Weiß der Betrag, den er wert ist!“

„Das bestreite ich ja gar nicht“, erwiderte ich. „Das Dokument legt allerdings auch sehr klar den Zeitpunkt und Standort einer Auszahlung fest. Den vollen Betrag können Sie erst nach Ablauf eines Jahres verlangen, und lediglich in einer Filiale der Craonne-Bank.“

Das wusste der Kerl sehr gut. Ich vermutete, er hatte lediglich austesten wollen, wie die Dinge standen. Er wollte wissen, mit was für einer Art Mann er es zu tun hatte, und das nahm ich ihm nicht krumm.

Jetzt wusste ich endlich auch, weshalb Mollet so bereitwillig meinen Bedingungen zugestimmt hatte, als wir den Vertrag unterschrieben. Er hatte eindeutig nicht vorgehabt, ein Jahr auf die Zahlung zu warten, geschweige denn dafür nach Sardent zu reisen. Stattdessen wollte er den Schuldschein an Éric Judor oder einen anderen Geldwechsler verkaufen, selbst wenn er dafür finanzielle Abstriche hinnehmen musste.

Judor sagte nichts, begutachtete mich lediglich mit einem nachdenklichen Blick. Dann bemerkte er in einem Tonfall, der zeigte, wie wenig ihn mein Angebot beeindruckt hatte:

„300 ist nicht sehr viel.“

„Das könnte sein.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„300 ist nur etwas mehr als die Hälfte des Wertes. Ich würde mich bereiterklären, meine Forderung auf 500 zu senken.“

Ich neigte den Kopf zur Seite.

„350.“

Der Geldverleiher schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht genug. 480.“

„Denken Sie an den Krieg“, erinnerte ich ihn. „Die Straßen sind unsicher, und davon abgesehen sind in allen Städten und Außenbereichen Anwerber unterwegs.“

„Das schon, aber wer sollte mich schon anwerben wollen?“ Judor lachte. „Und wofür?“

„Wenn man Sie nicht in die Armee zwingt, wird man Sie ausrauben.“ Erneut zuckte ich mit den Schultern. „In solch unruhigen Zeiten geschehen alle möglichen Dinge. 370.“

„Runden wir das auf zu 400“, schlug Judor vor, „und trennen uns als Freunde.“

Ich dachte kurz nach, rieb mir das Kinn und nickte.

„Einverstanden. Ich erwarte Sie morgen um die gleiche Zeit, mit einem Anwalt.“

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Judor an diesem Geschäft verdient hatte — aber ich persönlich hatte 150 Kronen gespart, denn nun hatte mich die Villa lediglich 400 Silberkronen gekostet.

Übrigens... Was wäre eigentlich, wenn...

Ich drückte einem höchst selbstzufriedenen Éric Judor die Hand und behielt sie eine Weile in der meinen.

„Herr Judor, bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irren sollte — aber besitzen Sie zufällig noch andere Schuldscheine?“

„Selbstverständlich“, antwortete er und spitzte sofort die Ohren. „Sehr viele. Sind Sie an etwas Speziellem interessiert?“

„Ja.“ Ich nickte. „An den Schuldscheinen der Handelshäuser Gilbert sowie Legrand und Söhne, und außerdem alle der Grafen de Gramont. Oder... des Grafen de Marbot. Letztere haben allerdings geringere Priorität.“

Das breite, vielversprechende Grinsen des Geldverleihers verriet mir, dass ich bald einen sehr großen Betrag an Bargeld brauchen würde.

Kapitel 2

ÉRIC JUDOR ERSCHIEN AM nächsten Tag zur verabredeten Zeit wieder in der Villa, mit einem Anwalt. Wir unterschrieben eine Vereinbarung, und ich übergab dem Geldverleiher zwei fette Beutel mit Silberkronen. Im Austausch reichte er mir meinen Schuldschein, den ich mit dem Anwalt als Zeugen vernichtete.

Nachdem der Anwalt wieder gegangen war, legte Judor mehrere Dutzend weitere Schriftrollen auf meinen Schreibtisch.

„3.750 Silberkronen — Handelshaus Gilbert“, begann der Geldwechsler seine Aufzählung, mit einem anzüglichen Grinsen. Er hatte offensichtlich seinen Spaß bei der Sache. „5.300 — Legrand. 6.200 — die de Gramonts, und was de Marbot betrifft — 1.500. Die am frühesten fälligen Schuldscheine sind in neun Monaten zu begleichen. Gehalten werden alle von der Craonne-Banlk. Insgesamt sind es 16.750 Silberkronen. Und, was sagen Sie, Chevalier?“

Ähem... Nun, was sollte ich sagen? Das war eine enorme Summe. Über die ich nicht verfügte, nicht einmal, wenn es mir gelang, einen Rabatt von 30 Prozent herauszuschlagen.

„Lassen Sie mich die Dokumente zuerst einmal überprüfen...“ Ich betrachtete alle Schuldscheine eingehend.

Es kostete mich lediglich fünf Minuten herauszufinden, dass alle Unterschriften korrekt waren. Niemand hatte versucht, sie zu verändern oder zu fälschen. Davon abgesehen legte mir Judor auch für jeden Schuldschein einen Kaufvertrag vor, der von einem Anwalt beglaubigt worden war.

Nach dieser ersten Überprüfung las ich die Schreiben sorgfältig. Die meisten der Schuldscheine waren an den Inhaber des Dokuments auszuzahlen und legten strenge Zahlungsbedingungen fest. Einige der Schuldscheine der de Gramonts, mit einem Wert von 2.000 Kronen, waren gesichert durch einen Ort, der sich Baronat von Valff nannte.

Außerdem waren die Verpflichtungen der de Gramonts in zwei unterschiedlichen Handschriften unterzeichnet worden.

Ich schaute von den Dokumenten hoch und rief leise:

„Bertrand!“

Kurz darauf öffnete sich die Tür und mein Kammerdiener betrat das Büro.

„Mein Herr...“ Er verbeugte sich.

„Bitte schau dir diese Papiere an“, forderte ich ihn auf. „Und sag mir, was du davon hältst.“

Bertrand näherte sich dem Schreibtisch und betrachtete die Dokumente, die er in zwei Stapel sortierte.

„Mein Herr“, erklärte er, nachdem er zu Ende gekommen war, „Der erste Stapel, das sind Schuldscheine mit dem Baronat von Valff als Sicherheit, unterzeichnet von Ihrem verstorbenen Vater Ferdinand de Gramont. Die restlichen stammen von Ihrem Onkel Heinrich de Gramont.“

„Hm...“ Ich strich mir über das Kinn und beachtete Éric Judor nicht, der kein Wort sagte. „Merkwürdig... Wo ist doch gleich dieses Baronat?“

„Das Baronat von Valff ist ein Teil der Ländereien der Grafschaft Gramont, im Nordosten von Vestonia, mein Herr“, antwortete Bertrand langsam. „Es liegt an der Grenze zu Astland.“

„Aha.“ Ich nickte. „Ich danke dir, Bertrand, du kannst wieder gehen.“

Erneut verbeugte sich der alte Mann und verließ den Raum. Er tat dies auf eine so elegante und höfische Weise, als wäre er der Kammerdiener des Königs persönlich. Selbst Éric Judor war fasziniert und beobachtete respektvoll Bertrands Abgang.

„Also gut“, sagte ich, um die Aufmerksamkeit des Geldverleihers wieder auf mich zu lenken. „Ich habe gesehen, was ich sehen wollte. Ich bin an allen Schuldscheinen interessiert — mit Ausnahme von diesen.“

Ich schob den Stapel mit den Papieren beiseite, die die Unterschrift von Max‘ Vater trugen.

„Für den Rest schreibe ich Ihnen einen Scheck der Craonne-Bank über 6.000 Kronen aus.“

Judor zuckte zusammen und nahm den Stapel an sich.

„6.000? Das ist die reinste Räuberei!“, rief er. „Insbesondere für Schuldscheine solch hoch angesehener vestonianischer Familien! Aber das ist nicht einmal das größte Problem. Ich muss Ihnen leider sagen, Chevalier, dass ich keine Schecks annehme...“

„Tja“, entgegnete ich und stand auf. „Dann muss ich Sie um Vergebung bitten, Ihre Zeit verschwendet zu haben. Solch hohe Beträge an Bargeld bewahre ich nicht in meinem Haus auf.“

Rasch sprang auch der Geldverleiher von seinem Stuhl auf und sprach hastig, als fürchtete er, ich könnte den Raum verlassen, und ohne den Blick von der Tür zu wenden.

„Das verstehe ich, Chevalier... In solchen Zeiten ist es nicht sicher, so hohe Bargeldsummen zu Hause zu haben. In einem Bankschließfach sind sie sicherer...“ Er starrte weiter auf die Tür und senkte den Ton zu einem Flüstern herab. „Aber was, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, die Bezahlung für die Schuldscheine zu regeln? Vielleicht könnte ich sie Ihnen für 10.000 überlassen. Glauben Sie mir — das ist ein sehr guter Preis.“

„Was schlagen Sie vor?“ Auch ich sprach leiser. „Einen Scheck nehmen Sie nicht an... Was sonst? Ein Darlehen? Einen Schuldschein?“

„Nein, nein.“ Der Geldwechsler zögerte. „Sie müssen mir meine Direktheit verzeihen, Herr Renatrd, aber Sie... Wie soll ich mich ausdrücken? Sie riskieren zu oft Ihr Leben. Und davon abgesehen... Bitte nehmen Sie es nicht persönlich, aber momentan sind Sie nicht kreditwürdig.“

Er sah sich im Büro um.

„Soweit ich das weiß, ist diese Villa Ihr einziger Grundbesitz, und — ich bitte erneut um Vergebung — ich weiß genau, Sie das Anwesen gekostet hat. Jetzt hingegen sprechen wir über 10.000 Kronen.“

„Dann kann ich meine Frage nur wiederholen“, erklärte ich, wieder etwas lauter. „Was genau erwarten Sie als Bezahlung?“

Der Geldverleiher zögerte einen Augenblick und wählte anschließend seine Worte sorgfältig.

„Sehen Sie, Herr Renard — jeder in Toulon weiß, dass Sie und Ihre Freunde von Ihrem kürzlichen Ausflug mit reicher Beute zurückgekehrt sind, die Sie an Meister Jakob verkauft haben.“

„Das stimmt“, bestätigte ich. „Er ist der einzige Mann im Westlichen Fort, an den wir solche Dinge legal verkaufen konnten. Ich bin ein gesetzestreuer Untertan seiner Majestät. Ebenso wie meine Freunde.“

„Ja, ja, natürlich...“, winkte Judor ab. „Dennoch... Es könnte schließlich sein, dass Sie, ähm, nun, sagen wir... ein wenig Beute für schlechte Tage zurückgelegt haben... Selbstverständlich nur, um sie später ebenfalls zu verkaufen, und zwar an einen rechtmäßigen Vertreter des Königs, versteht sich.“

Das war interessant. Als ich erfuhr, dass Éric Judor mit mir sprechen wollte, hatte ich Théo Vincent gebeten, mir mehr über ihn zu berichten. Der Leutnant hatte mir versichert, dass der Geldverleiher, wie jedes andere Mitglied seiner Profession, so schlüpfrig wie ein Aal wäre, aber relativ harmlos. Er kaufte wertvolle Papiere und Andenken auf und verkaufte sie weiter. Im Grunde war er eine Art Pfandleiher. Davon abgesehen war er ein gewöhnlicher Geldwechsler, ohne jede Verbindung zu Schmugglerkreisen. Doch jetzt hatte er mir unzweideutig zu verstehen gegeben, dass er sich für magische Artefakte interessierte. Sehr merkwürdig!

Solchen Leuten wie ihm war ich bereits in meinem früheren Leben begegnet. Sie richteten sich nach bestimmten, eingeschränkten Regeln. Wenn ein Mann wie Éric Judor sich dazu entschloss, ein Risiko einzugehen, musste etwas passiert sein. Deshalb auch sein seltsames Zögern. Er fühlte sich der Situation ersichtlich nicht gewachsen. Hm... Es war beinahe, als würde ihn jemand zwingen... Nun, das war alles andere als ausgeschlossen.

„Wir sprechen natürlich rein hypothetisch, richtig?“ Erneut senkte ich die Stimme.

„Aber selbstverständlich!“ Judors Augen leuchteten vor Begeisterung.

„Nun, rein hypothetisch gesprochen, könnte dies natürlich so sein“, gab ich zu. Der Geldverleiher schöpfte Mut. „Aber wir brauchten Geld für die Behandlung von Leutnant Vincent“, fuhr ich fort. „Deshalb mussten wir all unsere Beute an Meister Jacob verkaufen.“

Judors Gesichtsausdruck veränderte sich. Im Bruchteil einer Sekunde wurde die Freude zu Traurigkeit.

„Zu schade“, murmelte er enttäuscht. „Was für eine Schande...“

Ich zuckte mit den Schultern und hob die Hände, wie um deutlich zu machen, dass ich ihm leider nicht helfen konnte.

Judor fegte die Papiere vom Schreibtisch und legte die Hand auf den Stapel der Schuldscheine von Max‘ Vater. Nebenbei bemerkt, hatte ich inzwischen den Verdacht, dass Ferdinand eine Menge Geld für die Vorbereitung seiner Rebellion ausgegeben hatte. Er musste für ein solch gefährliches Unterfangen ungeheuer viel riskiert haben. Die Götter allein wussten, wie viele weitere solcher Schuldscheine im Land zirkulierten.

„Chevalier Renard“, wandte Judor sich plötzlich an mich. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Selbstverständlich.“

„Warum sind Sie an den Schuldscheinen Ihres eigenen Vaters nicht interessiert?“

Als ob du das nicht genau wüsstest, du schleimiger Widerling!

„Mein Vater ist tot“, erwiderte ich. „Und das Baronat, das als Sicherheit für die Schuldscheine diente, wurde nach seiner gescheiterten Rebellion gewiss entweder an die Krone oder meinen Onkel übertragen. Wenn mein Vater auf natürliche Weise gestorben wäre, bestünde die Chance, den Betrag beizutreiben, der im Schuldschein genannt wird. Doch mein Vater ist keines natürlichen Todes gestorben — er wurde als Verräter hingerichtet.“

„Aber es gibt doch Gerichte, an die man sich wenden kann“, versuchte Judor erneut, mir die wertlosen Dokumente aufzuschwatzen.

Seltsam.

„Ich fürchte, ich würde mehr Geld für Bestechungen ausgeben müssen, als ich an der Transaktion verdienen kann. Ich habe nicht die geringste Absicht, mich in Bürokratie verwickeln zu lassen.“

Aus seinem schweren Seufzen schloss ich, dass Judor insofern mit mir vollständig einer Meinung war. Er stand bereits an der Tür und fasste nach dem Griff, als ich einen Versuchsballon startete.

„Für diese Papiere würde ich Ihnen nicht mehr als zehn Kronen zahlen.“

Judor erstarrte und drehte sich um.

„Das ist nicht genug“, protestierte er sofort. „100 wären ein hervorragender Preis.“

Anscheinend war ich auf der richtigen Spur — diese Schuldscheine waren so viel wert wie Pappmaché.

„Oh, bitte...“ Ich lächelte. „Wie sollten diese wertlosen Dokumente denn einen Preis von 100 Kronen rechtfertigen? Ich biete Ihnen zwölf. Das ist mein letztes Wort, und ich denke dabei lediglich an das Angedenken an meinen lieben Vater.“

Am Ende einigten wir uns nach einer kurzen Verhandlung auf 20 Kronen und ein weiteres Zusammentreffen in wenigen Tagen, um den Vertrag in Anwesenheit eines Anwalts zu unterzeichnen.

„Was wollen Sie denn mit diesen Papieren?“, fragte mich Bertrand, nachdem der Geldwechsler gegangen war.

„Das weiß ich noch nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und zog meine alten, abgetragenen Stiefel an. Ich hatte beschlossen, Judor in unauffälliger Kleidung zu folgen. Ich brauchte eine Bestätigung meiner Vermutung, was ihn betraf.

„20 Kronen sind eine Menge Geld!“, erinnerte mich Bertrand. „Und einlösen lassen sich die Schuldscheine Ihres Vaters höchstwahrscheinlich nicht.“

„Das weiß ich“, bestätigte ich und befestigte einen Dolch in einer einfachen Scheide an meinem Gürtel. „Aber das Geschäft ist abgeschlossen, also werden wir einfach abwarten müssen.“

Ich klopfte Bertrand wohlwollend auf den Rücken und verließ das Büro. Wenige Minuten später hatte ich den nichtsahnenden Geldwechsler im Händlerviertel eingeholt. Eine Stunde später hatte mein Verdacht sich bewahrheitet. Als ich vorsichtig um die Ecke eines Marktstandes mit Fischen lugte, konnte ich Éric Judor beobachten. Er stand in der Nähe des Standes eines Bäckers und unterhielt sich angeregt mit Herrn Gobert, dem Agenten der Geheimkanzlei.

Ich schnaubte. Pah! So leicht war man also nicht bereit aufzugeben. Damit hätte ich rechnen müssen.

* * *

„Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, über unsere Pläne zu sprechen“, bemerkte ich und betrachtete Théo Vincent und seine Frau Clémentine, die mir gegenübersaßen. „Länger können wir nicht mehr warten. Ich werde bald zur Hauptstadt aufbrechen müssen.“

Théos große Hand umklammerte den Griff seines Stocks mit einer solchen Kraft, dass seine Knöchel sich weiß färbten. Er räusperte sich mehrfach und sah seine Frau an.

Ich hatte meine Heilprozedur in der Woche zuvor abgeschlossen. Wenn er wollte, konnte Théo bereits wieder ohne Stock gehen, doch er hatte es nicht eilig, auf diese Unterstützung zu verzichten. Die Sache war die — in dem Stock war eine schwere Stahlstange verborgen. Vincent trug ihn immer bei sich, und ab und zu schwang er ihn wie einen Knüppel oder zeichnete damit die Figur einer Acht in die Luft, wie mit einem Kavallerieschwert. Während der ersten Tage hatte der Stock sich seinem Griff hartnäckig entzogen. Mittlerweile jedoch konnte Vincent ihn herumschwingen, als wäre es ein leichter Zweig.

Clémentine nickte mir zu, als Zeichen, dass sie mir zuhörte. Meine neue Haushälterin hatte während des letzten Monats rasch Ordnung in der Villa geschaffen. Die kleine, zierliche Frau hatte längst alle Mitglieder des Haushalts unter ihrer Fuchtel, noch ehe jemand etwas bemerkt hatte. Abgesehen von mir, und natürlich Bertrand. Mein Kammerdiener war ein paar Nummern zu groß für sie.

Zuerst hatten die beiden sogar ihre Auseinandersetzungen gehabt, doch die Feindseligkeit hatte sich rasch gelegt. Ich beobachtete die Entwicklung als Zuschauer, ohne einzugreifen. Und das war gut, denn die beiden einigten sich rasch darauf, wer hier das Sagen hatte. Clémentine erkannte Bertrands oberste Autorität an, und jetzt ertappte ich die zwei oft dabei, dass sie sich wie alte Freunde unterhielten.

Vor zwei Wochen hatten die Vincents und ich eine ernste Unterhaltung geführt. Unvermittelt hatte Théo Vincent mir mitgeteilt, dass er nicht vorhatte, erneut im Westlichen Fort zu dienen. Wie er mir erklärte, hatte er die Nase mehr als voll von dem Dienst für seinen König. Stattdessen bot er seine Dienste mir an. Zu behaupten, dieses Angebot hätte mich überrascht, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Obwohl ich es im Grunde hätte kommen sehen müssen.

Auch Tassen schockierte diese Nachricht. Er und Vincent stritten sich sogar heftig und sprachen anschließend mehrere Tage lang nicht miteinander. Am Ende allerdings versöhnten sie sich wieder. An diesem Tag stank Vincent meilenweit nach Alkohol. Am Ende wurde Baron von Brunon zum dritten Leutnant im Westlichen Fort ernannt. Was mir nur recht sein konnte.

Außerdem hatte Vincent fortwährend Arbeit für Jacques übernommen, die sich auf die Außengebäude bezog. Jacques behandelte seinen „Nachfolger“ verständnisvoll. Schließlich würde er mit seinem Herrn zur Hauptstadt reisen. Vincent hingegen würde in Toulon zurückbleiben.

„Also“, erklärte ich, „wie Sie wissen, kostet die Villa mich jeden Monat einen Haufen Geld.“

„Jawohl, mein Herr“, entgegnete Vincent und tauschte einen Blick mit seiner Frau.

„Einige der Ausgaben werden durch unsere Nebengeschäfte abgedeckt“, stellte meine Haushälterin klar. „Aber nicht alle.“

„Das stimmt“, bestätigte ich. „Diese Nebengeschäfte haben sich als sehr profitabel erwiesen. Deshalb habe ich mich entschlossen, sie auszubauen.“

„Und wie?“, wollte Clémentine wissen.

„Ich werde einen Bauernhof am Rand von Toulon kaufen. Wenn es sein muss, sogar mehrere. Mir ist bewusst, dass dies zunächst eine Investition verlangt. Mit der Zeit werden die Einnahmen jedoch die Ausgaben übersteigen, da bin ich mir sicher.“

„Seltsam“, bemerkte sie nachdenklich und gedehnt. „Die Preise verschiedener Waren sind in die Höhe geschossen. Wenn wir dies auf die richtige Weise angehen, sollte es funktionieren.“

„Ich werde Gunnar und Kevin mitnehmen“, erklärte ich. Ich konnte sehen, wie Clémentines Augen zufrieden leuchteten. Meine Haushälterin war ersichtlich voll für meine Expansionspläne zu haben. „Ihnen bleiben Jérémie, Claude und Luc. Wenn es notwendig wird, dürfen Sie gern weitere Helfer einstellen. Noch haben wir ein wenig Zeit. Ich kann ein paar Tage lang in der Gegend herumreiten und mich nach einem guten Ort umschauen. Davon abgesehen kann ich Ihnen helfen, die Tiere und das Geflügel auszusuchen.“

„Ja, mein Herr.“ Clémentine lächelte. „Ich bin mir sicher, Sie werden die beste Auswahl treffen.“

„Daran sollten Sie keine Zweifel haben.“ Ich erwiderte ihr Lächeln und wandte mich ihrem Mann zu.

„Und was Sie betrifft, Théodore — für Sie habe ich eine andere Aufgabe. Aber zuerst möchte ich Ihnen eine Frage stellen.“

„Sie haben meine volle Aufmerksamkeit, mein Herr“, erwiderte er.

„Erinnern Sie sich an unsere erste Unterhaltung? Wenn ich mich nicht irre, haben Sie Fragen zur örtlichen Schmuggleraktivität gestellt und wollten wissen, ob ich, wie Sie sich ausdrückten, ein Stück von diesem Kuchen abhaben wollte?“

„Ja.“ Vincent nickte. „Ich erinnere mich.“

„Wie denken Sie jetzt darüber?“

Die Frage traf ihn nicht unerwartet. Er sah mir direkt in die Augen und antwortete:

„Alles, was ich im Laufe des letzten Monats gesehen und gehört habe, bringt mich zu der Überzeugung, dass das Schicksal mich und meine Familie mit einem Mann zusammengebracht hat, der in Zukunft zu einem der reichsten und einflussreichsten Männer in Festland werden wird. Ich vermute, dass der Plan mit der Villa und den Bauernhöfen lediglich Tarnung für die wahren Pläne ist, die Sie für die Zukunft haben. Noch ist mir nicht klar, welche Pläne dies sind, aber Sie können sich vollständig auf mich verlassen.“

„Gut.“ Ich nickte ihm zu. „Ich glaube jedoch auch, mich erinnern zu können, dass Sie mir eine Warnung übermittelt haben. Ich möchte alle Missverständnisse zwischen uns vermeiden. Ich habe mit einer hoch riskanten Unternehmung begonnen. In Zukunft werden mir am Hinterkopf Augen wachsen müssen.“

Mein Tonfall beunruhigte weder Vincent noch seine Frau.

„Sie haben mir das Leben gerettet“, erwidert Vincent lediglich schlicht und ohne zu viel Drama. Der Mann, der mich ansah, war ein Krieger, der bereit war, für mich durch die Hölle zu gehen. „Sie haben mir und meiner Familie wieder Hoffnung gegeben.“

„Während des letzten Monats haben Sie mehr für uns getan als alle Herren zusammengenommen, denen mein Mann in seinem Leben je gedient hat“, ergänzte Clémentine mit fester Stimme. In ihren Augen stand Entschlossenheit, und sogar eine gewisse Wildheit. „Als die Tragödie unser Haus traf, hat keiner von denen auch nur einen Gedanken an uns verschwendet. Was zu einer logischen Frage führt — wenn Sie so viel Hilfe Menschen zukommen lassen, die Sie nicht einmal kennen, wie gut werden Sie dann zu denen sein, die Ihnen wirklich am Herzen liegen?“

„Im Mindestfall werde ich sie fabelhaft reich machen“, erklärte ich ruhig.

Ich stand vom Schreibtisch auf und ging zu einem Bücherregal. Sie beobachteten mich ebenso neugierig wie erstaunt. Ich holte die Beutel hervor, die ich im Schatten gefüllte hatte, und löste die Schnüre.

Ich beobachtete, wie Erstaunen sich in den blassen Gesichtern der Vincents abzeichnete. Ihre Augen hingen wie gebannt an den Rohlingen in verschiedenen Farben und Größen. Ich setzte mich wieder.

Seltsamerweise war es Clémentine, die zuerst die Fassung wiedergewann. Sie sah mich an. Ihre Stimme zitterte vor Furcht und Freude gleichzeitig, als sie mich fragte:

„Mein Herr... Woher haben Sie die? Aber das... das...“

„Das ist meine Beute aus dem Schatten“, antwortete ich gelassen. Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf das Bücherregal und ergänzte. „Ich habe auch noch Felle und verschiedene kleinere Gegenstände mitgebracht, wie Zähne und Klauen magischer Kreaturen. Und das ist erst der Anfang.“

Ich sah Vincent an. Der ehemalige Leutnant des Westlichen Forts, der in seinem Leben bisher wahrscheinlich noch nie so viele Rohlinge auf einmal gesehen hatte, wagte es nicht, auch nur einen einzigen Muskel zu rühren.

„Théo!“, sprach ich ihn an. Der Klang meiner Stimme ließ ihn erschauern. Er erwiderte meinen Blick. „Verstehen Sie jetzt, was ich im Sinn habe?“

„Ja, mein Herr“, stieß er mit trockener Kehle hervor.

„Werden Sie mir helfen?“

„Bis zum bitteren Ende“, versprach er, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

„Clémentine?“, wandte ich mich an seine Frau.

„Um die Wahrheit zu sagen, haben mein Mann und ich oft unser Leben für Nahrung riskieren müssen, die ich persönlich nicht einmal Schweinen geben würde“, erwiderte sie mit einem traurigen Lächeln. Mit fester Stimme wiederholte sie, was ihr Mann gesagt hatte:

„Ich werde Ihnen helfen, bis zum bitteren Ende.“

Kapitel 3

„DEN GÖTTERN SEI DANK — wir sind angekommen!“ Bertrand seufzte erleichtert.

Wir standen auf der Spitze eines Hügels und starrten mit weitaufgerissenen Augen auf die Hauptstadt von Vestonia, die sich unter uns ausbreitete. Uns am nächsten war das, was sich Alte Hauptstadt oder schlicht Altstadt nannte. Die Neue Hauptstadt, oder Neustadt, lag in der Ferne am linken Ufer des Flusses Legha, des längsten Flusses in Vestonia, der im Süden des Landes begann, bis er sich in der Bucht von Anteias in das Graue Meer ergoss.

Aus meinen Geschichtsbüchern hatte ich gelernt, dass die Aufspaltung der Hauptstadt sich im letzten Jahrhundert ereignet hatte. Die Stadt wurde jedoch niemals wirklich geteilt. Der Urgroßvater des jetzigen Königs, dessen Herrschaft mit einer Rebellion begann, die gemeinhin der „Aufstand des Blutprinzen“ genannt wurde, hatte stark unter Verfolgungswahn gelitten.

Nachdem er die Rebellen hingerichtet hatte, unter denen auch einige seiner eigenen Cousins und Onkel waren, befahl der König die Gründung einer neuen Stadt am gegenüberliegenden Ufer des Legha. Er begründete dies damit, dass Vestonia einen neuen Weg eingeschlagen hätte und deshalb auch eine neue Hauptstadt bräuchte.

Im Laufe von etwa acht Jahren erlebte die neue Stadt ein immenses Wachstum. Zum größten Teil waren es Villen und Paläste für die wohlhabende Elite, die dort entstanden. Und jetzt war dies der Ort, an dem mein „liebender“ Onkel auf mich wartete.

Ich hatte jedoch nicht vor, mich auf schnellstem Weg zu ihm zu begeben. Stattdessen wollte ich ein Zimmer in einem Hotel in Altstadt nehmen und mich ein paar Tage lang umsehen.

Lärm von der Straße unterbrach meine Betrachtung der Stadt. Dort war eine lange Prozession unterwegs. Sie bestand aus Dutzenden von Reitern in teurer, farbenfroher Kleidung, die eine reich verzierte Kutsche mit einem herzoglichen Wappen auf den Seiten begleiteten, einem rechteckigen Schild in Rot und Blau, gehalten von zwei Fabelwesen, Mantikoren. Eine sechszackige Krone schmückte den Schild.

„Macht Platz für Ihro Gnaden, den Herzog de Gondy!“, rief ein breitschultriger Reiter auf einer schwarzen Stute mit schallender Stimme. Die langen Federn seines dunkelblauen Baretts aus Brokat mit silberner und goldener Stickerei zeigten fesch in verschiedene Richtungen.

Reiter und Kutsche rasten die Straße entlang, ohne zu verlangsamen, und beachteten die anderen Reisenden nicht. Die Leute beeilten sich, der Karawane aus dem Weg zu gehen, und schoben ihre bescheidenen Karren, Wagen und Schubkarren beiseite.

Als die Kutsche die unsere erreichte, die am Straßenrand geparkt stand, kam sie kreischend zum Stillstand. Die Reiter in der ersten Reihe setzten zornig ihre Peitschen ein und fluchten laut, um einen Stau der Karren von Bauern ebenso wie von Stadtbewohnern aufzulösen.

In diesem Augenblick hob sich der dunkelrote Samtvorhang am Kutschenfenster und ich erblickte das schöne Gesicht einer Frau. Der verächtliche Blick ihrer großen haselnussbraunen, nahezu schwarzen Augen traf alles in ihrer Umgebung. Ihr desinteressierter Blick glitt über die Bauern in ihrer farblosen Kleidung, die Wagen und Karren voller Säcke und die Tiere in Käfigen, alle auf dem Weg zu den Ständen des Marktes der Hauptstadt.

Anschließend betrachtete sie gleichgültig die Jäger und Holzfäller, die mit ihrer Beute zurückkehrten, und endlich landeten ihre Augen auf mir. Meine billige Kleidung und mein schäbiges Reittier weckten ihren Abscheu. Einen Augenblick lang sahen wir einander an.

Als Edelmann war es mir gestattet, im Sattel zu verharren. Alle anderen mussten absteigen, den Hut abnehmen und sich tief verbeugen. Allerdings verbeugte ich mich ebenfalls respektvoll, so wie Bernard es mich gelehrt hatte.

Der schmale Mund der Frau verzog sich zu einem trockenen Lächeln. Sie betrachtete mich, als wäre ich ein armer Bettler. Was ich ihr kaum vorwerfen konnte. Im Vergleich zu den Reitern neben ihrer Kutsche, von Kopf bis Fuß in neuester Hauptstadtmode, wirkte ich tatsächlich wie ein Straßenbengel.

Kurz darauf fiel der Vorhang wieder herab und das Gesicht verschwand.

Als die Prozession an uns vorbeizog, warf ich Jacques einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern.

„De Gondy“, sagte er, als ob das alles erklären würde.

„Du meinst die de Gondys?“, vergewisserte ich mich.

„Ja“, bestätigte er. „Die Herzoge des Südens, die Herrscher von Aquitaine. Wahrscheinlich ist sie die Tochter oder vielleicht auch Nichte des Herzogs.“

Ich schnaubte. Offensichtlich trafen wir gleichzeitig mit einigen der einflussreichsten Leute in ganz Vestonia, wenn nicht sogar Festland in der Hauptstadt ein. De Gondy regierte die südlichen Provinzen, die im Grunde das gesamte Land mit Nahrung versorgten. Man nannte ihn oft sogar den König von Aquitaine.

Das an diesem Ort laut zu wiederholen, konnte allerdings ohne weiteres dazu führen, dass man einen Kopf kürzer gemacht wurde. Und zwar durch de Gondy selbst. Oder vielmehr durch einen seiner Männer. Dafür sorgten gewisse Präzedenzfälle. Die Lage war umso gefährlicher, als der König von Vestonia so eifersüchtig darüber wachte, dass keinerlei verdächtige Gerüchte aufkamen, nachdem er den letzten Aufstand niedergeschlagen und die Rebellen hingerichtet hatte.

„Ich habe keine Armbänder an den Reitern von Ihro Gnaden gesehen“, meldete sich Kevin vom hinteren Teil der Kutsche zu Wort.

„Das liegt daran, dass sie keine getragen haben“, erklärte ich.

„Der Herzog de Gondy hat sich also bislang noch nicht für eine Seite entschieden?“ Kevins Frage war mehr oder weniger rhetorisch.

Ich zuckte nur mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

„Offensichtlich nicht.“

Während der letzten Stunden unserer Reise die königliche Straße entlang waren wir von den Gruppen von Edelleuten scharf beäugt worden, die uns überholten. Nahezu alle von ihnen trugen schmale, dünne Armbänder in verschiedenen Farben. Manche waren grün, andere blau und wieder andere leuchteten rot.

Bertrand, den ich losgeschickt hatte, um Informationen zu sammeln, hatte rasch herausgefunden, was das bedeutete. Die Farben standen offensichtlich für die verschiedenen Prinzen. Carl III., der Siegreiche, hatte bisher noch keinen davon zum Kronprinzen von Vestonia erklärt. Mit anderen Worten, der König zögerte, einen Erben festzulegen.

Es gingen diverse Gerüchte über die Gründe dieses Zögerns um, und eine Theorie war verrückter als die andere. Auf die eine oder andere Weise gab der König seinen Untertanen die Gelegenheit, ihre eigene Vorliebe bekanntzugeben. Ich vermutete, dass es genau das war, was Carl III. hatte erreichen wollen. Aber wer konnte schon sicher sein, was im Kopf eines Monarchen vor sich ging?

König Carl III. war jedenfalls eindeutig kein Dummkopf, und noch weniger ein Schwächling. Wahrscheinlich kannte er seine eigenen Kinder nur zu gut und wusste vor allem, mit wem sie verkehrten.

In diesem Zusammenhang sollte ich eines erwähnen. Carl III., der in seiner Jugend Ruhm auf dem Schlachtfeld erworben und jeglichen Widerstand brutal unterdrückt hatte, konzentrierte bewusst die gesamte Macht von Vestonia in seiner Hand. Und in meinen Augen auch sehr erfolgreich. Vor allem angesichts der Tatsache, dass sein Papa, ein Liebhaber von guten Weinen, wilden Jagden und eleganten Bällen, ihm ein Reich hinterlassen hatte, das im Wesentlichen in drei Teile aufgespalten war.

Als Kronprinz erstickte Carl die Feuer des Krieges in den westlichen Baronaten, besiegte die Barbaren, die in die nördlichen Provinzen einmarschiert waren, und kam mit den Priestern des Altvorderen zu einer Einigung. Als König hatte er erst vor kurzem die Rebellion unterdrückt, in der Max‘ Vater eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Nebenbei bemerkt hatte ich mich inzwischen mit der Chronologie dieser Rebellion befasst und Parallelen aufgedeckt. Im Wesentlichen war ich zu dem Schluss gekommen, dass Carl III. diesen Aufstand im Grunde selbst provoziert hatte. Er musste bereits lange Zeit über die Verschwörung Bescheid gewusst haben und hatte seine Gegner dazu gebracht zu handeln. Wenn nicht der König selbst in die Sache verwickelt gewesen wäre, hätten die Edelleute sich gewiss nicht so schnell in Bewegung gesetzt. Stattdessen hätten sie weiter ihre Pläne geschmiedet, sich in ihren Burgen auf die kommenden Ereignisse vorbereitet, viel und lange diskutiert und sich über die beste Zukunft für Vestonia gestritten.

Wie dies nur logisch war, bereitete Carl III. der Rebellion ein rasches Ende, beschlagnahmte das Vermögen der Verschwörer und füllte seine Staatskasse so mit den Mitteln, die er für den bevorstehenden Krieg dringend benötigte. Anders als Alfonso V., der König von Atalia, der bis zum Hals in Schulden steckte, stand Carl III. gut da.

Aus den Informationen, die Kater mir zukommen ließ, hatte ich auch geschlossen, dass die Dinge in Atalia nicht allzu gut liefen, um es einmal milde auszudrücken. Alfonso V., gemeinhin bekannt als der Fromme, stand finanziell unter der Fuchtel des priesterlichen Ordens des Scharlachroten Schildes. Dessen Ritter hatten sämtlich einen feierlichen Eid geschworen, alle wahrhaft Begabten in Festland auszurotten. In Wirklichkeit wurde das Land vom Großmagister des ritterlichen Ordens regiert. Das war übrigens einer der Gründe, warum ich es nicht eilig hatte, Atalia aufzusuchen. Ich hatte nicht die Absicht, mein Leben auf dem Scheiterhaufen zu beenden. Oder was auch immer diese Leute mit den wahrhaft Begabten vorhatten.

Auch Carl III. war der Orden ein Dorn im Auge. Das Problem war, dass viele der Scharlachroten Ritter, wie man sie gemeinhin nannte, selbst Begabte waren, und zwar hauptsächlich Kampfmagier. Wie mächtig die als Stürmer waren, hatte ich gerade selbst erlebt.

Aber das war noch nicht alles. Alfonso V. hatte gefälschte Münzen in Umlauf gebracht, um seine Staatskasse zu füllen. Jeden Monat wurden seine goldenen Reals und silbernen Escudos leichter. Summierte man das mit hohen Steuern, Bauernaufständen, Pest und Hungersnöten in den nördlichen Provinzen... Der Herrscher von Atalia musste sich verzweifelt eine Verbesserung seiner pekuniären Lage wünschen, und eben die hoffte er auf dem Rücken der „Puffer“-Herzogtümer und -Baronate und wenn möglich auch Vestonias zu erreichen.

Wir betraten die Stadt ohne Probleme. Zwar mussten wir am Tor etwas warten, aber nicht allzu lange.

Mir gefiel das alte Herouxville auf Anhieb. Es war nahezu vollständig so, wie ich es mir vorgestellt hatte — ein Gigant aus Stein, die Heimat vieler uralter Geheimnisse und Legenden.

In den Straßen herrschte Gedränge. Das Handelsviertel der Altstadt, durch das Bertrand uns zielsicher führte, erinnerte mich mit seinen konstanten Strömen aus Menschen an einen rauschenden Fluss. Die dichtgepackten Marktstände, die langsam schlendernden Hausierer, die Kaufinteressenten, die es nicht eilig hatten, und die ausländischen Gaffer, die hin und wieder in engen Durchgängen abrupt stehenblieben, um all das Durcheinander zu bestaunen — auf einmal kam mir der Markt in Sardent weit weniger großartig vor. Aus allen Richtungen hörte ich Kreischen, Gelächter, das Wiehern von Pferden und das Blöken von Schafen. Die Luft war gesättigt mit köstlichen Gerüchen von warmen Gerichten, kochendem Öl, Gewürzen, Fleisch und Fisch.

Jede Gasse hatte sich auf etwas Bestimmtes spezialisiert. In der Gasse der Schmiede war das typische Hämmern zu hören, in der der Schneider flatterten farbenfrohe Stoffe. Eine Gasse weiter entdeckte ich Schnüre mit aufgereihten Würsten und Stücken Räucherfleisch. Sattler, Stiefelmacher, Schreiner und Töpfer; Kneipen und Gasthäuser, Apotheken und Friseurläden — es schien hier alles zu geben, das man sich nur wünschen konnte.

Unter der Führung von Bertrand fanden wir rasch den Weg zu einem preisgünstigen und annehmbar ausgestatten Gasthaus in Altstadt, wo ich für die Dauer von einer Woche eine Reihe von Zimmern anmietete. So viel Zeit hatte ich eingeplant, um Herouxville kennenzulernen, bevor ich meinem lieben Onkel Heinrich einen Besuch abstattete.

Jacques, Gunnar und Kevin blieben zurück, um auszupacken. Ich hingegen brach zu den berühmten Bädern von Herouxville auf und ließ mir anschließend von Bertrand einen weiteren Ort zeigen.

* * *

„Das ist also das Haus, in dem ich aufgewachsen bin“, bemerkte ich und betrachtete eingehend die Villa, die Ferdinand de Gramont seinem unehelichen Sohn eingerichtet hatte.

Das alte Haus von Max lag in einem Elite-Viertel der Hauptstadt und war zweifellos eines der ältesten Gebäude der Stadt.

---ENDE DER LESEPROBE---