Die Grenze (Das letzte Leben Buch 2): Progression Fantasy Serie - Alexey Osadchuk - E-Book

Die Grenze (Das letzte Leben Buch 2): Progression Fantasy Serie E-Book

Alexey Osadchuk

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Beschreibung

Niemand weiß sicher, wie der Schatten entstanden ist. Die Geistlichen behaupten, dass es ein Fluch der Götter sei, mit dem diese die Welt belegten. Die Philosophen hingegen bestehen darauf, dass der Schatten von Strix nichts anderes ist als ein Segen, und ein Meilenstein in der Entwicklung der Menschheit. Einig sind die beiden Seiten sich nur darin, dass er eines Tages diese Welt verschlingen und so sehr verändern wird, dass man sie nicht mehr wiedererkennt. Es gibt allerdings auch noch eine dritte Gruppe, mit einer abweichenden Meinung: die Magier. Sie betrachten die gesamte Debatte als leeres Geschwätz. Sie akzeptieren den Schatten als das, was er ist, mit all seinen Schrecken und Wundern. Darüber hinaus haben im Laufe der letzten Jahrhunderte viele Magier ihr Leben in dem Versuch riskiert, die Macht des Schattens zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Es überrascht kaum, dass nur wenige Auserwählte mehr über die Magie des Schattens wissen. Das wird auch Max Renard bald klar. Deshalb begibt er sich freiwillig auf einen neuen, weit gefährlicheren Pfad. Um aus erster Hand mehr über die Macht des Schattens zu erfahren, bricht er zur Grenze auf.

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Seitenzahl: 451

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zwischenspiel 1

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Zwischenspiel 2

Kapitel 24

Kapitel 25

Zwischenspiel 3

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Über den Autor

Alexey Osadchuk

Die Grenze

Das letzte Leben

Buch 2

Magic Dome Books

Die Grenze

Das letzte Leben Buch 2

Originaltitel: The Frontier (Last Life Book #2)

Copyright © Alexey Osadchuk, 2023

Covergestaltung © Valeria Osadchuk, 2023

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Irena Böttcher, 2023

Lektorin: Youndercover Autorenservice

Erschienen 2023 bei Magic Dome Books

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00

Praha 9 Czech Republic IC: 28203127

Alle Rechte vorbehalten

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Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder Vorkommnissen wäre zufällig.

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Kapitel 1

ES WAR DER FRÜHE MORGEN des Tages nach meinem kontroversen Duell gegen Lamar und der Abreise meiner „lieben“ Verwandten. Ich hatte gerade mein Frühstück beendet, als Madame Weber in den Anbau gestürmt kam wie ein Wirbelwind aus Schnee. Sie fegte alles in ihrem Weg beiseite.

Wie sich herausstellte, hatte Leon Webers Ehefrau sich am Tag zuvor mit einer Reihe von Aktivitäten rund um meine bevorstehende Abreise befasst, während ich mit dem Lösen meiner Probleme beschäftigt gewesen war.

Schon am Morgen war sie im Hauptbüro des Handelshauses ihres Mannes aufgetaucht, um alle Planwagen für eine letzte Inspektion vorzubereiten. Untätig herumstehende Angestellte schickte sie los, um Pferdefutter, Lebensmittel und anderes Reisezubehör zu besorgen. Anschließend hatte sie Kuriere mit Bündeln von Banknoten an all meine Gläubiger ausgesandt.

Um es zusammenzufassen — im Hauptbüro von Weber und Söhne hatte man den gesamten vorigen Tag damit verbracht, sich auf meine Abreise vorzubereiten. Es machte den Eindruck, als wäre Madame Weber weit mehr an meiner sicheren Ankunft an der Grenze interessiert als ich selbst.

Allerdings überraschte ihr Eifer mich nicht. Schließlich war sie eine liebende Mutter, die nun vom Schimmer der Hoffnung erfasst worden war, das Leben ihres Sohnes Ruben retten zu können. Es war nur noch ein letzter Schritt zu vollziehen: Der Chevalier Renard — also meine Wenigkeit — musste so schnell wie möglich gesund und munter im Westlichen Fort eintreffen und dort eine Kopie unseres Vertrages, den die Kanzlei in Abbeville beglaubigt hatte, dem Hauptmann Louis de Rohan vorlegen.

Meine Eintragung in das Register der Schattenpatrouille befreite den jungen Ruben von allen Pflichten. Nun, im Grunde war er bereits frei davon, jedoch nur, solange ich am Leben war. Mit anderen Worten: Falls mich jetzt jemand in einer dunklen Gasse von Abbeville ins Jenseits beförderte, oder auf dem Weg zum Westlichen Fort, mussten die Webers mit ihrer Suche nach einem Ersatzmann von vorn beginnen. Das erklärte Madame Weber mir sehr offen, während sie mich ermahnte, rasch zu packen und mich auf die Reise zu begeben. Ich hätte meine Hand darauf verwettet, dass sie mich persönlich bis zum Mittag aus der Stadt gebracht hätte, wenn es nach ihr gegangen wäre.

Ich musste ihre Begeisterung jedoch ein wenig dämpfen und erklärte ihr, dass ich noch mindestens eine Woche brauchen würde, bevor ich Abbeville verlassen konnte. Zum einen, weil ich meine Reise in allen Einzelheiten gründlich planen musste, und zum anderen, weil in einer Woche eine Karawane mit mehreren Dutzend Rekruten aufbrach. Ich hatte vor, mich ihnen anzuschließen, denn es war immer sicherer, in einer bewaffneten Gruppe unterwegs zu sein als allein. Ich beendete meine kleine Ansprache jedoch mit der Erklärung, dass ich selbst begierig wäre, so schnell wie möglich aufzubrechen, da die Frühjahrsgewitter unmittelbar bevorstanden, die jede Straße in einen unpassierbaren Sumpf verwandeln würden.

Madame Weber seufzte schwer, aber sie hatte keine andere Wahl, als mir zuzustimmen. Anschließend stellte sie mir ihren Begleiter vor, einen Herrn Dormael. Er war, wie sie behauptete, einer der besten Angestellten des Handelshauses, und stand mir, wie sie hinzufügte, bis zum Abschluss meiner Vorbereitungen zur Verfügung. Davon abgesehen lieh sie mir eine bequeme Kutsche für meine Besorgungen in der Stadt. Anschließend hielt Madame Weber ihre Mission für erfüllt und kehrte nach Hause zurück.

Der Büroangestellte hingegen, ein kleiner Mann von um die 50 mit beginnender Glatze, klugen, grauen Augen und einem ordentlich getrimmten, keilförmig zulaufenden Bart, blieb zurück. Ernsthaft, ohne auch nur den Anflug eines Lächelns, und schweigsam stand er im Türrahmen und wartete geduldig.

„Herr Dormael“, sprach ich ihn schließlich an und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch, „haben Sie bereits gefrühstückt?“

„Ich danke Ihnen für Ihr Angebot“, erwiderte er mit einem knappen Nicken. „Aber ich habe bereits gegessen und bin bereit, meine Pflichten zu erfüllen.“

„Gut.“ Ich stand auf. „Was die Kutsche angeht...“

„Sie steht vor dem Haupteingang des Gästehauses“, antwortete er, bevor ich meine Frage stellen konnte. „Wie Madame Weber es gesagt hat, können Sie sie jederzeit für alle Wege benutzen.“

„Hervorragend.“ Ich lächelte. „Und was Ihre Pflichten betrifft... Hat man Ihnen bereits erklärt, wie alles ablaufen wird?“

„Oh ja. Sie bestimmen, was zu tun ist, und ich kümmere mich darum, dass es erledigt wird.“

„Prima“, bemerkte ich. „Warten Sie in der Kutsche auf mich.“

„Jawohl, mein Herr.“ Dormael verbeugte sich und verließ den Anbau.

„Was für eine seelenlose Marionette!“, schnaubte Bertrand und sprach damit aus, was ich dachte.

„Es spielt keine Rolle.“ Ich winkte ab und zog meinen geliebten Mantel an. „Wichtig ist nur, dass er uns bei nichts in die Quere kommt und alles tut, was ich ihm sage.“

Ich wollte dem Angestellten der Webers bereits folgen, doch dann fiel mir etwas ein, und ich blieb in der Tür stehen.

„Alter Knabe“, sagte ich zu Bertrand, der bereits aufstehen wollte. „Da ist etwas, das ich dich fragen wollte...“

„Ja, mein Herr?“

„Ist deiner Meinung nach irgendetwas, das ich zum Pfandleiher gebracht habe, es wert, dass ich es zurückkaufe?“

Der alte Mann dachte einen Augenblick nach, dann erklärte er zuversichtlich: „Nichts außer dem alten Medaillon, das Ihr verstorbener Großvater Ihnen gegeben hat. Sie haben es bei Baptiste Harcourt verpfändet. Sonst war da nichts, glaube ich, aber das war das einzige Familienerbstück, das Sie bei sich hatten.“

Ich nickte. „Okay. Dann werde ich wohl mit der Pfandleihe beginnen, schätze ich.“

Bevor ich den Anbau verließ, warnte ich den alten Mann: „Erinnerst du dich an unsere Vereinbarung? Du musst heute tüchtig essen und wieder zu Kräften kommen. Du darfst dich auf keinen Fall überarbeiten. Nur so kann ich deinen Zustand wirklich heilen.“

Bertrand nickte schicksalsergeben. Beim Hinausgehen hörte ich ihn leise knurren, wie ungehörig es wäre, dass ich meine Aufmerksamkeit auf einen so geringen Diener verschwendete. Der alte Kerl hatte keine Ahnung, wie sehr er sich irrte!

* * *

Der Laden, in dem Max normalerweise seine Wertsachen verpfändet hatte, um sich das Geld für die Geschenke zu beschaffen, die die Schmucksammlung seiner Herzdame bereicherten, lag im Stadtzentrum von Abbeville. Er war nur zwei Schritte vom Rathaus entfernt, in dem sich der Stadtrat versammelte. Es war ein guter Standort, und von außen wirkte das edle Gebäude wie ein Luxusgeschäft. Es hätte mich nicht überrascht zu erfahren, dass der Inhaber dieses Etablissements mit den Ratsherren eine geheime Absprache getroffen hatte.

Diese Vermutung stellte sich als korrekt heraus. Als ich sie dem schweigsamen Dormael unterbreitete, berichtete er in roboterhafter Stimme, dass der Eigentümer der Pfandleihe, Baptiste Harcourt, ein entfernter Verwandter des zweiteinflussreichsten Ratsherrn der Stadt war.

„Eine Menagerie verlassener Kostbarkeiten“, murmelte ich und betrachtete neugierig das Innere des Ladens.

Die Regale, Gestelle und Theken waren vollgestopft mit Objekten aller Art. Dieser Kerl besaß alles! Kleidung jeder Mode, Geschirr und Haushaltsgeräte, Figuren in unterschiedlicher Größe, Gehstöcke, Schmuck... Alle Gegenstände verbreiteten eine Aura einzigartiger Geschichte, wie einen Abdruck der Seele des nachlässigen ehemaligen Eigentümers. Nur für alle Fälle überprüfte ich alles, entdeckte jedoch keinerlei magische Objekte.

Anschließend marschierte ich zur hintersten Theke, an der ein spindeldürrer Junge lehnte und uns mit einem Lächeln beobachtete. Aus dem Ausdruck in seinen Augen schloss ich, dass er genau wusste, wer ich war. Kein Wunder — Max war hier regelmäßig Kunde gewesen.

Er war eindeutig nicht der Ladenbesitzer, sondern wahrscheinlich ein Sohn oder Neffe. Oder vielleicht sogar ein Enkel.

„Chevalier Renard!“, begrüßte der Junge mich mit klangvoller Stimme und verbeugte sich, als wir vor ihm standen. „Wie schön, Sie hier zu sehen! Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen zu Ihrem Sieg im gestrigen Duell gratulieren!“

„Danke, mein lieber... ähm...“

„Jaco“, erinnerte der Junge mich grinsend.

„Natürlich... Jaco...“

„Sind Sie gekommen, um die Beute aus dem Kampf von gestern zu verpfänden?“, packte Jaco den Stier bei den Hörnern.

Innerlich musste ich lachen. Baptiste Harcourt zog sich einen würdigen Nachfolger heran.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil — ich möchte etwas auslösen, das mir gehört. Genauer gesagt ein Medaillon. Es ist völlig belanglos, aber mir bedeutet es sehr viel, als Erinnerung an meinen Vater.“

Kaum hatte ich das Medaillon erwähnt, geschah etwas Merkwürdiges. Jacos strahlendes Lächeln verwandelte sich in einen Ausdruck großen Ernstes.

Er murmelte ungeschickt eine Entschuldigung und verschwand durch eine kleine, kaum sichtbare Tür hinter ihm. Dormael reagierte auf den merkwürdigen Wandel im Auftreten des Jungen übrigens nicht. War er womöglich tatsächlich eine Art Automat?

Ein paar Minuten später tauchte eine Kopie von Jaco wieder auf, nur kahlköpfig und etwa 30 Jahre älter. Das musste Baptiste Harcourt persönlich sein.

„Herr Renard!“, begrüßte er mich mit leicht zitternder Stimme. „Ich freue mich unermesslich, Sie wiederzusehen! Bitte vergeben Sie meinem jungen Sohn sein Verhalten. Er muss die Feinheiten des Familiengeschäfts erst noch lernen... Oh, Herr Dormael!“

„Herr Harcourt“, erwiderte mein Begleiter die Begrüßung mit ausdrucksloser Stimme.

Der Eigentümer der Pfandleihe war sichtlich außer Fassung. Seine Augen wanderten in alle Richtungen, seine Arme zitterten merklich... Ich fragte mich, was ihn wohl so erschreckt hatte.

„Also, Herr Harcourt“, ging ich zum Angriff über, „Ihr Sohn hat Ihnen den Zweck meines Besuchs sicher bereits mitgeteilt. Ich hoffe, dass Sie immer noch im Besitz des Medaillons meines Vaters sind?“

Ich spürte genau, dass er am liebsten gelogen und behauptet hätte, das Medaillon wäre bereits verkauft worden, doch er riss sich zusammen.

„Ja, Chevalier.“ Er nickte. „Es befindet sich noch immer in meinem Besitz.“

„Dann bringen Sie es mir bitte, in aller Eile! Ich möchte es auslösen.“

„Die Sache ist nur die...“, erklärte er in einem entschuldigenden Tonfall, „Sie müssen verstehen, dass die ursprüngliche Frist für eine solche Wiedereinlösung, wie angegeben in den Originalunterlagen, bereits abgelaufen ist. Und...“

„Und?“, drängte ich, obwohl ich längst ahnte, worauf er hinauswollte. „Sie haben das Medaillon — und ich bin hier. Was ist also das Problem? Sie bekommen ihr Geld zurück, plus die Provision, die ich Ihnen schulde — und ich bekomme etwas zurück, das für mich einen hohen gefühlsmäßigen Wert besitzt.“

„Hm...“ Trotz des Drucks, den ich ausübte, fasste Harcourt sich langsam wieder. „Es ist nur so... In diesem speziellen Fall gibt es besondere Schwierigkeiten...“

„Wie zum Beispiel?“

„Gemäß der aktuellen Gesetze in unserem Königreich können Sie sich nicht länger auf das Eigentum an einer verpfändeten Sache berufen, wenn Sie den Betrag nicht innerhalb der festgesetzten Frist zurückzahlen. Mit anderen Worten — das Medaillon gehört jetzt mir.“

Harcourt überreichte mir ein Dokument mit der Unterschrift von Max. 20 Kronen hatte er für das Medaillon bekommen. Und nebenbei bemerkt hatte dieses Wiesel ihn oder vielmehr mich mit einer regelrecht kriminellen Provision von 30 Prozent gleich doppelt an der Nase herumgeführt.

„Also gut“, sagte ich, während ich das Dokument eingehend studierte. „In Anbetracht dessen, was Sie mir gerade auseinandergesetzt haben... Können Sie mir ein Angebot machen? Möchten Sie mir mein eigenes Medaillon zu einem überhöhten Preis zurückverkaufen?“

Harcourt seufzte, blickte mit verengten Augen Dormael an und erklärte: „Das ist es ja... Das möchte ich nicht. Oder vielmehr, das kann ich nicht...“

„Was soll das denn heißen?“ Ich runzelte die Stirn.

„Es gibt bereits einen Käufer für das Medaillon, und er wird es in einer Woche abholen.“

In meinem früheren Leben hatte ich oft Geschäfte mit Leuten wie ihm gemacht. Für einen Kerl dieser Sorte hatte ich sogar gearbeitet. Der später versuchte, mich um mein Honorar zu prellen. Ha! Wie naiv...

Ich bemühte mich, den Eindruck eines Mannes zu erwecken, der seinen Zorn nur mühsam zurückhalten konnte. Doch bevor ich weiter Druck auf Harcourt ausüben konnte, meldete sich Dormael zu Wort.

„Herr Renard“, sprach er mich mit seiner farblosen Stimme an. „Ich betrachte es als meine Pflicht, Sie auf eine Anordnung des Grafen de Brionne aufmerksam zu machen, des Gebieters über diese Region. Vor mehreren Jahren war der Viscount de Avesnes, der Sohn von einem der engsten Freunde des Grafen, in der gleichen Situation wie Sie jetzt. Dabei ging es ebenfalls um ein Familienerbstück, ein Armband, das er in einem Laden verpfändet hatte. Die Frist zur Wiederauslösung war abgelaufen. Der Eigentümer der Pfandleihe hatte nicht länger warten wollen und den Schmuck an einen anderen Kunden verkauft. Technisch betrachtet war er im Recht. Doch wie Sie sicher verstehen können, waren weder der Viscount de Avesnes noch sein Vater sehr glücklich darüber. Das Verhalten des Pfandleihers weckte den Zorn des Grafen de Brionne. Am Ende wurde er aus dem Gebiet verbannt, zusammen mit seiner Familie, und der Gebieter über die Region erließ eine Verfügung. Sie gilt ausschließlich für diese Grafschaft und verlängert die Frist zur Auslösung eines verpfändeten Gegenstands um sechs Monate.“

Je länger Dormael mit trockener Stimme dozierte, desto grimmiger wurde das Gesicht des Ladenbesitzers.

„Ich danke Ihnen, Herr Dormael.“ Ich schenkte dem Kerl ein Lächeln, das er lediglich mit einem kurzen Nicken quittierte. „Nun, was sagen Sie jetzt, mein geschätzter Herr Harcourt?“

Erneut seufzte der Mann. Er bemühte sich um einen freundlichen Ton und erwiderte: „In der Tat... Diese Anordnung muss ich völlig vergessen haben... Ich danke Ihnen, dass Sie mich daran erinnert haben, meine Herren. Um ehrlich zu sein, freut mich diese Entwicklung der Dinge sehr. Ich wäre überglücklich, ein Familienerbstück seinem rechtmäßigen Besitzer wiederzugeben. Wie wäre es, wenn ich es Ihnen zu dem gleichen Preis verkaufe, den der andere Herr mir geboten hat? Es waren 1.000 Silberkronen.“

Was für eine Ratte! Und was für ein selbstzufriedenes Grinsen seine hässliche Visage zeigte!

„Ich sehe, dass Sie überrascht sind, meine Herren“, fuhr Harcourt fort, als wäre nichts gewesen. „Aber ich muss darauf hinweisen, dass das Gesetz auf meiner Seite ist. Es stimmt, die Frist wurde verlängert. Aber nun bin ich berechtigt, den Preis für die Auslösung zu bestimmen.“

Sein Tonfall war kalt. Die Maske der freundlichen Güte war gefallen, und er zeigte sein wahres Gesicht. Selbst der resolute Dormael hatte außer einem Schnauben nichts beizutragen.

Was zum Teufel war hier los? Weshalb dieser Aufstand um ein kleines Medaillon? Ein simpler Besuch in der Pfandleihe hatte mich auf ein weiteres der vielen Geheimnisse von Max‘ Familie gestoßen. Nun gut... Du hast es so gewollt, du Ratte!

„1.000 Kronen?“, wiederholte ich ruhig.

„Auf den Obolus genau“, antwortete Harcourt barsch.

Dormael wollte etwas sagen, doch ich gebot ihm zu schweigen.

„Ich habe verstanden, Herr Harcourt“, bestätigte ich. „Ich muss darüber nachdenken.“

„Wie Sie möchten, Chevalier. Aber denken Sie daran — die Zeit läuft.“

„Selbstverständlich“, bemerkte ich, mein Gesichtsausdruck weiter undurchdringlich. „Gehen wir, Herr Dormael.“

Wir drehten uns um und marschierten zum Ausgang. Nebenbei bemerkt: Während unseres Aufenthalts hier hatte niemand die Pfandleihe betreten. Was mir nur recht war.

Ich öffnete die Tür, ließ Dormael vorgehen und erklärte: „Warten Sie in der Kutsche auf mich. Ich habe mich gerade an ein anderes wertvolles Stück erinnert, das ich auslösen möchte.“

Dormael nickte ungerührt. Ich sah mich kurz auf der Straße um, dann schloss ich die Tür wieder und verriegelte sie mit allen drei Riegeln. Jetzt konnten wir uns richtig unterhalten...

Mein Verhalten ließ Harcourt die Stirn runzeln. Er wich zurück zur kleinen Tür hinter ihm und rief fordernd: „Chevalier! Was tun Sie da?“

Er wollte mich durch seine Unerschütterlichkeit beeindrucken, doch das misslang ihm kläglich. Beim letzten Wort zeigte seine Stimme ein verräterisches Zittern.

In wenigen Sekunden hatte ich die Theke erreicht, aber ich war dennoch zu langsam. Harcourt war flink. Als ich über die Theke sprang, hatte er die Tür zum hinteren Raum bereits geschlossen.

In mir erwachte das Jagdfieber. Oh nein, du Ratte — so leicht wirst du dem Fuchs nicht entkommen!

Ich hörte Harcourt am Schloss herumfummeln. Das nutzte ich aus.

Ein Tritt, den ich mit ein wenig Energie verstärkte, ließ die Tür auffliegen. Harcourt hatte Glück — sie traf ihn lediglich an der Schulter.

Er stürzte zu Boden und fluchte. Rasch schaute ich mich um. Es war ein kleiner, fensterloser Raum. In der Mitte stand ein Tisch voller Dokumente, in Regalen an den Wänden lagen Gegenstände. An der gegenüberliegenden Wand sah ich ein kleines Sofa und einen Sessel, und dahinter entdeckte ich eine weitere Tür. Ich bewegte den Griff — sie war verschlossen.

Hinter dem Sofa hörte ich ein Rascheln und ein klagendes Schluchzen. Ich warf einen Blick dahinter und grinste. Harcourts Sohn saß eng an die Wand gedrückt, sah ängstlich zu mir auf und hatte die Arme um die Knie geschlungen. In seinen Augen standen Tränen.

„Keine Angst, Jaco“, beruhigte ich ihn. „Ich muss mich nur kurz mit deinem Vater unterhalten, dann werde ich wieder verschwinden.“

„Dafür werden Sie bezahlen, Renard!“, stieß Harcourt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte aufzustehen. „Ich werde Sie verklagen! Den Rest Ihres Lebens werden Sie als Arbeiter in den Minen verbringen!“

Ich ging zum Pfandleiher, hob ihn am Kragen hoch und stieß ihn auf den Sessel.

Baptiste Harcourt heulte vor Schmerz und hielt sich mit der rechten Hand die linke Schulter. Ich betrachtete ihn mit der wahren Sicht.

„Hören Sie auf zu jammern!“, herrschte ich ihn an. „Es ist nur ein Kratzer. Sie werden bald wieder in Ordnung sein.“

„Sie sind erledigt, Renard!“, zischte Harcourt. „Mein Onkel, der zweite Ratsherr, ist mit dem obersten Richter von Abbeville befreundet! Schon heute Abend werden Sie in Handschellen stecken und zu den nördlichen Minen unterwegs sein!“

„Das soll angeblich eine völlig andere Welt sein, aber die Menschen sind überall gleich“, murmelte ich mit einem Grinsen. „Man könnte glatt auf den Gedanken kommen, sie würden alle in einem Labor gezüchtet.“

Harcourt zog die Augenbrauen zusammen.

„Was flüstern Sie da vor sich hin?“

„Ich habe nur festgestellt, dass Sie höchst gierig und allzu zuversichtlich sind.“ Ich lächelte. „Dass Sie sich straflos so viel erlauben konnten, hat ihren Sinn für die Realität abgestumpft. Außerdem sind Sie unglaublich dumm. Wie kommen Sie bloß darauf, dass der Kumpel Ihres Onkels mich tatsächlich anklagen würde? Haben Sie etwa vergessen, wer ich bin? Ich bin ein Edelmann aus einem uralten und einflussreichen Haus. Der Einzige, der Anklage gegen mich erheben kann, ist der Graf de Brionne, nicht ein gewöhnlicher niederer Bürger. Und denken Sie nur an das Gerichtsverfahren... Vor allem, wo der Gebieter über diese Region Ihren Bruder so sehr ‚liebt‘... Es war doch Ihr Bruder, der die Hauptrolle in Dormaels kleiner Geschichte spielte, nicht wahr? Ich kann es kaum erwarten, das Gesicht des Grafen de Brionne zu sehen, wenn ich ihm berichte, wie Sie versucht haben, mich zu berauben. Aber aus Ihrem sauren Gesicht schließe ich, dass Sie längst erkannt haben, wie sehr Sie sich verrechnet haben.“

Harcourt erstarrte. Er wirkte wie ein gerupfter Hahn, der die Stimme verloren hatte. In seinen Augen entdeckte ich Bedauern und die Erkenntnis, dass er einen Fehler begangen hatte. Dank seines Verwandten hatte er lange Zeit seine Geschäfte skrupellos betreiben können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Doch jetzt war er auf einen ebenbürtigen Gegner gestoßen.

„Und jetzt verraten Sie mir eines“, sprach ich weiter. „Weshalb diese Aufregung wegen eines kleinen Medaillons?“

Er zuckte zusammen. Böse sah er mich an, hatte es jedoch nicht eilig, meine Frage zu beantworten.

Schnaubend zog ich meinen Dolch aus seiner Scheide. Seine gefährliche, gebogene Klinge reflektierte das Kerzenlicht. Das reichte aus, um Harcourts Schweigen zu brechen.

In einem respektvolleren Ton murmelte er hastig: „Mein Herr, ich bitte Sie... Es gibt tatsächlich einen Käufer, der bereit ist, 1.000 Kronen für dieses Medaillon zu zahlen. Aber mehr habe ich nicht zu sagen.“

Ich schnaubte. Was für eine Verschwendung — ein solch schauspielerisches Talent in einer simplen Pfandleihe! Die plötzlichen Wandlungen in seinem Auftreten waren beeindruckend. Vor nur einer Minute hatte er noch gebebt vor berechtigtem Zorn, und jetzt war er bereit, mir die Stiefel zu lecken.

„Tja, Sie wissen ja...“ Ich seufzte und trat einen Schritt vor. „Ich berufe mich auf die Götter als Zeugen, dass ich es auf die nette Tour versucht habe...“

„Herr Renard!“, rief Jaco und sprang hinter dem Sofa hervor. „Ich werde Ihnen alles sagen, aber bitte, verschonen Sie meinen Vater!“

„Sei still, Junge!“, kreischte Harcourt Senior.

„Ihr Medaillon ist ein Artefakt der Vergessenen!“, sprudelte es aus dem Jungen heraus.

„Was hast du nur getan!“ Harcourt keuchte und senkte schicksalsergeben den Kopf. „Du dummes Kind!“

„Das Medaillon stammt von den Vergessenen?“, vergewisserte ich mich.

„Ja.“ Jaco nickte und sprach hastig weiter, wahrscheinlich aus Furcht, sein Vater könnte ihm erneut den Mund verbieten. „Es wurde in einem der sechs altehrwürdigen Königreiche erschaffen, die jetzt der Schatten von Strix bedeckt. Mein Vater konnte nicht herausfinden, in welchem dieser Königreiche, aber er hat keine Zweifel daran, dass es eines der nördlichen war.“

„Hm... Das überrascht mich... Das wusste ich nicht.“

„Natürlich wussten Sie das nicht!“ Jaco schluckte den Köder sofort. „Sonst hätten Sie den Schmuck niemals für eine so geringe Summe verpfändet!“

Ähem... Dieser Junge war möglicherweise doch nicht geschaffen für den Beruf eines Pfandleihers. Mit ihm verschwendete sein Vater nur Zeit, er war viel zu ehrlich. Es wäre besser, Jaco würde sich gleich nach einer anderen Arbeit umschauen.

„Aha“, stellte ich gedehnt fest und beobachtete im Augenwinkel, wie Harcourt Senior bleich wurde. „Und wer ist dieser mysteriöse Käufer?“

„Das wissen wir nicht.“ Jaco zuckte mit den Schultern. „Er hat meinen Vater angesprochen, als der die Artefakte der Vergessenen recherchierte. Er hat in einem Brief 1.000 Kronen für das Medaillon geboten. Seinen Namen hat er allerdings nicht preisgegeben.“

Ich sah Harcourt an, der in seinem Sessel zusammengesunken war. Er schien jeglichen Halt verloren zu haben.

Ich war mir sicher, dass der Vater genau wusste, wer das Medaillon kaufen wollte, nur hatte er es seinem Sohn nicht verraten. Aus seinem angsterfüllten Gesicht schloss ich, dass dieser Interessent es ihm nicht verzeihen würde, wenn ihm dieser Kauf durch die Lappen ging. Aber das kümmerte mich nicht. Das war nicht mein Problem.

„Herr Harcourt“, setzte ich in eisigem Ton an. Der Klang meiner Stimme ließ ihn erzittern. Er hob den Kopf und sah mich schicksalsergeben an. „Ich muss mein Medaillon zurückbekommen.“

Etwa eine Stunde nach meiner zweiten, anstrengenderen Unterhaltung mit dem Pfandleiher saß ich wieder in der Kutsche, die die Straße entlang rollte, und grübelte nachdenklich über das Medaillon nach, das mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Eine Überprüfung zeigte mir, dass ich ein magisches Artefakt in Händen hielt, dessen Existenz die örtlich vorherrschende Theorie über die Ursprünge der begabten Menschen widerlegte. Anscheinend existierte doch Magie in dieser Welt, und es hatte sie bereits gegeben, lange bevor der Schatten entstanden war.

Innerlich war ich längst auf eine Erinnerung oder einen kleinen Gruß meines mysteriösen Wohltäters vorbereitet gewesen. Und jetzt war das eingetreten, was ich intuitiv erwartet hatte.

Auf meiner Handfläche lag eine kleine, goldene Scheibe, etwa so groß wie ein Wachtelei, die auf der Rückseite ein grinsendes Fuchsgesicht zeigte. Auch wenn dieses Grinsen eher fröhlich als raubtierhaft war.

Die andere Seite schmückte ein Wappen, ein dreieckiger Schild, gehalten von zwei Füchsen, die auf den Hinterbeinen standen, mit einer gezackten Krone an der Spitze.

Doch das war es nicht, was meine besondere Aufmerksamkeit geweckt hatte... Unterhalb des Schildes sah ich etwas, das mich erschauern ließ. Es war ein kurzer Satz in der uralten Hexensprache, und er besagte:

„Hier und jetzt!“

Kapitel 2

ICH LAG IM BETT, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte hinauf zur dunklen Decke. Es war mitten in der Nacht, doch ich war hellwach. Kein Wunder — am Morgen würde ich meine erste Reise in dieser Welt antreten. Alle möglichen Gedanken gingen mir durch den Kopf — wie hätte ich da schlafen können?

Wie üblich pflegte ich meine Liste der Dinge, die ich erreicht hatte, ging die Aufgaben durch, die mir bevorstanden, und hakte mental diejenigen ab, die bereits erledigt waren.

Ganz oben auf der Aufgabenliste stand meine bevorstehende Mission. Unser Ziel war die Westliche Festung im Nordosten des Landes, an der Grenze zum Schatten. Dort würde ich in der Schattenpatrouille dienen.

Bevor ich mich dem Kommandeur Louis de Rohan präsentierte, musste ich eine Unterkunft in Toulon anmieten, einer kleinen Stadt in der Nähe der Festung. Als Edelmann musste ich nicht mit den gewöhnlichen Soldaten zusammen in den Baracken unterkommen, was mich erleichterte.

Es waren etwa 800 Kilometer von Abbeville nach Toulon. Auf den breiten, gut ausgebauten Straßen meiner alten Welt hätte ich diese Strecke im Auto in sieben bis acht Stunden zurücklegen können, ohne den Motor überanstrengen zu müssen, und hätte auch noch Zeit für ein paar Pausen gehabt. Ich hätte sogar in ein Flugzeug steigen können.

Doch hier stand mir ein strapaziöser Marsch bevor, der 40 Tage dauern würde. Im besten Fall. Schlechte Straßen, schlechtes Wetter, Angriffe von Straßenräubern und wilden Tieren, Krankheiten — das war nur ein kleiner Teil der Gefahren, die mir drohten. Und um alles noch schlimmer zu machen, waren nicht alle in der Karawane, der ich mich anschließen würde, so gut vorbereitet wie ich.

Der Gedanke an die letzte Woche meiner Reisevorbereitungen entlockte mir ein Stirnrunzeln. Die Leute in dieser Welt waren mir mit ihrer nachlässigen Weise gewaltig auf die Nerven gegangen. Und mit dieser Halbherzigkeit hatte ich trotz des unerschütterlichen Dormael an meiner Seite zu kämpfen gehabt, der sich konstant für mich eingesetzt hatte. Innerlich hatte ich Madame Weber schon Hunderte von Malen für ihre weise Voraussicht gedankt. Ohne den gewissenhaften Angestellten, der durch nichts aus der Ruhe zu bringen war, hätten mich die Vorbereitungen ohne weiteres Monate kosten können. An Geschwindigkeit stand diese Welt meiner alten gewaltig nach.

Dormael hatte es gut gefallen, wie ich meine Aufgaben anpackte. Ich hatte das Gefühl gewonnen, dass er mich inzwischen als verwandte Seele betrachtete. Doch ich vermutete, dass es ihm anfangs widerstrebt hatte, an meiner Seite zu arbeiten. Er war sich gewiss wie ein Aufpasser vorgekommen, der einen launischen Aristokraten unter seine Obhut nehmen und geduldig all seine Verrücktheiten und stupiden Wünsche ertragen musste.

Unsere Beziehung war das erste Mal ein wenig aufgetaut, nachdem wir die Pfandleihe aufgesucht hatten. Was als aussichtslose Situation erschienen war — die Auseinandersetzung eines jungen, naiven Chevaliers mit dem gewitzten, mächtigen Baptiste Harcourt -, hatte ganz unerwartet mit meinem raschen und durchschlagenden Sieg geendet.

Etwas später an diesem Tag waren wir über den Markt geschlendert und hatten jeden Stand und jeden kleinen Laden in Abbeville besucht, der magische Tränke verkaufte. Es war ermüdend.

An diesem einen Abend kaufte ich den gesamten Vorrat an heilenden Infusionen, Parfüms und Tinten auf. Ich war versucht, Trebolt einen weiteren Besuch abzustatten und mir mehr magischen Staub zu beschaffen, doch diesen Drang unterdrückte ich klugerweise. Es bestand kein Grund, seinen Verdacht gegen mich weiter zu schüren. Aus einem ähnlichen Grund machte ich auch einen großen Boden um das Waffengeschäft des einzigen Artefakt-Herstellers der Stadt. Noch war die Zeit nicht gekommen, einem anderen begabten Menschen meine Karten zu zeigen.

Ich kaufte die dreifache Menge an Tränken ein, die im Vertrag mit den Webers festgelegt worden war, doch Dormael bezahlte für alles. Er erklärte, dass Madame Weber ihn angewiesen hatte, in Bezug auf die Vorbereitungen der Reise all meinen Wünschen nachzukommen.

Was die Heiltränke betraf, konnte Dormael das nachvollziehen. Doch er verstand nicht, weshalb ich so viel Parfüm und Tinte brauchte. Sein normalerweise so ausdrucksloses Gesicht zeigte eine deutliche Neugier, die er nicht unterdrücken konnte. Ich sah sie in seinen Augen.

Ich musste ihm eine Begründung liefern. Also erklärte ich ihm, dass meine Reise mich durch verschiedene Grafschaften und Baronate und ein Herzogtum führen würde, wo ich unter anderem den örtlichen Adeligen begegnen würde. Kleine Geschenke in Form magischer Tränke, so setzte ich ihm auseinander, konnten zwei Dinge erreichen: Zum einen konnte ich mich bei ihnen beliebt machen und zum anderen womöglich lästige Bürokratie umgehen.

Dormael fand das überzeugend. Sein erster Eindruck von mir als einem jungen, naiven Aristokraten verblasste.

Natürlich hatte ich ihm eine Lüge aufgetischt. Ich hatte nicht vor, meine kostbare Beute zu verkaufen, geschweige denn zu verschenken. Außerdem ging mein roter Staub bereits zur Neige, und meinen smaragdfarbenen Staub hatte ich bereits vollständig aufgebraucht. Die Verfahren, mit deren Hilfe ich meine Energiekanäle verstärkte, verlangten große Mengen dieser wertvollen Ressourcen.

Hin und wieder dachte ich bedauernd an den kleinen Beutel mit dem roten Staub, den ich der Hexe gegeben hatte — die sich nicht wieder hatte blicken lassen. Anscheinend hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie wollte mir keine Informationen liefern? Meinetwegen. Ich würde schon alles selbst herausfinden.

Ausrüstung und Waffen hatte ich erneut im Laden von Guy Arnault besorgt. Jacques‘ Freund hatte mich überrascht — in all dem wertlosen Plunder fanden sich tatsächlich ein paar recht brauchbare Dinge.

Vor allem hatte ich Bertrand eine gute Ausrüstung besorgen müssen. Dank der Tränke mit dem roten Staub machte seine Genesung hervorragende Fortschritte.

Jacques hingegen besaß noch immer alles aus seiner glorreichen Vergangenheit. Außerdem war mir das Glück hold — der Diener von de Lamar hatte sich endlich dazu herabgelassen, mir die Beute zu bringen, die ich rechtmäßig erworben hatte.

Darunter war auch das Wams, das Vincent de Lamar beim Duell getragen hatte, ein hervorragend gearbeitetes Panzerhemd. Auf der Außenseite bestand es aus Seide, die eine Reihe von sich überlappenden Stahlplatten verbarg. Diese wiederum waren mit einem weichen Leder gepolstert, das mit einer Schicht herrlichem Samt gefüttert war. Dieses kostbare Kleidungsstück war luxuriös genug, dass ich es auf jeder Feier und jedem Empfang tragen konnte, den ein Graf oder Baron veranstalteten.

Das Panzerhemd war mir ein wenig zu groß, aber Guy Arnault hatte versprochen, es auf meine Größe zurechtzuschneidern. De Lamars Schwert hatte ich beschlossen zu verkaufen, denn die einhändige Waffe war zu schwer für mich und eindeutig eine Sonderanfertigung. Auch damit half mir der Eigentümer von „Morgenstern und Streitaxt“ aus und nahm das Schwert als Bezahlung für zwei kleinere, leicht gekrümmte Klingen.

Als ich dieses Paar entdeckte, stockte mir einen Augenblick lang der Atem. Unsere Welten hatten viel gemeinsam... Mamoru Yamada hatte seine Tricks in unserem Zirkus mit nahezu identischen Schwertern vollführt — und am Ende hatte er mir all diese Tricks beigebracht.

Wie Guy Arnault berichtet hatte, hatte er die Klingen von einem Seemann erworben, der viel Zeit auf den Östlichen Inseln verbracht hatte. Mich überzeugte diese Geschichte nicht, aber das spielte keine Rolle für mich. Wir hatten alle etwas zu verbergen. Ich war da keine Ausnahme.

Trotzdem sie aus hervorragendem Stahl bestanden und gut in der Hand lagen, schreckten Schwertkämpfer aus diesen Landen vor ihrer ungewöhnlichen Form und ihrem verlängerten Griff zurück. Hier war man andere Waffen gewöhnt. Deshalb hatten diese ungewöhnlichen Objekte viele Jahre lang eher als Dekoration gedient.

Um ihr Gleichgewicht auszutesten, hatte ich im Hinterhof des Ladens ein paar Katas vollführt und alle, die zuschauten, mit den komplexen Bewegungen beeindruckt. Nach dieser Demonstration hatte ich Guy Arnault dabei ertappt, wie er mich mehrfach intensiv anstarrte. Ich hatte sehen können, dass Jacques‘ Kumpel aus Militärzeiten viele Fragen hatte, die er jedoch nicht wagte, mir zu stellen. Mein neuer Stallbursche und Wagenführer hatte seinem Freund bereits zugeflüstert, was ich von Leuten hielt, die ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckten.

Dem war die Szene im Stall der Webers gefolgt. Eine gründliche Untersuchung und Überprüfung der Pferde, die sie für mich ausgesucht hatten, hatte mir gezeigt, dass drei von ihnen unbrauchbar waren, was ich sofort verkündete. Meine Ablehnung hatte Jacques übrigens nicht weniger überrascht als die Mitarbeiter meines Vertragspartners. Auf den ersten Blick hatten alle drei Pferde recht anständig gewirkt.

Der Haupt-Stallbursche der Webers war empört gewesen, der undurchdringliche Dormael hingegen schien sich zu gefreut zu haben. Anscheinend hatte ich aus Versehen jemandem einen Schlag versetzt, den er als einen Rivalen betrachtete. Dass die beiden sich nicht ausstehen konnten, hatte ich sofort nach dem Betreten des Stalls bemerkt.

Mühsam hatte der Haupt-Stallbursche seinen Zorn unterdrückt, die Zähne zusammengebissen und gefragt, ob der junge Herr bereit wäre, einem gewöhnlichen Niemand wie ihm zu erklären, was seiner Lordschaft an den besten Pferden von Abbeville nicht gefiele.

Je länger die Liste der Probleme und Krankheiten dieser Pferde wurde, die ich in ruhiger Stimme aufzählte, desto bleicher und länger wurde das Gesicht des Stallburschen.

Als ich zum Ende gekommen war, bot er einen beklagenswerten Eindruck. Selbst ein Dummkopf hatte sehen müssen, dass ihm die Mehrheit der Nachteile sehr wohl bewusst gewesen war, die ich aufgezählt hatte. Nur wenig an meiner Diagnose war ihm neu gewesen.

Am Ende waren die bemängelten Pferde ausgetauscht worden, gegen andere, die ich ausgewählt hatte. Dormael hatte wie ein Honigkuchenpferd gestrahlt und dem Haupt-Stallburschen in triumphierendem Tonfall erklärt, dass er dem gemeinsamen Arbeitgeber von diesem ehrenrührigen Ereignis berichten würde.

Zu meiner Freude hatte es keine weiteren Probleme mit irgendeiner Abteilung von Weber und Söhne gegeben. Überall war spürbar geworden, welche Autorität Dormael besaß.

Meine Überlegungen zur Reise wurden nach und nach von solchen zu meinen Finanzen abgelöst. Was das betraf, konnte ich nur zufrieden grinsen. Ich hatte nicht nur alle Schulden abdecken können, die sich dank des Schwachkopfes Max wie die Karnickel vermehrt hatten, sondern hatte sogar noch etwas übrig.

In örtlichen Standards gerechnet, machte der Betrag auf meinem Bankkonto mich zu einem wohlhabenden Mann. Wobei es mir nicht unbedingt gefiel, dass mein Geld auf der Bank lag. Ich war es gewohnt, dass mein Geld für mich arbeitete und ständig in Bewegung war. Andererseits konnte ich die etwas mehr als 7.000 Silberkronen auch als eine Art Sicherheitsnetz betrachten. Von solchen Netzen brauchte ich mehr, und zwar an verschiedenen Orten.

Außer dem Geld besaß ich noch den Schmuck, den ich aus Paul Lepetits Versteck gestohlen hatte. Ich plante, ihn in den kleinen Städten auf unserem Weg Stück für Stück zu verkaufen.

Ein Schmuckstück beschloss ich allerdings, für mich selbst zu behalten: eine Smaragdbrosche, die sich auffällig von allem anderen Plunder abhob. Nur für alle Fälle hob ich auch das Verpfändungs-Dokument auf, das ihren Wert erwähnte.

Den goldenen Siegelring mit dem großen, dunkelroten Rubin, mit dem der Graf de Angland die Rüstung seines Sohnes ausgelöst hatte, würde ich ebenfalls nicht verkaufen. Den würde ich in Zukunft noch brauchen. Er konnte seine Lordschaft an den Gefallen erinnern, den ich ihm getan hatte.

Mit dem anderen Schmuck war alles in Ordnung, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass das Medaillon von Max‘ Familie mir noch Probleme bereiten würde, und mein Instinkt hatte mich bisher noch nie getäuscht.

Eine sorgfältige Untersuchung des Artefakts hatte ergeben, dass es ein primitives Energiesystem enthielt. Welchem Zweck das diente, konnte ich jedoch nicht herausfinden. Als ich einen kleinen Ball von Mana durch das Medaillon geschoben hatte, hatte das lediglich dazu geführt, dass die Metallscheibe ein schwaches, magisches Licht von sich gegeben hatte. Dieses Leuchten hatte mehrere Minuten angehalten, bevor es wieder erloschen war und ich erneut ein normales goldenes Medaillon in Händen gehalten hatte. In diesem Augenblick hatte ich beschlossen, alle Experimente damit einzustellen, denn sie führten offensichtlich zu mehr Fragen als Antworten.

Ich hatte Bernard über das Erbstück ausgefragt, doch auch das hatte mich nicht weitergebracht. Der alte Mann wusste nur, dass Max‘ Vater es ihm wenige Stunden vor seiner Verhaftung gegeben und ihn aufgefordert hatte, seinen Besitz geheim zu halten. Das war alles. Vielleicht hatte der Graf seinem Sohn mehr über die Geschichte des Medaillons erzählt, aber nachdem beide Männer nun nicht mehr lebten, war der Inhalt dieser potenziellen Unterhaltung für immer verloren.

Nebenbei bemerkt fand ich, dass der Vater seinem Sohn statt eines Schmuckstücks ebenso gut auch ein wenig Bargeld hätte geben können, aber was das betraf, hatte ich eine Vermutung. Der Graf hatte sichtlich nicht erwartet, dass man Max aus seinem eigenen Haus hinauswerfen und mit nur 300 Kronen in die Verbannung schicken würde. Und Max wiederum war anscheinend davon ausgegangen, dass sein Exil nicht lange dauern würde. Deshalb hatte er seine Freiheit so schrankenlos ausgenutzt. Im Grunde hatte er recht gehabt — sein lieber Onkel hatte eine Verwendung für ihn gefunden, noch bevor ein Jahr vergangen war.

Das brachte mich zum nächsten Punkt, dem ich die Überschrift „Meine lieben Verwandten“ verliehen hatte. Selbst ein Narr konnte voraussehen, dass diese Leute versuchen würden, mich in meinem geschwächten Zustand zu manipulieren und in alle möglichen Lücken zu stopfen, wie sie sich in Familienangelegenheiten so oft auftaten.

Noch war mir nicht klar, welche Lücke mein lieber Onkel für mich vorgesehen hatte, aber ich konnte riechen, dass an der Sache etwas faul war. Das war eine Tatsache. Mein sechster Sinn ließ sich von diesem Gerede über eine „hervorragende Partie“ nicht beeindrucken.

Ich hatte keine Probleme damit, Lücken zu füllen. Das war ein Motiv, das ich nachvollziehen konnte. Max war das schwächste Mitglied der Familie, also musste er sich natürlich mit dem schlechtesten Geschäft abfinden. Aber jetzt versuchte man auch noch, ihn umzubringen. Wer steckte dahinter? Eine Tante mütterlicherseits, die er anscheinend noch nie persönlich getroffen hatte. Weshalb hatte sie es auf ihn abgesehen?

Das war ein Thema, das ich unbedingt mit der „Liebe meines Lebens“ hatte besprechen wollen, Vivienne Leroy, aber die teuflische Lady verfügte wohl ebenfalls über einen sechsten Sinn. Sie war noch am Abend des Duells abgereist, mit unbekanntem Ziel.

Der Diener von de Lamar, den ich mit dem Dolch bedroht hatte, verriet mir rasch alles, was er über dieses hübsche Liebespaar wusste. Wie sich herausstellte, hatte de Lamar Abbeville zusammen mit Vivienne verlassen wollen, nachdem er mich im Duell erschlagen hatte. Sie wollten zuerst in den Süden von Vestonia reisen, und anschließend nach Atalia. Hm... Das hatte ich erwartet.

Auch mit Betty hatte ich mich nicht mehr unterhalten können. Sie hatte gewusst, was ihre „Freundin“ und deren Liebhaber planten, aber sie hatte sich ebenfalls aus dem Staub gemacht, am Tag nach dem Duell. Es war eine regelrechte Emigrationswelle...

Ihr Fall lag jedoch anders als der von Vivienne. Ich wusste genau, wo ich meine „Verlobte“ finden konnte. Sobald ich die Hauptstadt erreicht hatte, würde ich ihrem Vater, Herrn Gilbert, den versprochenen Besuch abstatten.

Übrigens hätte ich Vivienne ebenfalls finden können, wenn ich es gewollt hätte. Es war nicht leicht, dem Stehaufmännchen zu entwischen. Aber ich wollte meine kostbare Zeit nicht auf sie verschwenden. Vor allem, weil ich im Grunde ja bereits alles wusste.

Insgesamt hatte Max‘ Familie etwas Rätselhaftes an sich. Und jetzt war da auch noch die Sache mit dem Medaillon... Kaum hatte ich den Fuchs und das Motto in der Hexensprache entdeckt, war mir klar, dass Max und ich eine direkte Verbindung zu den Vergessenen besaßen.

Wenigstens wusste ich jetzt, was mein mysteriöser Wohltäter gemeint hatte, als er mir einen neuen Körper und eine Welt versprochen hatte, in der wir beide viel Spaß haben würden. Er erwartete, dass ich ihm eine brillante Show lieferte, um ihn zu unterhalten. Er hatte sich nämlich gelangweilt, müssen Sie wissen, geneigter Leser...

Übrigens, da wir schon von Unterhaltung sprechen — schon bald würde ich mich über die Grenze hinauswagen und mehr über die Magie des Schattens erfahren. Ich hatte keineswegs vor, jahrelang darauf zu warten, dass sich mein Energievorrat durch hartes und kontinuierliches Training vergrößerte. Oh nein! Ich fürchtete die harte Arbeit nicht, die damit verbunden war, aber wo es schon eine Möglichkeit gab, diesen Prozess zu beschleunigen, musste ich sie ausnutzen. Wie hieß es doch so schön auf dem Medaillon: „Hier und jetzt!“ Ha! Das Familien-Motto gefiel mir immer besser.

Während ich noch darüber nachdachte, was ich bereits erledigt hatte und was noch zu tun war, übermannte mich der Schlaf.

In dieser Nacht träumte ich von Thais. Aber es war nicht die Thais aus meiner früheren Welt, fröhlich, voller Leben und mit wallenden, roten Locken, sondern eine ganz andere, neue Thais — mit dunklen Augen, rabenschwarzen Haaren und einem harten, kalten Gesicht.

Diesmal sah ich mehr. Meine „kleine Schwester“ stand am Bug eines großen Dreimasters und blickte nachdenklich in die Ferne. Um ihre Lippen spielte ein raubtierhaftes Lächeln, und in ihren braunen Augen tanzte ein Feuer des Zorns.

Diesmal hatten die Grübchen in ihren Wangen keine Chance, den eisigen Blick zu durchdringen, und ich sah nichts von meiner süßen, kleinen Thais.

Anschließend blickte ich auf das, was hinter ihr lag, und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Das Oberdeck war vollgestopft mit bis an die Zähne bewaffneten Soldaten in Rüstungen, mit Umhängen aus Wolfspelz und Schmuck aus den Reißzähnen und Ohren von wilden Tieren. Ihre bärtigen Gesichter trugen blaue Tätowierungen.

Thais, oder vielmehr die Frau, die aussah wie sie, drehte sich um und rief triumphierend etwas in einer krächzenden Sprache, die ich nicht verstand. Die Soldaten hoben ihre Waffen in die Höhe und antworteten unisono mit einem Wolfsheulen, das mir beinahe das Herz stocken ließ.

Dann deutete die Pseudo-Thais nach vorn und rief erneut etwas. Ich schaute in die Richtung, in die sie zeigte, und erstarrte: Am Horizont erkannte ich die Küste und die Umrisse eines Festungswalls, versehen mit hohen Türmen, auf denen farbenfrohe Banner im Wind flatterten.

Mit kratziger Kehle schluckte ich und sah mich weiter um. Der Nebel, der alles umgab, hob sich ein wenig und enthüllte eine große Flotte. Auf den Decks der Schiffe standen Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Soldaten.

Dann erwachte ich. Ich keuchte, als wäre ich einen Marathon gelaufen, fuhr im Bett hoch und riss mir das schweißgetränkte Hemd vom Leib.

Mein Herz hämmerte. Der Traum hatte sich so real angefühlt... Aber das war nicht alles, das mir Angst bereitete.

Bevor ich zurückkehrte in die reale Welt, war mir auf der Brust der Pseudo-Thais etwas aufgefallen. Diesmal erhaschte ich einen guten Blick auf ihre Halskette. Der Anhänger war besetzt mit zehn großen, roten Rohlingen.

Kapitel 3

VOR ACHT TAGEN HATTEN wir Abbeville verlassen. Ich konnte ohne Übertreibung behaupten, dass Bernard und ich den Gästehaus-Anbau und die Stadt, in der ich erstmals in dieser Welt aufgewacht war, ohne Bedauern hinter uns ließen. Zum einen gefiel es mir nicht, allzu lange an einem Ort herumzusitzen. Kein Wunder — meine Kindheit und meine Zeit als junger Erwachsener hatte ich bei einem Wanderzirkus verbracht, immer unterwegs. Und zweitens war Abbeville kein Ort, an dem ich mich lange niederlassen wollte. An dieser Stadt war nichts Besonderes.

Mein Abschied von Trixie und ihrem kleinen Bruder war allerdings recht emotional ausgefallen. Die beiden winkten uns mit Tränen in den Augen nach. Trixie war regelrecht außer sich — schließlich musste sie auch noch ihrem Verlobten Lebwohl sagen, der mit uns zur Grenze reiste.

Als ich in den Sattel meines Pferdes sprang, lief sie zu mir, klammerte sich an meine Stiefel und stieß hastig die Bitte hervor, dass ich auf ihren Patrick gut aufpassen sollte. Innerlich schnaubte ich nur, doch laut versprach ich, alles zu tun, das in meiner Macht lag, solange Patrick selbst es von mir verlangte.

Mit anderen Worten: Ich versprach nichts Bestimmtes, lehnte jedoch auch nichts ab. Trixie akzeptierte, was ich ihr sagte. Ihr war sehr wohl klar, dass nach allem, was während der letzten Tage geschehen war, selbst diese vage Zusage mehr als großzügig war.

Das Problem war, dass Patrick Dupree, Trixies zukünftiger Ehemann, und ich sofort aneinandergeraten waren. Es war passiert, als Jacques und ich dem Mann einen Besuch abgestattet hatten, der die Karawane zur Grenze anführen würde.

Zu behaupten, man hätte uns die kalte Schulter gezeigt, wäre eine gravierende Untertreibung gewesen. Roland Buquet, der Karawanen-Leiter, war ein untersetzter, älterer Mann, dessen Nase zur Seite zeigte, während eine hässliche Brandnarbe seine rechte Wange verunzierte. Er war sichtlich nicht begeistert zu hören, dass wir uns seiner Karawane anschließen wollten.

Er war ein ehemaliger Feldwebel und hatte sein halbes Leben damit verbracht, in der königlichen Legion zu dienen. Nach seiner Pensionierung widmete er sich der Begleitung der Rekruten zur Grenze. Roland Buquet war es nicht gewohnt, dass man seine Befehle infrage stellte, und er sah wenige Vorteile darin, einen Adeligen in seine Karawane aufzunehmen. Ein leichtsinniger Aristo konnte das Getriebe seiner bis ins Kleinste koordinierten Maschine mit Leichtigkeit ins Stocken bringen.

Ich musste dem grimmigen Feldwebel versichern, dass ich nicht vorhatte, über die Reise zu bestimmen, und dass ich die wenig beneidenswerte Position eines Anführers kategorisch ablehnen würde, falls sie mir jemand anbieten sollte.

Außerdem versprach ich, dem Leiter der Karawane innerhalb angemessener Grenzen zu gehorchen. So war ich beispielsweise bereit, ihn dabei zu unterstützen, Räuber oder wilde Tiere abzuwehren. Ich lehnte es lediglich ab, mich daran zu beteiligen, das nächtliche Lager aufzuschlagen. Es gab genügend gemeine Bürger im Trupp. Sollten die die Gruben graben und die Zelte aufstellen.

Mit all dem war Roland Buquet einverstanden. Der Ausdruck in seinen Augen erwärmte sich, allerdings nur ein wenig. Dass ich ihm fünf Silberkronen für die Reise zahlte, trug dazu wahrscheinlich in nicht geringem Maße bei.

Allerdings hatte er einen breitschultrigen, hünenhaften Assistenten mit dem Namen Patrick Dupree, mit Händen so groß wie Schaufeln, der extrem streitsüchtig war.

Ich ertappte Trixies Verlobten mehrfach dabei, wie er mich böse anstarrte, während ich mich mit dem Feldwebel unterhielt. Er ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass die Knöchel sich weiß färbten, und schnaubte wie ein wütender Bulle. Zum Glück waren unfreundliche Blicke und wütendes Schnauben alles, was er sich gestattete. Der Grund für sein Verhalten war nicht schwer zu erraten: Patrick musste eine gewaltige Eifersucht gepackt haben. Später bestätigte Jacques meine Theorie.

Natürlich konnte ich dem Kerl sein rüdes Verhalten nicht durchgehen lassen. Es war mir herzlich gleichgültig, mit wem er verlobt war. Es gehörte sich nun einmal nicht, dass einfache Bürger Aristos auf diese Weise behandelten.

Deshalb hatte ich Roland Buquet dringend geraten, seinen Assistenten in die Schranken zu weisen und ihm ein paar Manieren beizubringen, weil ich das andernfalls selbst übernehmen müsste. Ein Dutzend Peitschenhiebe waren die beste Medizin in solchen Fällen.

Ich hatte keine Ahnung wie, aber Trixie hatte von dem Vorfall erfahren. Nun ja, sie hatte eben eine immense Begabung, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken.

Jedenfalls war sie noch am gleichen Tag mit Tränen in den Augen zu mir gekommen, hatte die Hände gerungen und mich angefleht, ihrem Verlobten sein schlechtes Benehmen zu verzeihen.

Ich hatte keine Lust, bei solch dummen Spielchen mitzuspielen. Ich kam mir ohnehin bereits vor wie ein Schauspieler in einer zweitklassigen Liebesromanze.

Zum Glück hatte Patrick mir während der Reise bislang keine Schwierigkeiten gemacht.

Am achten Tag hatte ich genügend Zeit gehabt, den Anführer des Trupps und meine Mitreisenden eingehend zu beobachten. Im Wesentlichen gab es vier Gruppen in der Karawane.

Die erste bestand aus Roland Buquet und seinen zehn Soldaten. Es war sofort ersichtlich, dass diese Männer einender sehr gut kannten. Wie Jacques mir erklärte, hatten sie einst in der gleichen Legion gedient.

Die zweite Gruppe waren die Söldner, die Verträge mit gutsituierten Bürgern von Abbeville geschlossen hatten und für deren Söhne zur Grenze zogen, um in der Schattenlegion zu dienen. Einer der Söldner war Patrick, der Anführer dieser Gruppe, die aus einem Dutzend Soldaten bestand. Der Leiter der Karawane bezahlte sie für ihre Unterstützung.

Die Gruppe drei war mit nahezu 30 Mitgliedern die größte. Intern nannte ich diese Leute die „armen Trottel“. Ihnen hatte nicht nur das Geld für einen Söldner gefehlt, der ihre Stelle übernahm, sondern auch für anständige Waffen, Kleidung und Proviant. Aus einem unerfindlichen Grund hatten Roland Buquet und seine Leute diese „armen Trottel“ unter ihre Fittiche genommen und finanzierten ihnen die Reise, die Verpflegung und ein paar Kleidungsstücke. Natürlich glaubte ich nicht daran, dass der Feldwebel und seine Soldaten pure Menschenfreunde waren. Darauf machte ich diese Leute aufmerksam und riet ihnen, die Augen offen zu halten.

Die vierte Gruppe schließlich war unser kleines Team. Wir waren am besten ausgerüstet und vorbereitet von allen.

Davon abgesehen, hatten wir während der vergangenen Woche von Zeit zu Zeit auf der Straße weitere vorübergehende Reisegefährten eingesammelt. Viele Bewohner der umliegenden Dörfer fürchteten sich vor Räubern und waren bereit, Roland Buquet für ein oder zwei Tage seiner sicheren Begleitung zu bezahlen.

Eines musste ich dem pensionierten Feldwebel lassen: Er war ein echter Profi. Er herrschte über die Karawane mit eiserner Faust, was gewiss auf seine militärische Erfahrung zurückzuführen war. Jeder Ungehorsam führte zu einer sofortigen Bestrafung.

Auch sein Zeitgefühl gefiel mir gut. Die gesamten acht Tage über hatten wir nicht einmal unter freiem Himmel schlafen müssen. Er kannte die Route gut, hatte alles genau geplant und bestand darauf, dass wir in Siedlungen, Dörfern oder, wie am achten Tag, in einer kleinen Stadt übernachteten. Der Name der Stadt war Thivier. Hier wollte er sogar zwei Tage verbringen, damit die Pferde sich ausruhen und wir neuen Proviant besorgen konnten.

Es gab zwar keine Hotels in Thivier, aber zwei Wirtshäuser, in denen Buquet und seine Leute unterkamen, und ein Gästehaus, für das ich mich entschied.

Es war nichts Besonderes, aber das machte mir nichts aus. Schließlich wollte ich hier nicht den Rest meines Lebens verbringen. Ein sättigendes Mal, ein heißes Bad, saubere Bettwäsche, ein Dach über dem Kopf und ein eigenes Zimmer — mehr brauchte ich nicht.

Am Morgen des nächsten Tages absolvierte ich ein paar Übungen, frühstückte und ging dann in den Hinterhof zu Jacques, der die Nacht im Wagen verbracht hatte. Unser Fahrer hatte sich hartnäckig geweigert, ein Zimmer im Wirtshaus zu nehmen. Wie er erklärte, war unser Wagen so bequem, dass es sträflich gewesen wäre, ihn gegen ein Zimmer voller Wanzen und Flöhe einzutauschen.

„Wie hast du geschlafen?“, fragte ich Jacques und deutete auf den großen Wagen.

„So gut wie immer“, antwortete er mit einem breiten Grinsen. Vorsichtig fuhr er mit der Hand über die hölzerne Wagenseite und klopfte auf die Bretter. „Diese Unterkunft ist eines Herzogs würdig! Ich frage lieber nicht, wie viel Silbertaler Sie dafür ausgegeben haben...“

Der Wagen, den die Webers uns zur Verfügung gestellt hatten, war auffallend groß und gut ausgestattet. Es war ein wahres Zuhause auf Rädern und ließ sich mit keinem der anderen Wagen vergleichen, die ich im Hof des Handelshauses gesehen hatte. Dormael informierte mich in seinem üblichen, ausdruckslosen Tonfall, dass der Wagen als Geschenk für den ältesten Sohn bestimmt gewesen war, der bis zu seinem Tod ständig hatte unterwegs sein müssen. Um die Stimmung des Erben zu heben und die Bürde seines nomadischen Lebensstils zu erleichtern, hatten seine Eltern ein kleines, aber sehr komfortables Haus auf Rädern bauen lassen, in dem er den Großteil seiner Zeit hatte verbringen sollen. Doch leider hatte ihr ältester Sohn keine Gelegenheit mehr gehabt, den Wagen auch nur zu sehen, geschweige denn auszuprobieren.

Als ich ihn das erste Mal betreten hatte, war ich ein wenig verwirrt gewesen. Ich hatte ein doppelstöckiges Bett, einen kleinen, stählernen Ofen, dessen Rohr nach draußen führte, zwei große, weiche Sessel, einen Kleiderschrank und zwei Nachttische gesehen. Die Wände waren mit dunkelblauem Samt bedeckt. Selbst mein Schlafzimmer im Anbau des Gästehauses von Madame Richard war kleiner und weniger luxuriös.

„Groß genug ist der Wagen“, erwiderte ich. „Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich eine etwas bescheidenere Ausführung erwartet.“

„Dahinter steckt Madame Weber.“ Jacques zuckte mit den Schultern und streichelte weiter den Wagen, als wäre er eine lebendige Kreatur. „Alle wissen, dass Leon Weber ein solcher Geizhals ist. Er würde einen selbst im Winter noch um Schnee betteln lassen. Seine Frau ist im Grunde nicht besser, aber Sie haben ihrem Sohn das Leben gerettet, also...“

Bevor er den Satz beenden konnte, kam Bertrand aus dem Gästehaus und marschierte zum Wagen, der neben einem schmalschultrigen Mann mit kleinen, unruhigen Augen und einem Spitzbart geparkt war.

„Mein Herr“, rief Bertrand und warf dem Winzling einen schiefen Blick zu. „Sie haben Besuch.“

„Und was bringt meinen Besucher hierher, mein guter Mann?“, wandte ich mich an den Spitzbärtigen und hob fragend eine Augenbraue.

„Chevalier Renard!“ Der Winzling verbeugte sich respektvoll und lächelte freundlich. „Ich bin Arnaud Lefevre. Ich komme im Auftrag meines Herrn, des Viscounts Bastien de Tosny, und möchte Sie in seinem Namen zum Abendessen einladen. Er erwartet Sie heute Abend um acht Uhr in der Kneipe Zum Roten Ochsen.“

Ich verzog das Gesicht. War das etwa ein weiterer von Max‘ Gläubigern? Hatte er von meiner Reise erfahren und beschlossen, mich unterwegs abzufangen? Gelesen hatte ich diesen Namen allerdings auf keinem der Schuldscheine.

Ich blickte zu Bertrand, der mit einem verblüfften Gesichtsausdruck mit den Schultern zuckte. Auch er schien diesen Namen vorher noch nie gehört zu haben.

„Der Viscount de Tosny?“ Ich tat, als ließe mein Gedächtnis mich im Stich. „Ich kann mich gar nicht erinnern...“

„Oh...“ Lächelnd hob er die dünnen Arme. „Sie und mein Herr kennen sich nicht, doch das möchte er jetzt unbedingt ändern, nachdem er so viel von Ihnen gehört hat.“

„Ach ja?“, fragte ich überrascht. „Was sollte denn einen Viscount dazu bringen, sich mit einem Mann treffen zu wollen, dem er vorher noch nie begegnet ist?“

„Sie müssen wissen, Chevalier“, erwiderte der Winzling stockend und senkte die Stimme, „dass mein Herr in bestimmten Kreisen recht bekannt ist...“

„In welchen zum Beispiel?“

„Der Viscount de Tosny ist ein leidenschaftlicher Sammler und, was nicht unwichtig ist, ein sehr wohlhabender Mann“, erklärte Lefevre leise. Dann fügte er hinzu: „Viele nennen ihn den Uhrmacher. Und er hat Ihnen einen geschäftlichen Vorschlag zu machen.“

Aha — jetzt verstand ich, was los war. Der Kerl hatte schnell reagiert. Es war nicht einmal zwei Wochen her, seit ich vom Pfandleiher das Medaillon zurückbekommen hatte, das ein mysteriöser Käufer für 1.000 Kronen hatte erwerben wollen. Der Pfandleiher hatte ebenfalls den Spitznamen „Uhrmacher“ erwähnt. Es musste also dieser de Tosny sein.

Nun, meinetwegen. Es würde eine interessante Unterhaltung werden. Um den Schein zu wahren, musste ich mich jedoch ein wenig sträuben.

„Ach, ich weiß nicht...“ Ich runzelte die Stirn.

„Bitte, nehmen Sie an, Chevalier!“, drängte der Winzling. „Ich verspreche Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden. Mein Meister ist ein äußerst großzügiger Mann. Davon abgesehen kann man sich mit dem Viscount de Tosny ausgezeichnet unterhalten. In einem solch verlassenen Dorf wie diesem muss es einem Mann furchtbar an guter Konversation fehlen. Besonders einem Mann Ihres Standes.“

Ich rieb mir das Kinn und erklärte nach einer kleinen Pause lächelnd: „Wissen Sie was? Sie und Ihr Meister haben mein Interesse geweckt. Sie können dem Viscount melden, dass ich seine Einladung annehme.“

Der Winzling strahlte begeistert und verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Bevor er sich umdrehte, schenkte er mir noch einen unfreundlichen, spöttischen Blick. Er glaubte wohl, ich würde es nicht bemerken. Dieser Arnaud Lefevre zeigte mehr als nur eine Facette ...

„Das war eine Schlange in Menschenhaut!“, schimpfte Jacques, als er verschwunden war. „Ich habe viele solch scheinbar unterwürfiger Einfaltspinsel wie ihn getroffen. Sobald man eine Sekunde lang nicht aufpasst, stoßen sie einem das Messer in den Rücken. Bei dem kleinen, drahtigen Typen müssen Sie beide Augen offenhalten.“

„Seit wann machst du dir denn Sorgen um mich?“ Ich schnaubte.

„Seit Sie begonnen haben, mir ein jährliches Gehalt von zehn Kronen plus Kost und Logis zu zahlen.“ Jacques zuckte mit den Schultern und grinste. „Einer so großzügigen Bezahlung können sich nicht viele rühmen.“

„Das ist also der Grund! Nun, das erklärt vieles...“

* * *

Im Hauptraum der Kneipe Zum Roten Ochsen, und anscheinend auch dem einzigen Raum, herrschte Stille. Es waren keine Besucher zu sehen, und erst recht keine Angestellten.

Obwohl... Um genau zu sein, gab es einen Besucher, den ich nur nicht sofort bemerkte. An einem breiten Tisch an der gegenüberliegenden Wand, bescheiden gedeckt, saß ein schlanker Herr von recht unangenehmem Aussehen. Nein, hässlich war er nicht. Angesichts seiner edlen Haltung, seiner teuren Kleidung, seiner aristokratischen Gesichtszüge und seiner pechschwarzen Haare war der Kerl bei den Frauen bestimmt sehr beliebt. Aber etwas an ihm stieß mich ab.

Meine Überprüfung ergab nichts. Der Mann, der vor mir saß, war vollkommen normal.

„Chevalier Renard, nehme ich an?“ Er stand auf.

„Eben jener“, antwortete ich. „Und Sie, so vermute ich, sind der Viscount de Tosny.“

„Der bin ich“, bestätigte er. Mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Sie sind pünktlich. Ich schätze Pünktlichkeit sehr.“

Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich unaufgefordert auf einen Stuhl, was den Viscount ein wenig empörte. Dennoch nahm er eine silberne Karaffe und goss Rotwein in mein Glas.

„Greifen Sie zu, Chevalier! Leider hat dieses rückständige Dorf nicht viel Auswahl zu bieten, aber diesen Wein aus meiner persönlichen Sammlung werden Sie gewiss zu schätzen wissen. Ich führe immer ein paar Flaschen mit mir, wohin ich auch gehe.“

Ich rieb mir unauffällig die Nasenspitze mit dem Zeigefinger und bedeckte dabei meinen Mund, um unauffällig leise den Bannspruch des Schlangenatems zu sprechen und eine kleine Menge Energie auszustoßen.

Sofort sah ich die gelben Linien in der Struktur des Weins. Der Viscount versuchte offensichtlich, mich zu vergiften. Und es war kein simples Gift — es war ein magisches! Der unangenehme Mistkerl hatte keine Ausgaben gescheut. Aus der Farbe schloss ich, dass sich das Gift auf meinen Geist auswirken würde. Wahrscheinlich sollte es mich gesprächiger und unvorsichtiger machen.

Der Wein in seinem eigenen Glas war natürlich nicht vergiftet. Also gut — das schmutzige Spiel hatte begonnen. Ha... Ich war höchst neugierig, was de Tosny als Nächstes auf Lager hatte.

Zum Glück konnte mein Vorrat ohne Weiteres mit einem primitiven Trank fertigwerden, weshalb ich einen kleinen Schluck nahm und so tat, als wäre alles in Ordnung. Die schwach leuchtenden, gelben Punkte lösten sich in meinem Energiesystem auf, ohne eine Wirkung zu entfalten. Tja, du Mistkerl, an den Kuss der Sumpfkönigin kommt das bei Weitem nicht heran! Um das Stehaufmännchen umzuwerfen, brauchst du etwas sehr viel Stärkeres!

Der Viscount beobachtete erfreut, wie ich seinen „Wunderwein“ trank, und bemerkte: „Ihnen ist gewiss aufgefallen, dass wir hier allein sind. Ich habe den Eigentümer der Kneipe gebeten, uns einen ruhigen Ort zu finden, an dem wir uns unterhalten können, und er war begierig, mir diesen Gefallen zu tun. Weder ich noch Sie - da bin ich mir sicher - wären begeistert, von den betrunkenen Gesichter der örtlichen gewöhnlichen Bürger umgeben zu sein. Also, machen Sie es sich bequem. Sie haben von mir nichts zu befürchten.“

„Ich danke Ihnen.“ Ich nickte und nahm einen weiteren Schluck aus meinem Glas. Schon bald würde ich so tun müssen, als sei ich ein naiver junger Mann an der Grenze zur Betrunkenheit.

Eine Weile lang aßen wir schweigend und sahen uns nur hin und wieder an. Ich wartete darauf, dass der Viscount endlich zur Sache kam. Er hingegen wartete wahrscheinlich darauf, dass der Trank wirkte, den er mir in den Wein gemischt hatte.

Ein paar Minuten später legte er Messer und Gabel beiseite und erklärte: „Chevalier Renard, Sie müssen neugierig sein.“

„Nun, ich will nicht lügen...“ Ich bemühte mich um eine etwas gestelzte Sprache, wollte es jedoch auch nicht übertreiben. „Ihre Einladung hat mein Interesse geweckt. Ihr Diener hat angedeutet, dass Sie einen geschäftlichen Vorschlag für mich hätten. Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Dann ließ ich ungeschickt die Gabel fallen. Der Viscount reagierte nicht. So etwas musste ihm also normal vorkommen. Oder er nahm es, so wie ich es beabsichtigt hatte, als Zeichen, dass sein Gift zu wirken begann.

„Umso besser“, erwiderte der Viscount erfreut. „Kommen wir sofort zum Geschäft.“

Der Viscount berichtete mir ausführlich über seine Sammlung und seine Leidenschaft für Antiquitäten. Allerdings schilderte er es als eine harmlose Freizeitbeschäftigung, die Laune eines Aristokraten, und nicht mehr. Dann gab er seinem Wunsch Ausdruck, mein Medaillon zu kaufen, von dem er durch Zufall erfahren hatte. Als ein begieriger Liebhaber aller alten Gegenstände, so führte er aus, wäre er auf der Suche nach einem ebensolchen Objekt, um seine Sammlung zu komplettieren. Dabei spielte er den Wert des Medaillons gewaltig herunter. Er wollte wohl unbedingt verhindern, dass ich zu viel Geld dafür verlangte.