Bombay Smiles - Jaume Sanllorente - E-Book

Bombay Smiles E-Book

Jaume Sanllorente

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Beschreibung

Vom Mut, die Welt zu verändern

Eine Reise nach Indien verändert sein Leben: Angesichts der extremen Armut des Landes gründet Jaume Sanllorente die Hilfsorganisation »Sonrisas de Bombay« und bewahrt Tausende von Kindern vor einem Leben auf der Straße. Die beeindruckende Geschichte eines jungen Mannes, der sein Wohlstandsleben aufgibt, um den Kindern von Bombay ihr Lächeln zurückzugeben.

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Seitenzahl: 189

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Inhaltsverzeichnis
Inschrift
Vorwort
Kapitel 1 – Urlaub
Kapitel 2 – Das Puzzle
Kapitel 3 – Bombay
Kapitel 4 – Pooja
Kapitel 5 – Kavita
Kapitel 6 – Priyanka
Kapitel 7 – Noor
Kapitel 8 – Kartika Home
Kapitel 9 – Die weiße Wand
Kapitel 10 – Bis ans Ende meines Lebens
Kapitel 11 – Gott wird belohnen
Kapitel 12 – Lehrjahre
Kapitel 13 – »The Spanish Robin Hood«
Kapitel 14 – Göttliche Vorsehung
Kapitel 15 – Jedermanns Gott
Kapitel 16 – Rückkehr ins Leben
Kapitel 17 – Eine Karte für die Hoffnung
Kapitel 18 – Der Preis der Liebe
Kapitel 19 – Normalität
Kapitel 20 – Epilog
Das Lächeln eines unvorhergesehenen Schicksals
Schlussbemerkung
Kontakt
Bildnachweise
Copyright
JAUME SANLLORENTE, geboren 1976 in Barcelona, studierte Journalistik und arbeitete für eine spanische Wirtschaftszeitung. Bis ihn 2003 eine Reise nach Indien führte. Geschockt von der extremen Armut des Landes, gab er daraufhin seinen Journalistenjob auf und gründete die Non-Profit-Organisation »Sonrisas de Bombay«. 2005 wurde »Sonrisas de Bombay« in »Mumbai Smiles« umbenannt und bietet mittlerweile Tausenden von indischen Kindern ein Zuhause und eine Schulausbildung. Jaume Sanllorente lebt in Bombay/Mumbai.
www.mumbaismiles.org
In Liebe und Erinnerung an meine Mutter, Mercedes Trepat.
Jeder Farbfleck, jeder Klang eines Liedes, jede anmutige Form ist ein Appell an unsere Liebe.
RABINDRANATH TAGORE
Vorwort
von Nina Ruge
Ich konnte mich dem mystischen Sog dieses Lebensberichts nicht entziehen, vom ersten Satz an. Und Ihnen wird es genauso gehen. Weil er war – wie wir sind.
Jaume Sanllorente – vielleicht war er ein wenig exzentrischer als Sie. Vielleicht war er als Wirtschaftsjournalist mit ausgeprägtem Hang zum Nachtleben Barcelonas plus intensivem VIP-Kontakt weniger angepasst, weniger geerdet als Sie.
Doch das Grundmuster stimmt. Denn es ist durchwirkt mit jenen starken Fäden westlicher Selbstdefinition, die wir als selbstverständlich erachten. Er ist »völlig normal« in seinem Bestreben, größtmögliche Lebensqualität für sich zu erreichen. Worunter er nicht nur das eigene schwarz-elegante Motorrad versteht, sondern: persönliche Freiheit. Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Bindungen dürfen da nicht stören. Freundschaft mit Gleichgesinnten tut gut. Diskutieren gerne, Politisieren auch. Interesse für Yoga, sogar für Tiere. Doch die Frage nach den Wurzeln des Seins, die abgeschmackte Frage nach dem Sinn, vielleicht sogar nach der eigenen Bestimmung im Leben, die ließ er links liegen. Nicht, weil er von besonderer Oberflächlichkeit gewesen ist – oder von spanischer Machismo-Ignoranz. Nein. Er war Teil unseres kollektiven Denk- und Gefühlsmusters. Da fiel er nicht aus dem Rahmen. Er war halt wie wir.
»Unsere Träume und Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen und Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden.« – Jaume trat sozusagen in die Fußstapfen Goethes, nämlich eine indische Reise an. Und die Fähigkeiten, die in ihm lagen, wurden offenbar. Es war eine Urlaubsreise und keineswegs eine Liebe auf den ersten Blick. Indien – Traumland oder Horrorland für Wesen westlicher Prägung. Für Jaume war es Horrorland. Doch die Frage eines Reiseführers: »Wissen Sie, wie Ihr Taj Mahal aussehen wird?«, erwies sich bereits als Vorbote dessen, was Jaume zu leisten imstande sein würde. Denn das Taj Mahal gilt als das »Bauwerk aus Liebe« schlechthin. Jaume begann in jenem Moment mit den Bauarbeiten für sein persönliches Taj Mahal.
Dazu musste er sich allerdings erst mal aus seinem Gefängnis befreien. Genauer gesagt, aus UNSEREM Gefängnis. Aus den Denk- und Gefühlsmustern, die unser Handeln alltäglich auf ein Zentrum hin steuern: auf uns selbst, auf unser Wohlergehen, auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung als Lebenssinn.
Um dieses egozentrische Weltbild zu weiten, um die Blickrichtung der Seele zu ändern, bedurfte es etlicher mystischer Schockerlebnisse in den Slums von Mumbai. Ja, er spricht von »mystischen Erfahrungen«, die in Drastik und Grauen dem Oscar-Wunder Slumdog Millionaire in nichts nachstehen. Babys werden ertränkt, weil sie Mädchen sind. Eine Frau wird von ihrem Mann halbtot geprügelt, weil sie so furchtbar unter eiternden Wunden an den Beinen leidet, dass sie nicht mehr betteln kann. Kinderseelen werden in abgewrackten Bordellen getötet, ihre Körper bis jenseits jeder Vorstellungskraft missbraucht und verstümmelt. Der Mensch als Vieh? Viecher untereinander tun sich so was nicht an.
Die Hölle auf Erden. Verrohung, moralisches Niemandsland. Eine Parallelwelt der Mitleidslosigkeit, für die sich niemand interessiert.
Genau das ist die Erfahrung, die Jaume »mystisch« nennt. Denn sie legt in ihm den Hebel um. Sie ändert die Blickrichtung. Er starrt nicht mehr auf sich selbst – sondern auf die, die niemand sieht.
Auf 40 Waisenkinder in einem Lager von Vasai, einem Dorf nördlich des menschenverachtenden 14-Millionen-Molochs Mumbai.
Er widmet sein Leben diesen Kindern. Was logischerweise zur Folge hat, dass er radikal aus seinem alten Leben springt, dass er Job, Kontinent und Lebensstandard wechselt.
Er hätte tun können, was so gut wie alle von uns tun, wenn sie abgrundtiefe Verlassenheit, aussichtsloses Leid gesehen haben: Wir drehen uns erschüttert um, flüchten nach Hause in unsere watteweiche heile Welt, versuchen zu verarbeiten und verdrängen dann. Nicht Jaume. Er entdeckte, dass seine Lebensfreude mit jedem kleinsten Fortschritt wuchs, mit jedem Kind, das gesund wurde – mit jedem, das die Schule und damit den Weg in ein etwas besseres Leben schaffte.
Jaume lebt heute in diesem Waisenhaus in Indien, arbeitet dort hart – härter als in den meisten europäischen Knochenjobs -, für die Non-Profit-Organisation »Mumbai Smiles«. Und er ist ein zutiefst zufriedener, ein glücklicher Mann.
Den Weg dorthin beschreibt er auf so offene, authentische Weise, dass er uns mitten im Herzen berührt. Und auch in der Bauchnabelregion beginnt es zu rumoren. Er hat die Blickrichtung geändert. Das könnte ja jeder tun …! Zumindest rein theoretisch. Und praktisch auch.
Denn er war ja wie wir.
Nina Ruge
München, im November 2010
1
Urlaub
Wir denken an unser eigenes Leid nur. Dem Leid der Menschheit gegenüber verschließen wir uns.
KRISHNAMURTI
Tausende Sterne leuchteten in jener Märznacht am Himmel. Sanft schäumend umspülte das Wasser meine nackten Füße, das Mittelmeer lag ruhig da und strahlte Ruhe und Frieden aus. Hinter mir überragten die beiden Türme des Olympischen Dorfes die Stadt – seit 1992 zusätzliche Wahrzeichen Barcelonas. Wie auf einer Postkarte, dachte ich. Damals verstand ich noch nicht, dass es nicht darauf ankommt, eine Postkarte zu betrachten, sondern darauf, ein Teil von ihr zu sein.
Ich hatte eine anstrengende Nacht hinter mir, wir hatten praktisch ohne Pause durchgearbeitet. In dem Restaurant, in dem ich jobbte, um mir etwas dazuzuverdienen, waren die Rolling Stones samt Crew zu Gast gewesen. Das war meine Wochenendbeschäftigung: mich in einem der besten Lokale der Stadt um Prominente zu kümmern.
In diesem Restaurant verkehrte die High Society Barcelonas – und gelegentlich der ganzen Welt: Musiker von internationalem Rang, Weltstars verschiedenster Branchen, Politiker, Prinzen und Prinzessinnen, der geborene und der selbst ernannte Adel sowie die üblichen schillernden Gestalten, die üblicherweise die Stars umschwirren. Meine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass sich alle wohl fühlten. Was im Grunde bedeutete, alle denkbar schwierigen Situationen zu meistern – etwa verärgerte Kunden dazu zu bringen, das Lokal mit einem Lächeln zu verlassen. Ich musste mich um die Reservierungen kümmern, die Gäste in Empfang nehmen und mir den Lieblingstisch jedes einzelnen Stammgastes merken.
Es war eine tolle Zeit. Mit den Kollegen, mit denen ich mir die Nächte um die Ohren schlug, hatte ich eine Menge Spaß. Ich teilte Freud und Leid mit ihnen. Wie ich mussten sie Zumutungen und Launen klaglos ertragen, alleine, damit es bis zum Monatsende reichte. Wir amüsierten uns aber auch nicht wenig. Eines kann ich über diese Zeit auf alle Fälle sagen: Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt.
Außerdem arbeitete ich als Journalist bei einer Wirtschaftszeitung. Oft kam ich erst um vier Uhr morgens ins Bett und musste um sechs wieder aus den Federn. Aber ich fand es toll. Mir war klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, und vielleicht genoss ich es gerade deswegen umso mehr – wegen dieser merkwürdigen Gelassenheit, wegen diesem Gefühl von Vorfreude sowie gespannter Erwartung, das uns mitunter eigen ist, sobald wir meinen, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden.
Ich verfasste tagaus tagein Außenhandelsartikel. Ich verfasste Marktanalysen, schrieb über Hafenbewegungen, Transport- und Logistikabkommen – und tagaus tagein trug ich eine Krawatte! In die Wirtschaft war ich mehr oder weniger zufällig hineingestolpert, ich hatte es nämlich während meines Studiums der Journalistik versäumt, mir darüber Gedanken zu machen, in welchem Bereich ich eigentlich arbeiten wollte. Doch mit der Zeit lernte ich den Wirtschaftsjournalismus zu schätzen, trotz der öden Konferenzen und der oft absurden Machtkämpfe von Managern, über die ich zu berichten hatte.
Man könnte sagen, es fehlte mir an nichts: Ich hatte Arbeit, Familie, Freunde, ich war jung … Ich war rundum zufrieden mit meinem Leben und hatte nicht vor, es zu ändern.
Ich wollte mir nicht eingestehen, dass der stressige Arbeitsrhythmus der letzten Monate langsam seine Spuren hinterließ. Die Asthmaanfälle, unter denen ich seit meiner Kindheit leide, waren in den letzten Wochen häufiger geworden, und die Menschen in meinem Umfeld gaben mir immer öfter zu verstehen, was an sich auf der Hand lag: Selbst wenn ich mit meinem Leben und meiner Arbeit rundum zufrieden war und es mir im Prinzip gut ging – ich war ganz offensichtlich urlaubsreif.
In jener Nacht, als ich unter dem Sternenhimmel im Sand saß und dem Meeresrauschen lauschte, überkam mich ein ganz neues Gefühl: »Eine Sehnsucht nach dem, was kommen könnte« – so dürfte es ein Literat wohl bezeichnen.
Am nächsten Tag wollte ich ein Reisebüro aufsuchen und einen Flug nach Kapstadt buchen. Ja, mein Entschluss stand fest: Ich wollte nach Südafrika. Oder in ein anderes afrikanisches Land. Meine Abschlussarbeit an der Uni hatte ich über den Völkermord in Ruanda geschrieben, über die Verantwortung der Weltgemeinschaft für die grausamen Gemetzel, die 1994 in dem wunderschönen Land der tausend Hügel geschehen waren. Seither hatte ich die Entwicklung der politischen Lage in Afrika mit großer Anteilnahme verfolgt, hatte Bücher und Artikel zur Geschichte dortiger Länder verschlungen. Die Region der Großen Seen hatte es mir besonders angetan.
Ich stieg auf mein Motorrad, um eine Runde durch das nächtliche Barcelona zu drehen. Ich liebte es, auf dieser wunderschönen, schwarz glänzenden Maschine durch die Straßen zu brausen, ein unvergleichliches Gefühl war das. Ich genoss es, die Gran Vía hinunterzudüsen, dann weiter über die Calle Marina und die Avenida Diagonal, und die Stadt zu verschiedenen Tageszeiten auf mich wirken zu lassen.
In dieser Nacht fuhr ich zum Montjuïc, ich hatte gehört, der Magische Brunnen sei wieder in Betrieb, wie immer im Sommer oder an besonderen Feiertagen. Früher fuhr ich oft mit meinem Londoner Freund Carl Berrisford dorthin. Er konnte von dem Spektakel aus Licht, Musik und Farben nicht genug bekommen. Wir schauten uns die Wasserspiele an und bestaunten die Schönheit der jungen Spanierinnen, die einem in solchen Sommernächten, braungebrannt und in betörende Düfte gehüllt, wie Gestalten aus einem indischen Märchen vorkamen.
An einem kalten Januartag, ich aß mit ein paar Freunden in einem kleinen Restaurant am Meer, klingelte mein Telefon. Ich wünschte, ich hätte diesen Anruf nie bekommen. Carl war in Soho von einem Auto angefahren worden und lag nach dem Unfall im Koma. Als ich mit dem nächsten Flug in London eintraf, war Carl bereits nicht mehr am Leben. Vielleicht war er nun an einem besseren Ort, an dem es Springbrunnen mit Licht- und Farbspielen und hübsche schwarzhaarige Mädchen gab, denen man ewig zuschauen konnte.
Seit jener Zeit stattete ich dem Magischen Brunnen zum Gedenken an meinen Freund jedes Jahr einen Besuch ab. In jener Märznacht wollte ich mir in aller Ruhe die Wasserspiele anschauen. Als ich ankam, sah ich, dass der Springbrunnen ausgeschaltet war. Es dämmerte bereits und die Parkwächter sahen mich befremdet an. Ich stieg wieder auf mein Motorrad, machte kehrt und rauschte über die Gran Vía nach Hause.
Am nächsten Tag musste ich nicht in die Redaktion, wollte den Vormittag für meine Reisevorbereitungen nutzen. Ich hatte seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht und ununterbrochen gearbeitet. Mein Erspartes dürfte es mir erlauben, für ein, zwei Monate zu verreisen, ohne dass ich allzu sehr aufs Geld achten musste.
Ich ging ins nächstbeste Reisebüro. Die beiden Angestellten dort wirkten sympathisch und gutgelaunt. Inzwischen vertraue ich meinem ersten Eindruck, meiner Intuition immer häufiger. Wir sollten viel öfter unserer Intuition trauen, dem allerersten Gefühl, das sich einstellt, noch bevor wir überhaupt einen Gedanken fassen.
»Was können wir für dich tun?«
»Ich habe Urlaub und würde gerne verreisen, weiß aber nicht genau wohin. Afrika würde mich reizen, es kann aber auch ein anderes Land sein. Meinetwegen auch die USA oder Skandinavien.«
Wir sahen uns an und prusteten alle drei los. Einen Kunden mit derart unklaren Vorstellungen hatten sie hier wahrscheinlich schon lange nicht mehr gehabt.
Marta und Ramón hießen die zwei vom Reisebüro. Wir mochten uns vom ersten Augenblick an und kamen schnell ins Gespräch, allerdings über alles Mögliche, nur nicht über mein Reiseziel.
Als ich das Büro verließ, war ich nicht viel schlauer als vorher, und so schaute ich im Laufe der Woche noch mehrmals auf einen kleinen Plausch bei Marta und Ramón vorbei.
Die beiden waren professionell und zuvorkommend, wir hatten uns in kürzester Zeit angefreundet. Durch Marta lernte ich das Raja Yoga kennen, eine Form des Yoga, die von der Brahma Kumaris-Vereinigung praktiziert wird und als das königliche Yoga oder das Yoga der Beherrschung bezeichnet wird. Mehrfach nahm Marta mich mit zu Meditationssitzungen in das Brahma Kumaris-Zentrum, das es seit einigen Jahren in Barcelona gibt.
»Warum fährst du eigentlich nicht nach Indien?«, schlug Ramón eines Tages vor. »Das wäre bestimmt etwas für dich. Ich war schon da und es hat mir wahnsinnig gut gefallen. Ich könnte dir ein paar Orte empfehlen, und ein paar Freunde habe ich dort auch.«
»Indien?« Ich war entsetzt. »Auf gar keinen Fall! Das ist wahrscheinlich ein wunderschönes Land, aber da will ich wirklich nicht hin. Der ganze Dreck, die Armut … Ich glaube, das möchte ich mir nicht ansehen.«
»Ich denke, dass es dir dort gefallen würde«, meinte Marta. »Du interessierst dich doch auch für Yoga, und das kommt schließlich aus Indien.«
»Also bitte!«, rief ich empört. »Ich bin doch nicht irgend so ein Hippie, der zu einem Selbstfindungstrip nach Indien fliegt. Hört bloß auf!«
Der spanische Schriftsteller Miguel de Unamuno hat gesagt, wer reise, sei entweder auf der Suche nach seinem Schicksal oder auf der Flucht vor jenem Ort, von dem aus er aufbricht. Ich wollte weder das eine noch das andere. Aber irgendwie – wie und warum, das ist mir bis heute nicht ganz klar – überzeugten mich Marta und Ramón am Ende dann doch noch.
Ich buchte das Paket »Indien in Freiheit« und reiste wenige Tage später durch Rajasthan bis hinunter nach Varanasi. Wie sich zeigen sollte, lag Unamuno gar nicht so falsch: Indien sollte mein Schicksal werden.
2
Das Puzzle
Wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir nicht irgendwann frei sein werden, sondern dass wir es bereits sind.
Jeder Gedanke, wir seien gebunden, ist eine Illusion. Jeder Gedanke, wir seien glücklich oder unglücklich, ist eine große Illusion.
SWAMI VIVEKANANDA
Mein Flug ging morgens in aller Frühe. Am Abend hatte ich noch im Restaurant gearbeitet und nur wenige Stunden geschlafen. Um halb vier nahm ich ein Taxi zum Flughafen El Prat.
»Sie sind mein Guinness-Rekord«, meinte der Taxifahrer zu mir. »So früh habe ich noch nie einen Gast zum Flughafen gefahren.«
Am Terminal angekommen, setzte ich mich erst mal in ein Café und frühstückte. Immer schon haben mich Flughäfen fasziniert, sie sind der ideale Ort, um Menschen zu beobachten. Wohin flogen die Leute? Woher kamen sie? Manche waren vielleicht auf der Suche nach etwas aufgebrochen, was ihnen fehlte, und brachten es jetzt mit nach Hause. Oder sie suchten erneut, anderswo. Einige verreisten vielleicht, um in der Ferne ihr Glück zu versuchen. Oder weil sie hofften, eine große Liebe fernab von hier zu finden. Für manche dieser Menschen konnte die Reise der Beginn eines neuen Lebens werden. Für andere bedeutete ihre Rückkehr das Ende einer Flucht, die aber für immer in ihre Erinnerung eingebrannt sein würde – als etwas, das Wirklichkeit hätte werden können und doch nur ein Wunschtraum geblieben war.
Manch einem kam ein Teil seiner Seele in irgendeiner fernen Stadt abhanden. Und so, wie ein Duft oder ein Lied einen in eine vergangene Zeit zurückversetzen kann, würde dieser Reisende jenes Glück noch einmal erleben, wenn er eines Tages an diesen bestimmten Reiseort zurückkehrte und sich an Augenblicke erinnerte, in denen er das Leben rein und intensiv gespürt hatte.
Sicher waren manche dieser Reisen nicht nur ein einfacher Urlaub, wie ich ihn vor mir hatte. Es machte mir jedenfalls großen Spaß, mir alles Mögliche auszumalen.
Dann dachte ich wieder über meine eigene Reise nach, ging in Gedanken noch einmal die Route durch und notierte mir die einzelnen Stationen in meinem kleinen Notizbuch: Zuerst würde ich in Amman zwischenlanden, wo ich ein paar Stunden Aufenthalt hatte. Ich hoffte, dass ich Gelegenheit haben würde, mir die jordanische Hauptstadt wenigstens kurz anzusehen. Dann ginge es weiter nach Delhi.
Ich freute mich darauf, allein zu reisen. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Einzelkind bin und immer schon gewohnt war, mich mit mir selbst zu beschäftigen, ohne Gesellschaft auszukommen. Es ist mir nie schwer gefallen, alleine zu sein. Im Gegenteil. Ich habe es immer genossen, Zeit für mich zu haben – und ich genieße es heute noch.
Über den Flug gibt es nicht allzu viel zu erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, wer neben mir saß, oder ob unterwegs etwas los war. Ich vermute, es war ein ziemlich normaler Flug, wie ich schon einige erlebt hatte: ein wenig Schlaf, ein bisschen lesen, ein paar unwesentliche Turbulenzen.
Der Zwischenstopp in Amman allerdings war sehr vergnüglich. Ich kam mit vier sehr sympathischen und amüsanten jungen Spanierinnen ins Gespräch, die mit dem gleichen Reiseveranstalter nach Indien unterwegs waren wie ich und denen ich auf meiner Route später noch einmal begegnen sollte.
»In wenigen Minuten landen wir in Delhi.«
Der Singsang der Stewardess holte mich aus dem Schlaf. In Kürze würde ich Indien sehen, wo ich vorhatte, einen knappen Monat zu verbringen. Und wenn es mir dort nicht gefiele? Wenn ich es nach einer Woche satthätte und schleunigst wieder nach Hause wollte?
Wir landeten und die Flugzeugtüren öffneten sich. Ich aber blieb sitzen, wartete, dass die allgemeine Hektik abebbte, die doch am Ende jedes Flugs unweigerlich ausbricht. Als alle Passagiere ausgestiegen waren, schnappte ich mir mein Handgepäck und trat auf die Gangway, während mir ein bestimmter Satz durch den Kopf ging: Wie komme ich dazu, in ein Land zu reisen, für das ich mich noch nicht mal interessiere?
Als ich durch die Flugzeugtür ins Freie trat, schlug mir warme, schwere Luft entgegen. Ein stechender Geruch stieg mir in die Nase, ein Geruch, der mich die ganze Reise über begleiten sollte.
Wie schlecht dieses Land roch! Und wie unerträglich heiß es hier war!
Nach einigem Hin und Her kam ich endlich an mein Gepäck und ein Kleinbus brachte mich zum Hotel. Es lag in der Nähe des Connaught Place, einem der belebtesten Plätze der Stadt, gewissermaßen dem Dreh- und Angelpunkt Neu-Delhis, mit seinen zahlreichen Läden, Hotels und Restaurants.
Es war gegen acht Uhr abends, schon dunkel. Auf den Straßen herrschte reger Betrieb. Überall Lichter, kleine Läden, vor allem aber: ein unsägliches Gewimmel. Noch nie im Leben hatte ich dermaßen viele Menschen auf einem Haufen gesehen!
Im Hotel angelangt, erledigte ich zunächst die Anmeldeformalitäten, ging dann aber gleich hinaus, um mich ein wenig umzusehen.
Was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht! Wo ich hintrat, prangten rote Flecken – später erfuhr ich, dass es sich um den ausgespuckten Saft des paan handelt, das viele Inder kauen, eine Angewohnheit, die dem Konsum von Tabak im Westen vergleichbar ist. Und das Gedränge. Man konnte kaum die Füße voreinander setzen, so dicht war es auf der Straße.
Erschüttert war ich auch über die Vielzahl herrenloser, vollkommen ausgemergelter Hunde. Unter ihrem dünnen, struppigen Fell zeichneten sich die Knochen ab. Manche hatten so tiefe Wunden, dass man rohes Fleisch sah. Diese armen Kreaturen hinkten und sahen einen mit dem Ausdruck tiefer Traurigkeit an.
Ich bin ein großer Tierfreund und -schützer und war immens betroffen. Später lernte ich, dass die üble Situation der Hunde mit dem Hinduismus zusammenhängt: Man glaubt in Indien nämlich, Diebe oder Menschen mit einem schlechten Lebenswandel würden als Hunde wiedergeboren.
Fast bei jedem Schritt stolperte ich über Obdachlose und Bettler, die auf der Straße schliefen oder einen verzweifelt anblickten. Überall trieben sich Kinder herum, Hunderte von halbnackten Kindern, die mit Abfällen spielten – tote Ratten waren wohl auch darunter. Und auf einmal, mitten in der Stadt, eine Kuh, die wie selbstverständlich auf der Straße spazierte, ohne dass sich jemand darüber wunderte. Wo ich auch hinschaute, aus jedem Winkel sprang mich das Elend an. Und ich litt. Später habe ich mich immer wieder gefragt, warum ich mir all das Elend so sehr zu Herzen nahm. Es hätte mich auch abstoßen können. Mir ist bis heute nicht klar, warum ich derart extrem reagierte.
Meine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Wie sollte ich bloß einen ganzen Monat hier aushalten? Ich wollte fort aus dieser schrecklichen Stadt. Nach Möglichkeit gleich.
In manchen Artikeln über mich wurde behauptet, ich hätte mich sofort in Indien verliebt, es sei sozusagen Liebe auf den ersten Blick gewesen. Aber das ist nicht wahr, das Gegenteil stimmt. Die erste Begegnung mit Indien hat mich zutiefst verstört. Wie hätte mich ein Ort, an dem es so viel Elend gab, faszinieren können?
In der Nacht tat ich kein Auge zu. Besonders die Bilder von den obdachlosen, bettelnden Kindern gingen mir nicht mehr aus dem Sinn. Sollte dies wirklich ein und dieselbe Welt sein – diese hier und die, in der ich bisher gelebt hatte? Wie konnte es heutzutage solche Verhältnisse geben? Als wäre man von einem Moment auf den anderen im Mittelalter gelandet!
Inzwischen erkläre ich mir die tiefe Verstörung dieser ersten Nacht mit einer Wandlung, die sich damals in mir zu vollziehen begann. Ich vergleiche es gern mit einem Puzzlespiel. Mein inneres Puzzle, man könnte es auch die Seele nennen, war in dem Moment des Schreckens in seine Einzelteile auseinander gefallen. Eine Leere entstand, in der es das Puzzle neu zusammenzusetzen galt. Stimmte also die Behauptung, dass man in Indien sein Wertesystem überdenken musste?
Ich blieb. Am nächsten Tag brachen wir auf nach Jaipur, einer wunderschönen Stadt – abgesehen von dem Dunst, der über allem hing und bei dem es sich um den alltäglichen Smog handelte. Ab diesem Augenblick begann ich jede Sekunde der Reise zu genießen.
Ich fing an, von Indien zu lernen. Die beklemmenden Gefühle der ersten Nacht waren weg. Ich kaufte mir ein paar Bücher, um mich mit dem Hinduismus vertraut zu machen, mit dem Kastensystem etwa. Ich wollte Indien und seine Menschen unbedingt verstehen.