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Joseph Hayes

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Beschreibung

Joseph Hayes, als Autor erfolgreicher Psycho-Thriller bekannt, überrascht hier mit einem liebenswürdigen, spritzigen Eheroman aus der New Yorker Theaterwelt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Joseph Hayes

bongo bongo bongo

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

Alle Personen, Geschehnisse und [...]Meiner Mutter und meinem [...]1. Kapitel Ach nee, Sie haben ein Stück geschrieben?2. Kapitel Nur Narren haben’s eilig3. Kapitel Vielleicht noch ein Hauch von Blutschande4. Kapitel Vergebliche Liebesmüh’5. Kapitel Kampfgeschrei und Propagandarummel6. Kapitel Der Klub der Schlaflosen7. Kapitel Wahnsinn, umfange mich8. Kapitel Je größer die Abstinenz, desto heißer die Liebe9. Kapitel Auf in den Kampf10. Kapitel L heißt Liebe und Leidenschaft11. Kapitel Ohne mich12. Kapitel Hände weg von meinem Mann13. Kapitel Vorsicht! Schauspieler! Nicht füttern!14. Kapitel Unmöglich – das heißt nicht möglich15. Kapitel Sturm im Wasserglas?16. Kapitel Bin ich wirklich brav?17. Kapitel Statt dessen einen Apfel essen18. Kapitel Bis daß der Tod uns scheide19. Kapitel Bongo, bongo, bongo20. Kapitel Was nun?21. Kapitel Die Welt in der Tasche22. Kapitel Nicht böse sein!23. Kapitel Hauptsache – glücklich!

Alle Personen, Geschehnisse und Schauplätze dieses Romans sind frei erfunden.

 

 

 

Meiner Mutter und meinem Vater

und dem Andenken meiner Freunde

Gilbert Gabriel und Kyle Crichton

und meiner Frau Marijane,

die mich das Lachen lehrte,

dankbar zugeeignet.

1. Kapitel Ach nee, Sie haben ein Stück geschrieben?

Ein Alptraum hat unweigerlich eine gewisse bizarre Logik, besonders wenn es ein echter Alptraum ist und nicht nur eine nächtliche Reaktion auf Hummer und Anchovis. Miriam Travis’ Alptraum begann, wie nur die logischsten und entsetzlichsten zu beginnen pflegen, auf sehr angenehme und sehr alltägliche Weise, noch dazu am strahlend hellichten Tag.

Sie kaufte gerade in einem Supermarkt ein, irgendwo zwischen Bergen von Mehltüten und soliden grünen Wänden eingemachter Gurken (wenn man Kaffee suchte, war er immer irgendwo versteckt), als ein Wirbelsturm in Gestalt von Mrs. Sheila Norton über sie hereinbrach. Ohne auch nur die geringste Vorwarnung. Es gehörte zu Mrs. Sheila Nortons Methode oder Naturell, so überlegte sich Miriam, alles ohne Vorwarnung zu tun, von der richtigen Voraussetzung ausgehend, daß das Opfer irgendwo Schutz suchen würde, notfalls unter einem Felsen, wenn erst die Sturm-Ballons gehißt wären. Außerdem gehörte es zu Sheila Nortons vielseitigen Talenten, in Miriam das Gefühl zu erwecken, für sie sei dort, unter einem Felsen verkrochen, in Moder und Schlamm, ohnehin der passende Platz. An jenem Morgen im Frühherbst wurde Miriam plötzlich bewußt, daß sie, weiß Gott, schlimmer als ein Teenager aussah: in einem der ältesten Flanellhemden von Wade, in Hosen, die zwischen zwei nicht allzu ebenen Felsen in der Wildnis geplättet zu sein schienen, und in einem Schal, den sie wohl nicht mehr ganz rechtzeitig den Motten entrissen hatte. Da stand sie also wie in einer Falle gefangen, ausgeliefert der schicken und überwältigenden Frau des Ordinarius und Chefs ihres Mannes an der Universität. Und konnte sich nirgends verstecken. Und spürte, wie ihr ein idiotisches Lächeln von Begrüßung und Bestürzung das Gesicht verzerrte.

»Sie Geheimniskrämerin!« flötete Mrs. Sheila Norton mit einem durchdringenden Flüstern, bei dem die Gurkengläser sowie Miriams Zähne klapperten, »Sie kleine Geheimniskrämerin! Jetzt ist aber alles herausgekommen, meine Liebe. Ich weiß nun alles über Sie. Alles!«

Kein Hochzeitsgast hätte sich unter dem funkelnden Blick einer Ehrengarde hilfloser winden können als Miriam, mit der Kehrseite eng an die Mehlpakete gepreßt. Ihre Gedanken überschlugen sich: alles über mich, alles, alles?

»Oh, Sie haben uns herumraten lassen! Und wie Sie uns sittsam von Ihrem Schmollwinkel aus beobachtet haben! Wir hatten immer schon den Verdacht, daß an Ihnen irgend etwas dran sein müßte, sonst hätten Sie sich diesen großen, gut aussehenden Mann nicht schnappen können.«

Ja, irgend etwas sicher – aber was? Miriam wand sich wie ein Wurm, ihr dummes Lächeln gefror unter Mrs. Sheila Nortons kaltem, boshaft fixierendem Blick.

»Jetzt ist alles herausgekommen. Sie haben also ein Stück geschrieben! Oh, Sie brauchen es nicht abzuleugnen. Und Sie haben es sogar nach New York eingeschickt – was mehr Mut verlangt, als ich jemals hatte, wie ich noch Stücke schrieb!« Ihr schrilles Eingeständnis sank zu einem verschwörerischen Flüstern herab: »Und wenn das Stück von New York zurückkommt – dann werden wir eine Lesung im Drama-Klub der Fakultät veranstalten. Und dann werden wir es anschließend für Sie analysieren. Wäre das nicht ein Erlebnis für Sie?«

Miriam stieß einen Laut aus, der den Schlächter bei den Fleischwaren hinter der Theke nach einem Kätzchen suchen ließ. Der Wirbelwind trieb sie weiter in die Ecke.

»Sie wissen es vielleicht nicht, aber als ich hier studierte, war ich die führende Schauspielerin an der Universität. Als ich GESPENSTER spielte, sagten alle, ich sei besser gewesen als die Nazimova. Natürlich haben wir Ibsen etwas revidiert. Wir haben die Art der Krankheit verändert, meine ich. Nur ein paar Leute im Zuschauerraum – diese Anglistiktypen – erkannten den Unterschied. Wovon handelt Ihr Stück?«

»Nicht von Krankheiten«, hörte Miriam sich schwach krächzen. »Das heißt –«

»Meine Güte«, kreischte Mrs. Sheila Norton, daß Miriam fast das Trommelfell platzte, »Sie sagen immer die zauberhaftesten linkischen Dinge! Wie fällt Ihnen das bloß immer ein? Nun, ich habe genug Zeit verplempert, meine Liebe. Sie müssen mich jetzt vorbeifahren lassen. Warum macht man nur die Gänge immer so eng?«

Nachdem die Drahtkorbwagen auseinandergezerrt waren, senkte Miriam den Kopf und preschte in panischer Angst auf die Kasse zu. Als sie hinausgewitscht und hinter das Steuer des Volkswagens gerutscht war, gestand sie sich langsam ein, daß sie das Zusammentreffen, das schon fast ein Zusammenprall war, in Verwirrung gestürzt hatte. Als sei sie vorher nicht verwirrt gewesen. (Und den verdammten Kaffee hatte sie auch nicht gefunden!) Leute wie Sheila Norton übten unweigerlich eine seltsame Wirkung auf sie aus: sie verlor jede Selbstachtung.

Da kenne sich einer aus! Zauberhaft linkisch, wirklich – wahnsinnig! Sie fand es selbst abscheulich, so vor Wut zu kochen – was sie aber nicht am Kochen hinderte. Als sie vor fünf Wochen die verpackten Manuskripte, sechs Kopien, in den Briefkasten plumpsen ließ, hatte sich der Seufzer der Erleichterung schnell in einen beständigen und nervenaufreibenden inneren Angstschrei voll zitternder Spannung verwandelt. Der süße Rausch geheimer und strahlender Zuversicht, der sie während der siebzehn Monate des Schreibens getragen hatte – siebzehn, man beachte! – war fast sofort schal geworden. Bis sie seit kurzem ihre Gefühle so unter Kontrolle bekommen hatte, daß man meinen konnte, sie gingen ihr nicht mehr unter die Haut.

Welch aberwitzige Vorstellung, irgend jemand könne genug Interesse aufbringen, diese einhundertunddreißig Seiten dahingefaselten Kauderwelschs überhaupt zu lesen! FURCHT DER ENGEL, ein Stück in drei Akten von Miriam Travis.

Es half dabei kein bißchen, aber auch kein winziges bißchen, sich auf der Fahrt zur Wohnung im Fakultätsgebäude vor Augen zu halten, daß die Luft prickelnd war und die Bäume am See in den herrlichsten Farben prangten. Fußballwetter. Oh, noch einmal jung sein. Oh, und sich nicht darum scheren, ob in dieser Saison Wisconsin oder Indiana um den zehnten Platz in der Liga der Großen Zehn kämpften. Es half auch weniger als ein bißchen, sich selbst mit Gewalt daran zu erinnern, daß ihr Leben, mit neunundzwanzig, genauso war, wie das Leben einer Frau von neunundzwanzig sein sollte, und alles bot, was eine temperamentvolle, ziemlich gesunde, junge amerikanische Ehefrau eines Universitätsprofessors erwarten oder verlangen konnte und sollte. Wie viele junge Frauen hatten zum Beispiel einen Mann, der nicht nur wie ein intellektueller Ex-Mittelstürmer aussah, sondern ein intellektueller Ex-Mittelstürmer war? Außerdem: Doktor der Naturwissenschaften, außerordentlicher Professor der Chemie, der Neid seiner mißgünstigen Kollegen, von ihren Frauen bewundert, anerkannter Meister in der Öffentlichkeit auf dem gesellschaftlichen Parkett und im Privatleben auf dem amourösen Sektor.

Wenn Wade überhaupt einen Fehler hatte – und sie zögerte immer mit schlechtem Gewissen, diese Möglichkeit angesichts der unheimlichen Sammlung eigener Mängel zu erwägen –, dann war es seine Tendenz, sie in den merkwürdigsten Augenblicken und an den seltsamsten Orten daran zu erinnern, daß er schon über dreißig war und daß sie sich jeden Tag dieser Klippe mehr näherte. Oder wie er, der verwünschte Kerl, es mit plumper Originalität zu formulieren pflegte: »Wir werden beide nicht jünger, Ma.« Wie konnte er dabei übersehen, daß dies nichts anderes bewirkte, als daß sie die Zähne zusammenbiß und in Windeseile an die anderen zehn Stücke dachte, deren Umrisse sie schon im Kopf hatte. Was Wade damit ausdrücken wollte, war natürlich, daß nach seinem ureigenen Fahrplan ein glücklich verheiratetes Paar ein Kind haben sollte, ehe die Frau dreißig war. Unvermeidlich verdarb ihr seine Anspielung auf dieses Thema zu solchen Zeiten nicht nur den Tag oder den Abend, sondern verstärkte auch ihre Entschlossenheit, etwas Eigenes zu leisten, ehe sie sich mit seiner sehr befriedigenden Hilfe ein Kind leistete. Vielleicht weil sie es schon fast aufgegeben hatte, ihm ihren Standpunkt begreiflich zu machen, grenzten ihre Diskussionen, besonders seit der Absendung des Stücks, schon gefährlich an ausgesprochene Streitereien. Allerdings hatte sie einige, für eine angehende Schriftstellerin zugegebenermaßen unglückliche Formulierungen gebraucht: »Siehst du das nicht ein? Ich möchte leben, ehe ich völlig aus dem Leim gehe.« Wade behauptete, diese unvorsichtige Bemerkung enthülle einen Mangel des universellen weiblichen Instinkts, der die Rasse vor dem Aussterben bewahre. »Wie kannst du aus dem Leim gehen«, hatte er gefragt, »wenn du jede Möglichkeit dazu vermeidest?« Voller Panik hatte sie daraufhin versucht, ihn zu überzeugen, daß ihre mütterlichen Instinkte intakt seien, und hatte geradeheraus erklärt, daß ihr Zögern schließlich nicht ein Komplott gegen den Fortbestand der menschlichen Rasse sei.

Auf gewisse Weise hatte es dafür allerdings Kompensationen voller Ironie gegeben – insofern als zusammen mit seinen mündlichen Attacken Wades Liebesbezeigungen an Häufigkeit und Intensität zunahmen. Obwohl er damit seinen Zweck nicht erreichte, hatten sie doch einer sonst freudlosen Wartezeit eine gewisse Würze und Erregung verliehen.

Doch die Frage, die sie verfolgte, blieb: warum war sie so, wie sie war? Glaubte man ihren intellektuellen Freunden, die jede Nacht mit den Geistern von Freud und Jung und Karen Horney einschliefen, so hatte jeder Mensch eine verborgene seelische Wunde. Auf Grund eines winzigen Symptoms würde dies jeder fortgeschrittene Psychologiestudent gern bestätigen. (War Stückeschreiben ein Symptom, ein Wunsch, oder ein Hunger nach Erfolg?) An der Universität war es Mode, die seelischen Wunden einem so großen Kreis von Vertrauten unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu zeigen und so darin herumzuwühlen, daß sie bald zum öffentlichen Anliegen und zum Thema von Cocktail-Party-Vermutungen wurden. Nun, lieber würde sie ihre Wunde nicht erkennen, als sie in aller Öffentlichkeit zu analysieren, nein Danke!

Als sie den Wagen vor dem Fakultätsgebäude parkte, trat ihr Vater unter dem steinernen Bogen des Portals heraus – ein Bild männlicher Würde und gepflegter Kultiviertheit. Ein gut aussehendes Musterbild – aber wovon? Sobald er sie sah, zuckte er zusammen, blieb aber mannhaft stehen.

»Keine Anrufe«, berichtete er, näherte sich dem Wagen und hielt ihr galant die Tür auf, während sie sich mit zwei riesigen Lebensmitteltüten abplagte. »Die Post liegt auf dem Tisch in der Diele. Hast du Artischocken aufgetrieben?«

»Danke, daß du auf meine Rückkehr gewartet hast«, sagte sie.

»Tochter, dieser ironische Unterton ist alles andere als attraktiv. Ich bin für den Klub schon spät dran. Und nachdem das Telefon in den ganzen Wochen nicht geläutet hat, besteht auch kein Grund zu der Annahme, daß es heute läuten würde, nicht wahr?«

Miriam stemmte die Tüten hoch und ging fast in die Knie, als sie die Stufen hinaufstieg. »Du bist mir wirklich ein großer Trost«, sagte sie.

Rufus folgte ihr. »Falls du mich zum Prügelknaben machen willst, bitte sehr.« Er ging an ihr vorbei und hielt mit großer Geste die Tür auf. »Ich werde erst sehr spät heimkommen. Du brauchst nicht auf mich zu warten.«

Sie war im Haus, und er spazierte die Straße hinunter, hob grüßend eine Hand zu seinem Homburg. Spät. Sehr spät. Wenn überhaupt. Sie kämpfte sich die Treppen hinauf bis zum ersten Stock, Rufus eilte in seinen Klub – ihrem von beiden Seiten respektierten Kodewort für seine amourösen Streifzüge. Seine letzte Herzensbindung galt einer Witwe, die am entgegengesetzten Ende der Stadt wohnte und, wie er sagte, den besten Coupe Danmark zubereitete, den er jemals gekostet hatte. Aber durch solche Ausreden konnte er die Fassade der Wohlerzogenheit nicht aufrechterhalten oder Wade und sie über die tatsächlichen Attraktionen der Witwe hinwegtäuschen. Einen Halbstarken im Haus zu haben, überlegte sich Miriam, während sie mit Lebensmitteln, Handtasche und Schlüssel herumfummelte, wäre ein Genuß im Vergleich zu einem noch immer vitalen und mannhaften Sechzigjährigen wie Rufus. Die Post lag tatsächlich auf dem Tisch in der Diele, aber sie schaute sie nicht an, sie wollte schließlich ihr Ritual respektieren: vorbeizugehen und die Lebensmittel in die Küche zu tragen, verlängerte die Qual der Spannung, hielt aber auch den schwachen Hoffnungsschimmer am Leben. Sie fragte sich oft, ob es wohl besser gewesen wäre, wenn sie im Alter von vier Jahren, als ihre Mutter starb, darauf bestanden hätte, Rufus Vater oder Paps oder Papa zu nennen, wie es andere Kinder taten. Achselzuckend ging sie zurück durch das Eßzimmer, durch das Wohnzimmer zur Post auf dem Tisch in der Diele; und sie summte. Da lag kein Briefumschlag von der Größe eines Manuskripts. Sie summte immer oder pfiff, aber Summen war leichter, weil sie nie genug Spucke zum Pfeifen übrig hatte, wenn jeweils die Post kam.

Sie sortierte die üblichen Rechnungen aus. Eine Postkarte mit dem Bild eines Fisches war aus St. Petersburg, Florida, gekommen, von Wades Mutter. Als ihre Finger den fünften Brief berührten, war ihr Summen zu einer lauthals gesungenen Arie aus TRISTAN geworden. Eine Ecke des Briefes zeigte den Aufdruck: JONATHAN KELLAWAY PRODUCTION. Ihr Gesang brach ab, als hätte ein Messer die Stimmbänder zerschnitten. Sie riß mit zitternden Fingern den Umschlag auf und begriff endlich, was Romanciers mit dem Ausdruck ›wie festgewurzelt dastehen‹ meinten. Sie las die Nachricht und verstand sie nicht ganz, las sie noch einmal, und die Zeilen verschwammen ihr vor den Augen.

Dann stolperte sie aus der Wohnung über die Stufen, als existierten sie nicht, schoß zur Haustür hinaus und rannte die Straße hinunter. Als sie auf einem der gewundenen Wege auf dem Universitätsgelände einbog, sah sie das Glitzern der Sonne auf dem See und Leute, die sich nach ihr umdrehten. Sie hörte eine Klingel läuten, als sie das Chemiegebäude erreichte, aber sie erfaßte die Bedeutung erst, während sie die Stufen hinaufging und Scharen von Studenten, alle Gedanken aufs Mittagessen gerichtet, explosionsartig aus dem Gebäude quollen. Die Welle drehte sie einmal im Kreis herum, aber sie schob sich in einem Endspurt hindurch, auf den Wade stolz gewesen wäre. Sie überrannte fast einen zierlichen Professor, in dem sie entfernt den Mann erkannte, der bei Partys immer einen russischen Tanz versuchte und dabei jedesmal auf den Rücken fiel. Zum erstenmal überwältigten sie nicht die Gerüche im Labor, wahrscheinlich, weil sie überhaupt nicht Luft holte.

Wade bemerkte sie zuerst gar nicht. Sie blieb stehen. Der Grund, warum er sie nicht sah, war einfach: er beugte sich über ein Mikroskop und neben ihm stand eine Studentin in einem hellen, so engen Pullover, daß sie im ersten verblüffenden Augenblick oberhalb der Taille nackt schien. »Ich weiß nicht, warum ich es nicht einstellen kann«, sagte das Mädchen mit einer klangvollen, schmollenden Stimme; Wade trat zurück und riet ihr, es jetzt zu versuchen, und sie setzte sich hin und beugte sich vor; ihr blondes Haar fiel in die Stirn, während sie hilflos murmelte: »Ich werde sicher bei dem Kurs durchfallen, wenn ich nicht dahinterkomme.«

»Das stimmt«, sagte Wade. »Das werden Sie.«

»So ein Mann ist mir noch nie begegnet«, sagte das Mädchen, verdrehte den Nacken und lächelte ihn strahlend und betörend an.

Darauf wandte Wade sich ab und schien – wie Miriam voller Hoffnung meinte – verächtlich den Kopf zu schütteln. Als er sie sah, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. »Miriam!« Dann wurde sein Tonfall plötzlich besorgt. »Was gibt’s?«

»Hier können wir nicht reden«, sagte sie und ging auf den Korridor hinaus. Sie spürte den abfälligen Blick des Mädchens, als hätte sie ein Experiment gestört, das ein Heilmittel gegen Gicht hervorzubringen versprach.

Wade folgte ihr, nahm ihren Arm und brummte: »Es kann doch nicht zwei ganze Wochen dauern, bis jemand lernt, wie man in ein Mikroskop schauen muß!« Er knirschte mit den Zähnen. »Meine Güte, die werden jedes Jahr dümmer.«

»Ich fände sie wesentlich dümmer«, meinte Miriam, »wenn sie einen andersfarbenen Pullover tragen würde.«

Mit Wade in einem überfüllten Gang zu promenieren, rief in ihr immer ein merkwürdiges Gefühl der Eifersucht, verbunden mit einer wilden, animalischen Besitzgier hervor. Heute war sie sich allerdings nicht darüber im klaren, ob die weiblichen Spezimen der Studentenschaft Wade heimliche Blicke kindlicher Anbetung zuwarfen oder ob es sie einfach verblüffte, daß ein Professor seinen Arm um ein Geschöpf gelegt hatte, das entsetzlich verloren und ungepflegt aussah und nur soeben in voller Lebensgröße einem Reagenzglas entstiegen sein konnte – und nun wußte der arme Mann nicht, wohin mit ihm.

»Wade«, sagte sie, »du wirst es nie erraten. Jonathan Kellaway wird mein Stück aufführen.«

Wade stolperte über seine eigenen Füße und warf ihr einen Blick zu, in dem zu falschen Teilen gemischt Erstaunen und Ungläubigkeit lagen. Sie drückte ihm den Brief in die Hand. Er las ihn langsam, während sie die Treppe hinabstiegen. Es klingelte nochmals. Nun lag das Universitätsgelände wieder fast verlassen da. Schließlich schob er seine Unterlippe vor, seine typische Grimasse, der meist ein beschwichtigender Kommentar folgte. »Das … was du sagst, ist nicht ganz korrekt, nicht wahr, Liebling?«

Sie riß ihm den Brief aus der Hand. »Nicht korrekt?« Sie hörte, wie sich ihre Stimme etwas überschlug. »Hast du ihn denn gelesen?«

»Mr. Kellaway schreibt, daß er dein Stück gelesen hat und daß er sich gern mit dir darüber unterhalten würde, wenn du einmal nach New York kommst.«

»Also, du hast deine Nase so lange in Reagenzgläser gesteckt – und Mikroskope eingestellt! –, daß du nicht mehr lesen kannst! Er ist interessiert! Das schreibt er doch, nicht wahr?«

»Nuun …«

»Warum sollte er sich sonst die Mühe machen zu schreiben?« Sie drückte den Brief an sich. »Warum sollte er sonst das Manuskript behalten?«

»Langsam, immer langsam – beschimpf mich doch nicht gleich! Ich weiß, daß er interessiert ist, irgendwie. Wally hat auch von ihm einen Brief bekommen.«

Sie blieb stehen. »Wally? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Ich hatte dazu noch keine Gelegenheit. Nachdem Wally vorgeschlagen hatte, ihm das Stück zu schicken, erkundigte sich Kellaway bei Wally – was für eine Frau du bist.«

»Hoffentlich hat Wally ihm das nicht geschrieben«, sagte sie schnell.

Wade schüttelte den Kopf. »Miriam, das mußt du dir abgewöhnen. Warum sollte Wally ihm nicht schreiben, was für eine Frau du bist? Du bist ein ausgesprochen feiner Kerl und du sollst aufhören, dich schlecht zu machen. Wally meinte, ich sollte dich warnen, daß Kellaway in New York irgendwie zu den verblichenen Größen gehört – seine letzten Stücke sind durchgefallen, er hat seit Jahren kein erfolgreiches Stück mehr gemacht. Er ist einer von den alten Hasen, die wieder ins Rennen zu kommen versuchen.«

Empört sagte sie: »Aber Wally hat ihn empfohlen! Wally –«

»Nicht direkt«, meinte Wade nachsichtig, »du hast Wally gefragt, weil er Theaterwissenschaftler ist, ob er irgendwelche Produzenten in New York kenne, und er sagte, daß Jonathan Kellaway der einzige sei, den er kennt.«

»Wade«, rief sie, »was tust du mir an?«

»Antun?«

»Und warum? Willst du nicht, daß Jonathan Kellaway mein Stück aufführt?«

Zugegebenermaßen basierte der Lauf der Welt auf Wades Art von Logik, aber seine Neigung zur Haarspalterei war doch kein Grund, ihr den Tag zu verderben, nicht wahr?

Auf dem Heimweg war Wade in ein, wie er hoffte, beredtes Schweigen verfallen, aber Miriam hielt es, lang bevor sie in der Küche Dosen öffnete, für schmollende Gereiztheit, wenn nicht überhaupt für Neid. Da erlebte sie den absolut aufregendsten Tag ihres Lebens und hatte niemand, mit dem sie die Freude teilen konnte! Und was tat sie? Öffnete Dosen. Briet Haufen von Hackfleisch! Und ertrank förmlich in Selbstmitleid. Und hätte vor Wut spucken können!

Als Wade in die Küche kam, vermied sie, ihn anzusehen. »Schatz«, sagte er, und sie erkannte sofort diesen bestimmten Wollen-wir-doch-vernünftig-sein-Tonfall, »um deine Frage zu beantworten: ich bin nicht sicher, ob ich wünschen soll, daß Jonathan Kellaway, oder irgendein anderer, dein Stück produziert. Zieh keine Schnute – hör mal zu. Einerseits will ich nicht, daß du verletzt oder desillusioniert wirst. Und das könnte geschehen, wenn nicht alles klappt. Und außerdem, egoistischerweise –«

»Jetzt«, sagte sie, »kommt’s heraus.«

»Man kann«, erinnerte er sie nachsichtig, »zwei Motive haben, die beide gut und richtig sind.«

»Ich bin nicht einer von deinen Studenten«, erinnerte sie ihn nun ihrerseits. »Wenn ich’s wäre, würde ich einen Pullover tragen.«

»Verdammt, Miriam, wenn du gleich einschnappst –«

»Ich warte auf deinen egoistischen Grund, Liebling –«

»Nun, jedes bißchen Ermunterung, das du bekommst –«

»Diesmal ist es mehr als Ermunterung!«

»Jede neue Ermunterung, die du bei deiner Schriftstellerei bekommst«, fuhr er mit betonter Geduld fort, »dient dir als Ausrede, unsere Pläne hinauszuschieben.«

»Ich persönlich halte dies nicht für den richtigen Augenblick, um über Babys zu sprechen.«

»Ich spreche nicht über Babys! Ich spreche von den zehntausend Dollar Treuhandvermögen, die dir deine Mutter hinterlassen hat und mit denen wir, plus meine Ersparnisse, ein Haus auf dem Land bauen wollten.«

»Ein Haus auf dem Land«, sagte sie sehr einsichtsvoll und nickte. »Ein Haus auf dem Land, damit wir mit dem Kinderkriegen anfangen können.«

»Verdammt, wir können sofort mit dem Kinderkriegen anfangen.«

»Wenn du mich dazu kriegst«, sagte sie spöttisch.

»Ich könnte es probieren«, warnte er.

»Sobald du mich anrührst –«

»Miriam, hör zu. Wahrscheinlich ist es sowieso nur ein Sturm im Wasserglas. Dieser Bursche Kellaway war sicher nur höflich, weil er Wally entfernt kennt.«

»Höflich?« Sie trat einen Schritt zurück. »Das hast du also –« Ein leichter Geruch verbrannten Rindfleischs erfüllte die Küche. »Und wenn ich jetzt New York anrufe und ihn frage?« sagte sie. Ihre Blicke bohrten sich kurz ineinander. »Nun?«

»Nur zu, wenn dich die bittere Wahrheit heiterer stimmt.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt, ging in die Diele und rief ihm über die Schulter zu: »Das Fleisch brennt an.«

»Laß es anbrennen!« rief er ihr nach.

Sie nahm den Brief aus der Tasche, wählte das Amt, gab die New Yorker Nummer mit erstaunlich beherrschter Stimme an und äußerte den Wunsch, Jonathan Kellaway persönlich zu sprechen. Ob sie die bittere Wahrheit wissen wollte? Wer sagte denn, daß sie bitter war? Vielleicht war er zum Mittagessen ausgegangen. Sie hörte zuerst nur Stimmengemurmel am anderen Ende. Dabei stellte sie sich vor, wie er an einem großen, leeren Schreibtisch in einem Dachgarten-Büro saß, hinter ihm die Silhouette der Wolkenkratzer, ein etwas schäbiger Kerl mit ausgefransten Manschetten, der die Stirn runzelte und Wer? fragte, als die einem Modejournal entstiegene Sekretärin ihren Namen nannte.

Und richtig fragte eine eisige Stimme: »Wer ist am Apparat?« Sie zitterte und war versucht, »Nur Alice Adams; streichen Sie das Gespräch«, zu sagen, aber dann murmelte sie ihren Namen.

Während sie weiter wartete, lange genug, um Mr. Kellaway Zeit für ein Bad und eine Rasur zu geben, hörte sie hinter sich ein Brummen an der Wohnungstür, die sich dann öffnete. Joan Thomas stürmte herein, gab Miriam einen Kuß auf die Stirn und rief aus: »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt gewesen!« Sie stürzte ins Wohnzimmer. »Wally sagt, man könnte meinen, es ginge um mich!« Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. »Was riecht denn da so?«

»Ich«, sagte Wade.

»Oh«, rief Joan voller Entzücken. »Ihr habt euch gestritten? Wundervoll!«

Miriam hörte Wade eine Erklärung murmeln, die sie glücklicherweise nicht verstand, und sah, wie Joan sich auf das Sofa fallen ließ. »Wally erklärt mir immer, daß ihr das nie tut! Sooft er richtig wütend auf mich ist, behauptet er, ihr seid das ideale Ehepaar. Könnt ihr euch etwas Ekelhafteres vorstellen?«

Als Miriam gerade die ganze Sache mit einem Seufzer der Erleichterung aufgeben wollte, hörte sie eine männliche Stimme am anderen Ende. »Mrs. Travis?«

»Ja.«

»Wie reizend von Ihnen, mich anzurufen, meine Liebe. Ich nehme an, Sie haben meinen Brief erhalten?«

»Heute morgen.«

»Das ist aber nett.«

»Ja.« Aber so sicher war sie nicht mehr.

»Und haben Sie vor, in Kürze einmal nach New York zu kommen?«

Er sagte wenigstens ›in Kürze‹, nicht wahr? Mit einem Leeregefühl irgendwo in der Nähe der Bauchspeicheldrüse redete sie sich schnell selbst ein, daß dies wenigstens eine gewisse Verbesserung gegenüber der mehr allgemeinen Formulierung des Briefes sei.

»Mrs. Travis, sind Sie noch da?«

Und ob sie noch da war. Sie war da und stellte sich den unsichtbaren kleinen Ticker oder Zeitzähler vor, der die Ferngesprächssekunden unbarmherzig registrierte und die Kassen der Telefongesellschaftsaktionäre mit Wades schwerverdientem Geld füllte. Mit schlechtem Gewissen, schwerer Zunge und schweigend blickte sie ins Wohnzimmer: Wade starrte zum Fenster hinaus, während Joan auf der Couch kniete, auf der kaputten Federung auf und ab schaukelte und vehement fragend gestikulierte.

»Ist jetzt Kellaway am Apparat?« Sie flüsterte laut und überdeutlich. »Frag ihn, wer Regie führt! Und wann Premiere ist!« Unaufhörlich tickte der Zähler weiter. »Miriam, was wirst du anziehen?« Währenddessen stand Miriam da und preßte den Hörer an den Magen, als sollte Kellaway auch kein einziges Knurren entgehen.

Wade wandte sich um. »Joan, sei um Himmels willen vernünftig, bitte! Bis jetzt ist noch nichts abgemacht.«

Das war das Stichwort. Miriam hob den Hörer ans Ohr, und ihre Zunge wurde gefügig. »Mr. Kellaway –«

»Ah, ich dachte, Sie hätten aufgehängt –«

»Ich kann übermorgen in New York sein.«

»Nun, das ist aber eine angenehme Überraschung.« Oh, so ein unverbindlicher Kerl. Ob Wade wohl recht hatte? »Ausgezeichnet. Wie werden Sie kommen?«

»Wenn nötig, schwimme ich«, sagte sie mit zusammengepreßten Lippen.

Dem folgte eine verblüffte Stille, darauf ein leise rumpelndes Lachen. Dann sagte die sanfte Stimme: »Es freut mich, daß Sie Humor haben, meine Liebe. Er wird Ihnen helfen, wenn es an die Korrekturen geht.«

»Korrekturen?«

»Das Manuskript kann etwas heitere Auflockerung brauchen, wissen Sie.«

»Aber ich habe es schon neunmal korrigiert!« blökte sie.

»Nun«, sagte die Stimme beruhigend, »Sie kennen ja das Sprichwort: Stücke werden nicht geschrieben, sondern umgeschrieben. Ich wünsche eine angenehme Reise. Und kriegen Sie keine kalten Füße.«

»Auf Wiedersehen, Mr. Kellaway.« Dann fügte sie kleinlaut hinzu: »Vielen Dank.«

Es klickte am anderen Ende der Leitung – das letzte Klicken, das wahrscheinlich und gottlob endlich den Zähler stoppte.

»Nun?« fragte Joan. »Nun? Schieß los! Was hat er gesagt?«

»Er sagte –« Sie holte tief Atem und spürte, wie ihr ein idiotisches Lächeln ins Gesicht stieg, als sie Wade in die Augen blickte. »Er sagte, es sei ein wunderbares Stück. Wunderbar. Und er will es sofort bringen. Und ich soll so schnell wie möglich nach New York kommen, um ihn bei der Verteilung der Rollen zu beraten.«

Wade betrachtete sie nun halb amüsiert, halb skeptisch. »Ich habe um zwei eine Vorlesung und muß mich mit einer Bratwurst versorgen.« Er ging zur Tür und holte seinen Mantel.

»Was ist denn mit dir los, Wade? Du tust so, als wärst du überhaupt nicht-stolz darauf!«

Wade hängte sich den Mantel über eine Schulter und ignorierte Joan. »Ein Mensch kann mehr als zwei Motive haben, die gleichzeitig gelten. Weißt du, Miriam, mir gefällt es hier so, wie es jetzt ist. Schade, daß es dir nicht so geht. Ich hasse Veränderungen.« Er ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu, ehe sie ein Wort der Entgegnung fand. Er zog sie leise ins Schloß – was wiederum erschreckend war, da Wade immer ein oder zwei Türen zuschlagen mußte, wenn er wirklich wütend war.

Das sah ihm ähnlich heute, nicht einmal Türen zuzuwerfen!

»Das«, meinte Joan sanft und pfiff einmal leise, »das ist ungefähr das Rührendste, was ich jemals aus dem Mund eines Mannes gehört habe.«

Mit schwankenden Knien wankte Miriam zu einem Stuhl und ließ sich darauf sinken. Sie spürte eine Art zitternder Spannung: war in den letzten sechzig Minuten, ohne daß sie es völlig begriff, etwas geschehen, das ihr ganzes Leben bestimmen oder verändern würde? Ihr Leben und das von Wade. Und wenn ja, hatte sie nicht genau das mit aller Gewalt zu erreichen versucht? Und warum bezog Wade das auf sich? Wie konnte er bloß!

Joan hielt es wieder nicht mehr auf ihrem Platz. »Stell dir vor: eine Berühmtheit! Du. Ausgerechnet du!«

»Danke«, sagte Miriam benommen. »Das hat mir noch zu meinem Glück gefehlt. Wie bist du nur auf diese taktvolle Bemerkung gekommen?«

Joan lachte schallend, räkelte sich auf ihrem Stuhl und starrte an die Decke. »Siehst du! Es fängt schon an. Na, bald kennst du dich selbst nicht mehr!«

»Kannst du mir das garantieren?« fragte Miriam.

»Miriam!« Joan war plötzlich aufgestanden. »Ich verstehe gar nicht, daß du überhaupt noch atmen kannst! Stell dir mal vor! Dein Name in Neonbuchstaben! Aufnahmen in den Zeitungen und Illustrierten! Interviews! Stell dir vor!«

»Wade haßt Bratwurst. Sogar auf dem Fußballplatz. Und jetzt wird er ein halbes Dutzend essen, aus lauter Eigensinn.«

2. Kapitel Nur Narren haben’s eilig

Nachdem man Miriam mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vom La Guardia Flughafen in die Stadt gefahren und mit noch nervenaufreibenderer Langsamkeit in einem Zimmer im Plaza Hotel deponiert hatte, war sie so aufgeregt, daß sie den Reißverschluß am Rock kaputt machte, dann wie wild ihr Gepäck nach einer Sicherheitsnadel durchstöberte und als sie endlich ausgehen wollte, einen Augenblick im Türrahmen stehenbleiben mußte, um sich zu vergewissern, daß sie nicht einen braunen und einen schwarzen Schuh trug. In der Hotelhalle, die von wohlerzogenem Stimmengewirr und einem eleganten Haute-Couture-Hauch vibrierte, war sie sicher, daß ihre Strumpfnähte schief saßen, und als sie endlich in ein Taxi geflüchtet war, ohne dem Portier ein Trinkgeld zu geben, hatte sie das untrügliche Gefühl, jeder Gepäckträger und Gast im Plaza wüßte, daß ihr Rock nur dank einer schlichten und ordinären Sicherheitsnadel zusammenhielt. Während ihrer drei früheren Besuche in New York war ihr die Fifth Avenue nie so geschäftig und einschüchternd erschienen: wie wußten bloß so viele Menschen so genau, wohin sie wollten? Aber erst das Theaterviertel – denn Broadway ist nicht am Broadway, wie jede Trine vom Land weiß – ließ ihr Herz ängstlich höher schlagen: Was wollte sie eigentlich hier? Ihre Theatererfahrung war, vornehm ausgedrückt, eher begrenzt. Also: sie hatte die Chargen ›römische Bürgerin, Bote, Bürger‹ in College-Stücken gespielt, ehe die anderen in ihr einen idealen Beleuchter erkannten. Und dann, nach ihrer Heirat, hatte sie an der Volksbühne mitzuarbeiten versucht, bis ihr das Brimborium gesellschaftlichen Unsinns verbunden mit dem Kampfgeschrei der sich im Foyer während der Proben bis aufs Messer streitenden Komitees zum Hals heraushing.

Und ihre weiteren beruflichen Erfahrungen: war sie nicht immer die einzige Zuschauerin im Radio City Saal, die auf einen Fehltritt der Rockettes lauerte, der die ganze Reihe der Mädchen wie Zinnsoldaten umfallen ließ? Und hatte sie nicht mit großen Augen im obersten Rang bei jeder Wanderbühnenaufführung gesessen – von Romeos beginnender Glatze im Rampenlicht geblendet, keinen matronen- oder dragonerhaften Schritt der baßstimmigen Julia übersehend, begeistert von dem närrischen Rumba, als schließlich die Blüten in Spanien so grün grünten. Oh, wenn es auf die Erfahrung ankam, die hatte sie zur Genüge, inclusive Latein: sie wußte, was exeunt heißt. Doch jetzt kletterte sie aus dem Taxi vor einem Gebäude, das merkwürdigerweise kein Bürohaus, sondern ein Theater war – natürlich ohne Hausnummer. Der Fahrer versicherte ihr indessen beim Zählen des Trinkgeldes, es sei gewiß die richtige Anschrift.

Unerschrocken betrat sie das Foyer, das wie der marmorne Vorraum einer Höhle aussah, in der irgendein römischer Cäsar seine heimtückischen Löwen hielt. Nachdem sie mit einem brummigen Verkäufer oder Wächter hinter einem vergitterten Kassenfenster gesprochen hatte, war sie schon ziemlich eingeschüchtert. Ohne den Zahnstocher aus dem Mund zu nehmen, sagte er: »Das da drüben ist ein Lift, Fräulein.« Ein Lift im Theaterfoyer – was wird ihnen noch alles einfallen? Und aus lauter Jux, nur um alles normaler und verblüffender zu machen, noch dazu ein Selbstbedienungsaufzug. Im Innern der Kabine drückte sie angesichts einer vertikalen Reihe von Knöpfen auf irgendeinen. Vielleicht hielt Jonathan Kellaway im Keller Hof. Nichts passierte. Sie versuchte es nochmals. Nichts. Da rief ihr der Alte mit dem Zahnstocher quer durch das Foyer verächtlich mit einem gut modulierten, mitleidigen Unterton zu: »Sie sollten besser die Tür zumachen, Madame.« Natürlich, mit Vergnügen, schon um dem Alten mit dem Zahnstocher und seiner menschlichen Anteilnahme zu entgehen. Sie versuchte es nochmals und zappelte plötzlich in der Luft herum, als der kleine Aufzugkäfig unter spasmodischem Zucken und Schütteln nach oben schoß; dann schwankte er leicht, wodurch sie mit einemmal auf den Zehenspitzen stand, als unterstütze sie so die Aufwärtsbewegung; sie hörte die Kabel quietschen und stöhnen. Oh, sie befand sich gerade in der richtigen Verfassung, um Mr. Kellaway kennenzulernen: mit dem Gesichtsausdruck eines irrsinnig gewordenen Vogels, der zu oft gegen eine Glasscheibe gebumst war, würde sie in sein Büro wanken. Als der Aufzug seufzend anhielt, faßte sie mit einer Hand an den Hut, öffnete die Tür mit der anderen und trat blindlings hinaus.

Sie wurde von einer gewaltigen Frau mit einer tiefen Stimme an die Hand genommen oder umfangen, und durch ein Vorzimmer direkt ins Allerheiligste geführt oder getrieben. Dann vollführte die Riesin eine Verbeugung, einem Salaam ähnlich, wenn auch durch ihren Umfang abgemildert, und bewegte sich rückwärts zur Tür. Der Meister thronte hinter einem papierübersäten Schreibtisch und glich derart einem orientalen Buddha, daß Miriam nur wünschte, er möge aufstehen, nicht aus Höflichkeit, sondern damit sie seinen Bauch sehen konnte. Als er es nicht tat, reizte es sie, zu sagen »Der Berg ist gekommen«, aber sie beherrschte sich, und als er schließlich doch aufstand und mit einer kleinen, fleischigen ausgestreckten Hand auf sie zukam, entpuppte er sich als rundlicher Cherub mit rosigen Zügen, warmen und blitzenden Augen und Manieren, die gleichzeitig grandios und väterlich waren. Kaum hatte sie erleichtert Platz genommen stellte Miriam allerdings fest, daß sie entweder durch die Fahrt mit dem Lift taub geworden oder Mr. Kellaway ein Flüsterer war. Eine wilde Furcht schoß ihr durch den Kopf: im College war sie nur in Viktorianischer Literatur durchgefallen, und diesen Kurs hatte ein Flüsterer gelesen. (»Das zwingt Sie zur Konzentration«, hatte er gesagt und sich offensichtlich getäuscht.) Da sie Mr. Kellaway ohnedies nicht verstand, wandte sie ihre Aufmerksamkeit entschlossen dem Raum zu – so würde sie Joan wenigstens etwas zu berichten haben, wenn sie heimkam. Abgesehen von dem Schreibtisch wirkte er weniger wie ein Büro, sondern wie ein Museum oder wie eine Gemäldegalerie – Fotografien von Bühnenbildern, Skizzen von Kostümen, die jedes mögliche Fleckchen der ausgeblichenen Tapete bedeckten, und vergilbte Plakate mit den Namen von Stars; in der Ecke eine vermutlich leere Rüstung, auch einige Stühle mit hohen, geraden Rückenlehnen, die irgendwie an Mittelalter und Inquisition erinnerten; auf dem Schreibtisch ein spanisches Stilett in einer Scheide, daneben einige alte Gewehre, die absolut nicht todbringend aussahen, und eine goldgerahmte Fotografie einer Frau, die ein Kind hielt; die Frau sah jung und attraktiv aus, als führe der Wind durch ihr Haar, während das Kind nachdenklich lächelte. Hinter dem Fenster in Mr. Kellaways Rücken bot sich das hübscheste Bild des Ganzen dar: im Abstand von einem Meter die schmutzigste Klinkerwand, die ihr jemals unter die Augen gekommen war.

»… über Sie.«

Aufgeschreckt lehnte sie sich über den Schreibtisch. Hatte er sie gebeten, etwas über sich zu berichten? Oder hatte er sie gefragt, ob das Stück autobiographisch war? Er zeigte nun genau den gleichen gelassen-selbstzufriedenen Gesichtsausdruck wie jener Literaturprofessor in dem Augenblick, als er eine Sechs in sein kleines Büchlein eintrug. (Wenn ein Student ihn vermessen bat, einen Satz zu wiederholen, sandte er einen hilfeflehenden Blick himmelwärts und murmelte solche Verwünschungen vor sich hin, daß der ganze Hörsaal nervös wurde und sich sogar Fußballspieler in der letzten Reihe im Schlaf bewegten.) Trotzdem entschloß sie sich, es zu wagen. »Wie bitte?«, sagte sie.

»… verheirateter Professor … Freund von … Ihrem Mann –«

Hatte er gefragt, ob sie mit ihrem Mann befreundet war? »Mein Mann ist Chemiker«, berichtete sie, und ihr Gesicht verkrampfte sich vor Anstrengung. »Ein brillanter Chemiker! Ich bin Hausfrau.«

Er nickte, die Finger unter seinem Kinn in der Haltung eines betenden Mönchs. »… dieses Stück zu schreiben?«

Wie oder warum oder wann oder wie lange es dauerte – was hatte er gefragt? Ihre Gedanken überschlugen sich. Wegen des Geldes? Eineinhalb Jahre. Weil ich berühmt werden möchte. Schöpferischer Zwang. Flucht! Oh, zum Teufel damit. Sie versank in düsteres und hoffnungsloses Schweigen: und er sprach weiter. Schließlich verstand sie ein Wort: Sardi. Er stand wieder auf. Entweder sagte er ihr, daß er zu spät zum Mittagessen käme, oder er lud sie ein, mit ihm bei Sardi zu essen. Auf jeden Fall fuhr sie mit ihm zusammen in dem kleinen Lift hinunter, während er wohltuend schwieg, und sie betete inbrünstig, das marmorne Foyer noch einmal wiedersehen zu dürfen, nur noch einmal, bitte, lieber Gott. Draußen auf der Straße würde sie einfach in eine Richtung losmarschieren und sehen, was dann passierte.

Wie sich aber herausstellte, war dies nicht nötig: vor dem Theater nahm er ihren Arm und führte sie die Straße entlang, dann zwischen zwei Theatergebäuden durch eine Passage. Um das Schweigen zu brechen – und um Mr. Kellaway zu beweisen, daß sie sprechen konnte –, fragte sie: »Wie heißt dies?« und er erwiderte in hörbarer Lautstärke: »Schubert Alley, davon haben Sie sicher gehört.« Alles wurde wieder normal, und sie war dankbar. Soviel hatten sie wenigstens gemeinsam: die Straßenbezeichnungen.

Während sie darauf wartete, daß Mr. Kellaway seinen Mantel auszog und ihn dem Mädchen hinter der gläsernen Theke gab, konnte sie ihn betrachten, ohne neugierig zu wirken. Seine Eleganz war altmodisch. Ausgerechnet er und ausgefranste Manschetten – kein alter Hase, der wieder ins Rennen zu kommen versucht, kann sich solche Schneiderkünste leisten. Na, schon diese graue Weste – oder war es ein Gilet, sprich Schiläh? – mußte mehr gekostet haben als ihr bestes sicherheitsnadelbefestigtes Tweedkostüm, das ihr jetzt wieder peinlich war. Seine Manschettenknöpfe blitzten gülden und diamanten, als er die Jackettärmel über die Manschetten zog. Er führte sie zum Chefkellner, der ihn mit Namen begrüßte und sie zu einem Tisch links neben der Tür geleitete.

»… vergessen, daß Nachmittagsvorstellung ist«, murmelte Mr. Kellaway. »… Damen, Gott segne sie.«

Ihre Ohren gewöhnten sich allmählich an die schrillen Geräusche im Restaurant – fatal wurde sie an ein Vogelhaus im Zoo erinnert, wo sie als Kind entsetzt davongelaufen war, wenn sie sich zufällig in die Fütterungszeit verirrt hatte. Die nachmittägigen Damen quiekten und blökten und kreischten über Martinis und Daiquiris in ihrem schillernden Dschungelaufzug aus Satin und Samt und Seide. In dieser Ecke des Saales herrschte jedoch eine gewisse Stille, und bei einem verstohlenen Rundblick entdeckte sie mindestens drei Gesichter, die ihr bekannt vorkamen, ohne daß ihr die Namen eingefallen wären.

»… vor dem Mittagessen?« murmelte Mr. Kellaway, während er verschiedenen Leuten an anderen Tischen zunickte. Dann schaute er sie direkt an. »Bloody Mary?«

Sie schluckte verlegen. Ob sie einen Drink wolle? Ja, und ob – nach dieser Fahrt mit dem Lift brauchte sie wirklich einen. Aber sie wollte auch einen klaren Kopf behalten, soweit sie überhaupt noch einen hatte. Auf der anderen Seite, wenn sie keinen bestellte, würde Mr. Kellaway sich verpflichtet fühlen, ebenfalls auf seinen zu verzichten. Und wenn sie einen bestellte, dann könnte er zum voreiligen Schluß kommen, sie fange bereits am Mittag zu trinken an – eine unbefriedigte Hausfrau, die zwischen zwei Sauftouren ihre Stücke tippt. Nun, jedenfalls würde er ihr nie vorwerfen können, sie hätte ihren Drink übereifrig bestellt!

»Glauben Sie nicht auch«, hörte sie sich klar und deutlich sagen, »daß sich die ganze menschliche Rasse ruiniert, weil sie versucht, zu viele Entscheidungen auf einmal zu fällen?«

Der Kellner lächelte. Mr. Kellaway lächelte. Nachsichtig? Dann hob Mr. Kellaway zwei Finger in die Höhe, und der Kellner entfernte sich gnädig. Mr. Kellaway beugte sich über den Tisch und sagte den ersten zusammenhängenden und verständlichen Satz des Tages: »Eine Bloody Mary besteht zur Hauptsache aus Tomatensaft mit einem Spritzer Worcester Sauce – und natürlich Wodka.«

Sie seufzte, innerlich, und sagte: »Das klingt köstlich. Besonders, wenn man mit dem falschen Fuß aufgestanden ist.«

»Gut, Humor«, sagte Mr. Kellaway und fiel wieder in seinen Telegrammstil. »… kann man brauchen … verstehe, daß die Rentabilität des Theaters heute … hunderttausend Dollars, um ein Stück mit einem Bühnenbild zu inszenieren … noch nicht viele Jahre her, seit ein Regisseur noch seine eigenen Inszenierungen finanzierte … heutzutage Finanziers, Idioten, die von vornherein keine Ahnung vom Theater haben, um nicht mehr zu sagen –« Er machte eine Pause in seinen privaten Betrachtungen, als die Getränke serviert wurden, und trank ein paar Schluck. Dann beugte er sich wieder über den Tisch und sagte mit einem plötzlich besorgten Blick: »Wenn Sie’s nicht mögen, schicke ich es gleich zurück.«

Sie nippte an der Bloody Mary. Es schmeckte wie Tomatensaft, der zu lange im Warmen gestanden hatte. Trotzdem spitzte sie anerkennend die Lippen und bekannte, als hinge das Schicksal der Menschheit von ihrem Befund ab: »Das ist die beste Bloody Mary, die ich je versucht habe«, woraufhin sich Mr. Kellaway schmunzelnd zurücklehnte und sie einen langen Augenblick beobachtete, ehe er in seine persönlichen Reflexionen zurückfiel.

»… Schwierigkeit, einen Regisseur zu bekommen … arbeiten jetzt in Hollywood … glauben, sie seien Produzenten … Gewinnanteile … Stars sind noch schlimmer … Jahre, um Unkosten zu bezahlen, bis Gewinne entstehen …« Von ausreichenden Pausen unterbrochen, um sich umzusehen – er konnte es sich leisten, er war kein Tourist! – hatte er sich inzwischen bis weit über die Hälfte seines Drinks vorgearbeitet. »… Publikum verändert … aufwendige Musicals … Schocks und Nervenkitzel sogar in normalen Stücken … und früher war das Publikum schon schockiert, wenn ein Mann und eine Frau zusammen ins Bett gingen … jetzt müssen es schon zwei Homos sein und selbst das ist noch zu zahm für den Geschmack braver Hausmütterchen … aber gewiß langweile ich Sie, mein Kind?«

»Mich langweilen? Nicht im geringsten, Mr. Kellaway. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen ganz folgen kann, aber ich verstehe schon die Hauptsache. Sie wollen keine Stücke mehr inszenieren.«

Mr. Kellaway richtete sich auf, stemmte beide Hände gegen die Tischkante und betrachtete sie erschreckt. »Wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?«

»Ich dachte, die Kritiker sind der Tod des Theaters. So sagt man uns wenigstens in Wisconsin.«

»Meine Frau behauptet, ich würde in Wirklichkeit keine Stücke mehr machen wollen. Haben Sie das etwa mit meiner Frau besprochen?«

»Mr. Kellaway, ich kenne Ihre Frau überhaupt nicht. Aber mir scheint, sie hat recht.«

»Was ich überhaupt nicht leiden kann«, sagte er – und seine Augen, die sie vorsichtig abschätzend betrachteten, zogen sich zusammen – »das sind Frauen, die sich gegen mich zusammenrotten.«

»Nun«, sagte sie, erstaunt über sich selbst, »nun sitzen wir hier schon eine starke halbe Stunde, und über FURCHT DER ENGEL ist noch kein Wort gefallen.«

»Der Titel gefällt mir eigentlich nicht.«

»Ich finde ihn sehr hübsch.«

»Ja, das hatte ich befürchtet.«

»Was macht es Ihnen aus, wie ich mein Stück nenne, Mr. Kellaway?«

»Ich bin mir noch nicht schlüssig, ob es etwas ausmacht, Mrs. Travis. Sprechen Sie weiter.«

Er hatte seine Stimme erhoben. Jetzt drückte er sich auf einmal klar aus.

»Könnte ich noch eine Bloody Mary bekommen?« fragte sie.

»Aber – es tut mir leid … Ober! … Verzeihen Sie mir, ich war unaufmerksam.«

»Und glauben Sie nur nicht, ich sei ein Säufer.«

»Kein Gedanke, mein Kind.«

»Und ich bin eine geborene Broderick. Irischer Abstammung. Und neige zu Wutausbrüchen.«

»Ja, das merkt man. Mein Name ist Kellaway.«

»Angenehm.«

Mr. Kellaway schob seinen Stuhl zurück und brüllte vor Lachen. Sie schwieg, bis der Kellner mit dem zweiten Drink zurückkam. Mr. Kellaway wischte sich mittlerweile die Lachtränen aus den Augen. Er hob sein Glas und toastete ihr zu. »Würden Sie mit mir auf die Iren anstoßen?«

»Aber natürlich«, sagte sie, »aber dann sollte jemand langsam an ein bißchen Irish Stew oder so etwas denken. Im Flugzeug bekam ich Eier à la TWA und sonst nichts, und ich bin am Verhungern.«

»Wissen Sie was, mein Kind? Ich mag Sie.«

»Gut«, sagte sie, »zugegebenermaßen hatten Sie mir eine Weile Angst eingejagt, aber nachdem mir jetzt klar ist, daß Sie mein Stück auf keinen Fall machen wollen, finde ich Sie direkt menschlich.«

»Vielen Dank, meine Liebe. Was möchten Sie gern essen? Und wer hat behauptet, ich würde Ihr Stück nicht machen?«

»Ich schließe mich ganz Ihrer Bestellung an – wenn es nicht gerade Eier sind –, und Sie werden mein Stück deshalb nicht machen, weil Sie überhaupt keine Stücke mehr machen.«

»Sie sollten es nicht zu weit treiben, mein Kind, ich bin nämlich auch Ire und neige zu Wutausbrüchen. Oh, Ober – zweimal Cannelloni und zweimal gemischten Salat. Und ich werde ein Stück machen, sobald ich eines finde, das mich so sehr interessiert, daß ich gar nicht anders kann. Ihr Stück interessiert mich, aber vielleicht nicht genug, und das liegt an dem Selbstmord.«

Sie war leicht benommen, aber nicht unangenehm. Zumindest sprach man jetzt über etwas Greifbares, etwas, das sie sich auch schon überlegt hatte.

»Warum?« fragte sie.

»Die Leute mögen nun einmal keinen Selbstmord auf der Bühne.«

»Und DIE KINDERSTUNDE? Und SAAT DER GEWALT?«

»Melodramen. Ist Ihr Stück ein Melodrama?«

»Nein«, sagte sie.

»Eben«, sagte er. »Und nichts tut eine Schauspielerin, besonders ein Star, weniger gern als sich umbringen. In den Augen der Zuschauer gilt sie dann gleich als charakterlich minderwertig.«

»Nicht, wenn es die Zuschauer begreiflich finden. Es ist traurig.«

»Dem Publikum einer Nachmittagsvorstellung kann man gar nichts begreiflich machen. Und sie wollen sich nicht deprimiert in ihren Zug nach Bronxville setzen. Sie sind deprimiert genug, wenn sie wieder in Bronxville sind.«

»Wenn sie sich amüsieren wollen, sollen sie doch in ein Musical gehen.«

»Das, meine Liebe, tun sie ja gerade. Zu Tausenden, einen Monat um den anderen. Schauen Sie sich hier den allgemeinen Aufbruch an – all diese beschwipsten Matronen gehen jetzt geradewegs in das eine oder andere musikalische Lustspiel, glauben Sie mir. Hier sind unsere Cannelloni. Je mehr man darüber spricht, desto hoffnungsloser scheint die ganze Theatersituation. Vorsicht mit dem Teller, er ist heiß.«

Sie aßen schweigend. Schließlich, als sie es nicht länger aushielt – wie dumm, wegen einem Drink oder zweien die ganze Sache zu vermasseln – sagte sie: »Mr. Kellaway, ich bitte um Verzeihung.«

Mr. Kellaway hob sein cherubähnliches Gesicht und warf ihr einen enttäuschten Blick zu. »Liebes Kind, wenn Sie wüßten, wie erfrischend es ist, jemanden wie Sie zu treffen, dann würden Sie mir gestatten, um Entschuldigung zu bitten. Ich hatte schon geglaubt, daß die echten Menschen, die aufrichtigen Menschen, diese Erde zugunsten besserer Orte verlassen hätten. Und ich werde Ihr Stück machen, oder zumindest mich sehr bemühen, es zu machen, und ich werde mit Ihnen morgen einen Vertrag abschließen und Ihnen fünfhundert Dollar als Vorauszahlung auf spätere Einspielergebnisse zahlen, wenn Sie das Stück dort revidieren, wo es Ihnen vertretbar erscheint –«

»Fünfhundert Dollar?«

»… nur dort revidieren, wo es Ihnen vertretbar erscheint … aber der Selbstmord muß umgeschrieben werden.«

»Wie bitte?«

»Der Selbstmord – er muß weg.«

»Sonst kein Vertrag?«

»Ich kann kein Stück machen, an das ich nicht glaube, und ich kann nicht daran glauben, wenn ich den Schluß nicht verstehe.«

»Entweder – oder … so ist es doch?«

»Das Leben ist hart, Mrs. Travis.«

»Nein. Ich meine nein, danke.«

»Sie sollten es sich wenigstens überlegen.«

»Was glauben Sie, was ich in den letzten siebzehn Monaten getan habe?«

»Haben Sie jemals an einen anderen Schluß gedacht?«

»Ja.« Dann sagte sie: »Nein. Das war meine erste Idee.«

»Na, dann wollen wir hoffen, daß es nicht Ihre letzte war.«

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie trank die letzte Bloody Mary aus. Das war also Sardi. Wirklich, Sardi. Sie speiste in Sardis Restaurant. Wer hätte das gedacht. Bitte, gerahmte Karikaturen an der Wand, meistens Schauspieler, außer Brendan Behan. Wurden keine Schriftstellerporträts aufgehängt? Hielten sie so wenig von Schriftstellern? Na, in ihren Augen war das ein Minuspunkt für Sardi! Und diese – wie nannte er sie? – Cannelloni: wer konnte nach drei großen Gläsern Tomatensaft, Worcester Sauce und Wodka noch so viel Käse und was sich darunter befand verdrücken? Meine Güte. Der Raum drehte sich. Gottlob nur leicht. Und das Gekreisch hatte aufgehört. Die Dschungelvögel waren zu ihren Vorstellungen entschwebt, und sie hatte ihre erste und einzige Chance einer Broadwayproduktion ausgeschlagen. (Warum? Sie wußte es selber nicht recht. Lag ihr wirklich so viel an dem Selbstmord? Wenn es hier nur um die sogenannte Integrität ging, warum sollte sie sich darauf kaprizieren?) Und nun ergriff Jonathan Kellaway wieder das Wort; zumindest sah es so aus, als würde er sprechen. Glücklicherweise aber sprach er diesmal nicht mit ihr.

Nicht mit ihr, sondern mit Philip Carr. Ausgerechnet mit ihm. Und trotzdem wirkte es wie die natürlichste Sache von der Welt. Dort stand leibhaftig Philip Carr, Gesicht und Gesten kamen ihr altbekannt und vertraut vor, eigentlich noch vertrauter als bei irgend jemand im turbulenten Alltagsleben – das faltig-ebenmäßige Gesicht mit dem markanten Kinn und die hochgewachsene, magere Gestalt, die Millionen in schwarzweiß, in Cinemascope, in Vista-Vision, in Cinecolor, Technicolor und Metrocolor fasziniert hatte, als Held bei Kipling, Dumas, Hemingway, als Held ihrer eigenen Mädchenträume mit dreizehn Jahren. Nun stand er da, Philip Carr, lächelte zu ihr herab, berückte sie mit seinen blitzenden Zähnen, seinem dunkel gebräunten Gesicht, nahm ihre Hand, nicht direkt mit einer Verbeugung, aber mit dem deutlich erkennbaren Anflug einer solchen.

»Ausgerechnet Sie hier?« hörte sie sich sagen, Gott allein mochte wissen, was sie meinte, aber sie kicherte wenigstens nicht dabei. »Habe ich Sie nicht irgendwo schon gesehen?«

Oh, wie schlau, sehr schlau! Aber er lachte trotzdem, das tiefe, männliche Lachen, das in den Erinnerungen aller nicht fischblütigen Weiblichkeiten jenseits der Pubertät nachhallte. »Jonathan«, sagte er, und seine Stimme rollte mit stereophoner Klarheit, »Jonathan hat mir gestattet, Ihr Stück zu lesen, Miss Travis. Ein herrliches Stück. Diese packende Charakterdarstellung, diese Bühnenwirksamkeit, die Poesie der Dialoge – alles sehr schön und wahr.«

Er hatte es gesagt! Endlich hatte es jemand ausdrücklich gesagt! »Möchten Sie nicht Platz nehmen und mir mehr darüber sagen?« fragte sie. Welch göttlich schöner Mann, welch unmittelbar ausstrahlender Charme.

»Tut mir leid. Ich komme sowieso schon zu einer Verabredung zu spät. Muß mir den Klavierauszug eines musikalischen Lustspiels ansehen, für das sie mich haben wollen. Aber ich würde natürlich viel lieber in einem richtigen Stück spielen.« Er wandte sich an Mr. Kellaway. »Hast du mit ihr über den Selbstmord gesprochen?«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Wie, bitte?« krächzte sie.

Er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Der Selbstmord des Mädchens in Ihrem Stück – Jonathan und ich haben beide sehr bestimmte Ansichten in diesem Punkt.«

»Also«, sagte sie – und sie wußte, daß sie jetzt den Mund zu der von Wade wenig geschätzten Schnute verzog – »also ich auch.«

Philip Carr warf Mr. Kellaway einen Blick zu, aber der konzentrierte sich auf seine Cannelloni. »So, haben Sie?«

»Ja. Habe ich sehr entschieden.«

»Na schön«, sagte Philip Carr, »da kann man nichts machen.«

Ihr Herz klopfte immer noch stockend. »Mr. Carr«, fragte sie, »Mr. Carr – warum vertreten Sie einen so bestimmten Standpunkt hinsichtlich des Selbstmords? Haben Sie jemals Selbstmord begangen?«

Sie hörte den Widerhall des Gelächters von den umliegenden Tischen. Hätte Sie bloß leiser gesprochen; es wäre nicht sehr angebracht, bereits am ersten New Yorker Tag bei Sardi hinausgeworfen zu werden. Philip Carr lachte nicht. Philip Carr runzelte die Stirn. Und in mindestens zehntausend Filmen wackelten die Kulissen, zitterten die Bösewichte, flatterten die Lider der Schauspielerinnen, zerschmolzen die Zuschauerinnen von Sioux City bis Rangoon in ihren Sesseln, wenn Philip Carr die Stirn runzelte. Sie sah, stumm vor Hilflosigkeit, wie Philip Carr sich mit seiner Andeutung einer Verbeugung verabschiedete. »Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Miss Travis«, sagte er.

Blasierte, abwägende Blicke folgten seinem Abgang – Haupt hoch erhoben, Augen vorwärtsgerichtet, Schultern gerade. Im Geist hörte sie anschwellende Musik, plagiatisierter Schubert oder Saint-Saëns und Sibelius, Hufschlag der Pferde oder Trommelwirbel. Dann war er verschwunden. Und sie hatte nicht einmal mit sich reden lassen. Nun, welches Recht besaß er, mit ihr über das Ende ihres Stücks zu diskutieren? Sie hatte auch immer gefunden, daß er den Scheitel auf der falschen Seite trug – aber sie würde es ihm nicht auf den Kopf zusagen bei ihrer ersten Begegnung, noch dazu in der Öffentlichkeit.

Dann merkte sie, daß Mr. Kellaway irgend etwas brummte. Sie beugte sich vor, ihre Nerven waren in einem Aufruhr, sicher murmelte er jetzt, sie sei beim Tennyson Quiz durchgefallen – während der Raum wieder schwankte, nur einmal, und nicht so verrückt, gottlob.

»… bewundernswert … so etwas wie Integrität … Name eines Stars … Leuchtschrift …«

»Wie bitte, Mr. Kellaway?«

»Ich sagte, meine Liebe … Textbuch … Kassengarant … dieser Tage … kein großer Schauspieler, zugegeben, aber … diese Rolle … jedenfalls.«

»O ja«, sagte sie hoffnungslos. »Natürlich.«

»… meint, er wirkt wie ein ausgemachter Schuft, wenn das Mädchen Selbstmord begeht … muß geliebt werden, verstehen Sie?«

Nun schlug ihr Herz wieder, es hämmerte, als wolle es die Brust zersprengen. »Mr. Kellaway, wollen Sie sagen, daß Philip Carr den Geoffrey spielt, wenn Hedda sich nicht das Leben nimmt?«

»… Bösewicht … zu viel … verantwortlich … möglich … alle Schauspieler müssen das Gefühl haben, geliebt zu werden … von allen … und immer.«

»O mein Gott«, sagte sie.

»Wie, bitte?« fragte Mr. Kellaway – ziemlich deutlich.

»Ich habe es vermasselt – nicht wahr?«

Mr. Kellaway lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, gleichzeitig wissend und erstaunt und, in diesem Fall, voll Mitgefühl. »Nicht, wenn ich ihn anrufen und ihm sagen darf, daß ich Sie dazu überredete, den Selbstmord des Mädchens umzuschreiben.«

»Nein.« Was sagte sie nur?

»Oder ich könnte ihm sagen, daß Sie es sich überlegen wollen.«

»Nein.« Was sagte sie nur, und warum? »Das ist mein letztes Wort. Meine letzte Entscheidung.« Und dann, um die Sache abzurunden und um sogar sich selbst zu beweisen, daß sie entweder betrunken war oder ihren Verstand verloren hatte: »Finis.«

Während sie beobachtete, wie Mr. Kellaway die Rechnung abzeichnete, spürte sie einen Anfall von Reue, der sich noch verschärfte, wenn sie an den Preis des Flugscheins und des Hotelzimmers dachte, das sie nicht einmal benutzte. Es war alles umsonst gewesen. Ihr Stück würde sie jedenfalls nicht abändern. Auch nicht, wenn sie es nie auf einer Bühne sehen würde. Oh, sie hatte von diesen Pfuschern, diesen Barbaren, diesen Produzenten und Schauspielern und Regisseuren gehört, die sich einmischten – nachdem ein armer Schriftsteller zwei Jahre lang Herzblut und Mühe investiert hatte. Hätte sie Hedda eines anderen Todes sterben lassen wollen oder gar nicht, dann wäre das Stück von Anfang an anders angelegt worden.

Im Taxi, neben Mr. Kellaway, war sie nicht ärgerlich – nur vage und leise traurig. Bis sie an ihren Rückflug nach Hause dachte. An eine Rückkehr mit eingezogenem Schwanz. Geschlagen. Und die Fragen! Wade würde sie bemitleiden. Joan würde vor Verdruß jammern. Mrs. Sheila Norton würde sich die Lippen lecken. Was galt ihre Integrität gegenüber allen Beileidsbezeigungen? War es die eigene Integrität wirklich wert, zuschauen zu müssen, wie der Fakultäts-Theaterklub ihr wunderschönes Stück verdarb?

»… acht Uhr fünfzehn dann.«

»Acht Uhr fünfzehn?«

»Mrs. Kellaway und ich … Theater … Diner hinterher …«

Jemand hatte die Tür geöffnet, und sie stand auf dem Bürgersteig, nickte mit dem dummen Kopf. »… Acht Uhr fünfzehn … Theater … werd auf Sie warten.« Jetzt war sie auch schon so weit.