Der dritte Tag - Joseph Hayes - E-Book

Der dritte Tag E-Book

Joseph Hayes

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Beschreibung

Durch eine regennasse Straße New Yorks irrt ein Mann, durchnäßt, zerschunden und auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Wer ist er, wo kommt er her, wann und wie verlor er sein Gedächtnis? Er versucht, sich in sein altes Leben zurückzutasten und ringt, unter unsäglicher Spannung, um seine Identität. Welche Rolle spielt er bei den tragischen Vorfällen in seiner Umgebung? Er fühlt sich zur Verantwortung gezogen. Drei schreckliche Tage – bis er die Lösung der verwirrenden Fragen entdeckt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Joseph Hayes

Der dritte Tag

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jo Klein

FISCHER Digital

Inhalt

Für Marrijane, in Liebe9. Und Gott sprach: [...]Alle Personen, Handlungen und [...]Der erste Tag12345Der zweite Tag678910Der dritte Tag111213

Für Marrijane, in Liebe

 

 

 

9. Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also.

13. Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag.

Genesis.

Alle Personen, Handlungen und Namen

in diesem Buch sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig.

Der erste Tag

1

Er tauchte aus stillen, dunklen Tiefen empor; wie ein hinaufgleitender Fisch in toten, geheimnisvollen Wassern, vom Grund einer lautlosen See.

Dann, mit einem Einbruch tobender Laute und überwältigender Empfindungen, fand er sich an einer Straßenecke. Und allein. Klarheit überkam ihn mit solcher Intensität, daß sich alles in seinem Kopf drehte. Der Lärm war betäubend. Der Widerschein des Regens auf schwarzem Asphalt blendete ihn. Es war, als hätte sich in seinem Gehirn ein Verschluß geöffnet, und alles – der kreischende Verkehrslärm, die unglaubliche Hetze und Konfusion, der ganze rasende Tumult der Stadt – stürmte plötzlich einer Springflut gleich auf ihn ein. Es verschlug ihm den Atem. Ein Pfiff schrillte, die Fehlzündung eines Taxis knallte, Autobusse brummten und röhrten hinter ihm. Langsam kehrte sein Bewußtsein zurück, er spürte seine steifen, verkrampften Beine, den leeren Magen, seine merkwürdige Haltung, regungslos und schlaff zugleich, seine Sinne waren verwirrt, er fühlte sich wie ausgelaugt. Der steinerne Brunnen auf dem kleinen Platz quer über der Straße setzte in dieser Wirrnis einen unpassenden Akzent heiterer Ruhe.

Der Brunnen kam ihm bekannt vor. Er wußte, wo er war. Aber diese Erkenntnis brachte ihm, nach der anfänglichen Konfusion, keine rechte Erleichterung. Er war in New York, an einer Straßenecke. Hinter ihm erstreckte sich die Fifth Avenue. Auf der anderen Straßenseite stand das Hotel Plaza, und wenn er in ein paar Augenblicken ganz wach sein würde, dann würde er auch den Rest begreifen; warum er hier im Regen stand, naß bis auf die Haut, wie er hierher gekommen war, warum, was er vorhatte und – wer er war.

Schlagartig überfiel ihn panische Angst. Welch wüster, unwahrscheinlicher Gedanke! Natürlich wußte er, wer er war. Er konnte sich nur im Augenblick nicht auf seinen Namen besinnen, das war alles. Er taumelte, seine Knie wurden weich. Wenn er erst diesen Schwindelanfall überwunden hatte, würde ihm natürlich wieder alles einfallen. Wenn er nur still hielt und es mit sich geschehen ließ, sagte er sich, dann würde der Alptraum weichen, wie alle Alpträume unweigerlich weichen, und dann würde er in jener größeren Wirklichkeit erwachen, die, er spürte es, gleich jenseits seiner Bewußtseinsgrenze lag, und die er in ein oder zwei Augenblicken ganz begreifen würde. –

Ein Fiaker, von einem schwerfälligen Pferd gezogen, unauffällig und von einer rührenden Schönheit im trägen Verkehrsfluß, hielt am Bordstein vor ihm. Regentropfen glitzerten auf dem seltsam heiter wirkenden Zylinder des Kutschers, fielen auf seine Knollennase. Ein Pärchen stieg feierlich lächelnd aus, beide in ein privates und geheimes Glück gehüllt, das sie gegen das gehetzte Chaos um sie herum abschirmte. Er sah ihnen nach, wie sie unbekümmert durch den fauchenden Verkehrsdschungel über die Straße gingen und in einem Hotel verschwanden. Unvermittelt stieg eine Welle von Heimweh in ihm hoch. Sein Hals war zugeschnürt, sein Herz zuckte. Er war wie ausgehöhlt. Und einen kurzen Augenblick dachte er, er würde weinen müssen. Es war, als wüßte er, daß er etwas verloren hatte, etwas Wertvolles und Lebenswichtiges, oder daß er etwas Versprochenes nicht gefunden hatte; aber er hatte keine Ahnung, was es sein mochte, oder wer es ihm versprochen hatte, oder wann. Immer noch brannten seine Augen vor ungeweinten Tränen.

Er mußte weiter. Er konnte nicht hier stehenbleiben, steif und schwach in dem Gefühl, etwas verloren zu haben – traurig und für ewig verloren –, und mit einer ungewissen, namenlosen Anwandlung von Scham. Er überquerte die Straße zum Hotel, aber auf dem Bürgersteig davor verhielt er zaghaft seinen Schritt. Ob er dort hineingehen konnte? Er gehörte nicht ins Hotel Plaza. Sein Kopf zersprang fast vor einem ungeheuren, stechenden Schmerz, er bekam eine Gänsehaut und zitterte in der rauhen Luft. Wie konnte er ins Hotel Plaza gehen, wenn er nicht einmal seinen Namen wußte?

Der uniformierte Portier sah ihm entgegen, sein Gesichtsausdruck war von Berufs wegen undurchdringlich. Dann bemerkte er, wie der Mann die Augen zusammenkniff, als erkenne er ihn.

»Scheußlicher Morgen, nicht wahr?« sagte der Portier. »Der Regenguß hat sie anscheinend erwischt, Mr. Bancroft.«

Bancroft. Hatte der Mann Bancroft gesagt?

»Ich wußte nicht, daß Sie wieder da sind, Sir. Ist Mrs. Bancroft diesmal mitgekommen?«

Er wartete zum Glück nicht auf eine Antwort, sondern ging mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihm vorbei zu einer Limousine, die eben unter der Markise am Bordstein hielt.

Es waren nur ein paar Schritte bis zur Drehtür der Hotelhalle. Während er noch zögerte, ergriff ihn wieder die Panik. Der Portier hatte sich geirrt, hatte ihn mit jemand anderem verwechselt. Er stürzte die Straße entlang weiter.

Die Bäume im Park rechts gegenüber waren rostbraun mit gelben Flecken, einige waren schon ganz kahl. Central Park. Er erkannte den Central Park, nicht wahr? Und wenn die Blätter bunt waren, dann war es Herbst. Es würde ihm alles wieder einfallen, zur rechten Zeit, Stück um Stück. Herbst. Morgen. Aber welcher Monat? Welches Jahr? Welche Uhrzeit?

Er blickte auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 5 Uhr 37. Unmöglich. Um halb sechs Uhr morgens wären die Straßen noch verlassen. Und um halb sechs Uhr abends wäre es um diese Jahreszeit bereits dämmrig, vielleicht sogar dunkel. Er hielt die Uhr an sein Ohr: sie tickte nicht. Ganz automatisch zog er sie im Weitergehen auf. Und mit einem Mal wurde es ungemein wichtig, aus irgendeinem Grund, die genaue Zeit zu erfahren – unlogischerweise sogar wichtiger als zu wissen, wer er war.

An der nächsten Straßenecke blieb er stehen, um einen Entschluß zu fassen: nach rechts in die gewundenen Pfade des tropfenden, grauen Parks, oder nach links in eine der wenig einladenden Steinschluchten der City? Saß ihm die Panik auch nicht mehr so unmittelbar im Nacken, so verkrampfte sich sein Magen doch bei jedem Gedanken.

Ein Verkehrspolizist in Uniform dirigierte den Verkehr. Er blieb stehen. Was, wenn er einfach zur Straßenmitte ging, wenn er dem Beamten einfach erzählte, was geschehen war –

Aber Dickköpfigkeit, Stolz oder auch ein vorsichtiges Zögern hielten ihn zurück. Schließlich wußte er ja bereits seinen Namen. Der Rest würde sich finden. Früher oder später.

Er wandte sich nach Westen, der Sixth Avenue entgegen. Avenue of the Americas. Sein Widerspruchsgeist erwachte: er wußte, wo er war, oder nicht? Der Regen fiel nur noch leicht, aber er spürte die Nässe auf seinen Schultern und im Nacken wie eine dünne Eisschicht unter den Kleidern. Was, zum Teufel, suchte er hier, bei diesem Wetter, ohne Mantel?

Ihm fiel auf, wie die Blicke Vorübergehender über ihn hinwegglitten, nicht verächtlich, nicht einmal neugierig, nur abwesend und desinteressiert. Niemand kümmerte sich um einen. Wie war er zu dieser Erkenntnis gelangt? Wo?

Jeder Knochen im Leib tat ihm weh, aber diese Tatsache schien ihm nach einer gewissen Zeit gegenstandslos, absolut unwichtig. Ein Taxi streifte ihn fast, als er eine Seitenstraße überquerte; der Fahrer kurbelte das Fenster hinunter und beschimpfte ihn grob. Seine Muskeln zogen sich kampfbereit zusammen, aber das Taxi schoß weiter. Er wußte, daß er um Ecken bog, weiterging, wieder abbog: was machte es, wohin er ging? Wie lange er so planlos durch nasse, fremde Straßen lief – vorbei an Läden, an Schaufenstern, an steinernen Vortreppen – er wußte es nicht. Irgendwo in seinem Bewußtsein hegte er die vage Überzeugung, oder Hoffnung, daß es früher oder später, wenn er es nicht zu forcieren versuchte, wenn er sich nicht darauf versteifte, in seinem Kopf wieder klicken und alles sich klären würde.

Im Vorübergehen erblickte er in einem Schaufenster, hinter dem sich Konservendosen türmten, seine Gestalt. Ein erschrecktes Zittern überlief ihn. Beim nächsten Schaufenster sah er sich wieder – blieb stehen, um das verschwommene Spiegelbild ungläubig anzustarren: die Schultern müde vornübergebeugt, die Haltung zusammengesunken, die Krawatte lose baumelnd, das vertraute Gesicht seltsam fremd und dunkel vor Bartstoppeln, der Anzug feucht und unförmig an seinem schlanken, aber muskulösen Körper klebend, das Haar verfilzt und naß, ohne Hut. Er sah einem betrunkenen Landstreicher sehr ähnlich.

Seine Gedanken überschlugen sich vor Furcht. Konnte es sein, daß er betrunken gewesen war? Natürlich. Er litt wahrscheinlich nur unter einem Kater. Sonst nichts. Einem gewaltigen, himmelschreienden Kater. Das konnte jedem passieren, nicht wahr? Die Furcht ebbte etwas ab. Alles, was er brauchte, war eine kalte Dusche, eine Rasur – etwas Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, Zeit, um das Gift des Alkohols in seinem Blutkreislauf zu verbrennen. Er ging weiter in dem Bewußtsein, daß er – was auch sein Name sein mochte – mit dieser verkommenen, fremden Figur im Fenster nichts gemein hatte.

Ein paar Straßenblocks weiter kam er an einer Uhr im Schaufenster eines Juweliers vorbei. 10 Uhr 46. Morgen. Herbst. New York. War es möglich, daß er in New York wohnte? – Er hob den Arm, um seine Uhr zu stellen – und entdeckte mit Schrecken, daß die Zeiger noch auf 5 Uhr 37 standen, obwohl er die Uhr zuvor aufgezogen hatte. Er horchte nochmals: die Uhr tickte nicht.

Er war fast an dem rot-weiß gestreiften Pfahl vorbeigelaufen, bevor er ihn sah. Beim Betreten des Friseurladens drehte sich ihm vor der Duftmischung von Seife, Rasierwasser und Knoblauch fast der leere Magen um. Der feiste Barbier, allein in dem engen, ärmlichen Raum, betrachtete ihn aus dunklen, südländischen Augen und mit einem Achselzucken, sprach dann in gebrochenem Englisch von den Gefahren einer Lungenentzündung.

Er sank dankbar in den weichen, abgeschabten Sessel, aber auf den Anblick, der ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte, war er nicht vorbereitet: scharfe Züge, ziemlich eckig, ein festes Kinn, fast ein bißchen brutal. Am meisten erschreckte ihn der Ausdruck seiner Augen: erstaunt, unsicher, verwundbar, wie die Augen eines Kindes – und gar nicht wie seine eigenen. Und diagonal über seine linke Wange liefen vier deutlich sichtbare, lange rote Kratzer, häßlich und rot, wo die Haut abgeschürft und das Blut verkrustet war. In dem Moment, bevor der Friseur den Stuhl mit einem gewohnheitsmäßigen Seufzen zurückgekantet hatte, fragte er sich, ob es an diesen Kratzern oder an den dunklen Bartstoppeln liegen mochte, daß sein Gesicht viel älter aussah, als es aussehen sollte.

Unter dem heißen Handtuch und nach dem ersten brennenden Schmerz in den Wunden entspannten sich seine Muskeln etwas. Er sank in eine Benommenheit, die zwischen Schlaf und Wachsein lag, nichts als eine dankbare Hingabe des Körpers an große Müdigkeit.Als er wieder aufrecht saß, betrachtete er aufmerksam sein Gesicht, während der Friseur sein braunes Haar kämmte. Frisch rasiert, mit Puder auf den Kratzern, sahen seine Züge noch immer – auf irgendeine subtile und unbeschreibliche Weise – älter aus. Und dabei ergriff ihn zum ersten Mal ein Gefühl echter Angst. Fast im gleichen Augenblick schoß ein anderer Gedanke durch seinen Kopf – lächerlich komisch, wirklich lachhaft –, und er sah im Spiegel, wie das Lachen in seine Augen stieg. Er hatte keine Ahnung, ob er Geld bei sich trug, um den armen Friseur zu bezahlen. Wäre das nicht der Gipfel einer Komödie, wenn die ganze bizarre Situation zu einem so lachhaften und schimpflichen Ende käme, bevor sie eigentlich angefangen hatte – damit, daß der Friseur bedauernd die Achseln zuckte und die Polizei herbeirief. Damit wäre ihm die Entscheidung aus der Hand genommen, nicht mehr seine Sache.

Als er aufstand und in seine Tasche langte, wußte er sofort, daß er diese trügerische Hoffnung fallen lassen mußte. Er zog eine schwarze Brieftasche heraus und holte aus einem Bündel einen feuchten Geldschein hervor. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Die schwarze Brieftasche enthielt alle Antworten! Er steckte das Wechselgeld ein und eilte hinaus auf die Straße. Die Aufregung übertönte alle anderen Gedanken. Er blieb stehen und öffnete die Brieftasche: es war alles da, alles, was er brauchte. Aber während er noch den Inhalt herauszog, überfiel ihn eine namenlose und schreckliche Furcht – ein Zögern. Sogar noch in dem Moment, als er seinen Führerschein in der Hand hielt, fragte er sich unwillkürlich, ob er wirklich wissen wollte, was sich ihm nun, unweigerlich und beängstigend, enthüllen würde.

Die Schrift war etwas verwischt und das Papier selbst feucht und verzogen. Der Name, Charles F. Bancroft, könnte der irgend eines Vorübergehenden sein. Die Anschrift, 210 Shepperton Green, Shepperton, Connecticut, weckte ein kurzes, quälendes, unbeschreibliches Gefühl des Erkennens: das Bild eines Parks in Neuengland mit weißen Häusern huschte durch sein Gehirn, entschwand. Und die anderen Daten – geboren am 15. August 1928, Augenfarbe: braun, Haarfarbe: braun, Größe: 1,76 m, Gewicht: 80 kg – besagten nichts. Kalt und präzise, wie sie waren, gaben sie seinen Gedanken keine Hinweise. Die freudige Spannung sank in sich zusammen – zusammen mit der Angst. Vier unausgefüllte Scheck-Formulare zerfielen ihm in den Fingern; beim Zusammenballen sah er den Namen eingedruckt: Charles Bancroft. Er warf sie in die Gosse. Drei Kundenkreditkarten aus Plastik trugen den gleichen Namen, das Wasser hatte sie nicht beschädigt.

Außer dem Geld, das er gar nicht erst zählte, fand er noch zwei Sachen in der Brieftasche: ein aufgeweichtes, gefaltetes Stück Papier und eine Photographie. Er steckte die Brieftasche wieder ein und ging weiter, den Blick auf die vergilbte Photographie gerichtet. Ein Schnappschuß, aufgenommen in hellem Sonnenschein vor einem Haus: ein Junge und eine Frau standen auf einer Veranda zwischen zwei weißen Säulen oder Pfeilern, der Junge neun oder zehn Jahre alt, ernst, ohne zu lächeln und absolut unbekannt, die Frau mit einem Arm um seine Schultern gelegt, mit geneigtem Kopf, wehendem, dunklem Haar, mit strahlendem Gesicht und einem Lächeln, das etwas amüsiert und spöttisch aussah, aber nicht ganz heiter. Einen Augenblick war er sicher, daß sich sein Geist nicht länger verschließen, daß sich das Dunkel nun lichten würde. Er konzentrierte sich auf die Frau: sie war nicht eigentlich schön, aber auf ihre Weise anmutig, schlank und mädchenhaft, und als er abwartend auf ihr Gesicht starrte, regte sich in ihm eine Sehnsucht, ein seltsames Verlangen, das weit zurückreichte und schon seit langem ein Teil seiner selbst sein mußte. Mit einem Mal kam er sich unglaublich jung vor, und die Straße, der er folgte, war von Bäumen überschattet, durch die ein sanfter Frühlingswind wehte. Die weißen Säulen und die Flügeltür hinter den zwei Gestalten erinnerten bereits an Vielversprechendes, an Ruhm und Erfüllung. Im Weitergehen versuchte er noch, sich dieses Gefühl zu bewahren, selbst als das Bild der beiden Figuren schwächer wurde; in diesem fliehenden Augenblick hatte er noch die Gewißheit, daß die beiden Männer – er selbst, wer er auch war, und der Mann namens Bancroft – jetzt bestimmt ineinander verschmelzen würden, wie sich zwei Teile einer Szene im Sucher einer Kamera in einem einzigen, erkennbaren Bild decken. Aber der Eindruck verwischte sich wieder, und er starrte die Gesichter eines Jungen und einer Frau an, die er nicht kannte, die Frau und wahrscheinlich den Sohn dieses Charles Bancroft.

Langsam ergriff ihn Verzweiflung. Er hatte keine Ahnung, wie weit er gelaufen war, bevor er das Bild in seine Brusttasche steckte, bevor er entdeckte, daß er noch immer das zusammengefaltete Papierstückchen in der Faust hielt. Er faltete es auseinander – ein Briefkopf, unsanft von einem Stück Briefpapier abgerissen, mit dem Namen Adele Barachois und einer Adresse in der Park Avenue aufgeprägt, und darunter, in Tinte hingekritzelt: 28. September 1963. Es war kaum zu glauben, sein Geist wehrte sich dagegen. Wie konnte man das Jahr 1963 schreiben? Der ganze Spaß wurde hintergründiger und hoffnungsloser. Wenn jetzt das Jahr 1963 war, und wenn er oder Charles Bancroft im Jahre 1928 geboren war, dann war er jetzt 35 Jahre alt. Unglaublich. Seine Gedanken wehrten sich gegen diese Widersinnigkeit.

Er befand sich jetzt in einer Straße mit vielen Theatern, Baldachinen, einem nach dem anderen, die ganze Straßenfront entlang auf beiden Seiten. Eine dunkle Erinnerung stieg auf. Diesmal versuchte er nicht, sie zu erzwingen, sie gewaltsam voll ins Gedächtnis zu rufen, statt dessen ließ er seinen Gedanken freien Lauf, und ein Titel fiel ihm ein: Glocke, Buch und Kerze. Nur ein Titel.

Er suchte eine Markise nach der anderen ab. Der Titel stand nirgends. Hatte er ihn irgendwie während des Morgens gelesen?

Er ging in das Foyer eines der Theater. Ein dunkeläugiger, spitznasiger Mann sah ihm von seinem vergitterten Fensterchen aus entgegen. Er überquerte die verlassene Marmorfläche.

Als er nickte, brummte der Mann nur. Aber das sollte ihn nicht abhalten. »Haben Sie schon einmal von einem Stück gehört, das Glocke, Buch und Kerze heißt?« fragte er, und seine Stimme klang angenehm und ungezwungen, vollkommen beherrscht.

»Glocke, Buch und Kerze?« wiederholte der Mann in einem heiseren, erstaunten und zynischen Tonfall. »Mann, nehmen Sie mich auf den Arm?«

Zu seinem eigenen Erstaunen amüsierte ihn die Szene, ihm war, als sei er ein unbeteiligter Zuschauer, und die Sache versprach, lustig zu werden: »Das weiß ich selber nicht so genau«, hörte er sich sagen, »aber vielleicht möchte ich es gern sehen.«

»Mann, ich hab ’ne Menge Zeit für Spielereien. Hab sonst nichts zu tun. Ich kenne jedes Stück, das hier am Broadway lief, seit dreißig Jahren. Das da war über ’ne Hexe, ’ne richtige Hexe, und ein falsches Frauenzimmer spielte mit, mit so einem ausgefallenen Namen, und Rex Harrison spielte mit. Nicht das Frauenzimmer, natürlich. Mein lieber Mann, ich will Ihnen mal was sagen. Für dieses Stück kommen Sie ein bißchen zu spät. So an die elf oder zwölf Jahre zu spät.«

Elf Jahre. Und jetzt war 1963.

Er wandte sich vom Schalterfenster mit einem gemurmelten Dank ab, öffnete die schweren Flügel der Tür.

»Nicht weiter tragisch«, rief der Mann ihm nach. »Hab schon alle möglichen Leute hier gesehen. Kürzlich kam eine Dame, die wollte wissen, wann es wieder Showboat gibt.«

Der Mittag hatte die Kälte etwas aufgesogen, auch wenn keine Sonne schien … Elf Jahre. 1963. Fünfunddreißig Jahre alt. Adele Barachois. In diesem Augenblick wurde ihm der Entschluß schlagartig bewußt.

Er ging zur Straßenecke, winkte einem vorbeifahrenden Taxi, kletterte hinein und nannte die Adresse in der Park Avenue.

Er schloß die Augen, aber nur einen Moment; ihm fiel ein, was für ein Narr er gewesen war: nachdem die Brieftasche ihm soviel enthüllt hatte, was mochte in den anderen Taschen stecken? In der rechten Rocktasche fand er ein merkwürdig trockenes Stückchen Karton, das sich als Eisenbahn-Fahrkarte entpuppte. VonLANCASTER FALLS, CONN. NachNEW YORK CITY. Das Datum, aufgestempelt, war verwischt, unleserlich. Lancaster Falls: besagte ihm nicht das geringste. Die Verwirrung wuchs, immer mehr Fragen tauchten auf: Wenn Charles Bancroft in Shepperton wohnte, warum hatte er dann einen Zug von Lancaster Falls genommen? War er vielleicht nach New York gekommen, um eine Frau namens Adele Barachois aufzusuchen?

Er wurde ärgerlich: es war schon nicht mehr zum Lachen. Er wollte keine Fragen mehr, keine mehr, keine mehr.

»Alles in Ordnung, Captain?« fragte eine brummige, tiefe Stimme. Er entdeckte die Augen des Fahrers, die ihn im Rückspiegel beobachteten. Der Neger sah ihn mit so viel unverhüllter Anteilnahme an, daß er sich wunderte. »Ich meine … es geht mich nichts an, aber Sie sind doch nicht krank oder sowas? Schauen mitgenommen aus, Mann, richtig mitgenommen.«

Und plötzlich wußte er, daß er diesen mitleidigen Augen, diesem Mann die Wahrheit sagen würde. Wenn er sie ihm sagte und der Mann ihm glaubte, dann würde sich vielleicht zu guter Letzt das düstere Leichentuch des Unglaubhaften lüften.

»Im Krieg gewesen?« fragte der Fahrer. »Nee. Zu jung dafür, mein’ ich. Vielleicht Korea.«

»Ja«, hörte er sich sagen. »Korea.« Und wie er die Worte hörte, überraschten sie ihn selbst: wie, zum Teufel, konnte er das wissen? Trotzdem war er sicher, die Wahrheit gesprochen zu haben. Wie konnte er es wissen, ohne sich daran zu erinnern?

»Hab einen Burschen in Deutschland gesehen« – hörte er die Stimme des Fahrers, aber sie schien von weither zu kommen –, »an einem Brückenkopf … in der Nähe von Aachen … ein Leutnant … hat genug gehabt. Dem hat’s gereicht. Sie wissen, was ich meine. Der Bursche, der hatte so einen Blick. Ab und zu steigt jemand in meinen Wagen, dann seh ich den Blick wieder. Kann’s nicht recht beschreiben. Halt so ein Blick.« Er fuhr um eine Ecke, wandte sich im Sitz um. »Nichts für ungut, Captain! Wollen Sie, kann ich etwas für Sie tun, vielleicht?«

Er spürte, wie er den Kopf schüttelte: was konnte der Mann schon für ihn tun? Dann hörte er sich fragen: »Wann war Korea? Wissen Sie noch? Vor wie vielen Jahren?«

»Ich weiß nicht recht. Neunzehnhundertfünfzig, so ungefähr, kann auch neunzehnhunderteinundfünfzig oder zweiundfünfzig gewesen sein.«

Vor elf Jahren. Wieder – elf Jahre. Und doch war er sicher, daß er sich nicht während all der Zeit in diesem Zustand befunden hatte. Da war der Führerschein und der Briefkopf mit dem Datum aus dem Jahr 1963 –

»Wie kommt’s, daß Sie nicht wissen, wie lang es her war, wenn Sie dabei waren, Captain?«

»Ich weiß vieles nicht«, sagte er langsam – und wußte, daß dies aus ebenso zwingenden wie obskuren Gründen der Wahrheit so nahe wie möglich kam.

Das Taxi rollte in einer Seitenstraße der Park Avenue aus. Als er unter dem Vordach stand, das sich vom Haus bis zum Bordstein spannte, hätte er gern etwas mehr gesagt. »Danke!« schien so unzureichend, stand in keinem Verhältnis zu dem überwältigenden Gefühl von Dankbarkeit, das ihn erfüllte. Der Fahrer schien auf mysteriöse Weise nicht nur einen Blick in ihn hinein getan zu haben, er hatte ihn außerdem von seiner Verwirrung und seiner Furcht befreit – während niemand ihm auch nur eine Hand entgegengestreckt hatte, den ganzen Morgen lang.

Der Fahrer sagte rauh: »Geben Sie auf sich acht, Captain. Hören Sie?« Dann gab er Gas und fuhr weg, als sei er wütend über seine eigene Hilflosigkeit.

Er sah dem Taxi nach, als es in die Park Avenue einbog, blieb zögernd noch einen Augenblick stehen, bevor er sich dem Gebäude zuwandte.

Was wollte er hier? Was hoffte er, hier zu erreichen, zu entdecken?

Die Eingangshalle war dämmerig, still, mit schweren Teppichen und Wandvorhängen bedeckt, unvermittelt heiß nach der Straßentemperatur. Ein ältlicher Portier in brauner Uniform mit einer Ascot-Krawatte trat aus den Schatten und sagte etwas herausfordernd: »Sie wünschen, Sir?«

»Miss Barachois.«

»Sind Sie bei Mrs. Barachois angemeldet?« Die Kritik war deutlich und das ›Sir‹ hatte er auch weggelassen, nachdem er ihn unauffällig gemustert hatte.

»Mein Name ist Charles Bancroft«, sagte er, die Worte hallten fremd im Ohr, und sein Ton wurde schärfer, in einem prickelnden Gefühl von Verärgerung. »Bitte, sagen Sie Mrs. Barachois, daß ich da bin.«

»Einen Augenblick, Sir«, sagte der Portier und verschwand.

Während er wartete, hörte er deutlich ein Stimmengemurmel aus der angrenzenden Portiersloge; er stellte fest, daß er hier jedenfalls nicht erkannt worden war. Charles Bancroft zählte also nicht zu den regelmäßigen Besuchern.

In der Hitze des Hausflurs spürte er ein Jucken am rechten Fuß. Und er wußte sofort, was es war: natürlich seine Frostbeulen. Er hatte ziemlich starke Erfrierungserscheinungen am rechten Fuß. Von Korea. Das Krankenhaus fiel ihm ein, aufgetürmte Schneehaufen vor dem Fenster, die bleichen Hügel wellten sich unerbittlich bis dorthin, wo die anderen – MacDonald und Blassingame und Kantor und Glendinning – noch immer kämpften. Elf Jahre. Was mochte aus ihnen allen geworden sein? Blassingame war gefallen. Und die anderen? Das konnte doch nicht elf Jahre her sein?

Ein neuer Hoffnungsstrahl durchfuhr ihn: wenn ihm so viel, wenn auch verschwommen, wieder einfiel, dann würde der Rest, Stückchen um Stückchen, aus dem Nichts, auch folgen. Wenn er Adele Barachois tatsächlich vor sich sah, würde er sie vielleicht erkennen, der Inhalt ihres Briefes würde ihm einfallen, die Mauer, die sein Gedächtnis gefangen hielt, würde in Stücke springen. –

»Hierher, Sir«. Die sanfte Stimme klang etwas ehrerbietiger, der Portier führte ihn zu einem Fahrstuhl, drückte auf einen Knopf, trat zurück und sagte: »Häßliches Wetter, nicht wahr? Oktoberwetter ist unberechenbar.«

Die Tür schloß sich lautlos, sperrte ihn in der langsam hinaufgleitenden Kabine ein, man spürte kaum die Bewegung. Oktober. Adele Barachois’ Brief war am 28. September geschrieben worden, und jetzt war es erst Oktober. Er schaute wieder auf seine Armbanduhr. 5 Uhr 37. Die Uhr ging nicht, aber jetzt wußte er wenigstens, welcher Monat war. Welcher Monat und welches Jahr.

Er hatte nicht gemerkt, wie der Aufzug anhielt; nun öffnete sich die Tür, nicht vor ihm, sondern zu seiner Linken. Er wandte sich um, trat in die Diele einer Wohnung, sanftes Blau und Gold, und die vage Unsicherheit kehrte zurück, die Unbeholfenheit, das Gefühl der Entfremdung, das ihn zuvor davon abgehalten hatte, tatsächlich ins Hotel Plaza hineinzugehen. Er spürte, wie sein ganzer Körper wieder in Spannung geriet.

Eine grobknochige, dunkeläugige Frau in der Kleidung einer Zofe erschien; ihr Gesicht, breit und ausdruckslos, erinnerte ihn an einen Eindruck aus der Kindheit: Madame Defarge, strickend unter der Guillotine. »Bitte, folgen Sie mir«, sagte das Mädchen kühl mit französischem Akzent. »Madame Barachois genießt noch ihr Frühstück.«

Er folgte ihr durch zwei weitläufige und luxuriöse Zimmer; er fand es ausgesprochen amüsant und ironisch, daß ihm jetzt eine Szene aus einem Roman von Dickens einfiel, den er in der Oberschule gelesen hatte, nicht aber sein eigener Name. Er hatte den Eindruck von verschiedenen offenen Kaminen aus weißem Marmor, während er heimlich über die Worte des Mädchens lächelte – woher wußte sie eigentlich, daß Madame Barachois ihr Frühstück genoß?

Als er Madame Barachois sah, allein in einem kleinen weißen Zimmer, das Tageslicht fiel hinter ihr durch die Schlitze der Jalousie ein, schien sie überhaupt nichts zu genießen. Sie hielt ihren Kopf etwas geneigt, vermittelte ihm dadurch den verwirrenden Eindruck, als begegne er jetzt der Frau auf der Photographie in seiner Tasche.

Er bemerkte aber fast gleichzeitig, daß die Frau, wenngleich sie schlank war und die Bewegung schnell, mit der sie eine goldumrandete Brille neben ihrer Tasse aufnahm, viel älter war als das Mädchen auf dem Bilde, viele Jahre älter. Der Gesichtsschnitt war allerdings so ähnlich, daß er wieder das Gefühl hatte, sich getäuscht zu haben – als könne er seinen eigenen Augen und Eindrücken weder glauben, noch sich darauf verlassen, noch seine Schlußfolgerungen darauf aufbauen. Als sie die Brille aufsetzte, wurden ihm ihre tiefen Falten fast schmerzlich bewußt; die etwas ausgetrocknete und verschrumpelte Haut, die in einem so merkwürdigen Gegensatz zu der aparten Schönheit und Jugend des Mädchens auf dem Bild stand, erweckte einen inneren Widerstand in ihm: dies konnte nicht das Mädchen sein, unmöglich! Und im gleichen Augenblick fühlte er sich von ihrem offenen abschätzenden Blick aus blauen Augen durchbohrt, biß die Zähne aufeinander und wappnete sich gegen die zu erwartenden Schlußfolgerungen.

»So«, sagte Mrs. Barachois. »So. Nun, nachdem Sie gekommen sind, trotzdem, setzen Sie sich. Ich habe Sie in meinem Brief gewarnt, daß es sinnlos wäre.« Sie hob ihre schmalen Schultern. »Und doch –« Ihr Tonfall erinnerte nicht direkt an einen ausländischen Akzent, aber verschiedene Sprachen schienen mitzuschwingen. Dann fragte sie unvermittelt: »Haben Sie zu Mittag gegessen?«

Er schüttelte den Kopf, noch immer stehend. »Noch nicht einmal Frühstück, wenn ich’s recht bedenke.«

»Hmm. Nun, ich habe nur Croissants und Tee. Aber setzen Sie sich doch und sagen Sie etwas, wo Sie doch den ganzen weiten Weg gekommen sind. Leute, die herumstehen, regen mich auf.«

Als er ihr gegenübersaß, musterte sie ihn ein oder zwei Augenblicke schweigend, während er mit Erstaunen merkte, wie sein innerer Widerstand wuchs. Dann nahm sie die Brille ab und goß Tee ein.

»Sie sehen hungrig aus. Eigentlich noch schlimmer. Sind Sie vom Regen überrascht worden?«

»Ich sehe immer so aus«, hörte er sich sagen – und wunderte sich selbst über seinen Tonfall ungezogenen Übermuts. »Oft noch schlimmer.«

»Wirklich? Dann bin ich froh, Sie nicht näher zu kennen.« Und als er lachte, warf sie ihm einen scharfen Seitenblick zu. »Wie sind Sie eigentlich an die Parsons gekommen? Verzeihen Sie, aber Sie scheinen nicht gerade zu dieser Bande zu passen.«

»Bande«, sagte er, voller Erstaunen über sich selbst, »ist ein harter Ausdruck.«

Mrs. Barachois lachte zum ersten Mal. »Nicht hart genug, fürchte ich. Meine Güte, wie diese Familie unter Ihrem Sinn für Humor leiden muß. Ich nehme an, daß Sie da ein Eindringling sind, Mr. Bancroft, wie ich es war. Hier, essen Sie, essen Sie ruhig. Es ist schon lange her, seit ich mit einem Mann gefrühstückt habe.« Sie stieß ein kehliges, selbstironisches Lachen aus, das unerwartet schlüpfrig klang. »Zu lange.« Sie lehnte sich zurück, warf ihm einen langen Blick zu, unter dem sich seine Hemmungen lösten. »Shepperton muß um diese Jahreszeit sehr hübsch sein. Besonders, wenn man etwas für Bäume und Hügel übrig hat. Sind Sie einer dieser Naturschwärmer, Mr. Bancroft?«

»Ich fürchte, ja«, entgegnete er.

»Das ist wirklich eine unverbindliche Antwort. Sie fürchten!« Ihre tiefe Stimme klang amüsiert und spöttisch. »Sind Sie in Ihren Aussagen immer so unbestimmt? Nun, ich bin genau so unsicher, wenn es um Bäume, Hügel und so etwas geht. In meinen schwachen Momenten bin ich sogar närrischer Sehnsüchte fähig. Stellen Sie sich das vor! Die Hügel der Heimat. Kindheit. Aber das dauert nicht lange, gottlob. Dann schaltet sich der Verstand ein und erinnert mich daran, was für ein trauriges Nest Shepperton wirklich ist.« Ihre zarten Hände strichen unruhig und planlos über den Tisch. »Mich schaudert, wenn ich daran denke, was für Geschichten Sie über mich gehört haben müssen. Unnatürliche Mutter, große Abenteuerin, dreimal verheiratet, drei Streiche und dann Schluß. Sagen Sie, würden die mich überhaupt aus dem Zug lassen, falls ich nicht einen scharlachroten Buchstaben aufgenäht trüge?« Sie stieß wieder das kehlige Lachen aus, in dem Vergnügen und bittere Ironie unvermittelt nebeneinander lagen; das Lachen erstarb. »Nun, und wie geht es Alexandria?« Die Frage kam schnell, scharf und gleichzeitig ein wenig überdrüssig.

Der heiße Tee, das köstliche frische Gebäck und ihre Stimme hatten ihn in eine falsche Sicherheit gewiegt. Dabei überrascht, richtete er sich nun auf, wachsam, wie ein Boxer, der sich Zeit läßt, seinen Gegner einzuschätzen. »Es geht ihr gut«, sagte er, da offensichtlich eine Reaktion von ihm erwartet wurde.

»So? Und ist sie schön? Sie war ein wunderhübsches Kind.«

Er dachte an die Photographie. »Ja, ich glaube«, sagte er vorsichtig und fragte sich, ob sie wohl über die gleiche Person sprachen.

»Wirklich? Wie lange sind Sie jetzt verheiratet?«

Schweigen. Er zögerte – lahmgelegt.

Und Mrs. Barachois lachte wieder. »Das weiß kein Mann so ohne weiteres Nachdenken, nicht wahr? Nun, es ist auch nicht besonders wichtig.« Sie stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Und, ist sie verbittert? Sie brauchen darauf nicht zu antworten. Sie sind nicht hergekommen, um verhört zu werden. Und wie geht es Houghton? Ich hätte eigentlich von ihm, in all den Jahren, eine natürliche Neugier in bezug auf seine Mutter erwartet. Und Catherine – die arme närrische Dame. Lebt sie noch? Und Austin – Austin darf man nicht auslassen, den guten, selbstgerechten Austin mit seinem unbeugsamen Rückgrat und seinem noch unbeugsameren Gewissen!« Eine Spur von Ärger lag jetzt in ihrem Ton, als entsinne sie sich vergangener Demütigungen oder Schmerzen. »Wollen wir jetzt mit der geheuchelten Freundlichkeit aufhören?« fragte sie brüsk. »So freundlich klang es nicht«, sagte er darauf und schob seinen Stuhl zurück. »Und nur Sie können beurteilen, ob sie geheuchelt waren.«

Sie blieb stehen, schaute ihn einen Moment aus zusammengekniffenen, feindseligen Augen an, meinte dann mit Genugtuung: »Woher kommt dieses plötzliche Interesse an Parsons-Company-Aktien?«

»Gibt es ein plötzliches Interesse?« parierte er vorsichtig.

»Bitte, bitte« – und er spürte, wie die Spannung im Raum knisterte, ihre Nervosität stieg –, »bitte, keine Spiegelfechterei. Diese geschäftlichen Fragen langweilen mich zu Tode. So viel können sie gar nicht wert sein, daß alle sie auf einmal haben wollen. Und mir ist völlig gleichgültig, was mit ihnen geschieht. Ihr Brief war genau so ausweichend, wie Sie selbst sind, Mr. Bancroft. Möchte die Familie meinen Aktienanteil kaufen? Ist es das?«

»Würden Sie verkaufen?«

»An die Familie? Warum sollte ich?«

Als Antwort zuckte er mit den Achseln, und dies schien ihre Haltung zu verhärten, als sie vor ihn trat.

»Mr. Bancroft, ich kann nicht behaupten, daß mir Ihre Einstellung gefällt!« Dann schlug sie mit einer enormen Willensanstrengung eine andere Tonart an. »Sie lächeln nicht, Mr. Bancroft? Und ich dachte, das würde Sie amüsieren. Nehmen wir an, die Parsons-Aktien hätten für mich einen gewissen – Erinnerungswert? Sie sind die niedrigste Abfindung, die ich je von einem Ehemann bekam. Trotzdem könnten sie Austin einiges wert sein, oder nicht?« Ihre Augen blitzten kurz auf. »Ich werde sie nicht an Austin verkaufen. Falls sie im Auftrag von Austin sprechen, dann können Sie ihm sagen, daß ich ihn eher in der Hölle sehe, von der sie da drüben so viel reden.«

»Und falls ich nicht im Auftrag von Austin spreche?« fragte er tastend.

Er sah einen Anflug von Mißtrauen in ihrem Blick. »Was ist da oben los, Mr. Bancroft? Versuchen Sie etwa, den Parsons die Fabrik wegzunehmen?« Sie lachte kurz auf, ohne Heiterkeit. »Mein Gott, welch angenehme Vorstellung! Bieten Sie persönlich auf die Aktienanteile, damit Sie das Geschäft an sich reißen können?«

Er zögerte diesmal nicht, Charles Bancroft kam ihm langsam verdächtig vor. »Würden Sie unter diesen Umständen an mich verkaufen, Mrs. Barachois?«

»Vielleicht.« Sie sprach jetzt langsam, hinter ihren Worten lag eine leise Genugtuung. »Wer weiß? Falls Sie etwas Bestimmtes vorhaben? Aber ich müßte wissen, was.«

Das konnte er natürlich nicht sagen, das Ganze widerte ihn langsam aber desto mehr an. »Es wäre möglich.«

»Ich sagte, daß ich es wissen müßte. Verstehen Sie, Mr. Bancroft, ich bekam schon ein anderes Angebot – das mein Anwalt für ziemlich großzügig hält, wenn man die Rückläufigkeit von Parsons-Aktien in Betracht zieht.«

Er wartete; als sie nicht fortfuhr, fragte er: »Wer hat dieses Angebot gemacht?«

»Mr. Bancroft, Sie sind der raffinierteste Mann, den ich seit Jahren getroffen habe. Ich kann nicht sagen, daß ich Sie so übel finde. Ich vermute, daß Sie ein gerissener und skrupelloser Geschäftsmann sind. Aber ich finde Ihre Haltung ausgesprochen unangenehm.« Ihre Worte überschlugen sich fast, und ihre Stimme klang etwas schrill. »Machen Sie Ihr Angebot bei meinen Anwälten, Mr. Bancroft. Das habe ich Ihnen schon in meinem letzten Brief geraten. Warum haben Sie sich mir überhaupt aufgedrängt? Hat Alexandria Sie geschickt? Dann soll sie selbst kommen. Oder Austin –«

»Tut mir leid«, sagte er.

»Was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?« fragte Mrs. Barachois. »Das sieht ja aus wie Krallen. Sagen Sie bloß nicht, meine Tochter sei genau so brutal und jähzornig wie ihr Vater! Das würde mich nicht überraschen.« Sie sprach abgehackt und schnell, ihre Hände, vor der Brust verschlungen, waren an den Knöcheln weiß. »Nun, Mr. Bancroft, Sie sind lange genug verheiratet, um sie zu kennen. Was halten Sie von der Familie Parsons? Wie halten Sie es aus?« Sie ging zur Tür, und die aufgestaute Erregung machte sich in einem gequälten Ausruf Luft, als sie nach Roxanne rief. Dann wandte sie sich ihm mit feindseligen Augen zu. »Wenn Sie versuchen, mich mit einem Trick hereinzulegen, daß ich etwas für die tue, dann können Sie sich darauf verlassen, daß ich hinter die Wahrheit komme.«

»Es tut mir leid, wenn ich Sie aufgeregt habe, Mrs. Barachois.«

»Das sollte Ihnen auch leid tun«, sagte sie scharf. »Mit welchem Recht kommen Sie hierher, ohne Aufforderung und –« Das Mädchen erschien. »Roxanne, Mr. Bancroft will gehen.« Mrs. Barachois hatte den Blick nicht von ihm abgewandt. »Mr. Bancroft, ich habe Shepperton weit hinter mir gelassen, und dabei soll es auch bleiben. Richten Sie meine herzlichsten Empfehlungen aus, immerhin.« Sie stieß wieder das verbitterte, kehlige Lachen aus. Dann ging sie mit kurzen hastigen Schritten aus dem Zimmer. »Roxanne, sobald Mr. Bancroft gegangen ist, möchte ich mein Medikament.«

Auf der Straße lief er blindlings fort, ohne auf die Richtung zu achten. Nach dieser Begegnung schwirrte sein Kopf voller Fragen. Einige waren beantwortet worden. Charles Bancrofts Frau hieß Alexandria. Sie hatte einen Bruder namens Houghton, und ihr Vater hieß Austin. Der Nachname war Parsons. Außerdem gab es eine Catherine im Haus. Und Charles Bancroft hatte, obwohl er schon seit einiger Zeit verheiratet war, nie seine Schwiegermutter kennengelernt. Bis heute. Warum? Diese Frage schien ihn in etwas hineinzuziehen, ihn in etwas einzugliedern, das ihn seinem Gefühl nach nicht betraf. Nichts davon hatte in Wirklichkeit mit ihm zu tun. Er war ein freier Mann. Er hatte keine Bindungen, keine Beziehungen. Er konnte tun, was er wollte, gehen, wohin er wollte. Hatte er nicht schon von solchen Fällen gelesen? Ein Mann verliert sein Gedächtnis, er zieht in einen anderen Teil des Landes, fängt ein neues Leben an; nach Jahren vielleicht kommt sein Erinnerungsvermögen zurück –

Aber dazu war es schon zu spät. Er kannte seinen Namen – wenn auch dieses Wissen nicht mehr als eine Eselsbrücke war. Und er wußte, wo er wohnte. Er war nicht ganz sicher, ob es an der häufigen Wiederholung lag oder an einer Erkenntnis seines Unterbewußtseins, daß ihm der Name Shepperton bereits vertraut war. Shepperton, Connecticut.

Jetzt war es zu spät für einen Rückzug, und der Gedanke, weiterhin ziellos, ohne Aussicht auf ein Ende, weiterzugehen, war unerträglich. Vor ihm lag Leere. Nur ein blankes Nichts.

Er entdeckte das gläserne Viereck einer Telephonzelle auf dem Bürgersteig einen Straßenblock weiter. Erst, als er es erreicht hatte, wurde er sicher. Eine böse Vorahnung überfiel ihn, auch noch, als ihm klarwurde, daß die Entscheidung irgendwie ohne sein Dazutun gefallen war; er betrat die Zelle. Sein Herz klopfte, als er die Tür hinter sich schloß. Es gab einiges Hin und Her, als die Fernamtsvermittlung nach ein paar Minuten feststellte, daß es keinen Anschluß auf den Namen Charles Bancroft in Shepperton, Connecticut, gebe. Plötzlich etwas ängstlich, aufgeregt und leicht verärgert verlangte er die Nummer von Parsons und gab als Adresse 210 Shepperton Green an. Während der Apparat in der Ferne klingelte, schoß eine Frage durch seinen Kopf: Wohnte Charles Bancroft mit der Familie seiner Frau in einem Haus?

»Hier bei Parsons«, meldete sich die höfliche Stimme eines offenbar älteren Mannes.

»Hallo«, war alles, was er herausbrachte. »Hallo.«

Dann bekam er seine Antwort. »Oh, Mr. Bancroft«, sagte die Stimme spontan und überzeugt. »Einen Augenblick, bitte, Sir. Mrs. Bancroft hat Ihren Anruf erwartet.«

Nun waren die Würfel gefallen, die Unmittelbarkeit, Autorität und das sofortige Erkennen in der Stimme des Mannes hatten ihm die weitere Entscheidung abgenommen. Was kommen sollte, würde nun kommen. Er hatte den Atem angehalten, jetzt stieß er die Luft aus. Was nun? Was kommt als nächstes?

»Charles«, klang eine Frauenstimme an sein Ohr, eine warme dunkle, klangvolle Stimme, in der Sorge, aber auch ein leichter Ärger mitschwang. »Charles, du bist doch in Ordnung, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er sehr vorsichtig, »ja, es geht mir gut.«

»Natürlich geht es dir gut. Ich habe eigentlich nie daran gezweifelt. Nur, als sie mir beim Mittagessen alle möglichen Lügen auftischen wollten.«

Die Stimme klang so selbstsicher und gelassen, so unbekümmert, daß er nur zuhören konnte, während ein Gefühl warmer Erwartungsfreude in ihm aufkeimte. »Man könnte meinen, ich sei ein Vollidiot. So, wie die sich aufgeführt haben. Obwohl man eigentlich darüber lachen kann; was glauben sie, was man ihnen durchgehen läßt.« Das Bildnis auf der Photographie stand vor seinen Augen; das strahlende Lächeln, der geneigte Kopf. Aber er war sicher, diese Stimme nie zuvor gehört zu haben. »Je mehr Lügen sie erfinden, um dich zu decken, desto schlimmer schaut es für dich aus. Oh, oh, Houghton kommt mir in die Quere. Schnell, du kommst doch heim, Lieber?« Das »Lieber« klang beiläufig, fast schon unhörbar.

»Ja«, sagte er – denn schließlich war die Entscheidung ja schon gefallen, nicht wahr? »Ja, ich komme« – aber er konnte es nicht über sich bringen, »heim« zu sagen, oder »Liebes«.

»Langsam, Houghton, bitte«, sagte die Stimme, ein spielerischscherzhafter Ton klang durch die Gereiztheit. Dann, unverblümter: »Charles, was du auch gemacht hast, komm schnell heim. Ich kann nicht gerade sagen, daß dir alles verziehen ist, weil ich nicht weiß, was es zu verzeihen gibt. Da kommt Houghton.«

»Auf Wiedersehen«, hörte Charles sich zu gedämpften Geräuschen am anderen Ende sagen. Sein Spiegelbild stand ihm im Glas der Telephonzelle gegenüber, er untersuchte die Kratzer auf seiner Wange und Mrs. Barachois’ Worte fielen ihm wieder ein: Sagen Sie bloß nicht, meine Tochter sei genau so brutal und jähzornig wie ihr Vater!

Dann rief eine ziemlich hohe, nasale männliche Stimme laut seinen Namen: »Charles? Ich habe zu erklären versucht, daß du nach Boston gefahren bist, um diesen Leverton zu besuchen, und wahrscheinlich dort übernachtet hast. Aber Alexandria ist eine sehr skeptische junge Frau. Hast du Genaueres über Levertons Pläne erfahren?«

Er hatte das Gefühl, nun in einen Strudel gekommen zu sein, war vor Erstaunen sprachlos, als Houghton am anderen Ende der Leitung mit falscher Herzlichkeit lachte, als hätte er soeben eine amüsante Bemerkung gehört.

»Das ist gut für dich, Charles. Das bestätigt nur, was ich dem Aufsichtsrat über Levertons Syndikat berichtet habe, nicht wahr?« Dann, nach einer kurzen Pause, sank seine Stimme zu einem heiseren Flüstern: »Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, Alexandria zu überzeugen. Wo, zum Teufel, steckst du eigentlich?«

»Ich bin in New York«, antwortete er ruhig und war erstaunt, daß ihn die rauhe, gemurmelte Verwünschung, die der Mann namens Houghton ausstieß, fast freute. Er wartete.

»Du lieber Gott«, sagte Houghton dann, es klang dünn und angewidert. »Der Teufel soll mich holen, ich begreife nicht, was du dir eigentlich vorstellst. Du weißt doch, daß es für dich um so übler aussieht, je länger du wegbleibst. Kein Mensch hat eine Ahnung, wo du bist, seit du gestern um fünf Uhr die Fabrik verlassen hast.«

Automatisch schaute er auf seine Uhr: sie stand immer noch auf 5 Uhr 37.

»Dann bin ich nur ungefähr zwanzig Stunden weggewesen«, sagte er mit Bedacht, fragte sich dabei, wie es möglich war, bei all der Verwirrung mit den elf oder zwölf Jahren, daß er erst gestern von Shepperton weggegangen war.

»Nur!« wiederholte Houghton schockiert und zornig. »Nun hör mal zu, Charles – du hältst das Ganze doch wohl nicht für einen Witz? Nicht, daß das irgend jemanden überraschen würde, aber dann steht dir einiges bevor. Wir haben uns gestern abend sogar überlegt, ob wir nicht den Fluß nach deiner Leiche absuchen sollten!«

Schrecken durchfuhr wieder seine Glieder. Seine Kleider waren also nicht nur durch den Regen so naß geworden. Er hatte keine Ahnung, was er erwartet hatte, aber –

»War das ernüchternd?« Houghton schien die Sache allmählich Spaß zu machen. »Warst du auf einer Sauftour? Lawrence sagte, das wäre seine Hoffnung; das könnte dir helfen, wenn die Sache vor Gericht kommt. Sofern du nicht betrunken warst, als es passierte. Lawrence tut, was er kann – wie wir alle – aber nicht einmal ein Anwalt kann Wunder wirken, besonders, wenn sein Klient aus Panik davonläuft. Meine Güte, Charles, ich gebe zu, daß ich dich in den ganzen elf Jahren nie verstanden habe …« Und in der Pause, während Houghton sich in neue Wut steigerte, verfolgte ihn wieder die Tatsache der elf Jahre – Korea, das Stück Glocke, Buch und Kerze, elf Jahre verheiratet. »Aber im vergangenen Jahr bist du einfach unmöglich geworden. Mein Gott, Charles, willst du dich nicht einmal nach dem Mädchen erkundigen?«

Er sagte nichts. Widerspenstigkeit erwachte in ihm, er mochte nicht antworten, einmal, weil Houghton es von ihm verlangte, aber auch, weil er unter der Lawine der Schläge schockiert und betäubt und erstarrt in der heißen, kleinen Zelle stand, die Hand um den Hörer verkrampft, verwundert: was kommt noch? Welches Mädchen?

»Na ja, sie ist natürlich im Krankenhaus. Zu krank oder zu hysterisch, um zusammenhängend zu sprechen – was vielleicht kein Schaden ist. Aber früher oder später wird sie reden. Und wenn sie es tut, dann sieh zu, daß du hier bist und dich verantwortest!« Houghtons Stimme sank zu einem zornigen Flüstern: »Hör zu, verdammt, ein solcher Skandal kann Vater töten! Wenn dir auch die Stellung der Familie hier gleichgültig ist, so bedeutet der Name Parsons etwas in dieser Stadt. Du bist vor elf Jahren ein Teil dieser Familie geworden, und du wirst, zum Teufel, deine Pflicht tun, nachdem du uns in diese Klemme gebracht hast. Und jetzt mach, daß du herkommst!«

Nach einer kurzen Pause, wobei es ihn nicht mehr wunderte, wie ihn der keuchende, befehlende Tonfall der nasalen Stimme reizte, sagte er: »Ich habe Alexandria gesagt, daß ich komme.«

»Gut, nimm den nächsten Zug von Grand Central. Und sei bloß nüchtern, wenn du hier bist. Du wirst deine Sinne beieinander haben müssen, um aus der Klemme herauszukommen – und damit meine ich nicht deine üblichen Witzchen. Wir tun, was wir können, um alles zu vertuschen. Lawrence hat die Zeitungen ausgeschaltet – bis jetzt. Lawrence hätte es besser gefunden, wenn du gestern abend hier geblieben wärst und alles der Polizei überlassen hättest. Dann hätte man es allerdings nicht aus den Zeitungen heraushalten können. Aber dafür ist es ohnehin zu spät. Hast du verstanden? Jetzt ist es zu spät, um zur Polizei zu gehen. Jedenfalls, bis du mit Lawrence gesprochen hast. Also spar dir eventuelle edle Anwandlungen – falls dir noch irgend etwas an der Familie liegt, oder an Alexandria.« Die Stimme hielt inne, holte Atem. Dann: »Hörst du überhaupt zu? Spar dir dein überlegenes Lächeln und mach, daß du herkommst!« Er hörte ein hartes Klicken, dann war die Leitung tot. Fragen überschlugen sich in seinem Kopf – zu viele Fragen, zu viele.

Geistesabwesend trat er aus der Zelle, der scharfe Oktoberwind blies durch seine feuchten Kleider, und er merkte, daß er schweißgebadet war. Er winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran und stieg ein. »Grand Central« hörte er sich sagen, überblendet von Alexandrias warmer Stimme, die ihm noch im Ohr lag. Er mußte dorthin zurückkehren. Was würde mit Alexandria geschehen, wenn er es nicht täte? Der Gedanke war ebenso lachhaft und unwahrscheinlich wie alle anderen, die ihm den ganzen Tag durch den Kopf gezogen waren – aber auf geheimnisvolle, dabei traumwandlerisch sichere Weise wußte er, daß er zu ihr gehen mußte.

Er hatte ziemlich viel erfahren in diesen wenigen Stunden – dieser Zeitbegriff war noch immer vage –, seit er aus dieser Welt vollkommener Leere aufgetaucht war, an der Straßenecke gegenüber dem Hotel Plaza. Aber trotz all diesem neuerworbenen Wissen war ihm, als hätte das alles mit jemand anderem zu tun, mit einem Fremden namens Charles Bancroft. Falls es irgendeine Hoffnung gab, dieses Stadium des Außerhalbstehens, des Vergessenseins, der Anonymität und der Leere zu durchbrechen, dann lag diese Hoffnung in Shepperton, Connecticut.

Als das Taxi anhielt, zahlte er die Gebühr und schritt mit einer erstaunlichen Frische in das weitläufige Bahnhofsgebäude mit dem Kuppeldach. Es verblüffte ihn, wie aufgeregt, voller Vorfreude er war: er fühlte sich auf eine merkwürdige Weise belebt und wach, voll bewußt der Tatsache, daß er sich auf eine Entdeckungsreise voller Abenteuer begab. Und was er zu entdecken hoffte, war – er selbst.

Am Fahrscheinschalter verlangte er eine Karte nach Lancaster Falls, Connecticut, dann fielen ihm seine früheren Vermutungen über den anderen Charles ein und wie er wohl nach New York gekommen sein mochte – und er fragte, ob der Zug auch in Shepperton hielte.

»Shepperton ist die Station nach Lancaster Falls«, informierte ihn der Beamte am Schalter. »Wohin wollen Sie?«

Er zögerte nur eine Sekunde, überlegte es sich, sagte dann: »Shepperton, bitte.«

»Einfach oder Rückfahrkarte?«

Diesmal zögerte er nicht. »Einfach.«

Und während er es sagte, wurde ihm klar, daß er aus Gründen, die viel zu undurchsichtig und kompliziert waren, um sich erfassen zu lassen, sich bis zu einem gewissen Grad bereits festgelegt hatte. Noch einmal überfiel ihn Unsicherheit, kurz, wie ein Schauer. Als er weiterging und das Billett ansah, entdeckte er, daß es auf den 3. Oktober gestempelt war. Nun wußte er sogar, welcher Tag heute war …

2

Der stampfende Rhythmus von Rädern und Schienen, fern und doch vertraut, wiegte ihn zur Ruhe, nicht aber in Schlaf. Erst als er in die Polster gesunken war, hatte er gemerkt, wie müde er war, wie todmüde. Nun, nach ungefähr drei Stunden, schaute er zum Fenster hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. Die Intensität der Farben, das merkwürdig goldene Licht, das sich über allem ausbreitete, nachdem sich die Nachmittagssonne eine Stunde zuvor eine Bahn durch die Wolken gebrochen hatte, die sanft geschwungenen Hügel mit herausragenden Felsbrocken, die Bauernhöfe, umgeben von den geometrischen Mustern ihrer Steinmauern – die ganze Lieblichkeit der Landschaft von Neuengland entspannten und beruhigten ihn, nichts aber erreichte oder dämpfte diese zitternde Erwartung, dieses Vorgefühl und diese Verzagtheit, die so tief in ihn gedrungen war, daß die äußerliche Ruhe nur auf geheimnisvolle Weise ihr Schutzwall zu sein schien.

Was ihn wirklich verblüffte, war, wie seine Mitreisenden sitzen und schlafen oder lesen konnten – und sich die wilde Schönheit der Herbstlandschaft entgehen ließen. Er fragte sich, ob Charles Bancroft, der andere Charles, dies alles bewußt erlebt, oder ob er, wie die anderen, es als selbstverständlich hingenommen hatte, in blinder Ignoranz all dessen, was hier zu genießen und mit Lust in sich aufzunehmen war. Eigentlich ein merkwürdiger Gedanke: war ein Teil seiner Sinne durch ein seltsames Wunder oder einen Unfall gelähmt, ein anderer erschlossen worden? Die ungelöste Frage erhöhte, zusammen mit den vielen anderen, nur noch seine Freude.

Vom Zugschaffner hatte er erfahren – obwohl er noch immer kein Zeitempfinden hatte –, daß die Fahrt von New York nach Shepperton zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten dauerte. Da er die lakonische Ankündigung vom folgenden Waggon her hörte: »Lancaster Falls, nächste Haltestelle Lancaster Falls«, richtete er sich auf und schaute zum Fenster hinaus. Vielleicht jetzt. Vielleicht schon so bald –

Als aber das kleine, blaßrote Bahnhofsgebäude in Sicht kam und der Zug hielt, konnte er es nur grübelnd anstarren: war er gestern oder heute morgen hier in einen Zug gestiegen? Er sah saubere Straßen mit kalkweißen Häusern, einigen altmodischen Läden, und eine hölzerne Brücke, die sich über den Fluß spannte. Er hätte schwören können, obwohl er es besser wußte, daß er noch nie in seinem Leben in Lancaster Falls gewesen war.

Einige Meilen weiter nördlich liefen die Bahngeleise am rechten Ufer neben dem Fluß her. Er ging auf die andere Wagenseite. Und da sah er die Wasserfälle, von denen die Stadt zweifellos ihren Namen hatte: ein tosendes Gefälle sprühenden Wassers, das in Windungen nach Süden weiterfloß. Auf der jenseits liegenden Seite des Flusses – der reißender und enger zu werden schien, die Ufer steil aufragende Klippen – führte eine Straße, auf der nur wenige Wagen dahinkrochen oder rasten.

Wäre Shepperton die nächste Bahnstation, war es zwar nicht sicher, aber doch wahrscheinlich, daß Charles Bancroft die fünfunddreißig Jahre seines Lebens hier in dieser Gegend verbracht hatte. Und doch –

Da sah er im Hintergrund, wo sich das Flußbett verengte, die Schlucht. Spannung ergriff ihn. Die Straße machte hier eine scharfe Kurve, nahe am Abhang; er sah, wie ein Lastwagen sie nahm und dann, dem Zug der Straße folgend, sich nach Norden hin von der Klippe entfernte. Einen Augenblick hatte es ausgesehen, als ob das Fahrzeug von der Straße abkommen und in die Schlucht stürzen würde. Er konnte den tiefsten Punkt nicht sehen, aber anscheinend hatte sich das Wasser einen steilen, reißenden Graben durch die Enge gespült. Als der Zug die Szenerie hinter sich ließ, hatte er den flüchtigen und undeutlichen Eindruck von etwas Bekanntem – als erkenne er diese Stelle, die Klippe, die Straße und den Fluß wieder.

Dann wurde der Fluß breiter und träger, die Straße führte vom Berg herunter, wand sich und verlor sich hinter Baumgruppen. Und der Eindruck wich.

Er lehnte sich zurück. Eben hatte er es fast mit Händen greifen können – aber nur fast, fast. Und er wußte, daß der Augenblick oder Blitz des Erkennens ähnlich sein würde: plötzlich, unerwartet, aus heiterem Himmel. War er nicht eigentlich diesem Augenblick gerade ein wenig, ein quälend winziges bißchen näher gekommen?

Als sich der Zug Shepperton näherte, ratternd in ein zwischen zwei Hügelketten gelegenes Tal fuhr, wehrte er sich nicht länger dagegen: mochte es nun geschehen, sollte es kommen. Vielleicht war er deshalb so gelassen, weil diese Gegend, im Gegensatz zu New York, auf eine seinem Bewußtsein verborgene Weise tief Vertrautes in ihm zum Klingen brachte.

Shepperton selbst war größer, als er es sich die paar Male während der Fahrt vorgestellt hatte, da er sich im Geist ein Bild zu entwerfen versuchte: eine Industriestadt, mit Rauchschwaden, die in der beginnenden Dämmerung wie eine Wolke darüber hingen. Der Zug fuhr noch immer am Fluß entlang, an häßlichen, engen Häusern und Wohnungen, grau und eckig und lieblos, vorbei, schob sich bremsend und pfeifend auf einer Eisenbahnbrücke über den Fluß. Vom Fenster aus konnte er eine parallellaufende Brücke sehen, auf der Autos fuhren, die Fabriken auf dem einen Ufer des Gewässers, und dann, weit flußaufwärts nach Norden, die schwache Silhouette von Landschaft und Hügeln, zu weit entfernt, als daß durch die graue, düstere Industrieatmosphäre hindurch noch Herbstfarben zu unterscheiden gewesen wären.

Ein trauriges Nest hatte Adele Barachois es genannt. In gewissem Sinne war es das sicher. Trotzdem verliehen ihm der Fluß und die Hügellandschaft im verschwimmenden Licht der Dämmerung auch einen gewissen Charme. Und von seinem Aussichtspunkt auf der Eisenbahnbrücke entdeckte er auf dem gegenüberliegenden Hügel, jenseits der Innenstadt, weiße Häuser und baumbestandene Straßen.

Er war schon fast vorbeigefahren, ehe er das Schild lesen konnte. Er drehte sich im Sitzen um. PARSONS COMPANY – QUALITÄTSHÜTE SEIT1877. Das Schild stand auf dem First eines Klinkerhauses, dessen altes und verwittertes Aussehen durch Ranken grünen Efeus gemildert wurde. Neben dem Fabrikgebäude stand ein flaches, modernes Haus, mit viel Glas und hellen Ziegelsteinen, und weiter flußabwärts spien andere Fabriken dunkle Rauchwolken in den Himmel. Dann hatte der Zug das andere Ufer erreicht, und Schild und Gebäude waren aus seinem Gesichtskreis verschwunden.

Der Bahnhof war aus Holz gebaut, wie er schon einige gesehen hatte, und es standen nur ein paar Leute wartend herum, als er ausstieg. Was nun? Ein Mann ging an ihm vorbei zu einem anderen Waggon und nickte. Es dauerte einen Augenblick, bevor er begriff, daß der Mann ihm zugenickt hatte, doch da war es schon zu spät. Er beobachtete, wie der Mann, mit dem Rücken zu ihm, einer älteren Dame aus dem Zug half. Und er wandte sich ab: er wollte eine beiläufige Begegnung mit einem Fremden vorerst vermeiden.

»Taxi?«

Hatte er erwartet, abgeholt zu werden? Er war sich nicht sicher – der Gedanke war weit hergeholt, selbst wenn es nur einen Nachmittagszug von New York aus geben sollte – doch nun nickte er dem Taxifahrer zu und wartete auf ein Stichwort von ihm.

»Haben Sie Gepäck, Mr. Bancroft?«

Er stockte einen Augenblick – nicht nur, weil er ohne Gepäck ankam, sondern weil ihn bereits jemand, den er nicht mit sich in Beziehung bringen konnte, mit Namen ansprach. Er schüttelte den Kopf und folgte dem Fahrer zum Taxi, einem alten Cadillac mit einem komfortablen Fond, wie sich herausstellte. War der Fahrer überrascht? Bancroft sank in die Polster und wartete ab, bis der Wagen sich langsam in die dämmerigen Straßen in Bewegung setzte.

»Sie kennen mich nicht mehr, stimmt’s?« fragte der Fahrer, und es lag der leise Anflug eines spöttischen Grinsens in seinen Worten, obwohl er den Kopf nicht umwandte.

Das war natürlich genau die Frage, die er erwartete, brüsk ausgesprochen, und er mußte sich schnell entscheiden, ob er lügen sollte. »Natürlich kenne ich Sie«, sagte er.

»Nö, nö, das merkt man doch.« Der Mann hatte einen schmalen Schädel, eine Schirmmütze salopp in den Nacken geschoben. »Warum sollten Sie auch. Ich habe früher in der Lyndhurststraße gewohnt, als Sie noch in der Euklidstraße waren. Als Kind, natürlich.«

Er seufzte erleichtert auf und betrachtete aufmerksam die Stadt durch das Fenster, versuchte, sich zu konzentrieren, wunderte sich, in seiner völligen Unkenntnis des Ortes, daß er schon einmal hier gewesen sein sollte. Von dem Fahrer hatte er gottlob nichts zu befürchten: er nahm ohnehin an, daß sich Charles Bancroft nicht an ihn erinnerte, also hatte sein Versagen hier nichts mit seinem derzeitigen Zustand zu tun.

»… Ihren Namen in der Oberschule. Alle versuchten, ebenso gut zu sein wie Sie, aber keiner hat es geschafft. Sie waren wirklich für die meisten von uns ein Vorbild. Ich glaube, daß niemand seither so viele Tore geschossen hat wie Sie im letzten Schuljahr. Interessieren Sie sich noch immer für Fußball?«

»Gelegentlich«, sagte er. Das Taxi hatte sich in eine Kolonne eingeordnet, hielt an jeder Ecke bei rotem Licht. Die Straßen wirkten geschäftig, und in den Schaufenstern wurde die Beleuchtung eingeschaltet. Es wirkte nicht anders als die Geschäftsstraßen jeder beliebigen Kleinstadt.

»Seither ist viel Wasser den Damm hinuntergeflossen«, sagte der Fahrer gerade. »Und Sie fahren ja kaum einmal mit dem Taxi. Aber« – hier war wieder ein leichtes, den Groll milderndes Grinsen zu spüren – »Sie und ich, wir verkehren heutzutage ja nicht gerade in den gleichen Kreisen, oder?« Er steuerte den schweren Wagen an der Steinfassade des Gerichtsgebäudes vorbei, die im Dämmerlicht streng und unnahbar aussah, bog in eine Seitenstraße ein und gab Gas. »Wenn man bedenkt, zwei Jahre Altersunterschied und so, und als Kinder zusammen gespielt –« Seine Stimme wurde leiser. »Ich fahre die längere Strecke, aber hier kommt man schneller den Berg hinauf auf die andere Seite. Einverstanden?«

»Ja, einverstanden.«

»Danke.« Der Spott war unverkennbar, und Charles empfand eine Regung von Unwillen.

Sie fuhren jetzt durch Wohnbezirke: alte Häuser, einige grau und offenbar alt, die meisten im viktorianischen Stil, einige mit Veranden, und hier und da gepflegte Rasenflächen und ehrwürdige Bäume. Er betrachtete alles aufmerksam und versuchte, seinen Eifer und seine Verwunderung vor den forschenden, skeptischen Augen im Rückspiegel zu verbergen.

Der Hügel vor ihnen wurde steiler. Es gab hier mehr Bäume, und die Häuser wurden größer, eindrucksvoller. Das Taxi kam aus einem Gewölbe von Ulmen und Ahornbäumen auf eine Chaussee, die ein parkähnliches Grundstück von der Länge einiger Straßen und der Breite eines Blocks, mit Bogenlampen auf beiden Seiten, säumte. Sie erleuchteten auch die rechteckige, von Gebüsch umstandene Rasenfläche eines Golfplatzes mit einer hellschimmernden Tribüne in der Mitte und einem weißen Kirchturm an der einen Ecke. Ein paar Jungen kickten sich im dämmrigen Licht einen Fußball zu. Sonst war alles still.

Der lange Wagen kroch an der Rasenfläche entlang, bog um eine Ecke, fuhr in eine abschüssige, gewundene Auffahrt bis vor die Front eines prächtigen Hauses. Vier weiße Säulen reckten sich bis in das zweite Stockwerk, und gepflegte Rasenflächen erstreckten sich nach allen Seiten.

Das mußte ein Irrtum sein. Das mußte wirklich ein Irrtum sein. Hatte sich der Fahrer etwa mit ihm einen Scherz erlaubt?

Und doch überfiel ihn, als er ausstieg, zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Shepperton, ein plötzliches Gefühl von Vertrautheit – zu undeutlich, um es Wiedersehen zu nennen. Ja, hier war er früher schon gewesen. Was er jedoch sah, als er auf den Stufen stand, die zur Haustür führten, war nicht nur die Vorderfront, sondern das Haus als Ganzes; das Bild, das ihm vorschwebte, war die Perspektive aus einer gewissen Entfernung, vielleicht von der anderen Straßenseite: ein klassizistisches Herrenhaus, blendend, strahlend weiß, mit Säulen, mit klassisch schönen Proportionen, vollkommen bis ins letzte Detail. Aber dieses Wissen, das er einige Augenblicke lang reglos auskostete, öffnete ihm keine weiteren Türen. Und merkwürdigerweise entsann er sich keiner Einzelheit des Inneren, in das er jetzt wohl hineingehen mußte.

»Was bekommen Sie?« fragte er den Fahrer und überlegte sich, ob er wohl unter den Attacken von Halb-Erinnerungen die äußere Ruhe und Gelassenheit, die ihm im Zug noch so notwendig geschienen hatte, würde bewahren können.

»Zwei Dollar.«

Es gelang ihm, eine Fünfdollarnote aus der Brieftasche zu ziehen und sie dem Fahrer zu geben, der ihn immer noch aus schmalen Augen abschätzend beobachtete. Dann ging er die Stufen hinauf. Er hatte es mit einemmal eilig, ins Innere zu gelangen. Was immer auch geschehen mochte, es würde in dem Augenblick beginnen, in dem er die Tür öffnete, das wußte er.

»Danke«, sagte der Fahrer und steckte den Schein ein. »Vielen Dank, Chuck. Wie gewonnen, so zerronnen, sage ich immer.«

Dann setzte er sich mit einem Lachen, das zwischen Befriedigung und Herausforderung schwankte, in seinen Wagen und fuhr pfeifend fort.

Die Tür mit dem ovalen Flurfenster darüber: er hatte sie schon gesehen. Aber nicht in der Vergangenheit – sondern erst kürzlich. Dann, als er vor ihr stand, fiel es ihm ein: es war diese Veranda, auf der das Bild der Frau mit dem kleinen Jungen aufgenommen worden war. Alexandria hatte sich an eine der Säulen gelehnt. Und über der Tür stand in sauberen, kleinen Metallzahlen ›210‹. Dies war also ohne Zweifel 210 Shepperton Green, und dies war ebenso zweifellos das Haus der Parsons, Charles Bancrofts Heim.

Ein furchtbares, schwindelndes Zögern erfaßte ihn einen Moment, dann griff er nach dem Türknauf und öffnete die schwere Türe.